WB-Adventskalender 2013

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    ADVENTSKALENDER-ÜBERSICHT:


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    [01. Türchen] Mutter und Sohn von Amanita
    [02. Türchen] Der zertanzte Krug von Vinni
    [03. Türchen] Der Henker von RedScorpion
    [04. Türchen] Kampfbrüder von Assantora
    [05. Türchen] Geborgen im Dunkeln von Nemedon
    [06. Türchen] Mireen & der Seelenfänger von datLy
    [07. Türchen] Was die Götter sagen von Efyriel
    [08. Türchen] Eine Prüfung der Götter? von Efyriel
    [09. Türchen] Die Dämonenbeschwörung von Assantora
    [10. Türchen] Warum Heute so ist von Sturmfaenger
    [11. Türchen] Auf Messers Schneide von RedScorpion
    [12. Türchen] Idiotenbruder von Silph
    [13. Türchen] Heimfahrt von Veria
    [14. Türchen] Rendezvous von Nemedon
    [15. Türchen] Das goldene Glöckchenvon Vinni
    [16. Türchen] Das Verhörvon Amanita
    [17. Türchen] Die verfluchte Quelle von Assantora
    [18. Türchen] Projekt Bifröst von RedScorpion
    [19. Türchen] Seemannsgarnvon Sturmfaenger
    [20. Türchen] Seetangbande von Sturmfaenger
    [21. Türchen] Die drei Wünsche von Jerron
    [22. Türchen] Großvaterfest von Jundurg
    [23. Türchen] Die Macht der Musik von Silph
    [24. Türchen] Stillleben von Yllar Nar



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    Das erste Türchen des Adventskalenders 2013 öffnet sich gerade lange genug, um schnell hindurchzuschlüpfen. Dann knallt es zu, ein Schlüssel wird umgedreht, und man steht mitten auf einem abendlichen, nur teilweise asphaltierten Marktplatz. Die letzten Kunden werden gerade verabschiedet, die festen Buden der wohlhabenderen Händler für die Nacht gesichert, hier und da werden Warenkisten auf die Ladeflächen altersschwacher Lastwagen gehievt, die in großen Staubwolken davonknattern. Doch die meisten Verkäufer sind zu Fuß hier, so auch eine Frau, die drei kleine, nicht verkaufte Körbe auf dem Rücken trägt, und gerade mit ihrem Sohn den Platz verlässt...




    Mutter und Sohn


    Einst hatte dieser Teil der Hüttenviertel von Enes Tall die Flüchtlinge aus Arisaja beherbergt, doch arunisches Gift hatte in jener Nacht vollbracht, was den sarilischen Waffen verwehrt geblieben war. Kaum jemand hatte überlebt.
    Schon kurze Zeit später waren andere verlorene Seelen in die Hütten gezogen, die die Toten zurückgelassen hatten. Die Herren ihrer Dörfer hatten sie nicht mehr gebraucht. Wenn sie nicht verhungern wollten, mussten sie ihr Glück in der Stadt suchen. Keiner von ihnen wusste, dass in der Erde und dem Wasser dieses Viertels noch immer der Tod lauerte. Ihre Kinder kamen meist tot zur Welt oder starben bald.


    Eine Frau aus Arisaja lebte immer noch auf diesem trostlosen Stück Land, zusammen mit ihrem Sohn. Ihr Name war Kalilah, den Jungen hatte sie Varil genannt. Sie gehörte zu den wenigen, die zweimal überlebt hatten, doch kaum ein Tag verging, an dem sie sich nicht fragte, ob der Tod nicht besser gewesen wäre als dieses Leben. Die Antwort, die sich für sich fand, war immer dieselbe. Es musste einen Grund geben, einen Grund, warum sie überlebt hatte, warum ihr Sohn überlebt hatte, warum es ihn gab. Irgendwann würde sie die Antwort erfahren.
    Man sah Kalilah immer noch an, dass sie einmal schön gewesen war, doch heute prägten Leid und Entbehrung ihr Gesicht. Sie selbst bemühte sich, so unauffällig wie möglich auszusehen. Wenn sie Blicke auf sich zog, bedeutete das Gefahr.
    Varil war ein guter Junge, ein Sohn, auf den jede Ehefrau stolz wäre, wenn sie ihn ihrem Mann geschenkt hätte. Doch Kalilah war keine Ehefrau und Varil kein gewöhnlicher elavischer Junge. Ganz egal, wie oft sie versuchte, es vor sich selbst zu leugnen, etwas an ihm war anders. Eigentlich war das nicht verwunderlich. Im Leben eines elavischen Jungen war der Vater der wichtigste Mensch und Varil hatte keinen Vater, hatte nie einen gehabt.
    Doch Kalilah wusste, dass das nicht alles erklärte. Selbst das feuchteste Holz brannte, wenn er das Feuer anzündete, seine Berührung half den Menschen, die kurz vorm Ersticken waren, wieder zu atmen, doch die, mit denen er Streit hatte, bekamen keine Luft mehr.
    Die Luft selbst schien sich seinem Willen zu beugen. So etwas sollte nicht sein, es war unheimlich, nicht richtig, es machte ihr Angst.
    Der sarilische Soldat war ein Magier gewesen und je älter ihr Sohn wurde, desto häufiger glaubte sie, seine Züge in Varils Gesicht zu erkennen. Die „Gabe" jedenfalls hatte er an seinen Sohn weitergegeben und Kalilah wollte nicht wissen, was sonst noch. Vielleicht war das einzige, was sie in ihrem Leben erreicht hatte, dass sie ein Monster zur Welt gebracht hatte.
    Immer wenn sie so dachte, schämte sie sich. Varil war ein guter Junge. Er half ihr beim Flechten der Körbe, obwohl das Frauenarbeit war, und er lernte fleißig, bestand all seine Prüfungen, obwohl er nur seine Mutter zur Lehrerin hatte. Das Schulgeld konnte Kalilah nicht bezahlen und die Programme für die Armen waren nur für elavische Kinder gedacht, für Kinder, die von ihrem elavischen Vater anerkannt waren.


    An jenem Abend war zunächst alles wie immer. Kalilah hatte die Körbe auf dem Markt verkauft und Varil begleitete sie. Das tat er, seit er alt genug war sie zu beschützen und dafür hatte er schon früh Mittel und Wege gefunden. Seine kräftige Statur und sein entschlossener Blick ließen inzwischen niemanden mehr auf die Idee kommen, dass Kalilah schutzlos und daher ein leichtes Opfer für Diebe und Schlimmeres war.
    Varil hatte seine Umgebung immer genau im Blick. Diese Frau dort drüben wartete auf Freier. Das war nach elavischem Gesetz streng verboten, doch dieses Gesetz wurde regelmäßig ignoriert und wenn die Bestechungsgelder hoch genug ausfielen, drückte die Polizei ein Auge zu. So wie immer in Elavien. Die Dirne beachtete ihn nicht, ein Mann, der mit seiner Mutter unterwegs war, versprach keine Kundschaft. Aus einer Hütte hörte Varil Stockschläge und die Schreie einer Frau. Der Mann versuchte nicht einmal sein Tun zu verheimlichen, er wusste, dass er keine Strafe zu befürchten hatte.
    Wenn er alleine unterwegs gewesen wäre, hätte Varil wohl nicht für sich behalten, was er von solchen Feiglingen hielt, doch das war er nicht, und er musste seine Mutter heil nach Hause bringen. Nicht mehr lange und es würde dunkel werden.
    Sie erreichten die Bushaltestelle am Rand der Hüttenviertel, an der die Schüler abgeholt wurden, die anders als Varil zu den Erwünschten zählten.
    Wenn sie hier abbogen, mussten sie an der alten Fabrik vorbei, um zu ihrem bescheidenen Heim zu kommen. Kalilah mied diesen Weg wann immer es irgendwie möglich war. Sie bog nach rechts ab, auf den Weg, der durch die besseren Teile von Enes Tall führte. Dieser Weg nahm mehr Zeit in Anspruch und manchmal wurden sie fortgejagt, aber sie bevorzugte ihn trotzdem. Allzu oft geschah das auch nicht, viele Polizisten und private Wächter erkannten, dass Kalilah und Varil kein Diebesgesindel waren.
    Hier gab es feste Häuser, viele von ihnen mit mehreren Stockwerken. Die Bewohner gingen ehrlicher Arbeit nach und die Kinder zur Schule, zumindest die Söhne. Die Straßen waren breiter und der Müll weniger. Ein Lufthauch wehte durch die Straße, Wind aus dem Westen, Sarilien.


    Varil schaute über die Häuser der Stadt hinweg zu den Silhouetten der Berge, die das Dalin-Tal umgaben. Sie wirkten sehr nah, doch zu Fuß war man einen guten Tag unterwegs. Als Varil ein kleiner Junge war, hatte seine Mutter ihm erzählt, dass sein Vater ein Krieger aus diesem Land jenseits der Berge war. Damals hatte er sich oft vorgestellt, dass sein Vater irgendwann kommen würde, um ihn und seine Mutter aus dem Elend dieser Stadt wegzuholen.
    Sie hatte nicht gelogen, aber sie hatte einen wichtigen Teil der Wahrheit für sich behalten. Varil wusste, dass sie es getan hatte, um ihn schonen, doch er war kein Schwächling, der das nötig hatte. Wenn Träume entstanden und wieder geraubt wurden, war das schlimmer als jede schmerzhafte Wahrheit. Ganz hatte Varil jedoch nie aufgehört so zu denken. Er sah jeden Tag, wie die Menschen hier in diesem Land miteinander umgingen. Konnte es dort wirklich schlimmer sein? Manchmal zweifelte er daran und wünschte sich immer noch zu wissen, wie das Volk seines Vaters lebte. Und dann schämte er sich vor seiner Mutter für diese Gedanken.
    Sariler konnten keine Milch vertragen, das hatte sie ihm gesagt, denn auch Varil konnte das nicht. Kalilah musste auf dem Markt Heuschrecken und Maden kaufen, damit er nicht unter Mangel litt. Sie hatte von Anfang an auch davon gegessen, damit er es tun würde, doch zu Beginn hatte sie sich davor geekelt. Inzwischen war sie es gewohnt wie so vieles andere hier in Enes Tall auch.


    Varil hörte jemanden heftig husten. Es hörte sich nicht gut an. Er schaute, wo das Geräusch herkam und sah ein Mädchen zusammengekauert am Straßenrand hocken. Sie rang nach Luft, wahrscheinlich krank oder eine der vielen, denen das Gift den Atem gestohlen hatte.
    „Ist es in Ordnung, wenn ich kurz nach ihr schaue?", fragte Varil seine Mutter.
    „Ja, natürlich. Vielleicht kannst du ja helfen", sagte Kalilah.
    Genau das hoffte Varil auch. Er wusste nicht wieso das passierte, doch ihm war schon oft aufgefallen, dass er in solchen Fällen helfen konnte.
    „Sei gegrüßt. Ich bin Varil", sagte er zu dem Mädchen. Ihr lockiges schwarzes Haar fiel ihr ins Gesicht und verdeckte es fast. „Wer bist du denn?" Er wollte ihr keine Angst einjagen. Deswegen berührte er sie auch nicht. Das gehörte sich sowieso nicht.
    „Versuch dich aufzusetzen, dann bekommst du mehr Luft", sagte er. Ansonsten schaute er sie nur an und folgte dem Weg der Luft, die nicht dort ankam, wo sie gebraucht wurde. Er musste einfach nur wollen, dass sie das doch tat und schon atmete das fremde Mädchen ruhiger, der Husten ließ nach.
    Sie beeilte sich auf die Beine zu kommen.
    „Ruh dich ruhig noch ein bisschen aus", sagte Kalilah.
    „Nein, nein, das geht schon wieder. Alles in Ordnung", sagte sie und hustete wieder, nachdem sie so viel geredet hat. „Das war alles meine Schuld. Ich weiß, dass ich nicht schnell rennen darf, aber ich wollte unbedingt noch den Bus erwischen."
    „Das Unglück?", fragte Kalilah.
    Das Mädchen nickte. „Ja, was sonst? Ich bin übrigens Lenima Carsah. Danke, dass Sie sich um mich gekümmert haben."
    „Das ist doch eine Selbstverständlichkeit", sagte Kalilah. „Wir sind hier alle darauf angewiesen, dass wir einander helfen."
    „Das sagt Mandana auch immer", meinte die kleine Lenima.
    Varil hatte den Namen „Mandana" schon gehört, doch er wusste nicht genau, wer sie war. Nur, dass es sich wohl um eine sehr angesehene und einflussreiche Frau handeln musste.
    „Jetzt muss ich aber weiter, halt zu Fuß", sagte Lenima. „Nochmal danke."
    „Ein kleines Mädchen wie du sollte um diese Uhrzeit nicht mehr allein unterwegs sein", bemerkte Kalilah.
    „Ich bin kein kleines Mädchen, ich bin schon elf Jahre alt", stellte Lenima klar. Varil musste grinsen.
    „Trotzdem. Wo musst du denn hin? Vielleicht können wir dich ja begleiten."
    „Zur Hevela-Klink. Das dauert so eine halbe Stunde."
    Von dieser Klinik hatte Varil noch nie gehört. Es gab ein Krankenhaus, das sich um die Opfer des Unglücks kümmerte, aber es hieß anders. Die meisten mieden es, wenn irgend möglich. Nicht vielen Patienten wurde dort wirklich geholfen.
    „Gut, wenn du den Weg kennst, gehen wir mit dir hin", sagte Kalilah.
    „In Ordnung. Dann können Sie Mandana gleich kennenlernen."
    Das wollte Varil auf jeden Fall gerne tun.


    Lenima war ein sehr quirliges Mädchen und eilte vorneweg. Anscheinend hatte sie schon wieder vergessen, wie schnell sie Atemprobleme bekam, oder sie beachtete das einfach nicht. Wenn Varil sie länger anschaute, fiel ihm etwas auf, was ihn beunruhigte. Dieses Mädchen hatte etwas Seltsames an sich, etwas, was ihn entfernt an das Gift in der alten Fabrik erinnerte. Es war ganz schwach, aber es war da, ein Eindruck, den Varil sich nicht erklären konnte. Eine Stimme in seinem Kopf fragte, ob es wirklich richtig war, mit ihr mitzugehen. Womöglich war es irgendein Dämonenkind, das die Gestalt eines unschuldigen kleinen Mädchens angenommen hatte, um Menschen ins Unglück zu locken. Varil wusste nicht, ob sie sie wirklich zu einem Krankenhaus führen würde. Wenn ja, würde er sich dort mit Sicherheit nicht behandeln lassen.


    Als sie die Hevela-Klinik schließlich erreichten, war sich Varil da nicht mehr so sicher. Es handelte sich um einen freundlichen Gebäudekomplex auf einem Hügel mitten in der Stadt. Alles wirkte reinlich, aber nicht so übertrieben, dass es beängstigend wäre, jedenfalls im Eingangsbereich. Hinter den Gebäuden erstreckte sich ein großer Garten mit einer Hecke außenherum. Der würzige Geruch von Kräutern lag in der Luft. Näher zuordnen konnte Varil die aber nicht, weil er sich mit so etwas nicht auskannte.
    Eine sehr schlanke Frau mit glatten Haaren kam auf sie zugeeilt. „Leni, da bist du ja. Warum bist du so spät dran? Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht."
    „Alles in Ordnung, Mama. Hier bin ich ja", sagte Lenima.
    Varils letzte Zweifel verflogen. Lenimas Mutter war ganz offensichtlich eine völlig normale, hart arbeitende elavische Frau, an der nichts Furchteinflößendes war.
    Lenima selbst berührte wie zufällig die Salzlampe im Eingangsbereich und das beunruhigende Gefühl, das Varil in ihrer Nähe gehabt hatte, verflog. Ihm wurde etwas klar. Das, was an Lenima anders war, unterschied sich nicht wesentlich von dem, was an ihm anders war. Vielleicht war sie auch ein Halbblut wie er. Ein Vater war nirgendwo zu sehen und ihre Mutter musste offensichtlich arbeiten.


    Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass mit Lenima alles in Ordnung war, wandte sich Frau Carsah nun an Varil und seine Mutter. „Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen? Möchten Sie sich behandeln lassen?"
    „Nein, vielen Dank, wir haben auch kaum Geld. Wir sind nur mit Ihrer Lenima mitgekommen, damit sie nicht alleine abends durch die Stadt läuft. Sie hat ziemlich übel gehustet, als wir sie gefunden haben."
    „Oh, vielen Dank. Leni, du weißt doch, dass du dich nicht überanstrengen darfst. Wegen des Geldes müssen Sie sich keine Sorgen machen. Die Überlebenden des Unglücks werden hier kostenlos behandelt. Wenn es nicht sehr dringend ist, sollten Sie aber vielleicht besser morgen wiederkommen."
    „Danke, aber uns geht es wirklich relativ gut", versicherte Kalilah. „Da gibt es viele andere, die nötiger Hilfe brauchen."


    „Guten Abend", eine weitere Frau gesellte sich zu der kleinen Gruppe. Ihre Haltung war viel aufrechter, als Varil das normalerweise von Frauen kannte. Sie gab sich keine Mühe, den Blick züchtig gesenkt zu halten, sondern schaute ihr Gegenüber direkt an. Ihre Stimme war sehr klar und deutlich. Schon bevor die Frau sich vorstellte, ahnte Varil, dass es sich hier um Mandana handeln musste.
    Sehr furchteinflößend schien Mandana auf die Menschen, die sie kannte jedoch nicht zu wirken, denn Lenima plapperte sofort drauf los. „Das sind Varil und Kalilah. Sie haben mir vorhin geholfen, als ich einen Hustenanfall hatte und mich hierher begleitet, damit ich nicht allein gehen muss."
    „Vielen Dank, dass Sie sich um Lenima gekümmert haben." Mandana schaute kurz zu dem Mädchen hinüber. „Trotzdem sollst du nicht einfach mit Leuten mitgehen, die du nicht kennst. Du könntest auch Pech haben."
    „Ja, es tut mir leid", sagte Lenima und schaute zu Boden.
    „Sie ist ein richtiger Wildfang, manchmal schwieriger zu hüten als ein Sack Flöhe", sagte sie zu den Erwachsenen. Nun ja, Varil war wohl noch nicht ganz erwachsen, aber im Vergleich zu Lenima kam er sich schon so vor. Vier Jahre machten in ihrem Alter einen großen Unterschied.
    „Ich werde auf jeden Fall noch ein ernstes Wort mit ihr reden", sagte Lenimas Mutter.
    „Wie sieht ihr Vater das denn?" Varil wusste, dass diese Frage ziemlich taktlos war, aber er konnte seine Neugierde einfach nicht im Zaum halten. Er wollte wissen, ob auch Lenima ein Sarilerkind war.
    „Lenimas Vater ist beim Unglück gestorben, genau wie ihre Geschwister", sagte Frau Carsah. „Und ich möchte dich nicht auch noch verlieren, weil du dauernd irgendwo rumstrolchst."
    „Ja Mama", sagte Lenima betreten und entschuldigte sich noch einmal.
    Dann war sie also eine echte Elavierin, dachte Varil. Und trotzdem so, so anders. Inzwischen bemerkte er davon gar nichts mehr, vielleicht hatte er es sich auch einfach nur eingebildet.


    Mandana begann nun, Kalilah ein paar Dinge zu fragen, unter anderem auch nach ihrer eigenen Familie. Varil war das peinlich. Er wusste, wie die Leute reagierten, wenn sie die Wahrheit erfuhren. Wahrscheinlich würde Lenimas Mutter sofort denken, dass sie ihre Tochter vor ihm beschützen musste, wie es so viele Eltern von Töchtern taten.
    Damit er nicht zuhören musste, nahm er sich eine der Broschüren der Klinik und begann zu lesen. Das hörte sich wirklich interessant an. Sie arbeiteten mit Medikamenten, die in Fabriken hergestellt wurden, aber auch mit Kräutern, die die Elavier schon lange kannten.
    Mandanas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Du kannst das lesen?", wollte sie wissen.
    „Ja, natürlich. Ich schreibe jedes Jahr die Schulprüfungen. Meine Mutter hat mir das alles beigebracht."
    Mandana wirkte überrascht, als sie das hörte. „Sie haben ihm das alleine beigebracht?"
    „Ich habe nichts, aber das heißt nicht, dass ich nichts gelernt hatte", sagte Kalilah. „Ich bin in Sarilien ganz normal zur Schule gegangen, bis ihnen eingefallen ist, dass wir Elavier ihrer Meinung nach keine richtigen Menschen sind."
    „Bitte verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht vor den Kopf stoßen", sagte Mandana. „Die meisten ärmeren Frauen, die hierher kommen können nicht lesen. Das ist kein Grund sich zu schämen. Sie hatten nie die Chance, es zu lernen."
    „Ich muss mich entschuldigen. Ich sollte nicht so aufbrausend sein", sagte Varils Mutter. „Es sind einfach all diese Erinnerungen. Damals in Arisaja wollte ich Lehrerin werden, jetzt flechte ich Körbe und komme damit gerade so über die Runden."
    „Das verstehe ich vollkommen und Sie hatten recht. Es ist falsch, vorschnelle Schlüsse ziehen. Wenn Sie es wirklich schaffen, Ihrem Sohn alleine das Schulwissen beizubringen, ist das sehr bewundernswert. Wissen Sie, Frau Tarmar, ich suche schon seit längerem nach einer Frau, die unterrichten kann. Selbst bin ich ja eigentlich nicht für die Klinik verantwortlich, sondern leite ein Heim für Mädchen und junge Frauen, die niemanden mehr haben, oder auf die schiefe Bahn geraten sind. Bildung ist für sie sehr wichtig. Ich würde Sie gerne näher kennenlernen und vielleicht können Sie mir dann dort helfen. Selbstverständlich nur, wenn Sie das möchten."
    Varil schaute seine Mutter an. Wenn die Frau das ernst meinte, wäre es doch eine tolle Chance. Und wenn nicht, wenn sie glaubte, dass sie seiner Mutter falsche Hoffnung machen konnte, würde sie es mit ihm zu tun bekommen.
    „Das wäre eine große Ehre für mich, aber ich weiß nicht, ob ich dafür die richtige bin. Ich glaube nicht, dass ich irgendjemanden auf den richtigen Weg zurückbringen kann." Sie schaute Varil an. „Sie wissen schon, ein Sohn, kein Mann."
    „Selbstverständlich muss ich zuerst etwas mehr über Sie wissen, aber das alleine ist sicherlich kein Hinderungsgrund. Sie haben sich dieses Leben schließlich nicht ausgesucht und selbst wenn es so wäre, gibt es jede Menge schlimmere Vergehen."


    Mandana fuhr die beiden nach diesem Gespräch mit ihrem eigenen Auto nach Hause. Anscheinend gehörte sie zu denjenigen, die genügend Geld hatten, um sich so etwas leisten zu können und keine Angst davor, damit in die schlechteren Teile der Stadt zu fahren.
    Nach dem ersten Treffen besuchten Varil und seine Mutter die Klinik fast täglich. Kalilah verbrachte viel Zeit mit Mandana, während Varil sich überall umschaute, wo er durfte. Lenimas Mutter arbeitete im Kräutergarten und erklärte ihm einiges und manches behielt er sogar.
    Nach und nach schwanden seine Zweifel. Anscheinend gab es tatsächlich reiche Elavier und Fremde, die versuchten hier zu helfen, ohne schwierige Gegenleistungen zu verlangen. Das einzige, was sie taten, waren Proteste gegen die Firma, die für das Unglück verantwortlich war und ihre reichen arunischen Besitzer. Sie hofften offenbar, dass Kalilah als Arisaja-Elavierin dort mehr bewegen könnte als die anderen, denn schließlich waren die Arunier wegen der Verbrechen, die die Sariler gegen Menschen wie sie begangen hatten, in den Arisaja-Krieg eingetreten.
    Varil dachte sich, dass die Sache diesen Preis wert war. Auch er wollte, dass diese Arunier einsahen, dass sie auch für Elavier Verantwortung übernehmen mussten. Am besten war für ihn jedoch, dass sich Mandana nicht für seinen Halbblutstatus interessierte. Hier war er einer von vielen jungen Helfern, ein ganz neues Erlebnis für ihn.


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    Die Texte sind wie jedes Jahr zunächst anonym, damit ihr nach Herzenslust Autorenraten könnt.^^ Wenige Tage nach Weihnachten wird aufgelöst, welcher Text von wem stammt, dann können die Autoren dort im Thread gesammelt auf das Feedback antworten.


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    Ein Mann tritt durch das zweite Türchen hinaus in seinen Hof und starrt sinnend seine zwei Mägde an, die gerade kichernd und schwatzend über den Hof gehen, die eine mit einem kleinen Getreidesäckchen im Arm, die anderen mit einem Melkschemel. "Ach, was soll's", murmelt er schließlich. "Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Heda, ihr beiden! Kommt mal herüber."



    Der zertanzte Krug


    Tuza und Erli waren zwei Mägde, die bei einem Bauern in Dienst standen. Sie sorgten für Haus und Hof, fütterten die Hühner und molken die Kühe. Eines Tages schickte der Bauer die beiden zum Markt, um Milch und Eier zu verkaufen. Die Milch trug Tuza in einem irdenen Krug auf dem Kopf, die Eier Erli in einem Korb auf dem Rücken. Eifrig schwatzend machten sie sich auf den Weg zum Markt. Der Bauer wies sie an, gut auf den Weg zu achten und vernünftige Geschäfte zu schließen. Die Mägde lachten über die guten Ratschläge und freuten sich auf das bunte Markttreiben.
    Es war nun ein heißer Tag und der Weg war lang. Zwischen Feldern und Wiesen wanderten die beiden. Bald stach die Sonne auf sie herab und die Lasten drückten sie nieder.
    „Wir wollen rasten", sagte Tuza.
    „Dort vorn an dem Baum im Schatten", stimmte Erli bei
    Doch als sie den dicht belaubten Baum erreichten, da lag ein Bursche im Schatten und spielte auf einer Flöte ein lustiges Lied. Er sah recht schäbig aus mit einem altem Rock, geflickter Hose und bloßen Füßen, aber er war sauber und sein Hut trug bunte Bänder. Wie er die Mägde so anschaute, blitze es lustig in seinen Augen.
    „Du sitzt in unserem Schatten", beklagte sich Tuza, die ihren schönen Rastplatz verloren sah.
    „Euer Schatten?" fragte der Bursche und ließ die Flöte sinken. „Nicht der Schatten des Baumes oder der Schatten der Sonne? Sie haben euch um Erlaubnis gefragt? Dann verzeiht, wenn ich das versäumte."
    „Unser Rastplatz", erklärte Erli eifrig, „wir sind einen so weiten Weg gelaufen in der Sonne und tragen so schwer. Wir haben uns so auf die Rast gefreut."
    „Nur zu", sagte der Bursche, „setzt euch zu mir und rastet. Es ist genug Schatten da für alle."
    Die beiden Mägde sahen sich an. Sie trauten den freundlichen Worten nicht und waren noch immer verstimmt über den ungebetenen Gastgeber. „Das wäre eine schlechte Gesellschaft", sagte Tuza schließlich, „sieh dich doch an, deine Kleider sind abgerissen. Du bist ein Habenichts, ein Taschenleer. Jeder würde uns auslachen, der uns hier mit dir sieht."
    Auch Erli wehrte ab. „Nein, wir wollen weiterziehen zum Markt und Eier und Milch verkaufen."
    Der Bursche zuckte mit den Schultern. „Ich will euch nicht halten, wenn ihr es so eilig habt. Doch hätte ich gern den Schatten des freundlichen Baumes mit euch geteilt. Ich hätte euch ein Liedchen spielen können, das Müdigkeit vertreibt und euch frisch macht für den Rest des Weges."
    „Wir brauchen deine Lieder nicht", sagte da Tuza.
    Und Erli ergänzte: „Das wird ein rechtes Geflöte sein für Mäuse und Spatzen und anderes unnützes Getier."
    Da seufzte der Bursche. „Ihr seid wahrlich liebreizend und höflich, ihr fleißigen Mädchen. Drum will ich um eine letzte Gunst bitten, bevor ihr weiterzieht: Gebt mir doch einen Schluck von eurer frischen Milch und ein paar Eier, dass ich mir ein Mahl bereiten kann."
    „Pah", machten da die beiden, „dir Bettelmusikant unsere guten Sachen geben? Die sind für den Markt und die anständigen Leute."
    „Ich wollt es nicht geschenkt", wehrte der Bursche ab, „ich will bezahlen mit gutem Geld."
    „Behalte dein Geld", sagte Tuza schnippisch.
    „Wir werden unsere Waren auf dem Markt gut verkaufen", ergänzte Erli, „wir brauchen nicht dein Bettelgeld."
    Da blitzten die Augen des Burschen zornig. „Ich will euch eure Freundlichkeit vergelten, so wie ihr es verdient. Ich will euch ein Liedchen spielen, an das ihr noch lange denken werdet!" Damit setzte er die Flöte wieder an die Lippen und begann zu spielen. Schnell und laut klangen die Töne wie von einem wilden Tanzlied. Die Musik erfasste die Mägde und rief sie zum Tanz. Oh weh, schon sprangen ihre Füße im Takt. Sie drehten sich und regten sich gegen den eigenen Willen. Immer schneller und schneller. Und da ließ Tuza den Milchkrug fahren, so dass er zwischen sie niederfiel und die Milch auf dem Boden vergossen wurde. Die Mägde heulten auf vor Jammer, konnten das Tanzen aber nicht lassen. Sie hüpften und sprangen und tanzen den Krug in Scherben. Und auch die Eier im Korb sprangen in Scherben bei dem wilden Tanz. Erst da hielt der Bursche in seinem Spiel inne. Die Mägde rangen nach Atem, erschöpft und verstört. Und sie sahen, dass die gute Milch und die guten Eier verloren waren.
    „Weh uns", klagten sie da, „was hast du nur getan."
    „Hättet ihr nur friedlich Rast mit mir gehalten, ich hätte es euch gedankt. Das ist nun der Lohn für eure Frechheit und euren Hochmut."
    Da weinten die beiden Mägde und liefen davon, so schnell sie ihre Füße trugen. Der Bursche aber lachte hinter ihnen her. „Geschieht euch recht", rief er.
    „Geschieht euch recht", rief auch der Bauer, als er von der Geschichte hörte. Er warf die Holzschuhe nach den dummen Mägden. „Was fällt euch ein, einen Fremden zu beleidigen und ihm nicht einmal einen Gruß zu gönnen? Ihr dummen Gänse werdet mir nicht mehr auf den Markt gehen. Ihr könnt die Schweine hüten, vielleicht kommt ihr dann zu Verstand."
    Und so geschah es. Tuza und Erli hüteten die Schweine und weinten noch lange dem Tag nach, an dem sie beinahe auf den Markt gewesen waren.


