WB-Adventskalender 2013

Liebe Bastler, die Weltenbastler-Olympiade hat begonnen, das WBO-Tool ist vorbereitet. Bitte meldet euch schnell an. Viel Spaß dabei!
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    Am Tag der Wintersonnenwende können sich merkwürdige Dinge zutragen. Gebt also acht, wenn ihr durchs einundzwanzigste Türchen tretet, das direkt ins Herz eines Berges führt…



    Die drei Wünsche


    Es waren einmal drei Brüder, die waren Bergleute. Eines Tages als sie einer Ader Erzes aufspürten und dabei auf eine Wand einhackten, da tat sich im Boden ein Loch auf und die Brüder fielen in eine Höhle voller Edelsteine und Kristalle. Durch den Sturz verloren alle drei das Bewusstsein und sie träumten alle drei den selben Traum:
    Ihnen erschien eine dunkle vierarmige Gestalt, die zu ihnen sprach: "Für lange Zeit war diese Höhle verschlossen, doch ihr habt den Weg in die Freiheit geöffnet. Zum Dank gewähre ich jedem von euch einen Wunsch. Doch bedenket diese Regeln – Ihr könnt euch keine weiteren Wünsche wünschen, ihr könnt mit eurem Wunsch nicht die Gedanken oder das Handeln anderer Menschen beeinflussen und ihr könnt nicht das Gefüge der Welt grundlegend und dauerhaft verändern. Abgesehen davon könnt ihr wünschen, was euch beliebt."
    Mit einem roten Leuchten verschwand die Gestalt und die Brüder erwachten, ein jeder mit einem rot leuchtenden Stein in der Hand.
    "Brüder", sprach der Älteste. "Träumtet auch ihr, was ich geträumt?" Und die beiden anderen berichteten von der Traumgestalt und dem Wunsch, der ihnen im Traum gewährt wurde.
    "Diese rot glühenden Steine müssen unsere Wünsche beherbergen", vermutete der Jüngste. Er blickte an sich herunter und sprach "Oh, das kommt mir gerade recht, meine Hose ist zerrissen. Da wünsche ich mir doch eine heile Hose." Und mit einem kichernden Geräusch erlosch das rote Licht seines Steines und die Hose des Jüngsten war wieder heil, als wäre sie nie zerrissen gewesen.
    Seine beiden Brüder starrten ihn entsetzt an und schalten ihn einen Narren. „Wie kannst du nur deinen Wunsch für solch eine Kleinigkeit verschwenden? Überlege doch nur, was du alles hättest haben können, und du wünscht dir eine heile Hose!? Du Dummkopf!"
    Der Mittlere der Brüder sprach "Immerhin haben wir nun gelernt, dass uns tatsächlich Wünsche gewährt wurden und wir nicht Opfer eines Hirngespinstes gewesen sind. Doch jetzt heißt es gut überlegen, was wir uns wünschen sollen, denn wir sind nicht so dumm wie unser Bruder."
    Und so beratschlagten die Brüder - welcher wäre wohl der beste Wunsch? Reichtum? Nicht nötig, denn durch all die Edelsteine in dieser Höhle waren die Brüder schon jetzt reich. Macht und Einfluss? Würde man sich durch den Reichtum verschaffen. Da sprach der Mittlere: "Was nutzen einem Reichtum und Macht, wenn man sie nicht klug einzusetzen weiß? Ich weiß, was ich mir wünschen werde: Ich möchte klug und weise sein, wie die Alten." Und der rot leuchtende Stein in seiner Hand erlosch unter lautem, boshaften Kichern. Und der Mittlere Bruder war klug und weise. Weiterhin war er aber auch zu einem schwachen Greis geworden - genau wie er es sich gewünscht hatte.
    "Oh weh", klagte da der Älteste Bruder. "Du, Jüngster, hast deinen Wunsch leichtfertig gesprochen und ihn verschwendet. Du, Mittlerer, hast deinen Wunsch so formuliert, dass er dir zum Nachteil gereicht. Der uns diese Wünsche gewährte, ist boshaft und verkehrt unsere Wünsche ins Gegenteil. Mittlerer, wo du nun klug und weise bist, so hilf mir doch, und sage mir, was ich wünschen soll!"
    Doch der Mittlere Bruder war schwach, so dass er sich kaum zu regen vermochte und auch kein Wort über die Lippen brachte, obwohl doch seine Augen von Weisheit kündeten.
    "So muss ich mir ganz genau überlegen, wie mein Wunsch nun lauten soll. Doch lasst uns zuerst aus dieser Höhle klettern und ihre Schätze bergen."
    Und so trugen die Brüder den greisen Mittleren aus der Höhle heraus und bargen die Edelsteine und Kristalle. Und dabei zerriss die Hose des Jüngsten aufs Neue.


    Der Mittlere Bruder siechte nun im Haus der Brüder vor sich hin und der Älteste überlegte und überlegte, er formulierte, verwarf und formulierte neu, stets in dem Bestreben, einen Wunsch so zu äußern, dass er sich nicht boshaft ins Gegenteil verkehren möge. Währenddessen gaben die Brüder ein Gutteil des Schatzes aus der Höhle aus, um Arzneien, Tinkturen und Wundermittel für ihren siechen Bruder bei reisenden Händlern zu kaufen, die merkwürdigerweise auf einmal vermehrt vor ihrer Haustüre auftauchten und ihre Dienste feilboten. Eines der Pülverchen versetzte alle Brüder in tiefen Schlaf, und als sie wieder erwachten, war ihr ganzes Haus ausgeplündert, der Mittlere Bruder gestorben und nur der Älteste hielt seinen rot glühenden Wunschstein noch in der Hand.
    "Diese Wünsche haben uns nur Unheil gebracht", klagte er. "Nun weiß ich, was ich mir wünschen soll: Ich wünsche, dass wir diese Wünsche niemals erhalten haben!"
    Mit einem wütenden Heulen erlosch nun also auch das rote Glühen seines Steines und die drei Brüder fanden sich wieder mit ihren Hacken in der Erzader wieder. Doch diesmal legten sie bei ihrer Arbeit keine Höhle frei.