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    Ein Torbogen aus rußig-kalten Backsteinen führt ins dritte Türchen, direkt in eine schmale Gasse, deren unebener Boden mit gefrorenen Pfützen bedeckt ist, bei denen es sich bestenfalls um ausgekipptes Wischwasser handelt. Nur wenige dick vermummte Menschen trotzen noch der Kälte, um die letzten Besorgungen des Abends zu erledigen. Wo die Gasse in die nächstgrößere Straße mündet, sitzen hier und da einige zerlumpte Gestalten. Sie husten und zittern, doch auf mehr als einem Gesicht zeigt sich grimmige Befriedigung, wenn die Hand hin und wieder in die Tasche zu den heute erbettelten Münzen wandert…



    Der Henker


    „...Und so geschah es im Jahre zweihundertdreiundfünfzig, das Jahr von Rukullus dem Schlächter, der ein grausamer Tyrann, Mörder und Feind der Religion war, dass in Zeiten von größter politischer Unmoral, ein Mann, dessen Handwerk das Töten war, zum Zeichen für Hoffnung und Gerechtigkeit für alle guten und aufrechten Bürger wurde! Der Henker von Belhafen! Die Zahl derjenigen, die unter seinem Beil ihr Leben verließen, war nicht zu zählen! Doch eines Tages sollte er eine Frau hinrichten. Jedermann wusste von ihrer Unschuld! Jeder Mann! Jede Frau und jedes Kind wussten es! Und dennoch wollte der verfemte Dabulus als oberster Richter von Belhafen ihren Tod! Denn sein Herz war nicht erfüllt von Gerechtigkeit und der Liebe zu ihr! Nein! Es war kalt und schwarz vor Gier, Feigheit und Unzucht! So kam es, dass der perverse Wahrer des Rechts das arme, unschuldige Weib in infamster Weise beschuldigte, um seine eigenen schmutzigen Taten zu verschleiern. Jeder wusste auch, dass die Frau eine kleine Tochter, die noch zu jung zum Laufen war, hatte, und sie ohne ihre Mutter nicht überleben würde. Die Ungerechtigkeit war so himmelschreiend, dass die Männer der Stadt vor dem Kerker, Tag und Nacht, sich die Haare rauften und ihre Kleidung zerrissen, die Weiber weinten und die Kinder beteten! Doch alles Flehen half der frommen Frau nichts und so wurde sie zum Schafott gebracht, wo sie umgebracht werden sollte.
    Der Richter des Teufels las auf dem Richtplatz selbst die Lügen vor, die er ersonnen hatte, wollte er sich doch selbst an Früchten seiner Verderbtheit laben! Die Frau, schon an den Richtblock gebunden, erwartete ihren Tod demütig. Wissend, dass die paradiesische Ewigkeit im Tod auf sie warten würde. Der Henker holte mit seinem riesigen Henkerswerkzeug aus... Doch anstatt die Frau zu töten, wie er eigentlich hätte tun sollen, erschlug er den verderbten Ankläger! Der Scharfrichter indessen öffnete die Fesseln der Frau und half ihr in die Menge der Bürger zu flüchten. Die Frau wurde von den braven Bürgern der Stadt versteckt und führte den Aufstand gegen die verhasste Tyrannei an. Doch der gute Henkersmann wurde selbst in Fesseln geschlagen und auf dem Richtblock gemordet. Dort schwor er jedoch jedem, der andere vorsätzlich falsch beschuldigt, die er beschützen sollte, noch im Tode zu verfolgen! So wurde der heilige Henker zum Symbol für all jene, die zu Unrecht von den verderbten Mächtigen und Reichen beschuldigt werden!..."

    gehört von einem Wanderprediger in den Straßen Schadrians



    Das kleine Mädchen saß frierend am Straßenrand. Nur noch wenige Menschen waren um diese Uhrzeit auf den Straßen unterwegs. Ihre Lippen waren bereits blau vor Kälte, aber es war noch zu früh, um in die Schlafhalle für Obdachlose zu gehen. Also fügte sie sich in ihr Schicksal und versuchte noch etwas Geld oder Essen von den wenigen vorbeigehenden Passanten zu bekommen. Tatsächlich waren die wenigen Vorübergehenden recht spendabel, was wohl an der bevorstehenden Nacht des Henkers liegen konnte, wo vielen die höhere Gerechtigkeit wieder in den Sinn kam.
    Die Turmuhr in der Nähe schlug noch zweimal, bis die junge Frau sich endlich erheben und zu ihrer Schlafunterkunft eilen konnte. Einsam, mit in den Taschen vergrabenen Händen, schritt sie zügig die dunklen Straßen entlang, während ihr karamellfarbenes Haar ihre Schultern umspülte, an dessen Enden sich schon erste Vereisungen zeigten. Bibbernd lief das Mädchen, das auf der Schwelle zwischen Kind und Frau stand, an einer Seitengasse vorbei, aus der sie Stimmen hörte. Sie blieb stehen und vernahm eine ärgerliche, bösartig klingende Stimme eines Mannes und eine leise, verzweifelte Männerstimme. Sie bog aus Neugier in den schmalen Weg ein. Die Stimmen waren noch viele Schritte entfernt und ob der Dunkelheit vermochte sie keine Details zu sehen. Plötzlich stieß einer der Männer einen lauten Schrei aus. Das Mädchen wandte sich zur Flucht um. Doch sie glitt auf einem glatten, gefrorenen Stein aus und prallte laut auf den Boden. Langsam rappelte sie sich wieder auf. Eine feste, starke Hand griff sie hart am Kragen. Der Griff war erbarmungslos und zwang sie sich umzudrehen. Sie blickte in kalte, erbarmungslose Augen, die zu einem Mann gehörten, der in feine Ausgehkleidung gehüllt war. Dann ertönte von der Hauptstraße her ein Pfiff, gefolgt von schweren Stiefeln, die in ihre Seitengasse einbogen. Mit einem heftigen Ruck wirbelte der Mann sie herum und warf sie hinter sich. Sie flog einige Meter weit und landete auf etwas Weichem und Warmen. Der Mann hinter ihr schrie plötzlich: „Hilfe! Ein Mord!"
    Während die Wachen schnell näher kamen, rappelte sich das Mädchen langsam benommen auf und berührte im Dunkeln eine lauwarme Flüssigkeit. Als sich ihr Blick langsam klärte, sah sie, dass sie auf dem Körper eines Mannes gelandet war, der von einer Blutlache umgeben wurde, die noch in der kalten Luft dampfte. Sie war von dem Lebenssaft des Toten bedeckt, während sie sich langsam zu dem Mann und den Gesetzeshütern umdrehte. Der Mann gestikulierte wild rum, redete auf die Männer ein und zeigte immer auf die junge Frau und den toten Mann. Die Wachen wirkten höchst unentschlossen, als ob sie dem Mann nicht wirklich glauben würden, aber keine Wahl hätten, als ihm zu gehorchen. Langsam klärten sich ihre Sinne wieder, sodass das junge Mädchen hören konnte, was der Mann sagte. Er beschuldigte sie am Mord an dem Mann neben ihr und den wohlhabenden Mann angegriffen zu haben. Der Edelmann wurde immer lauter und wütender, wodurch die beiden Wachen schlussendlich handelten. Einer der beiden kam langsam und vorsichtig auf sie zu.
    „Junge Frau, Sie müssen uns in die Wachstation begleiten. Es wäre besser, wenn Sie uns freiwillig folgten!"
    Die junge Frau nickte nur wortlos, von den Ereignissen vollkommen überrumpelt und immerhin kam sie auch so ins Warme. Als sie an dem Reichen und der Wache vorbeikamen, die bei ihm geblieben war, murmelte der Wachmann:
    „Herr, seid Ihr euch wirklich sicher?... Ihr wisst doch die Nacht des Hen..."
    Sein Stammeln wurde von dem Wohlhabenden barsch unterbrochen: „Abergläubischer Unsinn! Schafft dieses Monster hier weg! Ich muss zur Abendvorstellung!"
    Die Wachen nahmen mit gesenktem Kopf das Mädchen in die Mitte und brachten sie zu ihrer Wachstation, wo sie die junge Frau einsperrten, aber nicht ohne ihr wenigstens eine warme Suppe gebracht zu haben. Die Tür schloss sich und die Heranwachsende war allein im Dunkeln.


    „Abendausgabe! Abendausgabe! Hinterhofmörderin letzte Nacht entflohen! Stadtrat Reyder tot in seinem Bett gefunden! Seine Frau wird vermisst!"


    - gehört von einem Zeitungsverkäufer in Eisenstadt



    Diese Kurzgeschichte hat ein recht offenes Ende. Das ist von ihrem Autor genau so beabsichtigt - denn ab hier ist eure Kreativität gefragt! Der Autor lädt euch ein, eure Ideen und Gedanken zum Schluss der Geschichte in den Kommentarthread zu schreiben. Was meint ihr, ist wohl passiert? Hat sie sich selbst befreit? War es die Frau? Doch der Geist des Henkers? Oder gibt es eine andere Erklärung? Je nachdem welchem Ende sich die Gunst der Leser zuneigt, wird der Autor eine passende Fortsetzung schreiben (Es sei denn die Mehrheit sagt "Ist gut so wie es ist, klau mir nicht meine Phantasie!")


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    Das vierte Adventskalendertürchen besteht aus zwar stabilem aber etwas zu dünnem Holz, um das spartanisch eingerichtete Zimmer akustisch vom Rest des großen Gebäudes zu isolieren. So hat der Bewohner des Zimmers stets die Möglichkeit zeitnah auf plötzlichen Tumult zu reagieren - wie er jetzt gerade wieder von draußen ertönt. Ein leises Seufzen ist zu hören, gefolgt vom leisen Schaben eines zurückgeschobenen Stuhls.



    Kampfbrüder


    Der Krach vor seinem Zimmer war deutlich zu vernehmen und mit einem resignierenden Kopfschütteln erhob er sich, um dem Treiben der jungen Männer endlich ein Ende zu bereiten. Die Arbeit von Hauptmann Nudrin Exes schien niemals ein Ende zu finden.
    Um seiner Stimmung noch mehr Ausdruck zu verleihen, zog er seinen Spangenhelm über den Kopf und hielt sein Schwert in der Hand, als er seiner Wut freien Lauf ließ und mit einem wütenden Schrei seine eigene Tür aufwarf und in den Gang hinaus trat.
    „Wer zum Henker hat schon wieder nichts Besseres zu tun, als sich zu prügeln?“
    Seine Stimme trug weit und überdeckte deutlich den Geräuschpegel des Streits, der sich ein Stockwerk tiefer, in einem der Aufenthaltsräume der Garnison ereignete. Schlagartig verstummten die Geräusche und mit einem finsteren Lächeln schritt der Hauptmann den kurzen Weg zur Treppe und seine Schritte hallten laut in dem Gang, bis er schließlich den Raum erreichte. Er sah die Männer an, die sich inzwischen wieder erhoben hatten und stumm die Konsequenzen erwarteten.
    Der Raum war nicht mehr in dem gleichen Zustand, wie vor dem Streit. Ein Tisch war umgeworfen, drei Stühle lagen zerbrochen herum. Bierkrüge waren verschüttet, Teller aus Blech lagen verstreut, die neue Kratzer und Dellen bekommen hatten.
    Der Hauptmann atmete einmal tief durch, als müsse er seine Wut im Zaum halten. Sollten diese jungen Männer doch denken, dass er wütend genug war, von dem Schwert, welches in seiner Hand ruhte, Gebrauch zu machen. Er hatte einen gewissen Ruf und den würde er schon noch zu verteidigen wissen.
    Nudrin sah jeden einzelnen an. Es waren fünf junge Männer. Sie waren alle neunzehn Jahre alt. Es war ihr erstes Jahr in der Garnison und trugen dem entsprechend eine ganz besondere Uniform, die in einem hellen Blau gehalten war. Sie hatten noch keinen Harnisch, noch kein Kettenhemd, nur einen Helm, der doppelt so schwer war, wie der, den der Hauptmann trug. Die Männer sollten sich an gewisse Schmerzen gewöhnen, um sie im Notfall ertragen zu können. Tatsächlich sollte er dazu dienen, seinen Nacken nicht schwach werden zu lassen.
    Natürlich trug von den fünf Männern keiner einen Helm. Der erste hatte braunes Haar und schwitzte, während aus einer Schnittwunde an der linken Wange ein wenig Blut floss. Der zweite hatte helleres Haar, aber es war noch nicht blond. Er sah dem ersten sehr ähnlich, vielleicht Brüder, oder sogar Zwillinge, vielleicht lag es auch daran, dass dieser Junge ebenso einen Schnitt hatte, nur tiefer, der sich quer über die Stirn zog. Das Blut begann bereits in seine Augen zu fließen. Doch durch die Angst die der Hauptmann versprühte, wagte er nicht, die Hand zu heben und es sich weg zu wischen. Der dritte hielt den Arm angewinkelt, als sei er auf dem Ellbogen gelandet.
    Die letzten beiden Männer sahen den Hauptmann an und standen stramm vor ihm. Insgesamt standen alle in einer perfekten Reihe.
    Innerlich zollte er den jungen Männern Respekt, doch äußerlich sah er aus, wie der lebende Tod, der er vor zehn Jahren gewesen war.
    Seine Schwerthand hob sich und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit ließ er die Klinge auf den Tisch knallen, der bisher ohne Schaden davon gekommen war. Es war laut genug, dass es in den Ohren schmerzte. Die Stille wurde nur durch einen klappernden Teller gestört.
    „Wer hat diesen Streit begonnen?“, fragte der Hauptmann kalt und musterte die fünf. „Wer?“
    Augen zuckten hin und her, schließlich trat der zweite in der Reihe vor und wagte kaum, in das Gesicht des Hauptmanns zu blicken.
    „Ich, Hauptmann“, sagte er nur und schluckte gleich zweimal, um seine Angst im Zaum halten zu können.
    Nudin lächelte kalt und als er sich vor den jungen Soldaten stellten, knirschten seine Lederstiefel auf den steinernen Boden. Er musterte den Jungen noch einmal gründlich, bevor er ihn eine sehr einfache Frage stellte. „Warum?“
    Der Junge schien Mut zu fassen und blickte den großen Mann mit den durchdringenden, fast schwarzen Augen an. Versuchte aber gleichzeitig die Narbe zu ignorieren, die von der rechten Wange über den Nasenrücken lief. Mit ein wenig Glück, hatte Nudrin sie sich erkauft, und war dafür mit dem Leben davon gekommen.
    „Es ging um ein Mädchen“, sagte der Junge und schluckte wieder seine Angst hinunter.
    Nudrin lächelte. Nicht, weil er diesen Grund für einen Streit verabscheute, sondern weil es ihn doch sehr an seine eigene Vergangenheit erinnerte. Er war vielen Mädchen hinterher gelaufen, doch mit seinen fast sechzig Jahren war diese Zeit beinahe vorbei, beinahe zumindest.
    „Ist sie hübsch?“, fragte Nudrin mit eisiger Stimme, dennoch lächelnd und mit einem schief gelegten Kopf.
    „Ja“, sagte der Junge und entspannte sich. „Ich würde sie vor jeden Mann, der ihr Böses antun will, beschützen.“
    Nudrin nickte. „Wer ist dein Gegner? Wer von diesen vier Männern ist der Böse?“ Sein Blick ging über die Männer hinweg, und blieb bei dem hängen, der sich den Arm hielt.
    „Tritt vor“, sagte Nudrin knapp. „Nenne mir deinen Namen.“
    „Speran“, sagte der Junge und bekam kaum die Zähne auseinander.
    „Und du?“, fragte Nudrin kalt und sah zu dem Jungen, der den Streit begonnen hatte.
    „Mesos“, sagte er nur.
    „Gut“, sagte Nudrin lächelnd und entledigte sich seines Helms, den er dem Jungen namens Speran reichte. Seine pechschwarzen Haare, die am Ansatz langsam ergrauten, zeugten von seinen Jahren im Dienste des Militärs.
    Der Junge sah den Hauptmann unsicher an. Nudrin starrte ihn an und presste den Helm so in seine Finger, dass er ihn beinahe fallen ließ.
    „Setz den Helm auf“, sagte er und wandte sich seiner Waffe zu, nahm sie und reichte die Klinge dem Jungen, der um sein hübsches Mädchen kämpfte.
    Der Junge verstand, dass er die Waffe in die Hand nehmen sollte, doch seine Finger zitterten, als er sich der Klinge näherte.
    Als er das Schwert endlich in der Hand hielt, ging Nudrin ein Stück zurück.
    „Speran hat meinen Helm auf“, begann Nudrin. „Es ist ein Spangenhelm, den die Soldaten im Felde verwenden. Er ist ungewöhnlich leicht, aber in diesem Fall ist es dein einziger Schutz.“
    Der Hauptmann wand sich an den anderen Jungen.
    „Mesos, du wirst nun mit Speran kämpfen. Und ich will, dass du die Klinge so hart gegen seinen Helm schlägst, dass er bricht.“
    Die Angst trat in den Augen aller Männer und die beiden Kämpfer sahen sich aneinander an und waren einen Moment lang vollkommen fassungslos. Was man von ihnen verlangte war der reine Wahnsinn und Nudrin wusste dies sehr genau.
    „Was ist?“, fuhr er die beiden Jungen dennoch an und begann, die drei anderen Jungen aus dem Weg zu schieben, um Platz für ein Kampf zu machen. „Stellt euch auf und dann kämpft um die Ehre des Sieges.“
    Angst und Furcht waren in dem mit Kohlenpfannen erleuchteten Raum nun deutlich greifbar. Es war für die jungen Soldaten unerträglich kalt geworden und auch die drei Männer, die nicht betroffen waren, hatten die gleichen Emotionen eine Bedeutung. Angst und Furcht. Man konnte sie beinahe auf der Zunge schmecken.
    Die beiden Soldaten rührten sich nicht, während er sie anstarrte. Schließlich schritt er zu dem, der die Klinge in die Hand hielt.
    „Bist du so ergriffen von der Chance, deinen Widersacher nieder zu machen, dass du nicht mal mehr die einfachsten Übungen beherrschst?“
    Der Junge öffnete unsicher den Mund und versuchte zu antworten. Sein Gestammel war so leise, dass Nudrin es kaum zu verstehen vermochte.
    „Lauter!“, fuhr der Hauptmann ihn an und dieser zuckte zusammen - ihm entglitt das Schwert, das scheppernd auf den Boden fiel.
    „Ich kann nicht“, sagte Mesos und starrte an den Hauptmann vorbei auf den anderen Soldaten. „Speran ist ein Freund.“
    „Ein Freund?“, fragte Nudrin kalt und erinnerte sich an die Ereignisse, die ihm einen solchen Ruf eingebracht hatten. „Ich hatte auch einen Freund, beinahe schon ein Bruder. Er hat mich betrogen und hintergangen. Speran wird dir früher oder später in den Rücken fallen. Mir ist es so ergangen. Warum sollte dir nicht das Gleiche passieren?“
    „Aber er ist mein Freund“, sagte Mesos und sah den Hauptmann flehend an. „Ihr könnt nicht verlangen, dass ich gegen ihn kämpfe und ihn umbringe.“
    „Aber mit Fäusten ist es euch recht?“, fragte Nudrin den Jungen und seine Stimme wurde sanft. „Nimm das Schwert in die Hand.“
    Unsicher sah Mesos seinen Hauptmann an. Ruhig erwiderte er den Blick und schließlich wagte der junge Soldat es, sich nieder zu knien und das Schwert zu umfassen. Vorsichtig hielt er es in den Händen. Nudrin blickte dem Jungen in die Augen, während er sich erhob.
    „Weißt du, was für ein Schwert du da in Händen hältst?“
    Unsicher nickte der Junge.
    „Betrachte es und erzähle mir, was du siehst.“
    Der Junge schien im ersten Moment nicht so Recht zu verstehen, was der Hauptmann von ihm wollte, doch er folgte den Anweisungen und betrachtete die Klinge, den Griff, die feinen Verzierungen, die entlang der Schneide ins Metall eingearbeitet worden waren. Schließlich hob der Junge den Kopf und sah den Hauptmann fragend an, als solle Nudrin ihm sagen, was er hören wollte, doch dieser schwieg nur.
    Mesos musste schlucken, um genügend Mut aufbringen zu können, Worte in seinem Mund zu formen.
    „Es ist die Klinge, die Taberus getötet hat“, sagte er und reichte dem Hauptmann das Schwert zurück. „Es ist Euer Schwert und niemand außer Euch sollte es in Händen halten.“
    „Mit dieser Klinge wurde Taberus aber nicht getötet“, sagte Nudrin und die Bestürzung dieser Tatsache ließ Mesos keuchen und er blickte sich zu seinen Kameraden um.
    „Aber die Geschichten...“
    „Die Wahrheit liegt viel näher, als du vielleicht glaubst“, sagte Nudrin. „Ja, ich bin mit diesem Schwert gegen Taberus angetreten, den letzten der neun Kriegsherren von Rekoras, doch diese Klinge hat nur einen winzigen Tropfen vom Blute Taberus' getrunken.“
    Nudrin lächelte, als den Jungen dämmerte, wie wenig Wahrheit in einem Gerücht steckte. Wie wenig Glauben man in den Berichten von Augenzeugen legen konnte.
    „Taberus starb hierdurch.“
    Nudrin zog seinen Dolch. Ein schmuckloses Ding, auf dessen Klinge eingetrocknetes Blut klebte. Nach den Jahren der Verwahrlosung war die Klinge stumpf und mit Rost besetzt. Es war nicht die Waffe eines Kriegers, es war die Waffe eines Meuchelmörders.
    Schockiert ließ Mesos die Klinge erneut fallen und starrte den Dolch an. „Was wollt Ihr von uns?“
    „Ich will, dass ihr etwas begreift“, sagte Nudrin und hob seine Klinge selbst wieder auf. „Ihr seid junge Männer und ihr werdet in drei Jahren eine Uniform tragen, die euch Privilegien, aber auch Pflichten abverlangt. Ihr werdet diese Stadt schützen. Ihr werdet eurem Land dienen und im Notfall für dieses Reich sterben.
    Ihr seid jung und unerfahren und ihr zankt euch um ein Mädchen. Einer von euch wird sie bekommen, oder keiner. Ihr wisst nicht, ob ihr in einem Jahr überhaupt noch am Leben seid. Ihr wisst nicht, wie es ist, im Krieg zu sein.
    Ihr habt wohl immer gedacht, Soldat zu werden, ist ehrenhaft und man wird mit Auszeichnungen überschüttet, einfach weil es so viele gibt. Aber ihr irrt euch.“
    Nudrin sah die anderen jungen Soldaten an. Keiner wagte es, ein Wort zu sagen und Speran hatte immer noch seinen Helm auf. Er streckte die Hand aus und der Junge zog sich den Helm wieder vom Kopf und überreichte ihn ihm.
    „Dieser Helm ist nicht jener, mit dem ich mit meinen Kampfbrüdern in diese entscheidende Schlacht gezogen bin. Taberus war ein Riese. Bevor auch nur einer von uns fünfen zuschlagen konnte, hieb dieses Ungeheuer meinem Nachbarn ein Bein ab. Den Schrei werde ich nie vergessen. Ich hatte einen Helm, ähnlich wie diesen. Doch der gewaltige Kerl schlug auch mich nieder und spaltete meinen Helm. Die Klinge drang nicht in meinem Schädel ein, doch mein Haar verdeckt eine Narbe, die mich jeden Tag daran erinnert, wie knapp ich dem Tod entkommen bin.“
    Nudrin musterte die Jungen und entspannte sich. Er ließ den Dolch wieder verschwinden und betrachtete seine Waffe, bevor er sie wieder einsteckte.
    „Ihr seid keine dummen Menschen. Ihr seid Soldaten, die hier lernen, wie man sich im Fall des Falles zu verteidigen hat. Ihr seid Soldaten, die das Land verteidigen sollen, doch ihr kämpft um ein Mädchen. Ist das richtig? Mesos, antworte mir.“
    „Nein“, sagte der Junge.
    „Falsch“, sagte Nudrin und lächelte, als die Soldaten ihn verwundert ansahen. „Ein Mädchen ist ein guter Grund zum Kämpfen. Doch ihr solltet nicht untereinander kämpfen. Ihr könnt für dieses Mädchen kämpfen, ihr alle, indem ihr sie vor Gefahren beschützt, vor denen sie kein normaler Mann beschützen kann.
    Die Kriegsherren sind tot und deswegen kann dieses Mädchen in Freiheit leben. Bedankt euch bei mir, oder jenen, die tapfer gestorben sind.“
    Das Schweigen im Raum schien für Mesos, Speran und die Freunde mehr als unangenehm zu sein. Nudrin hingegen nutzte die Zeit und betrachtete den Jungen, der ebenso eine Verletzung abbekommen hatte, bisher aber schwieg.
    „Bist du zwischen die Fronten geraten?“, fragte er ihn freundlich.
    „Ich habe versucht sie zu trennen“, sagte der Soldat und blickte zu Boden. „Hat nur nicht so geklappt, wie ich es mir vorgestellt habe.“
    „Verstehe“, sagte Nudrin und betrachtete die Gruppe noch einmal. „Ab Morgen werdet ihr einen Monat lang von mir unterrichtet. Ich werde euch zeigen, dass eure Streitigkeiten vollkommen unangebracht sind. Ihr werdet härter und länger trainieren, als alle anderen jungen Soldaten in dieser Garnison. Ihr werdet lernen, dass ein schmerzender Muskel noch lange kein Grund ist, mit den Übungen aufzuhören. Ihr werdet ab Sonnenaufgang die Übungen beginnen. Ihr werdet in voller Rüstung üben und ihr werdet mit zwei Einhandschwertern umgehen. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt.“
    „Ja, Hauptmann“, antworteten die Soldaten im Chor.
    „Gut“, sagte Nudrin gelassen und wandte sich um, um den Raum zu verlassen. Er hatte beinahe schon die Tür erreicht, als seine Ohren etwas aufschnappten.
    „Danke, ihr zwei Chaoten“, zischte eine leise Stimme.
    Nudrin wirbelte herum. Es war der Junge, der die beiden Streithähne auseinander halten wollte. Nudrin richtete seinen Blick auf diesen jungen Mann. „Ihr solltet wirklich dankbar sein. Ihr werdet von mir ausgebildet. Gibt es eine größere Ehre, als mit dem Retter des Landes trainieren zu können? Trainieren, mit einem Helden?“
    „Wir sollen gegen euch kämpfen?“, platzte es aus dem Soldaten heraus. „Das ist vollkommen unmöglich.“
    „Ich bin nicht mit diesen Fähigkeiten auf die Welt gekommen“, mahnte Nudrin den Soldaten. „Ich habe viele Jahre hart üben müssen, um diesen Rang zu erreichen. Und im Übrigen habe ich diesen Rang mehr als verdient.“
    Er drehte sich um und verließ den Raum. Er konnte das breite Grinsen auf seinem Gesicht kaum mehr verbergen.
    Die fünf naiven jungen Soldaten würden schon sehr bald lernen, dass Nudrin Exes nicht der brillante Taktiker im Zweikampf war. Er war nicht der beste Soldat des Landes, aber er hatte entscheidend dazu beigetragen, das Land vor einer großen Gefahr zu befreien, vor einem Überfall barbarischer Krieger, die sich gegen die Autorität der Zivilisation stellten und die die Freiheit vieler tausend Menschen beenden wollten.
    Er war kein Soldat gewesen, als er mit dem Kriegsherrn gekämpft hatte. Er war wie von Sinnen gewesen, als Taberus seine Kameraden einfach abgeschlachtet hatte. Er hatte nicht mehr an die Übungen gedacht, die ihm eigentlich helfen sollten, am Leben zu bleiben. Er war nur auf Rache aus und er hatte sie genossen.
    Der Kriegsherr hatte ihn zu Boden geschleudert. Die Narben an seinen Armen waren nass vom Blut und sein Schädel hämmerte wie verrückt. Nudrin hatte damals mit dem Leben abgeschlossen an jenem Ort, wo sich die Zukunft nicht nur seines Landes, sondern vielleicht auch der ganzen Welt entscheiden sollte.
    Taberus war mit einem Lächeln im Gesicht und mit dem stolzen Gang eines Siegers auf ihn zugekommen und hatte seine Zweihandaxt über den Kopf gehoben, um Nudrin endgültig das Leben zu nehmen.
    Der verzweifelte, von Trauer und Schmerz so gepeinigte Soldat hatte seinen Kummer genutzt, um sich noch einmal auf ihn zu werfen und der kleine Dolch, mit einer Klinge nicht länger als eine Handspanne fand eine Lücke in dem dicken Leder und bohrte sich tief in seiner Brust und löste einen Schrei von seinen Lippen.
    Nudrin erinnerte sich noch genau, dass sie beide geschrien hatten. Sie beide hatten Schmerzen, aber im Gegensatz zu Taberus überlebte Nudrin Exes schwer verletzt und mit einem steifen Unterarm und konnte seine Geschichte erzählen.
    Doch die Menschen wollten nur die phantastische Geschichte eines Soldaten hören, der mit Mut und der Gewissheit des Sieges in die Schlacht gezogen war und unbeschadet daraus wieder hervorgegangen war. Mit dem Tod der Kriegsherren war der Mut der Krieger gebrochen. Keiner wusste warum, einige vermuteten, dass die riesigen Kriegsherren eine Art Magie besaßen, mit denen sie den Kriegern Kraft, Ausdauer und Stehvermögen gaben.
    Doch Nudrin interessierte dies nicht mehr. Dies war eine andere Geschichte und sie würde sich wahrscheinlich niemals wiederholen. Nudrin würde alt werden, im Bett sterben und nicht in der Schlacht. Mittlerweile empfand er dieses Schicksal als angenehm und er ging mit einer gewissen Gelassenheit zurück in sein Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich.
    Nudrin Exes, der Retter der Welt. So wurde er genannt. Nun war er Ausbilder und diese Wendung seines Lebens war besser, als alles andere, was er zuvor erlebt hatte.
    Doch eine Sache würde Nudrin niemals vergessen.
    Nachdem Taberus tödlich getroffen war, sprach er ein Wort aus, welches sich in Nudrins Gedächtnis brannte und ihn daran erinnerte, dass die Bedrohung von Außen immer noch real war. Denn Taberus sprach damals nicht für sich sich allein, sondern für jeden einzelnen Barbaren, der den Krieg überlebt hatte und sich in die Weiten des Westens zurückgezog um seine Wunden zu lecken. Sie durften in ihrem Bestreben, die Grenzen zu sichern niemals nachlassen. Dafür wollte Nudrin sorgen. Er schloss die Augen, als das Wort durch seinen Geist hallte: Rache.