    Und so lebten sie fortan - nicht wissend, dass sie wunschlos glücklich waren.


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    Im Halbdunkel des Wintermorgens verlassen zwei dick vermummte Gestalten das Dorf, Mutter und Tochter, wobei die Mutter es offensichtlich eilig hat, und sich öfter nach ihrer Tochter umsieht, die Hüpfspiele um Schneereste herum veranstaltet. Beide merken nicht, dass das große alte Tor im brüchigen Mauerwerk am Dorfeingang in diesem Moment zugleich das zweiundzwanzigste Türchen ist…



    Großvaterfest


    Es war kurz nach Sonnenaufgang. Auf dem Feldweg lagen noch einige matschige Schneereste, mit den Schuhabdrücken der Leute, die den ersten Zug am Morgen genommen hatten. Bawonni kuschelte sich an den blaugrauen Wintermantel ihrer Mutter.
    „Kind, so kommen wir nicht weiter. Ich brauche auch Platz zum Gehen. Der Zug fährt schon in fünf Minuten, wir sollten uns beeilen."
    „Warum kommt Papa nicht mit?", fragte Bawonni, „Mir wird doch ohne ihn langweilig im Zug."
    Ihre Mutter reagierte nicht auf die Frage.
    „Komm, wir laufen das letzte Stück hinunter!", bestimmte sie.
    „Na gut."
    Sie erwischten gerade noch den Regionalzug. Bawonni setzte sich ans Fenster und starrte eine Weile in die Landschaft – endlose Hügel, Wald, wohin man sah. Mutter zog ein Buch aus ihrer Tasche und begann zu lesen.
    „Warum kommt Papa nicht mit?", fragte Bawonni erneut.
    Die Mutter gab keine Antwort. Eigentlich konnte sich Bawonni die Antwort schon denken. Ihre Eltern hatten wieder gestritten, gestern abend – Bawonni hatte es gehört, mit dem Kopf unter der Decke, obwohl sie es nicht hören wollte. Schon seit ein paar Wochen ging das so. Seit sie umgezogen waren.
    „Mir ist langweilig.", jammerte Bawonni. Sie erntete einen kurzen zerstreuten Blick ihrer Mutter, die sich sogleich wieder in ihre Lektüre vertiefte, dabei gedankenverloren in ihrer Tasche wühlte und schließlich ein Päckchen herausnahm.
    „Hier.", sagte sie und reichte es ihrer Tochter.
    Bawonni öffnete es, und fand darin ein paar Buntstifte, und einen Templerblock. Sie nahm den Block heraus und sah sich die letzten gespielten Partien an – gegen Papa; sie hatte natürlich verloren. Aber vielleicht hatte sie heute beim Familientreffen ja noch Gelegenheit, ihre neuen Tricks an ihrem Cousin auszuprobieren. Sie zog mit den Bunstiften den Rand einer Tabelle nach, wiederholte das ganze mit einer anderen Farbe, dann einer dritten. Vor dem Fenster zog eine endlose Reihe dunkelgrüner Fichten vorbei.
    „Hast du nicht irgendwas zum Lesen für mich?", bat sie ihre Mutter schließlich.
    Als diese nicht reagierte, nahm Bawonni kurzerhand die Tasche auf ihren Schoß und begann den Inhalt zu durchsuchen. Schließlich machte sie die zerknüllten Reste einer alten Zeitschrift ausfindig, und begann sie auswendig zu lernen.


    Etwas später begann es zu regnen. Zunächst waren es nur ganz feine Tropfen, dann wurde es immer lauter. Elsa sah von ihrem Buch auf: Ihre Tochter schlief seit einer Weile, in ihrem Sitz zusammengerollt wie eine Katze. Die kleinen Hände waren fest um den Block gekrallt, den ihr Vater ihr geschenkt hatte. Es tat weh, zu sehen, wie sie an ihm hing – denn sie wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sie auseinanderziehen würden. Die letzten Wochen hatte sie noch gedacht, dass sie sich schon wieder zusammenfinden würden, wenn sie erst einmal ihr neues Zuhause richtig eingerichtet hätten. Aber da hatte sie sich getäuscht. In den letzten Tagen waren sie sich eher aus dem Weg gegangen, und das im eigenen Haus. Es war einfacher, denn jedes Gespräch, das länger andauerte, wurde unweigerlich zu einem Streit – worum es dabei ging, war unbedeutend geworden.
    Aber nun wollte sie nicht weiter darüber nachdenken. Schließlich sah sie ihre Familie ohnehin nur selten. Das Geburtstagsfest ihres Vaters, das 'Großvaterfest', wie ihre Tochter es nannte, war die einzige Gelegenheit im Jahr, bei dir wirklich alle zusammenkamen.
    Der Zug wurde allmählich langsamer.
    „Wach auf.", sagte Elsa leise.


    Das Fest war schon im vollen Gange, als Elsa mit ihrer Tochter dort ankam. Aus der Küche wehte ihnen der Duft von Zwiebeln entgegen, und Elsas Schwestern Igarri und Fuhi waren damit beschäftigt, den Raum zu schmücken, wofür sie offenbar dieses Jahr kleine bemalte Holzwürfelchen verwendeten, die sie großflächig auf den Tischen verstreuten. Das war wahrscheinlich Großvaters Idee, zumindest sah es so aus, denn die Gesichtsausdrücke ihrer Schwestern zeugten nicht von großer Begeisterung.
    „Elsa! Na endlich!", riefen sie, als sie ihrer gewahr wurden.
    Sie tauschten eine Runde Umarmungen aus, dann drückte Igarri ihr einen Beutel voller Holzwürfel in die Hand.
    „Da. Übernimm du das mal.", bestimmte sie, „Ich sehe, ob ich Mutter noch etwas helfen kann."
    Bawonni schien von den bunten Würfeln ganz fasziniert zu sein und hatte begonnen, sie nach Farben zu sortieren. Elsa zuckte mit den Schultern und drückte ihr den Beutel in die Hand. Sie wollte erst einmal den Rest der Verwandten begrüßen.
    In der Küche war ihr Bruder gerade damit beschäftigt, Zwiebeln zu schneiden. Natürlich ohne Magie – Mutter hätte ihn sonst wohl nicht in die Küche gelassen. Was das anging, war sie immer recht strikt. Er winkte ihr kurz zu.
    „Elsa! Schön, dass du da bist."
    „Hallo, Bruder."
    Er runzelte die Stirn. „Ist dein Mann nicht mitgekommen? Ich hätte mich gerne mit ihm unterhalten."
    Elsas Vater betrat den Raum und bewahrte sie davor, darauf antworten zu müssen.
    „Willkommen zuhause!", begrüßte er sie.
    „Willkommen in meiner Gegenwart.", erwiderte sie – eine Höflichkeitsfloskel, von der sie wusste, das ihr Vater sie gerne hörte.
    „Ha, wunderbar.", lobte dieser, „Nun, Elsa, darf ich dich um etwas bitten?"
    „Sicher.", meinte sie, „Was gibt's?"
    Er nahm sie am Ärmel und zog sie in Richtung Treppe.
    „Es geht um den Waldbesitz unserer Familie."
    „Natürlich."
    Als Biologin war sie natürlich die erste Ansprechpartnerin, wenn irgendwelche Probleme mit dem Wald auftauchten. Er führte sie in einen hellen Raum mit einer Glasdecke, durch die die trübe Nebelmasse über der Stadt zu sehen war.
    „Das hier ist ein Ableger von einem der älteren Bäume nahe der oberen Grenze unseres Grundes.", sagte er und deutete auf eine kaum vierzig Zentimeter hohe Lärche, die in der Mitte des Raumes auf einem kleinen Podest stand. Die Nadeln waren rötlich, einige davon bereits abgefallen.
    „Die Verbindung war noch nie besonders gut, aber in den letzten Wochen konnte ich gar nichts mehr damit anfangen.", erklärte er, „Sieh ihn dir doch bitte an."
    „Natürlich."
    Sie stellte sich vor den Verbindungsbaum und berührte mit den Händen leicht die Nadeln. Obwohl es nur ein kleines Bäumchen war, stellte es eine magische Verbindung zu einem ganzen Waldteil dar. Die Bäume kommunizierten auch über große Entfernungen, wenn es eine solche Verbindung gab – in diesem Fall geschah das dadurch, dass der Baum aus einem Ast eines anderen Baumes gewachsen war. Elsa versuchte, sich vorsichtig in das Gespräch einzuklinken, aber fand nur Stille vor. Dazu kam ein vertrautes Gefühl der Übelkeit. Sie zog die Finger rasch zurück.
    „Wahrscheinlich ein Baumpilz.", sagte sie, „Die Verbindung ist blockiert, von der anderen Seite aus. Dieser Baum hier ist gesund. Hast du schon mit dem Honnschafter gesprochen?"
    „Das werde ich tun.", meinte ihr Vater, „Ich dachte mir schon, dass es so etwas sein würde, aber ich wollte auf deine Meinung warten, wozu hat man schließlich eine Expertin in der Familie."


    Bawonni war zu sehr darin vertieft, rote Würfel von orangen Würfeln zu unterscheiden – was beim flackernden Licht des Kamins nicht so einfach war – als dass sie das Herannahen des Monsters bemerkt hätte. Als dessen kalte Knochenfinger nach ihrem Hals griffen, erschrak sie und schrie auf. Sie wandte sich um und blickte sie in eine glänzende schwarze Maske. Jemand hatte mit einer leuchtenden Farbe 'AUSSORTIERT' quer über deren Wange geschrieben. Entschlossen riss sie die Maske herunter und blickte in das grinsende Gesicht ihres Cousins.
    „Fian!", rief sie.
    „Hallo, Bawo. Du bist genauso leicht zu erschrecken wie früher.", meinte dieser, „Komm mit. Bis zum Essen ist noch Zeit genug für eine Partie Templer."
    „Du hast es also nicht vergessen.", schloss sie.
    „Natürlich nicht! Du hast doch zuletzt praktisch von nichts anderem geredet, als dass du mich besiegen willst, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Das wird dir nicht gelingen, aber meine Ehre gebietet mir, dass ich dieses Duell nicht ausschlagen darf."
    Die letzten Worte hatte er wahrscheinlich aus einem der Abenteuerbücher, die er so gerne las. Mit der Stimme eines Zehnjährigen wirkte der Satz ein wenig komisch, aber Bawonni verkniff sich das Lachen, stattdessen deutete sie eine leichte Verbeugung an.
    Wie sich herausstellte, hatte Fian bereits das Spielbrett aufgebaut. Die gläsernen Figuren blinkten, als Bawonni danach griff. Sie zuckte kurz zurück. Natürlich, das war ein echtes Templerspiel, mit Figuren, die selbstständig ihre Positionen am Spielfeld ändern konnten. Sie nahm eine gelbe Figur in die Hand und untersuchte die kleinen glimmenden Funken, die sich darin bewegten.
    Fian hatte derweil in einem opulenten hölzernen Thron – man konnte es nicht anders nennen – gegenüber von ihr Platz genommen.
    „Als Herausforderer bestimmst du zuerst die Farbe.", sagte er.
    „Gelb." Bawonni brauchte nicht nachzudenken. Sie wählte immer gelb. Wenn sie ehrlich war, wusste sie gar nicht so recht, wie man die anderen Farben spielte.
    Fian schob ihr die gelben Figuren hin und nahm selbst einen roten Stein und setzte ihn auf das Spielfeld. Sogleich begann das Brett um den Stein herum die selbe Farbe anzunehmen. Das Glimmen des Brettes tauchte den ganzen Raum in ein merkwürdiges Licht.
    Sie stellten abwechselnd ihre Figuren auf das Brett, und mit jeder Figur wurde es etwas heller.
    Bawonni zuckte zusammen, als hinter ihr jemand an die Tür klopfte.
    „Da seid ihr ja." Ihr Großvater betrat den Raum und stützte sich auf den Tisch, um das Spiel zu betrachten.
    „Mein altes Templerbrett.", raunte er, „Ich habe es bekommen, als ich zehn war. Schön langsam wäre es an der Zeit, es weiterzugeben... wenn sich jemand von euch dafür interessiert."
    Bawonni und Fian sahen sich an. Natürlich wollten sie beide gerne ein echtes Templerbrett besitzen.
    „Ich mache euch einen Vorschlag.", meinte der Alte, „Ich gebe es dem Gewinner dieser Partie. Dann strengt ihr euch auch wirklich an, und ich bekomme ein schönes Spiel zu sehen."
    Der Konflikt zwischen den roten und den gelben Templern verschärfte sich daraufhin. Rituale wurden begonnen, aber unvollendet verworfen. Ein gelber Blitz schlug in Fians Finger, aber er ließ sich davon nicht abschrecken.
    „Da ist eine Lücke.", meinte Großvater und deutete auf das Spielfeld.
    „Unfair, du hilfst zu Fian.", beschwerte sich Bawonni.
    „Hmm. Ich bin schon still."
    Nacheinander flackerten die Lichter aus, bis am Ende ein gelbes Glimmen übrig war. Fian räumte schweigend die Figuren zusammen, schob sie in die dafür vorgesehenen Beutel, dann erst schüttelte er seiner Cousine die Hand.