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    Aus dem fünften Türchen muss man sich vorsichtig herauswinden, denn es besteht aus einem bunten Strangwirrwarr summender Kabel, die sich zusammen mit verschieden dicken Rohren und Energieleitern an der Oberseite eines schmalen, verwinkelten Ganges entlangwinden. Wenn man weiß wo man hochklettern muss gibt es an einer Stelle hier oben ein prima Versteck auf einem Verteilerknoten - für Erwachsene unerreichbar…



    Geborgen im Dunkeln


    „Wo hast du dich versteckt, Adda?" Aufgebracht klappte eine dunkelhaarige Frau die Türen von Schränken und Service-Blenden auf, nur um sie kurz darauf wieder zu zuwerfen. „Ich weiß, dass du dich hier versteckt hast", knurrte sie. „Komm lieber raus, bevor ich noch wütender werde." Entnervt stemmte sie ihre Fäuste in die Hüften, und blickte den langen verwinkelten Gang entlang, in dem kein Fleckchen Seitenwand ungenutzt schien.
    Irgendwo in diesem engen Halbdunkel muss diese kleine Rotzgöre doch stecken, dachte sie bei sich.
    Wie zur Antwort baumelte einige Schritte vor ihr eine blonde Haarsträhne von einem Rohrbündel an der Decke herab, die sogleich wieder verschwand.
    Ihre Wut verblasste so schnell, wie das Licht einer ausgeblasenen Kerze. An dessen Stelle kroch nun kalte Angst von ihrem Bauch aus den Rücken hinauf. Dort oben verlief ebenfalls die Hauptstromleitung.
    „Adda?", sagte sie mit gepresster Stimme. Sie zwang ihre verkrampften Hände sich zu öffnen und räusperte sich. Langsam näherte die Frau sich der Stelle an der Decke. Beinahe heiser sprach sie weiter, ohne jedoch nach oben zu blicken. „Hey, wo mag bloß meine Addalina stecken? Langsam macht sich Mama Sorgen um ihr kleines Mädchen." Als sie noch immer nichts von dem Mädchen hörte, fuhr sie fort: „Wenn sie sich jetzt langsam zeigen würde, ohne mich zu erschrecken, dann würde ich ihr auch bestimmt nicht mehr böse sein."
    „Wirklich nicht?", drang eine leise Kinderstimme von oben herab.
    Die Frau musste schlucken. Dann blickte sie langsam hoch in die hellblauen Augen ihrer Tochter. „Wirklich nicht", antwortete sie mit sanfter Stimme. „Doch nun kommst du ganz vorsichtig da runter. Und gib Acht, dass du nicht die Kabel berührst."
    „Is' ok, Mama." Erleichterung schwang in der Stimme Addalinas mit. Zögerlich ließ sie sich in die offenen Arme ihrer Mutter gleiten.
    Fest umklammerte diese ihre Tochter. „Mach das nicht noch mal, Adda", flüsterte sie in die zerzausten Haare ihres Kindes. „Du hast mich fürchterlich erschreckt."
    „Tut mir leid, dass ich deinen Anzug put gemacht hab'", wisperte das Mädchen zurück. „Ich wollte ihn mir nur ma' ankucken."
    „Ach Adda, das war zwar falsch, doch das meinte ich nicht." Mit ihrem Kind auf dem Arm ging sie langsam den Flur weiter. „Dort oben bei den Rohren verlaufen auch die Energieleitungen. Wenn du zu stark daran gezogen hättest, oder wenn du hängen geblieben wärst …". Sie ließ den Satz unvollendet, als sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. „Was hätte ich denn ohne dich machen sollen, mein Schatz?"
    „Ach, mir passiert schon nix", meinte Addalina. Doch als sie der strafende Blick ihrer Mutter traf, fuhr sie augenblicklich fort: „Aber ich verspreche dir, dass ich nie wieder da rauf klettere."
    Die Zwei erreichten das Ende des Flurs. Die Mutter musste sich leicht vorbeugen, als sie, noch immer ihre Tochter festhaltend, über die erhöhte Schwelle einer Sicherheitstür trat.
    Zusammen schauten sie aus einem gewölbten Panoramafenster, hinter dem nur Dunkelheit zu liegen schien. Ein funktionaler Sessel umgeben von Steuerkontrollen war davor verankert.
    Sanft wischte Adda eine verirrte Träne von der Wange ihrer Mutter. „Du weißt doch Mama, dass wir zu den großen Schwalf geh'n, wenn wir sterben. Dann stimmen wir ein in den ewigen Gesang und tanzen um den schwarzen Rauch."
    „Schwalif heißen sie", korrigierte sie ihre Mutter. Ernst blickte sie ihr in die Augen. „Doch was passiert mit den Bösen? Hast du das etwa vergessen?"
    „Nein Mama." Adda schüttelte ihren blonden Schopf. „Die Bösen kommen in den Himmel. Und an der feurigen Erde dürfen sie sich auch nicht wärmen."
    „Na, dann will ich mal hoffen, dass du von nun an lieb bist." Neckend küsste sie ihre Tochter hinter dem Ohr.
    „Das kitzelt", beschwerte sich Adda kichernd.
    Ihre Mutter nahm in dem Sessel platz, und setzte sich die Kleine auf den Schoß. „Lass mich nur eben etwas überprüfen, dann gehen wir wieder nach hinten, und ich zeige dir wie man Mamas Anzug reparieren kann."
    Sie kontrollierte die Anzeigen des Schiffes. Einer der Zeiger stand ruhig bei zweihundert Bar, und der Geschwindigkeitsmesser bei fast Zweihundertfünfzig.
    „Über tausend Faden und genug Knoten für eine stabile Kavitation", murmelte sie. Kurz noch überprüfte sie den Kurs, bevor sie sich wieder erhob.
    „So Addalina." Sie hob ihre Tochter unter den Armen hoch, und stellte sie auf den Boden. „Den Rückweg läufst du aber", meinte sie, während sie sie leicht unter den Achseln kitzelte. Lachend rannte die Kleine voraus, während ihre Mutter ihr einen Moment gedankenverloren hinterher schaute.
    U-Boote waren wirklich nicht der passende Ort, um Kinder groß zu ziehen. Doch welche Wahl blieb ihnen als den Überlebenden dieser zugefrorenen Welt?


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    Ein alter Mann, der schwer an einem unförmigen Sack zu tragen hat, stapft zum sechsten Türchen und stellt ihn ächzend ab.
    Mit einem rotgewandeten Ärmel wischt er sich den Schweiß von der Stirn und zieht einen Flachmann voller Glühwein aus der pelzbesetzten Manteltasche hervor. Nachdenklich nimmt er einen Schluck und beißt von einem Lebkuchen ab, während er den Weg einer jungen Frau verfolgt, die unweit von ihm ihren Weg durch die Menge sucht. Gerade in diesem Moment greift sie einem Passanten in die Tasche.
    Der rauschebärtige Alte schnalzt mißbilligend mit der Zunge, runzelt dann aber kurz die Stirn und gibt ein verständnisvolles Brummen von sich.
    Dann klopft er sich die letzten Lebkuchenkrümel ab, nimm seinen Sack auf und rempelt auf der Straße einen Mann an, der sich empört nach ihm umdreht - und dann erstarrt als sein Blick auf die junge Frau fällt...



    Mireen & der Seelenfänger


    Viele Sommer waren seit Mireens Geburt vergangen - dem dunkelsten Tag in ihrem Leben. Niemand konnte ihr sagen, warum keine Seele vom Himmel gefallen war, um ihren Körper zu beleben. Ihre Mutter hatte die ganze Nacht, nach ihrer Geburt, mit ihrer Tochter im Freien verbracht, aber kein Stern war gefallen. Und auch in den folgenden nächsten wartete Mireens Mutter vergebens.
    Mireen wusste davon viele Jahre nichts.
    Erst als sie bereits mehrere Sommer zählte und die anderen sie mehr und mehr mieden, erzählte Mireens Mutter ihrer Tochter das Unaussprechliche.
    Seit diesem Tag hatte sich Mireen mehr und mehr zurück gezogen; im Laufe der Zeit hatte sie es sogar geschafft sich einzureden, dass sie ohne Seele besser dran war.
    Zumindest hatte sie keine Skrupel, ihre hart arbeitenden Eltern eines Tages, ohne eine Wort, allein zu lassen und heimlich aus ihrem Dorf zu verschwinden.
    Letzten Endes atmeten die Dorfbewohner sogar auf, als sie realisierten, dass sie für immer gegangen war - selbst ihre Eltern.


    Schon bald fand Mireen ihre Bestimmung und wurde in erstaunlich kurzer Zeit zu einer der geschicktesten Langfinger auf großen Märkten. Selbst kleine Börsen wechselten den Besitzer und Mireen schreckte auch vor Kindern nicht zurück.
    Andere Diebe wussten oft nicht, ob sie die kleine Frau hassen oder bewundern sollten, aber obwohl sie Mireens Geheimnis nicht kannten, bezeichneten sie sie oft als seelenlos.


    Mireen kümmerte es nicht ... bis zu dem Tag an dem sie einem Sol'ebienne begegnete.
    Bis zu dem Tag hatte sie sie für einen reinen Mythos gehalten; die Erzählungen über sie für puren Unsinn. Doch als sie dem Sol'ebienne auf der Straße begegnete, stellten sich ihr alle Haare auf.
    Es war ein Mann in den besten Jahren, klein gewachsen, aber dennoch gut aussehend. Mireen hatte nie geglaubt, dass ein blau umrahmtes Gesicht attraktiv sein könnte, aber diesem Mann verlieh es eine anziehende Exotik. Es stimmte also, dass die Sol'ebienne vom Ansatz des einen Ohrs, über die Schläfe, die Stirn, die andere Schläfe bis zum anderen Ohr eine bläulich schimmernde Haut hatten. Das Blau setzte sich im Haaransatz fort, bis es in ein weißes Blond überging. Auch seine Fingernägel waren blau, und zum ersten Mal in ihrem Leben fragte sich Mireen, wie dieser Mann wohl nackt aussehen würde und wo das Blau noch auf seinem Körper zu finden wäre.
    Doch mehr als sein ungewöhnliches, anderes Aussehen zogen Mireen die Augen des Mannes an.
    Sein Blick war unstet, huschte stets von Ort zu Ort und schien nie etwas richtig zu fokussieren, geschweige denn zu sehen. Erst als sein Blick Mireen traf, verharrte er und ließ sie nicht mehr los. Und Mireen war so, als ob sie nicht nur ein Augenpaar anstarrte, sondern mindestens ein Dutzend.
    Zunächst war Mireen wie erstarrt, und sie fühlte sich seit langer Zeit wieder einmal ertappt - erkannt als das was sie war: eine Diebin.
    Erst im nächsten Moment begriff sie, dass er es wusste. Obwohl sie keinerlei Gespür für zwischenmenschliche Schwingungen hatte, wusste sie, dass er es wusste. Und Mireen rannte.
    Sie wollte so schnell wie möglich fort von diesem Mann, der etwas über sie zu wissen schien, dass sonst keiner wusste - keiner wissen durfte, um nicht wieder vollkommen ausgeschlossen zu werden.


    Als sie nach vielen Straßen, Kreuzungen und Brücken schließlich außer Atem stehen blieb, blieb ihr fast das Herz stehen, als sie jemanden, ebenso atemlos, hinter sich fragen hörte: "Warum läufst du vor mir weg?"
    Erschrocken drehte sich Mireen um und schaute in die irritierenden Augen des Sol'ebienne. Erneut hatte Mireen das Gefühl, dass sie mehr als ein Augenpaar beobachtete, aber in dem kleinen Hinterhof, in dem sie angehalten hatten, waren sie allein.
    "Warum läufst du mir hinterher?"
    "Weil du meine Hilfe brauchst."
    "Wieso sollte ich deine Hilfe brauchen?"
    "Du hast keine Seele!"
    Es war eine Feststellung - ohne Wertung. Nicht der Hauch eines Zweifels war in seiner Stimme zu hören.
    Mireen schluckte. Sie fühlte sich Jahre zurück versetzt. Zurück versetzt an den Tag, an dem ihre Mutter ihr die Wahrheit erzählt hatte. Damals hatte sie ihre Erklärung mit genau den gleichen Worten beendet. Und wie damals antwortete Mireen: "Das kann nicht sein."
    Mireens Mutter hatte seinerzeit geschwiegen, der Sol'ebienne hingegen widersprach: "Du weißt, dass es so ist. Aber ich kann dir helfen. Ich kann es wieder gut machen."
    Mireen war verwirrt: "Wieder gut machen? Du maßt dir an, einen Fehler der Götter korrigieren zu können?"
    "Wahrscheinlich war es kein Fehler der Götter. Wahrscheinlich war es einer von meinesgleichen, der dir das angetan hat."
    "Einer von deinesgleichen?"
    "Ich bin ein Seelenfänger."
    Erneut lief es Mireen eiskalt den Rücken hinunter. Seelenfänger waren Gruselgestalten aus Geschichten, die Eltern ihren Kindern erzählten, wenn sie unartig waren.
    >> Pass auf - wenn du das nächste Mal unartig bist, dann kommt der Seelenfänger und holt deine Seele. <<
    Und jetzt stand angeblich einer vor ihr und bot ihr seine Hilfe an.
    "Selbst wenn, wie solltest du oder ein anderer für meinen Zustand verantwortlich sein?"
    "Du weißt, dass für jedes Neugeborene eine Seele vom Himmel fällt und in dessen Körper fährt. Aber in ganz seltenen Fällen, bekommt ein Neugeborenes eine Seele von einem gleichzeitig Verstorbenen. ... Wenn sie nicht vorher von uns aufgehalten wird ... Wenn wir unserer Bestimmung nachgehen, denken wir nicht daran, dass wir wir vielleicht jemandem seine Seele wegnehmen..."
    Mireen wurde schlecht.
    Den Rest konnte sich Mireen selbst zusammen reimen.
    "Du meinst, dass einer von euch meine Seele gefangen genommen hat?"
    Mireen wurde schlecht. Ihr ganzes bisheriges Leben hatte sie geglaubt, dass sie für etwas bestraft worden war, dass ihre Eltern falsch gemacht hatten; waren sie doch nie besonders gottesfürchtig gewesen. Und jetzt erzählte ihr dieser Mann, dass es vielleicht nur ein dummer Zufall gewesen war.
    Der Sol'ebienne nickte.
    "Aber ich kann es wieder gut machen, wenn du willst." Und nach einer langen Pause fügte er hinzu: "Ich kann dir eine Seele geben."
    Das war zu viel für Mireen - die Beine gaben unter ihr nach, und sie fiel in Ohnmacht.