    Wenig später war das Haus erfüllt von Bawonnis Jubelschreien.


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    Die Gasse, in die das dreiundzwanzigste Türchen führt, wird durch efeuüberranktes Gitterwerk vor der heißen südlichen Sonne geschützt. Die meisten der in fließende Gewänder gehüllten Passanten haben jedoch weder einen Blick für das flirrende Schattenspiel auf dem Kopfsteinpflaster übrig, noch wissen sie die marmornen Bögen der Hauseingänge mit ihren kunstvoll beschnitzten Holztüren zu würdigen. Alle scheinen es eilig zu haben - alle, außer einem…



    Die Macht der Musik


    Revano schlenderte durch die Gassen, darauf bedacht, niemandem im Weg zu sein, der hier herumhastete. Es war eine leichte Aufgabe, auch wenn die meisten Leute nicht darauf achteten, wo sie hinrannten. Sie rannten in einer geraden Linie, ein halber Schritt zur Seite genügte, um nicht im Weg zu sein. Und weil die meisten von ihnen rannten, gab es auch kaum jemanden, der es so eilig hatte, dass er andere überholen musste. Landmenschen hatten eine ganze Menge Orte, an denen sie zu sein hatten, und viele davon lagen weit auseinander. Da war ein Schiff doch viel praktischer. Viel kürzere Distanzen. Revano wusste, dass der Gedanke nur bedingt stimmte, aber er mochte es, sich selbst damit zu amüsieren.
    Die Gasse öffnete sich zu einem hübschen kleinen Platz mit einem Brunnen in der Mitte. Kein dekorativer Springbrunnen, sondern eine praktische Wasserpumpe. Trotzdem hatte der Brunnen eine Einfassung, hinter der das überschüssige Wasser aufgefangen wurde. Sie war nicht besonders hoch, aber erstaunlich breit. Breit genug, um darauf zu sitzen, und das taten auch mehrere Menschen. Einer davon hatte eine Harfe auf dem Schoss und stimmte müßig die Saiten. Revano entschied, in der Nähe zu bleiben, für den Fall, dass der Mann spielen würde. Es war immer interessant zu hören, wie die Musik einer Stadt klang.
    Es gab einige Stände am Rand des Platzes, Gemüse und Töpferei, und einer verkaufte gebackenes Obst. Revano gab ein paar Münzen dafür und setzte sich damit in den Schatten eines Baumes. Der Harfespieler hatte sein Instrument zuende gestimmt, machte aber keine Anstalten, darauf zu spielen. Stattdessen starrte er mit leerem Blick in die Mündung einer der Gassen und schien mit den Gedanken weit fort zu sein.
    Eine Frau trat an ihn heran, beinahe schüchtern, und ihren Korb wie einen Schutzschild vor sich haltend.
    „Seid Ihr hier, um zu spielen?" fragte sie vorsichtig.
    Der Mann richtete sich auf, als habe seine Aufmerksamkeit die ganze Zeit nur seiner Umgebung gegolten. Kein bisschen überrascht, und nicht einmal das winzige Zögern, das Männer brauchten, um sich in eine Situation zurückzufinden, die sie in Tagträumen verlassen hatten.
    „Seid Ihr bereit, etwas dafür zu geben?" fragte er zurück.
    Die Frau wirkte überrascht und auch ein wenig geschockt. „Ist es nicht Brauch, dass Ihr zuerst spielt und die Zuhörer dann entschieden, was das Lied wert ist?"
    Der Mann lächelte freundlich. „Ist es das?" Es klang, als sei das eine vollkommen neue Idee für ihn. Es verunsicherte die Frau. Sie murmelte etwas darüber, dass sie das nur so kenne, dann hastete sie davon. Der Mann mit der Harfe sah ihr amüsiert nach. Er spielte einige Noten, die klangen wie das fröhliche Plätschern eines kleinen Wasserfalls, dann brachten seine Hände die Saiten wieder zum Schweigen. Die Töne verstummten und es war, als waren sie nie dagewesen.
    Einer der Kunden des Töpfers kam heran. „Das ist keine Art, eine Frau zu behandeln", erklärte er. Aber schon, während er das sagte, griff er in seinen Geldbeutel.
    „Sie war zu schnell fort", antwortete der Harfespieler. „Ich hätte ihr zu gerne erklärt, dass ich nicht wissen kann, was sie hören will, wenn wir nicht zuvor darüber sprechen. Ich bin Straßenmusikant, kein Hellseher."
    „Straßenmusikant, so. Mit dem Instrument?"
    „Ich habe es geliehen."
    „Kannst du es dann überhaupt spielen?"
    „Was ist es Euch wert, das zu erfahren?"
    Der Mann lachte, dann warf er dem Harfespieler eine Münze zu. Der Harfespieler fing sie geschickt auf, und zu Revanos Erstaunen machte er keine Anstalten, sie genauer anzusehen. Er steckte sie ein, ohne einen Blick darauf zu werfen. Vielleicht hatte er sie in dem kurzen Moment erkannt, in dem sie in der Luft war.
    Der Harfespieler deutete eine Verbeugung an. „Was möchtet Ihr hören?" fragte er.
    „Den Tanz der Luftgeister", war die Antwort. Revano sagte das überhaupt nichts, aber es war in der Stimme des Mannes zu hören, dass er das für eine unlösbare Aufgabe hielt. Der Harfespieler aber blieb unbewegt.
    „Ganz?" fragte er nur. „Dann setzt Euch."
    „Der dritte Satz genügt."
    Diesmal bestand die einzige Reaktion des Harfespielers darin, dass er nach den Saiten griff. Ein flüchtiger Ton hier, ein leiser Klang dort, und dann brach ein wahrer Sturm von wilden, umeinanderwirbelnden Tönen aus der kleinen Harfe hervor, der Revano in Erstaunen versetzte. Geschickt kombinierte Läufe, perfekt gesetzte Akkorde, helle Töne wie Gelächter, tiefere wir das Rauschen eines Windstoßes… Jeder auf dem Platz drehte sich sofort danach um und starrte. Auch der Mann, der für das Lied bezahlt hatte, starrte. Dabei gab es nichts zu sehen als einen Mann in einfacher Kleidung auf der Einfassung einer Wasserpumpe, der eine Harfe zwischen den Knien hatte. Er hatte die Augen geschlossen, sah nicht einmal hin, während seine Finger über die Saiten tanzten und den ungezügelten, ungezähmten Reigen draus hervorlockten. Sie schienen das ganz von selbst zu tun, ohne jede Mühe, und genauso klang es auch. Unwirklich.
    Wie lange es auch immer dauerte, nachher schien es nur ein Moment gewesen zu sein. Der Musiker ließ die Saiten diesmal ausklingen, ohne sie zum Schweigen zu bringen, öffnete die Augen und sah zu dem Mann hoch, der noch immer vor ihm stand.
    „Ihr hoffe, es fand Eure Zustimmung", sagte er sanft.
    „Ja", brachte der Mann nach einem Moment heraus. „Ja, das hat es. Danke."
    Dann hastete auch er davon. Revano sah ihm amüsiert nach, dann stand er selbst auf, näherte sich dem Musiker und reichte ihm die größte Münze, die er noch in der Tasche hatte.
    „Ich danke Euch, Seemann", antwortete der Musiker. „Was möchtet Ihr dafür hören?"
    „Sie ist für die Musik gerade", erklärte Revano.
    „Die war bereits bezahlt. Was möchtet Ihr hören?"
    Revano sah den Mann überrascht an, und das schien den sehr zu amüsieren.
    „Ist es so unglaublich?" fragte er. „Dass ich den Preis für ein Lied zuerst verlange, und dann nicht von anderen Zuhörern nachfordere?"
    „Ich weiß es nicht", bedauerte Revano. „Ich bin nicht von hier."
    „Ich auch nicht." Der Musiker brachte von irgendwo her ein kleines Kästchen zum Vorschein und stellte es vor sich auf den Boden. Nach und nach kamen einige der Menschen, die ihm zuvor wie erstarrt zugehört hatten, heran, und warfen eine Münze hinein. Der Musiker bedankte sich bei jedem.
    „Warum fragst du niemanden, was er sich zu hören wünscht?" fragte Revano schließlich.
    „Ich passe mich den Gepflogenheiten der Stadt an, in der ich bin", antwortete der Musiker. „Es scheint, dass hier zuerst Musik erwartet wird, und dann bezahlt wird. Wenn Ihr mich fragt, eine unpraktische Angelegenheit. Wie kann ich dann sicher sein, etwas zu spielen, was dem Publikum zusagt?"
    „Machst du nicht Musik um ihrer Selbst willen?"
    „Wozu sollte das gut sein?"
    „Ich weiß es nicht."
    „Ein Lied ist nur so gut, wie es denen, die es hören, gefällt", antwortete der Musiker. „Eine Geschichte wird erst dann zu einer Geschichte, wenn sie jemanden gefangen nimmt. Wenn ich ein Lied um seiner selbst Willen spielen will, brauche ich dafür kein Publikum."
    Revano fand, dass es verwirrend klang, aber auch irgendwie logisch. Außerdem war der Musiker derjenige, der sich besser auskannte. Er entschied also, zustimmend zu nicken.
    Der Musiker unterdrückte ein Lachen. „Ihr braucht nicht zu verstehen, was ich sage", sagte er freundlich. „Ich bin nur ein Straßenmusikant, ich rede und singe viel, achtet gar nicht darauf."
    „Du singst auch?"
    „Wie ich gerade sagte. Warum überrascht Euch das?"
    Revano zuckte die Achseln.
    „Oh", spottete der Musiker. „Weil ich einen Tanz fehlerfrei spielen kann? Möchtet Ihr mich dann vielleicht auch auf die Probe stellen? Ein Lied für Euch?"
    „Ich wüsste nicht, welches."
    „Dann sagt mir, worüber ich singen soll, und ich wähle eines aus", schlug der Musiker vor. „Liebe? Sehnsucht? Ein Schlachtgesang?" Er zwinkerte Revano zu. „Das Meer?"
    „Blumen."
    „Blumen?"
    „Blumen", wiederholte Revano. „Sing mir ein Lied über Blumen."
    Beinahe hatte er erwartet, dass der Musiker nachfragen würde, aber er tat es nicht. Wahrscheinlich wäre es unprofessionell gewesen, und dieser Mann war ganz sicher kein Stümper. Außerdem brauchte es ihn nicht zu interessieren, warum seine Kunden hören wollten, was sie hören wollten. Er sah einen Moment in die Ferne, als müsse er aus einer großen Auswahl Lieder eines heraussuchen, dann griffen seine Finger wieder in die Saiten, eine zarte Melodie formte sich, und dann begann er zu singen.