    Als Mireen wieder die Augen aufschlug, dröhnte ihr der Kopf, und sie fühlte Blut an ihrem Hinterkopf. Im ersten Moment glaubte sie, dass sie erwischt worden war, aber dann kam die Erinnerung schlagartig zurück. Und im nächsten Augenblick trat der Sol'ebienne in ihr Blickfeld.
    "Geht es dir gut?"
    "Was denkst du?"
    Mireen rappelte sich in eine sitzende Position hoch und legte ihren schmerzenden Kopf auf ihre angezogenen Knie.
    "Blöde Frage, entschuldige. Wenn ich geahnt hätte, wie du reagierst, hätte ich dich vorher gebeten, dich zu setzen."
    "Danke!" antwortete Mireen leicht patzig und betastete ihren blutenden Hinterkopf.
    Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, bis Mireen sich wieder einigermaßen gefasst hatte und leise fragte: "Es ist möglich, einem Menschen eine Seele einzuverleiben?"
    "Ja! Wir können sie am Aufsteigen hindern, bewahren und sie in andere Menschen übertragen. Normalerweise nehmen wir sie nur selbst auf, damit kein Wissen verloren geht, aber wenn wir Menschen wie dir begegnen, wäre es nicht zu verzeihen, dir nicht zu helfen."
    "Wie?"
    Der Sol'ebienne griff hinter seinen Rücken und zog eine große Tasche nach vorne, aus der er einen kleinen Beutel hervorholte. Danach ging er vor Mireen auf die Knie und öffnete den Beutel vorsichtig. In seinem Inneren erblickte Mireen eine Menge dunkelgrüner, unförmiger Kugeln, die allesamt schwach aus sich selbst heraus leuchteten.
    "In jeder Moosperle befindet sich eine Seele. Wenn du willst, kannst du dir eine nehmen."
    "Egal welche?"
    "Egal welche!"
    Mireen wollte darüber nachdenken, die Konsequenzen abwägen, aber der schwache Schimmer in dem Beutel zog sie magisch an. Mireens rechte Hand schwebte bereits über dem Beutel, als sie heiser fragte: "Was wird sich ändern?"
    "Du!"
    Das war für Mireen ausschlaggebend. Sie hatte sich noch nie besonders gut leiden können, und so griff sie zu. Die Kugeln fühlten sich weich und kühl an und verursachten ein seltsames, unvergleichliches Geräusch, als Mireen die Finger darin kreisen ließ.
    Plötzlich fühlte sie etwas Warmes an einer ihrer Fingerspitzen und griff zu. Als sie die Hand öffnete, leuchtete in ihrer Hand eine kleine Kugel in einem tiefen Orange.
    "Was bedeutet das?"
    "Das bedeutet, dass diese Seele dich ausgesucht hat. Vielleicht ist es sogar deine ..."
    "Und was muss ich jetzt tun?"
    "Schlucken!"
    "Du meinst essen?"
    Mireen schaute den Sol'ebienne ungläubig an, doch dieser nickte.
    Und so schluckte Mireen die kleine, grüne Kugel und verlor erneut das Bewusstsein.


    Als Mireen erwachte, fühlte sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Gegenwart eines anderen, noch bevor sie die Augen aufschlug. Ansonsten fühlte sie sich so wie immer. Irgendwie hatte sie etwas anderes, Gewaltigeres erwartet.
    "Und wie geht es dir jetzt?"
    "So wie immer."
    "Gut!" Damit stand der Sol'ebienne auf und wandte sich zum Gehen.
    "Ich wünsch dir alles Gute."
    Und damit verschwand er und ließ Mireen allein.


    Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Mireen sich ebenfalls aufrappelte und sich auf den Weg nach Hause machte. In dieser Zeit hatte sie in sich hinein gehorcht, doch keine Änderung festgestellt. Sie fragte sich, warum sie all die Jahre so verbittert und traurig darüber gewesen war, keine Seele zu haben.
    Enttäuscht tauchte sie in das bunte Treiben in den Straßen ein, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass die Menschen um sie herum anders aussahen. Es waren nicht nur Menschen, sondern auf einmal glaubte sie die Geschichte eines jeden in seinem Gesicht ablesen zu können. Sie erkannte plötzlich Erfolg und Leid. Und zu ihrem Entsetzen sah sie, dass sie einst Leute bestohlen hatte, denen es selbst nicht gut ging.
    Und damit begriff sie was passiert war, und was der Seelenfänger gemeint hatte.
    Und zum ersten Mal in ihrem Leben weinte Mireen.


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    Eine Wolke von Bierdunst und Essensdüften dringt aus dem siebten Türchen, denn es öffnet sich hinein in eine Schenke, die neu ankommenden Gästen kaum mehr einen freien Sitzplatz bieten kann, so voll ist es heute abend...



    Was die Götter sagen
    (Eine Erzählung Derbros)


    Ar-Faria war wie immer dagegen, dass sie noch Derbros Erzählung zuhörten. Doch diesmal hatte Garid es geschafft seine Mentorin zu überzeugen noch zu bleiben.
    Wie immer saß der Rothaarige Geschichtenerzähler an seinem Tisch in der hinteren Ecke und hatte einen Krug schäumenden Bieres vor sich. Sein junger Freund Alik, saß ihm gegenüber. Garid beneidete den Jungen darum immer den Besten Platz zum zuhören zu haben. Andererseits war er aber auch ganz froh darüber, dass Ar-Faria zu seiner Mentorin geworden war. Sie und ihr Gefährte Iraso waren freundlich zu ihm und lehrten ihn alles was er wissen musste. Ob dies nun in Sachen Magie, Kampf oder dem Handwerk eines Tischlers war, er konnte sie alles fragen. Iraso erklärte ihm geduldig wie man mit Holz zu Werke ging und fertigte ihm Übungswaffen. Es war eine kämpferische Zeit und auch Garid sollte gerüstet sein, wenn es dazu kommen sollte, dass ihr Dorf angegriffen wurde. Ar-Faria kannte sich mit Magie aus und da Garid darin begabt war lehrte sie ihn den Umgang damit.
    Derbros räusperte sich vernehmlich und es wurde schlagartig still. Wie immer war die Schenke gut besucht und Derbros Geschichten hatten einen nicht geringen Anteil der Leute angezogen. Es hieß sogar einige würden einen Umweg in Kauf nehmen, nur um eine der Erzählungen zu hören. Er mochte es wenn ihm die komplette Aufmerksamkeit der Gäste gehörte. Sein Blick wanderte durch die Reihen seiner Zuhörer. Da waren die üblichen Arbeiter die sich hin und wieder ein Bier nach der Arbeit gönnten. Dort saßen ein paar Reisende, die das Abenteuer und die Gier nach Geschichten angelockt hatte. Lächelnd registrierte er das auch Ar-Faria und Iraso mit ihrem Schüler noch anwesend waren.
    Die beiden hatten den Jungen irgendwo aufgelesen und versuchten nun ihn zu einem anständigen Bürger des Dorfes zu machen. Derbros war sich noch nicht sicher, dass es gelingen würde. Seiner Meinung nach kam der Junge zu selten unter Leute. Vielleicht sollte er heute einmal eine besonders lehrreiche Geschichte erzählen. Ar-Faria mochte seine Abenteuergeschichten nicht besonders. Doch er kannte viele Erzählungen und wenn ihm danach war erfand er auch selbst Geschichten. Was gab es schöneres als Gesellschaft, ein Bier und eine gute Geschichte?
    „Nun, heute will ich euch eine Geschichte über die Götter erzählen," verkündete Derbros und rieb sich seine breite Nase, die über dem rostroten Bart hervor ragte.
    „Was die Götter sagen, ist nicht immer von Frieden Erfüllt, davon handelt diese Geschichte:


    Es war vor langen Jahren, als ein Streit unter den Göttern ausbrach, denn sie waren sich uneinig. Ja, jeder von ihnen wollte etwas anderes erreichen und hatte ein anderes Ziel. Auch Götter sind sich nicht immer einig, das sagen uns auch die Priester. Das soll nicht heißen, dass sie ständig streiten, nein es muss schon eine große Meinungsverschiedenheit sein, um einen richtigen Streit auszulösen.
    Da war Ubika, die große und weise Göttin der Gelehrsamkeit und der Künste. Sie überstrahlte alle anderen Götter in ihrer Schönheit und Weisheit. Neben ihr war ihr enger vertrauter Sagorsan, der die Natur und ihre Wesen liebte. Er war eher unscheinbar, doch voller Güte. Bei ihnen standen auch Perikot und Barangil, die beiden Brüder des Kampfes. Ihre Gestalten waren mächtig und prachtvoll gerüstet.
    Ihnen gegenüber standen Aidiama, mit dem schwarzen Haar und Dusdabiaih aus den Höhen. Die eine führte die Toten und bewachte die Reisenden, die andere überblickte den Himmel und wachte über das Wetter. Neben ihnen gab es noch Irb, Fafahi und Dago, welche sich meist eher aus den Taten der anderen heraus hielten. Ihre Fachgebiete waren Liebe, Arbeit und Glaubwürdigkeit. Zwischen allen tanzte Garga umher, die kleine und muntere Göttin der Freude. Es gab der Götter noch mehr, doch sie beteiligten sich nicht an diesem Zwist und sollen hier unerwähnt bleiben.
    Ubika hatte zu diesem Treffen gerufen, sie war mit Aidiama in Streit darüber geraten, ob es sinnvoll sei die Menschen in ihrem Leben zu begleiten. Die weise Göttin war der Meinung, Götter sollten sich aus ihrem Leben heraushalten und lediglich beobachten. Aidiama war gegenteiliger Ansicht, da sie darauf bedacht war auch die schwachen zu begleiten.
    Garga lachte über die Streitfrage und meinte lediglich, die Freude könne sich nicht aus dem Leben der Menschen heraushalten. Dabei stand sie keinen Moment still und sprang zwischen den anderen umher. Sagorsan bedachte sie mit einem freundlichen Lächeln.
    Jede Göttin beharrte auf ihrem Standpunkt und Perikot und Barangil stellten sich schließlich je auf eine Seite. Die Brüder des Kampfes zogen ihre Schwerter und begannen die Sache auf ihre Art auszutragen. Blitze zuckten über den Wolkenverhangenen Himmel und Donner grollte, dass es den Menschen Bange wurde.
    Dusdabiaih sah darin eine Einmischung in ihr Tätigkeitsfeld und reagierte wütend auf die beiden. Es entstand ein brausender Sturm, der die Wolken zerteilen sollte. Regen prasselte hernieder und die Menschen verkrochen sich in die tiefsten Winkel ihrer Häuser.
    Irb nutzte die Lage und sandte übermäßige Liebe zu den Menschen, welche sich in der Enge ihrer Häuser und Hütten in die Arme fielen. Fafahi jedoch versuchte ihn davon abzuhalten. Zwar konnten mehr Menschen auch mehr arbeiten, doch solange der Sturm tobte würde niemand arbeiten können. Dago sah die Glaubwürdigkeit der Priester bedroht, da auch lautes Beten nichts half, weswegen er besorgt in die Runde sah.
    Garga tanzte rund um die Streitenden und verteilte überall da ihre Freude, wo Verzweiflung drohte. Sagorsan sah auf die Erde und ihre Bewohner und wurde grimmig. Mit einem einzigen wütenden Wort brachte er die anderen dazu inne zu halten.
    „Biodakai" – sprach er – „meine Welt".
    Alle Blicke wandten sich dem sonst so ruhigen Gott zu. Bestürzung lag in ihren Blicken. Nur Garga drehte sich weiter im Kreise und erfreute sich der ganzen Aufregung. Das Wetter und das Geschehen der Welt, unbeachtet durch die anderen, wurde so fröhlich und munter wie schon lange nicht mehr.
    Sagorsan forderte die anderen dazu auf hinzusehen und das zu erkennen, was sie angerichtet hatten. Ubika bat ihn als Erste um Verzeihung, ihr folgte Aidiama mit bestürztem Blick. Als sie feststellten, was mit der Welt in diesem Moment geschah und was Garga da tat, mussten sie alle lachen. Die kleinste und unsteteste unter ihnen schaffte die größten Wohltaten auf der Welt.
    Als Garga die anderen Götter zusammen lachen sah, blieb sie verzückt stehen und ihr Lächeln überstrahlte alle Dunkelheit dieser Welt. Darum wurde Garga auch zur Göttin von Licht und Wärme.
    „Ich denke," so sprach schließlich Sagorsan „Garga hat uns die Frage deutlich beantwortet und ich sollte vielleicht manchmal deine Weisheit in Frage stellen Ubika."
    Die Göttin war ein wenig verwundert ab der Worte ihres Gefährten, doch hatte er wohl recht. So unbeständig Garga auch sonst war, sie hatte ihnen die Antwort geliefert.
    „Das ist wahr Sagorsan. Du hast dich aus Liebe auf meine Seite gestellt, doch lag ich falsch. Wir sollten die Menschen lenken und ihnen helfen, wenn sie nicht weiter wissen," sprach die Göttin."


    Es war heute eine etwas kürzere Geschichte, mit weniger spannenden Stellen, dafür regte sie umso mehr zum Nachdenken an. Ar-Faria war zufrieden, Derbros war ja doch in der Lage vernünftige Geschichten zu erzählen. Garid sah es ihr an, dass sie es nicht bereute, geblieben zu sein.
    „Darum haben wir ja auch viele Götter und verlassen uns nicht auf einen einzigen," meinte Ar-Faria und nickte. „Stell dir vor wir hätten nur Ubika. Es gäbe dann zwar keinen Streit, aber die Welt wäre sicher nicht so vielfältig und bunt."
    Garid nickte ebenfalls. Es klang logisch was seine Lehrerin da sagte und ein einzelner Gott würde sich doch sicher schnell langweilen. Wohin das führen würde, wagte er sich nicht vor zu stellen. Er selbst neigte dazu Unfug zu machen, wenn ihm langweilig wurde. Ein Gott der sich die Zeit damit vertrieb, mit der Schöpfung zu spielen, wäre wohl nicht gerade angenehm.
    Iraso lächelte milde und erinnerte dadurch irgendwie an den ruhigen Gott Sagorsan. Der Junge musterte ihn, ehe er sich mit seiner Münze durch die Menge zu Derbros schlängelte um sie in sein Körbchen zu werfen. Nach solchen Geschichten fanden die Münzen nicht so reichlich den Weg dorthin, wohl würde der Erzähler heute noch eine andere Geschichte erzählen müssen.


    (Fortsetzung folgt!)


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    Ein kalter Luftstoß weht von draußen herein, als ein Gast durch das achte Türchen die Schenke verlässt. Die Gäste bemerken es kaum, obwohl es ungewöhnlich still ist. All ihre Aufmerksamkeit gilt dem Geschichtenerzähler in seiner Ecke…



    Eine Prüfung der Götter?
    (Eine Erzählung Derbros)


    Alik flüsterte seinem Freund Derbros etwas zu, woraufhin dieser zustimmend nickte. Ja, vielleicht war es Zeit die Geschichte zu erzählen.
    „Ihr Leute, es gibt noch eine weitere Geschichte über Sagorsan und Ubika, die ihr sicher noch nicht kennt." Es wurde wieder ruhig und verwunderte Blicke erfolgten in Richtung des Erzählers. Sie alle kannten viele Geschichten über die Götter, wie sollte Derbros da eine gänzlich neue zu erzählen haben?
    „Dann lasst mal hören!" forderte einer der Gäste, der regelmäßig Derbros Erzählungen lauschte.
    „Ihr kennt sicher die Felsenkluft des Fliegenbachtales. Dort trug sich diese Geschichte zu, welche ich selbst erlebt habe." Die Leute nicken und ein Raunen breitete sich im Raum aus. Die Felsenkluft war beinahe allen Anwesenden bestens bekannt. Ihr musste man folgen, wenn man ins Nachbardorf wollte. Ein eher schmaler Weg schlängelte sich an den Felskanten entlang.