    Ein Lied über Blumen. Über ihre Schönheit, ihre Einzigartigkeit, die schönsten Juwelen der Natur. Ein Lied wie ein Spaziergang durch einen Garten, übervoll mit Blumen aller Farben, voller lebendiger Formen und zarter Muster, eingehüllt in tausende Gerüche, viel zu komplex, um sie jemals auseinanderhalten zu können. Und doch gab es in diesem Meer von überbordender Schönheit einzelne, noch bezauberndere Inseln, die herausstachen. Revano konnte sich später nicht daran erinnern, dass das Lied eine Handlung gehabt hätte. Es erzählte einfach von Blumen. Nicht nur von ihrem Aussehen, sondern auch von ihrem Wesen. Von den Eindrücken, die sie hinterließen. So real, als stehe er wirklich mittendrin. Mitten in dem Garten, inmitten des leuchtenden Farbenmeeres.
    Als das Lied verklang, kehrte die wirkliche Welt zurück. Es war beinahe wie das Erwachen aus einem lebhaften Traum, für einen Moment verwirrend, was Traum war und was die Wirklichkeit. Der schillernde Garten oder der sonnenbeschienene Platz in einer geschäftigen Stadt… Revano blinzelte und schüttelte den Kopf, und der Platz mit der Wasserpumpe setzte sich gegen den Garten durch. Für einen Moment bedauerte er es, und dann begann der Garten zu verblassen, eben wie ein Traum. Ein sehr schöner Traum, in den ihn das Lied entführt hatte.
    Nicht nur ihn schien die Musik gefangen genommen zu haben, sondern auch jeden anderen, der sie hatte hören können. Sie hatte sogar noch Zuhörer angezogen, die aus den Gassen herangeströmt waren. Um Revano stand eine Menschentraube, es gab Applaus, mehr Münzen flogen in den Kasten auf dem Boden. Der Musiker verbeugte sich und erwähnte wieder, dass es nicht nötig sei, denn das Lied war schon bezahlt, von dem jungen Seemann.
    „Dann kaufe ich das nächste", rief eine Stimme aus der Menschentraube.
    „Bei weitem nicht das, was es wert war", bedauerte Revano.
    „Ich entscheide nicht über den Wert der Lieder, die ich singe", erinnerte der Musiker freundlich. „Kommt nach vorne!" rief er dann für den Mann in der Menge. „Und sagt mir, was ihr hören wollt."
    Revano ließ sich von der Menge zur Seite schieben. Es machte nichts, denn der Musiker war auf dem ganzen Platz deutlich zu hören. Jedes Lied, das er spielte oder sang, immer Neue, als sei sein Vorrat unerschöpflich. Revano hatte Zeit, und so blieb er. Er verstand nichts von Musik, nicht so wie andere, aber er mochte sie. Fast alle Lieder und Melodien hatte er noch nie zuvor gehört. Einige waren fröhlich, andere wild, nur wenige traurig. Einige entführten in andere Länder wie zuvor in den Garten, schienen echte Reisen zu sein, auf den Flügeln der Melodien. Wenn Revano die Augen schloss, konnte er all das, was der Musiker beschrieb, so deutlich sehen, als wäre er wirklich dort. Er tanzte auf fremden Festen, kämpfte in lange vergangenen Schlachten und sah so exotische Städte, dass sie selbst für einen weitgereisten Matrosen noch einen reichen Schatz an Entdeckungen boten. Jedes dieser Abenteuer endete, wenn seine Melodie verklang und die Geräusche der Umgebung zurückkehrten. Wenn Revano sich auf dem Platz wiederfand, Menschen das Lied mit Lob oder Münzen belohnten und ein weiteres forderten. Vielleicht eine weitere Reise bekamen – es waren nicht alle Lieder wie diese. Immer wieder spielte der Musiker andere dazwischen. Lieder, die einfach nur schön klangen. Die den Platz mit klingenden Tönen füllten und zugleich auf leise und mächtige Art an die Seele rührten. Musik, die fröhlich machte oder nachdenklich. Oder auch einfach Musik, die so sehr dazu gemacht war, zu ihr zu tanzen, dass das Stillsitzen schwer fiel. So verschieden die Zuhörer waren, so verschieden waren ihren Wünsche. Ihre Stimmen klangen verschieden und einige sprachen andere Sprachen. Auch der Musiker sang in verschiedenen Sprachen, aber es machte nicht wirklich einen Unterschied. Es war die Musik, die alles trug und zusammenhielt. Die die Träume zum Leben erweckte.
    Schließlich begann die Menge, sich zu verlaufen. Zögernd zuerst, dann immer deutlicher, als erinnerten sich immer mehr Menschen daran, dass sie Dinge zu erledigen hatten und nicht länger verweilen konnten. Einige sahen aus, als bedauerten sie das, andere gingen fröhlich. Der Musiker spielte eine letzte, schwebende Melodie, die zwischen den Häusern davontanzte, dann packte er sein Instrument sorgfältig ein. Er steckte seinen Lohn ein, und als er sich aufrichtete, traf sein Blick Revanos.
    „Wollt Ihr noch ein Lied?" fragte er freundlich.
    „Ich habe nichts, was ich geben könnte dafür."
    „Könnt Ihr singen?"
    „Dir gegenüber muss die Antwort ‚nein' heißen."
    Der Musiker lachte, dann zog er eine Flöte unter dem Hemd hervor. Er spielte einige Töne, wie der trillernde Ruf eines Vogels. Ein wenig spöttisch, aber auch fröhlich.
    „Erzählt mir eine Geschichte." Er deutete auf den Platz neben sich auf dem Stein. „Ein bisschen Seemannsgarn, das könnt Ihr doch sicher. Und als Lohn dafür gebe ich Euch ein Lied, das Ihr singen könnt, wenn die Nacht zu dunkel wird oder der Sturm zu heftig. Eines mit Licht in seiner Melodie."