    „Es war erst vor knapp drei Jahren, ihr wisst, zu dieser Zeit war ich noch auf Reisen und erzählte meine Geschichten in vielen Dörfern. So also wanderte ich das Tal des Fliegenbaches entlang und dachte nur daran, dass ich in dem kleinen Dorf in der Nähe der Quellfelsen etwas zu essen bekommen würde. Da lief ich also und überlegte für welche Geschichte ich einen Krug Bier bekommen würde, als zwei Wanderer auf mich zu kamen. Ich hatte sie nicht kommen sehen, vielleicht war ich einfach zu tief in Gedanken gewesen.
    Die Frau trug die Ortsübliche Kleidung und der Mann ebenfalls. Sie schienen sich zu unterhalten und ich grüßte nur nebenbei um sie nicht zu stören. Doch als sie mir direkt gegenüber waren blieben sie stehen und der Mann lächelte mich an.
    „Seid Ihr auf dem Weg zu den Quellfelsen?" wollte er wissen. Die Frau warf ihm einen bösen Blick zu, doch ignorierte er diesen einfach.
    „Ja, ich möchte im Dorf nahe der Felsen meine Geschichten erzählen," erklärte ich und entgegnete sein Lächeln. Er schien mir ein höflicher Mann zu sein.
    „Lass uns gehen Sagorsan, es wird bald dunkel!" drängte die Frau. Ich wunderte mich über den Namen, konnte aber nicht glauben, dass es womöglich der Gott selbst war.
    Ehe sie weiter gingen meinte der Mann noch zu mir: „Ihr solltet noch hier an der Höhle rasten, sonst werdet Ihr auf dem schmalen Pfad von der Dunkelheit eingeholt."
    Ich sah den beiden verwundert nach und warf noch einen Blick zur Sonne hinauf. Sicher würde sie noch mindestens eine Stunde genügend Licht ins Tal werfen um mir den Weg zu weisen. Schulterzuckend ging ich also weiter und ließ die Höhle links liegen. Warum sollte ich hier rasten, wenn das Dorf doch nicht mehr weit war? Also dachte ich nicht weiter über die Worte des Fremden nach. Sicher kannte er sich hier nicht genug aus und hatte die Entfernung falsch eingeschätzt. Demnach konnte er garnicht unser Sagorsan sein, dieser hätte sich niemals so sehr verschätzt.
    Doch als nach einer Stunde die Dämmerung einsetzte, war von dem Dorf noch nicht das mindeste zu sehen. Zwischen den nahem Bäumen raschelte es und ich wartete, um zu sehen was sich dort bewegte. Der Weg war gerade so breit, dass zwei Personen aneinander vorbei gelangen konnten. Rechts ging es steil hinauf und links war das Wasser des Baches, welches hier über einige Felsen plätscherte. Da schälte sich eine Gestalt aus der Dunkelheit, welche auf mich zu kam. Es war der Mann, welcher mir bereits vor einer Stunde begegnet war. Iritiert wartete ich bis er heran war.
    „Ich habe Euch doch gewarnt, nicht wahr?" fragte er dann.
    Verwundert sah ich ihn an und nickte leicht: „Ich glaubte Euch nicht, müsste ich doch eigentlich das Dorf längst erreicht haben."
    „Das Dorf ist immer so weit entfernt, wie Ihr es verdient," erklärte mir der Fremde und lächelte leicht. „Es ist möglich, dass eure Eile dafür gesort hat, dass ihr vom Weg abgekommen seid. Wenn Ihr auf meinen Rat gehört hättet, wäret Ihr nun im Gasthaus des Ortes und nicht hier auf dem schmalen Weg in der Dunkelheit."
    „Aber," so kam mir, „Ihr seid ebenfalls hier und seht sicher nicht mehr als ich." Das musste stimmen, denn es war inzwischen fast ganz dunkel geworden. Außerdem fragte ich mich, wie er es geschafft hatte mir erneut entgegen zu kommen. Er war doch bereits an mir vorbei gelangt und weiter hinab gestiegen.
    „Kennt Ihr Sagorsan?" fragte der Mann.
    „Natürlich!" entgegnete ich, überrascht ob der Frage. „Eure Begleiterin hat Euch ebenfalls so genannt, habt Ihr etwas mit unserem Gott zu tun?"
    „Ihr glaubt daran, dass er gütig auf die Wesen dieser Welt sieht?" fragte der Mann nach. „Aber sicher, er ist der Gütigste unter allen Göttern!" Daran glaubt ich, denn so hatte es mich schon meine Mutter gelehrt.
    „Ist es auch gütig, wenn man einen Mann wie Euch in die Irre führt?" wollte er dann wissen. Nun war ich völlig iritiert, war er etwa wirklich ein Gott? Ich hatte mir Götter immer herrlicher und unwirklicher vorgestellt. Da stand plötzlich die Frau neben ihm und ich erschrak, doch er lächelte und sie verzog das Gesicht.
    „Da siehst du es Ubika!" spottete der Mann, „ich bin der Gütigste der Götter! Auch dein Glanz und deine Illusion können nichts daran ändern. Und jetzt lass den armen Mann sein Ziel erreichen, er hat uns einen großen Gefallen getan. Damit hat er auch eine Belohnung verdient."
    Vor meinen Augen nahmen sie eine durchscheinende Gestalt an, es waren Sagorsan und Ubika! Ich konnte es nicht glauben und dennoch, wer sollten die beiden sonst sein? Sagorsan lächelte mich an und dankte mir für meine Worte. Ehe er und Ubika verschwanden hob er die Hand zum Abschied.
    Als sie fort waren, erkannte ich, dass ich mich ein Stück oberhalb der Höhle befand und nicht weit von mir das Dorf zu sehen war. Es konnten kaum mehr als eine halbe Stunde vergangen sein. Es war wohl wirklich eine Illusion gewesen. Das Licht des Gasthauses zeigte mir den Weg und ich konnte sicher dorthin gelangen.
    Hatte Ubika mir diese Illusion gesandt, nur um heraus zu finden, ob ich in meinem Glauben stark war? Ich weiß es nicht, doch Sagorsan glaubte an mich und ich konnte ihm bestätigen das wir an seine Güte glauben.
    Später erzählte man mir, man habe schon öfter zwei Wanderer auf diesem Weg getroffen, doch keiner hatte sie bisher als die beiden Götter erkannt. Vielleicht war es ein Zufall, dass ausgerechnet ich mit ihnen zusammen traf. Jedenfalls war es eine Begegnung die mir Kraft gab und mich darin bestätigte, dass ich das Richtige tue."


    Ungläubiges Gemurmel setzte ein als er endete. Ar-Faria verdrehte die Augen: „Glaubt er etwa, dass kauft ihm jemand ab?" fragte sie.
    „Das tut er," urteilte Iraso und grinste, er wusste genau, dass seine Gefährtin solche Geschichten nicht mochte. Sie hielt sie für angeberisch und vermutlich steckte nicht viel Wahres darin. Garid hingegen war fasziniert. Andere fanden die Geschichte auch interessant und einige Münzen mehr wanderten in das Körbchen, woraus Darbros sein nächstes Bier bezahlen konnte. Einige waren unzufrieden und wollten noch eine andere Geschichte, doch der Erzähler vertröstete sie auf den nächsten Abend.
    Vielleicht hatte der Geschichtenerzähler an diesem Abend vor drei Jahren ein paar Bier zu viel gehabt und Dinge gesehen, die es nicht gab. Warum sollten sich die Götter derart in das Leben der Dörfler einmischen? Die Erste Geschichte hatte doch gezeigt, dass Götter zwar durchaus auch launisch sein konnten und sich stritten, doch ihre Vielzahl sorgte für ein Gleichgewicht. Meist griffen sie ohnehin nur ein, wenn sich große Veränderungen anbahnten.
    Alik lächelte dem älteren Freund zu, er war sich bewusst, dass nur die Hälfte der Leute die Geschichte glaubten und davon wieder die Hälfte glaubte, Derbros habe sie sehr ausgeschmückt. Aber das spielte keine Rolle, er war davon überzeugt, dass sie stimmte. Sicher hatten die Götter den Erzähler geprüft und seine Antwort hatte ihnen gefallen.
    Ar-Faria und Iraso nahmen ihren Schützling mit sich und verließen die Taverne, da es schon später Abend war. Garid dachte noch lange darüber nach, was ihm die Geschichten gesagt hatten. Vielleicht sollte er auch einmal allein den Weg zum Nachbardorf gehen.


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    Die Farben in der Welt auf der einen Seite des neunten Türchens beginnen zu bluten, als es sich öffnet. In seiner Nähe verändern sie sich, nehmen Schattierungen an, die ein menschliches Auge wahrnehmen und ertragen könnte. Während sich der Spalt weiter und weiter auftut, verändern sich in seiner Umgebung mit alarmierender Schnelligkeit mehr und mehr Faktoren, bis ihn eine Aura an schmerzhafter Realität umgibt…