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    Es ist eine stille Nacht. Die Schritte und Geräusche, die einst die große Eingangshalle erfüllten sind lange verhallt. Nur der Staub tanzt noch in der Luft. Vom leichten Nachtwind aufgewirbelt, formt sich in ihm für einen flüchtigen Moment das geisterhafte Abbild des vierundzwanzigsten Türchens…



    Stillleben


    Bakras stand nur da. Er stand einfach nur da und schaute sich um. Nicht, dass es in der großen Eingangshalle etwas Neues gegeben hätte. Im Gegenteil: In diesen Teil der Stadt, deren Namen er schon lange vergessen hatte, war seit mehr als dreihunderteinundsechzig Jahren niemand mehr gekommen. Zumindest nicht ins Schloss. Nun, zumindest nicht, dass Bakras sich daran erinnern könnte. Möglicherweise hatte er in der Zwischenzeit Besuch von irgendwelchen wagemutigen Schatzjägern und Abenteurern bekommen, während er mal wieder gedöst hatte. Aber das machte keinen großen Unterschied.


    Früher war er der Meinung, die Eingangshalle hatte gewaltige Ausmaße und war ein prachtvolles Meisterstück durharianischer Architektur. Jeder, der das Schloss damals betreten hatte, war einige Augenblicke in blanker Ehrfurcht erstarrt und bewunderte die deckenhohen Säulen aus schwarzem Marmor. Mal ganz abgesehen von der fast handbreiten Staubschicht, die den Boden mittlerweile bedeckte, sah die Halle von hier oben recht klein aus. Nicht zuletzt deswegen, weil Bakras eine der schwarzen Marmorsäulen war. Die Staubschicht war immer noch unberührt. Er hatte also doch keinen Besucher verpasst.


    Er seufzte, woraufhin einige Steinkörnchen von ihm nach unten rieselten. Mit dem Fluch, auf alle Zeit in eine Säule eingesperrt zu sein, hatte er sich schon vor achthundertdreizehn Jahren abgefunden. Oder waren es siebenhundertvierzehn? Es spielte keine Rolle. Jedenfalls fragte er sich, ob er wohl eine gespaltene Persönlichkeit entwickeln würde, wenn er irgendwann umstürzen sollte. Vielleicht wäre das ja sogar die Erlösung aus seiner verfluchten – und allen voran langweiligen – Existenz. Hätte er noch Schultern gehabt, so hätte er nun mit ihnen gezuckt. Wahrscheinlich würde sich nichts ändern, außer dass er dann ein beseelter Trümmerhaufen anstatt einer Säule wäre.


    Bakras blickte zu einem der zerbrochenen, schmalen Fenster neben dem Eingangsportal. Es schneite. Offenbar war es schon wieder Winter geworden. Früher mochte er den Winter nicht sonderlich. Er war kalt und es gab nur das zu Essen, was man das Jahr über haltbar gemacht hatte. Linseneintopf. Was würde er jetzt für einen Linseneintopf geben.


    Heute schaute er gerne dabei zu, wie die Schneeflocken herabfielen und sich ab und an durch das Fenster in die Halle verirrten, um lautlos auf den Staub zu fallen und langsam zu schmelzen. Vielleicht war das nicht besonders spannend, aber es war eine Abwechslung. Es war Bewegung. Es brachte eine Art von Leben herein.


    Damals wurde die ganze Stadt beim ersten Schnee von Kerzen erleuchtet, welche die Leute auf die Fensterbänke stellten. Trotz der Kälte war er deswegen jedes Jahr mit seiner Familie durch die Straßen gelaufen und hatte sich bei den freundlicheren Durharianern heißen Punsch ausgeben lassen, welchen diese zu diesem Anlass an ihrer Haustür verteilt hatten. Er fragte sich wie schon so oft, was wohl aus seinen Kindern und seiner Frau geworden war. Sie waren, so glaubte er, gerade auf dem Marktplatz gewesen, als der Fluch ausbrach. Seitdem hatte er seine liebste Selir nicht mehr gesehen.


    Bakras überlegte noch eine Weile, als er erschrocken feststellte, dass er die Namen seiner beiden Söhne vergessen hatte. Oder hatte er Töchter gehabt? Er seufzte erneut. Er konnte sich noch nicht einmal mehr an das Gesicht seiner Frau erinnern. Ganz bestimmt aber war sie die schönste Frau in der Stadt. Ach wohin, in ganz Durharia.


    Ein fernes Gezeter wurde von draußen zu ihm getragen und riss ihn aus seinen Gedanken. Überrascht versuchte Bakras, einen besseren Blickwinkel zu erhaschen. Aber das war als Säule natürlich aussichtslos. Die aufgeregte Stimme wurde zwar durch den Schnee gedämpft, doch erkannte er sie recht schnell.


    "Schnee! Das ist Schnee! Gibt's denn das? Monatelang nicht mal Regen und jetzt verdammter Schnee! Ich roste!"


    Bakras schmunzelte. Er hatte die Stimme von Murl schon öfter gehört, ihn aber nie gesehen. In einer der Unterhaltungen, die er damals kurz nach dem Fluch noch mit ihm geführt hatte, hatte dieser einmal behauptet, er sei das Schwert des letzten Königs von Durharia. Später erfuhr er durch einen geschwätzigen Schal, der sich nach einem Sturm für einige Stunden in einem der Fenster verheddert hatte, dass Murl eigentlich nur eine alte Schaufel sei.


    Er würde ihm nicht antworten. Murl gehörte zu jenen armen Seelen, die mit ihrem Schicksal weniger gut zurechtgekommen waren als Bakras und hatte die unangenehme Angewohnheit, in ewigen Monologen sein Dasein zu beklagen.


    "Ich roste hier im Schnee! Oh weh mir, oh weh! Wer kann mich nur retten?" zeterte es.


    Eine der Öllampen in der Halle begann zu klappern und erregte Bakras' Aufmerksamkeit.


    "Beim Nachtherren, ist das schon wieder Murl?" erkundigte sich die Lampe mürrisch.


    Bakras lachte. "Ja, Holwar. Wer sollte es in unserem Viertel auch sonst sein? Bleibst du ein paar Jahre wach?" fragte er die Lampe.


    Holwar klapperte erneut. "Ich denke schon. Ich habe lange genug gedöst, glaube ich." Die Lampe wippte an ihrer Aufhängung hin und her. "Sag mir, weißt du vielleicht, wie lange genau?"


    "Ungefähr hundertfünfzig", antwortete Bakras,"Ein paar mehr oder weniger."


    "Ha." Holwar wippte. Wohl ein Nicken. Sein Blick fiel auf das Schneetreiben.


    "Oh, wie schön, es schneit. Erinnerst du dich an das Erstschnee-Fest?" wandte er sich an Bakras.


    Bakras lächelte. Natürlich konnte Holwar sein Lächeln nicht sehen, aber Bakras hatte insgeheim nur darauf gewartet, dass er aufwachte und ihn nach dem Fest fragte.


    "Würdest du mir diesen Gefallen tun?" fragte er Holwar.


    "Nichts lieber als das." entgegnete dieser amüsiert.


    Ein leises, metallisches Klicken ertönte und die Lampe schüttelte sich kurz. Im nächsten Moment züngelte eine kleine, blaue Flamme in Holwar auf, die rasch etwas größer und heller wurde und die große Halle mit warmen Licht erleuchtete.


    Ein seliges Schweigen erfüllte die Halle, als die beiden die tänzelnde Flamme betrachteten. Selbst das anhaltende Zetern von Murl erschien plötzlich weitaus friedlicher.



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    Feedback zu den Adventskalendertexten könnt ihr HIER geben.



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    24 offene Türchen - 24 Texte - von nicht ganz so vielen Bastlern *G*


    Von wem wohl welcher Text stammen könnte...?


    Wie im letzten Jahr habt ihr jetzt noch ein paar Tage Zeit, die noch nicht gelesenen Türchen nachzulesen, Kommentare dazu abzugeben (übrigens auch dann, wenn ihr kein aktiver Teilnehmer sondern nur stiller Mitleser seid ;) ) und ihr könnt hier im Thread öffentlich raten, welche Autoren ihr im Verdacht habt, den einen oder anderen Text verfasst zu haben - mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad, denn es schimmert unterschiedlich viel Welt durch in jedem Text 8)


    Am 29.12. wird dann aufgelöst, und ihr könnt sehen wie richtig ihr mit euren Vermutungen liegt, aus wessen Feder die Beiträge stammen. :thumbup:


    Bis dahin:


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    FROHE WEIHNACHTEN!


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    Die Autoren


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    Und das war er - der Weltenbastler-Adventskalender 2013. Schön war's wieder! :klatsch:


    13 Bastler haben in diesem fünften Jahr des Forenprojekts die 24 Türchen gefüllt - und dabei hoffentlich auch Interesse an ihren jeweiligen Welten geweckt. Egal wieviel von der Welt in den Beiträgen durchschimmert - lesenswert sind sie allesamt! :thumbup:


    Den goldenen Tannenzweig für die meisten abgegebenen Beiträge müssen sich dieses Jahr drei Bastler teilen - nämlich Assantora, RedScorpion und ich mit je drei Beiträgen pro Person. Den silbernen Tannenzweig müssen wir ebenfalls aufteilen, denn mehrere Bastler haben jeweils gleich zwei Beiträge abgegeben *Amanita, Vinni, Nemedon, Epyhriel und Silph jeweils einige silberne Tannennadeln in die Hand drück* ;D und den singenden, klingenden Bronzezweig für den einzigen Beitrag mit Bildchen kann ich dieses Jahr... an mich selber verleihen *tu* 8) Das glitzernde Zweiglein für den schrägsten Text bekommt dieses Jahr Yllar Nar^^, und die goldenen Kerzlein für die absolute Last Minute Abgabe gehen an Jerron und an mich *hust*. Vielen Dank an all jene Bastler, die auf den Forenaufruf reagiert und noch einen Text beigesteuert haben als die Deadline schon längst vorüber war. Das ist das Schöne an den Weltenbastlern - mit Deadlines haben wir zwar unsere Probleme, doch dafür sind immer einige von uns bereit, noch Last Minute mit Texten einzuspringen wenn Not am Bastler ist - ich bin jedes Jahr sehr froh dass es euch gibt! :knuddel:


    Vielen Dank an euch alle, mit euren vielen verschiedenen Beiträgen war jedes neue Türchen spannend (und für mich jede neue PN in meinem Posteingang^^) und bunt. Ihr habt sehr viel Zeit und Mühe in die Texte reingesteckt, und das merkt man ihnen auch an!!!
    Ich hoffe, ich bin euch mit meiner konstruktiven Betaleserei nicht allzusehr auf die Nerven gegangen, und auch die Bastler, deren eingereichte Texte ich leider für den Adventskalender ablehnen mußte (Gründe: zu dicht am negativen Ende der Skala, zu viel Hintergrundwissen zum Textverständnis erforderlich, keine eigene Welt), lassen sich dadurch nicht entmutigen in den nächsten Jahren wieder mitzumachen - ihr schreibt gut, und nur weil's in das Forenprojekt Adventskalender nicht reingepasst hat, heißt das nicht dass ihr nicht stolz auf eure Texte sein dürft, und sie nicht hier (oder im Fall der Texte ohne Weltbezug hier) zeigen könnt. :thumbup:


    Natürlich könnt ihr auch weiterhin HIER Feedback geben. Und nun, da klar ist, welcher Text von wem stammt, ist auch Gelegenheit für ausführlichere Fragen, Erklärungen und Antworten zwischen euch und den Autoren - und vielleicht für weiterführende Links zur jeweiligen Welt...? ;) :D



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