    Die Dämonenbeschwörung


    Er hatte geruht und sich satt getrunken an der Vielfalt seiner Welt. Er war ein starkes Wesen, welches niemals freiwillig durch den Spalt gegangen wäre.
    Nein, er hatte geruht, einem Schlaf ähnlich, doch benötigte seine Art keinerlei Schlaf, nicht so wie die Menschen, die eine Welt kontrollierten, die sie nicht verstanden, die sie ausbeuteten und langsam zerstörten.
    Der Spalt hatte sich gebildet, als er nicht darauf geachtet hatte. Seine Augen hatten sich geöffnet, er sah die klaffende Wunde seiner Welt und im gleichen Moment hatte es auch schon begonnen. Ein starker Sog riss an ihm. Sein Körper wurde angehoben, strebte zum Spalt zwischen den Welten zu.
    Verzweifelt hielt er sich fest, doch er bekam nur Sand zu fassen, welcher ihm durch die Finger rann und er löste sich vom Boden.
    Er konnte die Schreie um ihn herum hören, die protestierenden Rufe, was mit ihm geschah, doch keiner seiner Art wagte sich nahe genug heran, um ihm zu helfen. Sie hatten Angst und er hatte ebenfalls eine große Furcht in seinem Inneren, die er kaum kontrollieren konnte.
    Der Spalt lag direkt vor ihm und sein Körper stieß gegen den Spalt. Es gab einen Widerstand und einen Moment lang hoffte er, dass sein Körper stark genug sein würde, um den Weltenwechsel zu überstehen, dass er an einem Stück in die fremde Welt gezogen wurde, dass es eine einfache Möglichkeit gab, umzukehren, wieder nach Hause zu gehen und den Spalt dann einfach wieder kollabieren zu lassen.
    Doch der Widerstand in seinem Körper nahm zu. Schmerzen durchdrangen seinen Körper und er schrie. Es war nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Er hatte so sehr gehofft, dass es nicht passieren würde, doch er konnte es nicht verhindern. Sein Körper konnte den Spalt nicht überwinden, er konnte nicht in die fremde Welt eindringen, zumindest nicht mit seinem Körper.
    Der Sog in seinem Inneren breitete sich aus, genau wie die Schmerzen. Sein Blick verschwamm und er musste sich beherrschen, nicht wild um sich zu schlagen.
    Wie Tentakel griff etwas nach ihm, nicht nach seinem Körper, sondern es ging tiefer, sehr viel tiefer. Sein Geist war das Ziel und er hatte keine Zeit, sich irgendeinen Plan zu überlegen, dieser Todesfalle zu entkommen. Er schrie nicht mehr vor Schmerz, sondern vor Panik. Er durfte seinen Körper nicht verlieren, er durfte nicht...
    Etwas riss in seinem Inneren. Die Verbindung zwischen seinem Körper und Geist wurde durchtrennt. Er war blind, hörte seine eigene Stimme nicht mehr, konnte seinen Körper nicht mehr spüren. Besonders Letzteres machte ihn Angst. Sein Geist, die Menschen würden ihn vielleicht als Seele betrachten, war aus seinem Körper gerissen worden und wurde durch den Spalt in eine andere Welt gezogen.
    Die einzige Empfindung, die er noch wahrnehmen konnte, waren die unheimlichen Schmerzen, die seinem Geist zugefügt wurden. Er war körperlos und reiste durch eine Verbindung zwischen zwei Welten. Wo einst Magie und ihre Energie alles und jeden durchtränkt hatten, so wurde er nun in eine Welt gestoßen, wo sein Lebenselixier schwach und kaum vorhanden war.
    Sie alle fürchteten sich vor der Magie dieser Menschen. Sie gingen damit zu leichtsinnig um, zerstörten ihn und seine Art, indem sie sie zwangen, durch den Spalt zu reisen.
    Der Schmerz nahm zu und er spürte, wie sich etwas um ihn herum veränderte. Er konnte nichts sehen, aber seine Empfindungen veränderten sich. Sein Geist strebte zu diesen neuen Empfindungen. Sie kündeten davon, dass die Schmerzen ein Ende haben würden, dass er wieder in seine Welt gehen würde.
    Dort war immer noch sein Körper, dort würde er weiter existieren können. Dort würde er überleben.
    Doch seine Hoffnungen wurden zerstört. Er schrie auf, als er die Verbindung verließ. Etwas packte ihn und zerrte an seiner Struktur. Es war, als wolle man seinen Geist zerreißen.
    Stimmen drangen an sein Ohr. Stimmen, die er nicht verstehen konnte, Stimmen die nur von einem Menschen stammen konnten und er fürchtete sich, was nun geschehen würde.
    Einen Moment lang wurde der Sog schwächer und er machte den Fehler zu hoffen, dass es vorbei war.
    Dann riss er die Augen auf und schrie. Die Eindrücke schlugen auf ihn ein, wie Tausende von Felsbrocken. Er konnte wieder sehen und sein eigener Schrei hallte in seinen Ohren. Seine Haut war nass vom Schweiß und er roch die Gewürze die die Luft im Raum schwer machten.
    Erschöpft brach er zusammen und atmete heftig. Er hielt die Augen geschlossen, um die Kontrolle zu wahren. Er musste diese Situation überstehen, irgendwie.
    Als er die Augen wieder aufschlug nahm er die ganze Umgebung in sich auf.
    Er steckte im Körper eines Menschen. Nachdenklich betrachtete er seine Hände. Fünf Finger, noch nicht alt, er schätzte, dass er weniger als dreißig der menschlichen Jahre hinter sich hatte.
    Er saß aufrecht in einem Bett, das Kopfkissen hinter seinem Rücken stützte ihn und er nahm die Gelegenheit wahr und sah sich um.
    Der Raum, in dem er sich befand war von einem großen Kamin stark beheizt worden. Der Schweiß rann ihm die Stirn hinab, er fühlte sich sonderbar schwach. Die Menschen waren schwache Geschöpfe, doch das täuschte nicht darüber hinweg, dass es ein Mensch war, der ihn hier hergeführt hatte und dieser Mann sah ihn nicht voller Angst und dem Respekt an, mit dem man einen Dämonen zu betrachten hatte, sondern er lächelte freundlich und nahm einen nassen Lappen und wischte ihm die Stirn ab.
    „Ist schon gut mein Junge", sagte der alte Mann. Er hatte schneeweiße Haare und seine blauen Augen leuchteten scheinbar von innen heraus. Er musste der Magier sein, der ihn aus seiner Welt gerissen hatte, aber er benahm sich nicht so, wie man es zu erwarten hatte. „Du hast lange geschlafen, aber nun bist du wach, du hast es überstanden."
    Er runzelte die Stirn, übernahm den Körper des Menschen immer mehr und öffnete den Mund zum Sprechen. „Was..." Es war ungewohnt, Zunge und Lippen zu bewegen. Er würde Zeit brauchen, um die Worte korrekt auszusprechen.
    „Ganz ruhig", sagte der alte Mann und lächelte. „Du hattest einen Unfall. Die anderen haben gedacht, dass du sterben würdest. Ich habe Tag und Nacht gearbeitet. Die anderen Magier haben mich für verrückt gehalten, aber nun bist du wieder hier. Es wird alles wieder gut."
    „Unfall?", fragte der Dämon unsicher. Warum sollte der alte Magier etwas behaupten, was niemals passiert war? Er wurde mit Absicht aus seiner Welt gerissen.
    „Daritas", sagte der Mann. „Du wirst wieder ganz gesund. Du brauchst nur ein wenig Zeit, um dich an alles zu erinnern."
    Skeptisch betrachtete der Dämon den alten Mann. Der Name war ihm nicht vertraut. Es war gewiss nicht sein Name, den der alte Mann nennen wollte. Viel wahrscheinlicher war es, dass der alte Mann den Körper, in dem er nun steckte so nannte.
    Langsam wurde ihm bewusst, dass hier vielleicht andere Dinge vor sich gingen, als er angenommen hatte. Aber noch immer blieb die Frage, warum der alte Mann ihn aus seiner Welt gezogen und ihn in einen menschlichen Körper gesteckt hatte.
    Der alte Mann reichte ihm eine Tasse. Der Duft nach den Gewürzen vermischte sich nun mit einigen Kräutern. Er wusste nicht, wieso, aber er erinnerte sich an den Duft von Zimt und anderen Dingen.
    Zimt. Wieso wusste er, wie Zimt roch? Er war vorher noch nie in der Welt der Menschen gewesen. All die Geschichten stammten von jenen Dämonen, die es irgendwie geschafft hatten, wieder nach Hause zurück zu kehren.
    Er nippte dennoch an den Tee, obwohl Dämonen nur selten schlucken. Es wurde mit jeder Minute, die er in diesem Körper verbrachte einfacher. Er passte sich an. Er passte sich an diesen Körper und auch an die Umgebung an.
    „Wo bin ich?", fragte er schließlich.
    „Du erinnerst dich nicht?", fragte der alte Mann und der Dämon schüttelte den Kopf. „Das hier ist dein Zimmer. Nach deinem Unfall hatten alle geglaubt, du seist nicht mehr zu retten. Doch ich habe so fieberhaft nach einer Lösung gesucht. Ich wollte dich nicht verlieren."
    „Ihr sprecht von einem Unfall?", fragte der Dämon. „Könnt Ihr mir darüber etwas sagen?"
    Der alte Mann musterte ihn einen Moment lang. „Du sprichst, als würdest du mich nicht kennen."
    „Ich kenne Euch auch nicht", sagte der Dämon knapp.
    Der alte Mann starrte ihn an und seine Augen wurden feucht. Er verstand die Reaktion nicht. Ihm hätte doch bewusst sein müssen, dass er unmöglich Erinnerungen an den Geist dieses Körpers haben konnte.
    Und genau in diesem Moment wurde ihm etwas anderes bewusst. Er schloss für einen Moment die Augen und suchte nach dem Geist, der diesem Körper innewohnte. Er setzte das Puzzle zusammen. Der alte Mann zeigte Trauer. Der Mann und der Geist dieses Körpers kannten sich, waren möglicherweise sogar miteinander verwandt.
    Daritas. So hatte er ihn genannt. Daritas hatte einen Unfall, andere Männer hatten sein Leben aufgegeben. Warum dieser Mann nicht? Was verband die beiden?
    Er nutzte seinen Geist und streckte sich bis in die Region vor, in der ein anderer Geist war. Der Besitzer dieses Körpers, der echte Daritas. Jeder Dämon konnte die Anwesenheit eines Geistes spüren und danach suchen. Er grub tief, bis er endlich den Geist fand, doch er hätte nicht gedacht, dass so etwas überhaupt noch existieren konnte.
    Der Geist, oder das, was davon übrig war, bildete einen kleinen Haufen Elend. Er hatte seine Gestalt verloren. War nur noch ein schwach weiß leuchtender Haufen, der unförmig in einer Ecke des großen leeren Bewusstseins lag und sich kaum rührte. Wenn das Daritas war, oder was noch von ihm übrig war, dann war es kein Wunder, dass die Männer ihn hatten sterben lassen wollen.
    Der Geist war beschädigt. Das Bewusstsein des Mannes war schon gegangen, aber dieser letzte Rest vom ursprünglichen Geist hielt am Körper fest, konnte, oder wollte noch nicht gehen.
    „Daritas", fragte der alte Mann und der Dämon kehrte wieder zurück zur Oberfläche und schlug die Augen auf. „Alles in Ordnung?"
    Der flehende Blick ließ ihn einen Moment lang inne halten. Warum hatte der Mann einen Dämon in diese Welt geholt? Nur damit der Körper dieses Menschen bestehen bleiben konnte?
    „Ich erinnere mich nicht mehr", sagte er knapp und musterte den alten Mann. „Sage mir, wer du bist. Und erkläre mir, was bei diesem Unfall geschehen ist."
    Der alte Mann wirkte traurig, nickte aber. „Ich bin dein Vater, Daritas. Erinnerst du dich wirklich nicht?"
    Der Dämon schüttelte den Kopf. „Ihr habt einen Zauber gewirkt."
    „Ja", sagte der Mann.
    „Warum?"
    „Um dich zu retten", sagte der Mann nur. „Warum denn wohl sonst?"
    „Denkt Ihr, dieser Zauber hat funktioniert?", entgegnete der Dämon nur und starrte den Magier an.
    „Du bist wieder bei mir. Das ist alles, was zählt", sagte der Mann nur.
    „Ich bin nicht Euer Sohn", sagte der Dämon knapp. „Ich kenne Euch nicht und Ihr habt Euren Sohn nicht gerettet. Warum habt Ihr mich in diese Welt gebracht?"
    Der alte Mann sah ihn schockiert an und rang um Fassung. „Aber Daritas, ich weiß, dass du das bist. Ich habe einen Zauber gewirkt. Er sollte deinen Verstand wieder an die Oberfläche bringen, damit du wieder erwachst."
    Der letzte Funken der alten Seele. Der Dämon begann zu begreifen.
    „Euch ist ein Fehler unterlaufen", stellte der Dämon fest.
    Der Mann sah ihn schockiert an und stand auf. „Das glaube ich nicht", sagte er wütend. „Ich habe drei Tage lang die alten Texte studiert. Es gab zwar keinen Spruch in dieser Art, aber ich wusste, wenn ich die Anker richtig setze..."
    „Ich bin nicht der, für den Ihr mich haltet", sagte der Dämon. „Ihr habt mich aus meiner Welt gerissen und in diesen Körper gesteckt. Was auch immer Ihr versucht habt Magier: Es hat nicht funktioniert."
    „Aber...", stammelte der alte Mann. „Ich habe den Spruch mehrmals überprüft. Er hätte funktionieren müssen." Der Mann wurde stutzig und kam wieder an das Bett. „Du sagst, du bist nicht mein Sohn, wie soll ich dir glauben? Du bist wach und du redest mit mir, so wie er es immer getan hat."
    „Weil ich in seinem Körper bin", sagte der Dämon kalt und musterte den Mann sehr genau. „Ich kann dir sagen, dass Euer Sohn dem Tode nahe ist. Sein Geist, oder auch seine Seele, sind nicht mehr vollkommen an seinen Körper gebunden. Ihr solltet Ihn gehen lassen."
    „Und wie?", fragte der Mann. „Das kann ich nicht."
    „Ihr müsst", sagte der Dämon mit Nachdruck. „Ich kann euch nicht zwingen, aber glaubt mir, es ist das Beste für Euch und für uns beide."
    „Wer bist du dann?", fragte der Magier und zischte dabei. „Warum sollte ich dir auch nur ein Wort von dem glauben, was du sagst. Vielleicht war der Unfall schlimmer, als angenommen. Vielleicht ist etwas mit dir passiert, womit niemand gerechnet hat."
    „Und was?", fragte der Dämon. „Bei welcher Art Unfall ist euer Sohn denn zu Schaden gekommen?"
    „Du weißt es wirklich nicht, oder?", erkannte der Magier langsam.
    „Nein", antwortete der Dämon. „Von dem Mann, der in diesem Körper einmal war, ist nicht mehr genug übrig, als das ich seine Erinnerungen lesen könnte."
    Der alte Mann seufzte und wand sich ab. „Sprich nicht schlecht über meinen Sohn. Sprich nicht durch seine Zunge." Die Stimme des Mannes wurde immer lauter und er drehte sich wieder um, sein Brust war angeschwollen und Wut keimte in seinen Augen „Wenn du ein Dämon bist, dann hast du die Kontrolle über den Körper. Wenn du ein Dämon bist, dann zeige dein wahres Gesicht."
    Die Augen des Sohnes sahen den alten Mann nur an.. Natürlich hatte der Dämon schon versucht, sich dem Körper vollständig Untertan zu machen. Doch es gab ein Problem „Das kann ich nicht."
    „Dann bist du mein Sohn", sagte der Mann entschieden. „Jeder Magier weiß, dass Dämonen sich auch im Körper eines Menschen in ihre dämonische Form verwandeln können."
    „Wirklich?", fragte der Dämon erstaunt und wurde wütend. Die Menschen waren dümmer, als er angenommen hatte. „Wer sagt denn, dass dies auch in meinem Fall möglich ist? Und wer sind die Leute, die dieses behaupten? Denkt Ihr wirklich, dass Ihr vor euch euren alten Sohn habt? Ich bin ein Dämon und kann diesen Körper nicht verändern, weil der Geist, der ihm inne wohnte beschädigt ist."
    „Beschädigt?", fragte der alte Mann nun wütend und schnaubte. „Der Unfall. Er ist an allem schuld. Du hättest im Hause bleiben sollen. Für sie war es so oder so schon zu spät."
    „Was ist passiert?", fragte der Dämon. Wenn er den Magier davon überzeugen konnte, dass er wirklich ein Dämon war, konnte er ihm möglicherweise helfen, aus dieser Welt wieder zu verschwinden. Der Körper schützte ihn vor den äußeren Einflüssen, aber es ließ sich nicht verhehlen, dass er sich unwohl in seiner neuen Haut fühlte.
    Der alte Magier starrte ihn an. „Erinnerst du dich denn nicht?"
    „Nein!", sagte der Dämon wütend. „Erklärt mir, was passiert ist."
    Der Mann senkte den Blick. Er konnte seinen Sohn, oder das, was er dafür hielt nicht ansehen, sondern blickte einfach aus dem Fenster, während er sprach.
    „Ludesa ist tot", sagte der Mann. „Wir haben sie einige Stunden nach dir geborgen. Ich war dort und habe versucht, ihr wieder Leben einzuhauchen. Aber wir waren zu spät. Für Ludesa konnten wir nichts mehr tun, aber du, du hast noch geatmet und hast nur geschlafen. Niemand hat dich wach bekommen. Wenn ich dich nur aufgehalten hätte."
    Die Trauer in der Stimme des Mannes ließ den Dämon zweifeln. Er hatte keine Ahnung, wer Ludesa war, aber offenbar war es der Grund, warum der Vater verzweifelt genug war, um einen Dämon zu beschwören, oder was auch immer er in Wahrheit vorgehabt hatte.
    „Wie ist Ludesa gestorben?", fragte der Dämon und der Vater blickte ihn an und eine Träne rann ihm die Wange hinab.
    „Ertrunken", sagte er. „Sie ist in den Fluss gestürzt, hin zu den Klippen. Du erinnerst dich wirklich nicht mehr daran?"
    Der Dämon schüttelte den Kopf.
    „Du hast nach ihr geschrien, doch sie antwortete dir nicht. Du hast deinen ganzen Mut zusammen genommen und hast dich ebenfalls in den Fluss gestürzt. Was für ein dummer Junge du doch schon immer warst. Deine beste Freundin stürzt die Klippen hinab und du folgst ihr, ebenso unfähig zu schwimmen wie sie. Wir haben Glück, dass wir dich lebend gefunden haben."
    Der Dämon betrachtete den Vater und konnte nun zumindest einen Teil des Ganzes erkennen. Der Junge war sicherlich bewusstlos gewesen und lange unter Wasser. Vielleicht war dies der Grund, warum der Geist des Jungen kaum noch vorhanden war. Es war zu viel, als das er hätte sterben können, aber zu wenig, um noch ein normales Leben führen zu können.
    „Euer Sohn ist tot", sagte der Dämon und beobachtete die Reaktion des Mannes, der nur mit dem Kopf schüttelte, den Blick aber wieder auf das Fenster richtete.
    „Du lügst. Du warst schon immer ein miserabler Lügner", sagte der Mann. „Du hast immer gewusst, dass ich deine Tricks durchschaue, aber das hat dich nie davon abgehalten, es dennoch zu versuchen."
    „Wie kann ich Euch beweisen, dass ich tatsächlich das bin, was Ihr nicht glauben wollt?", fragte der Dämon. Es konnte nicht schaden, es auf einen Versuch der Vernunft drauf ankommen zu lassen.
    „Du bist kein Dämon", sagte der Mann und lächelte. „Du bist mein Sohn."
    „Was müsste ich tun?", fragte der Dämon weiter und endlich schien der Vater zumindest für einen kurzen Moment zu begreifen, was man von ihm verlangte.
    „Ein Dämon kann seine Gestalt verändern", sagte der Mann.
    „Der Geist dieses Körpers ist beschädigt. Ich brauche Zugang zu dem menschlichen Geist, um seinen Körper vollkommen kontrollieren zu können."
    „Wirklich?", fragte der Mann erstaunt.
    „Ihr müsst noch sehr viel über meine Artgenossen lernen", seufzte der Dämon und schlug die Bettdecke beiseite.
    „Was hast du vor?", sagte der Mann.
    „Ich beweise euch, dass ich nicht euer Sohn bin", sagte er knapp und die nackten Füße patschten auf dem Holzboden.
    Mühelos stand er auf und der alte Magier schien beinahe entzückt zu sein.
    „Deine Kräfte kommen sehr schnell wieder zurück. Ich bin begeistert. Du warst schon immer ein starker Junge Daritas."
    „Das ist nicht Euer Sohn", sagte der Dämon knapp und ging zur Tür. „Es wird Zeit, dass Ihr euch von eurem Sohn verabschiedet."
    „Was? Nein!", sagte der Mann entsetzt und eilte seinem Sohn hinterher und hielt ihn noch vor der Tür zurück. „Was hast du jetzt schon wieder vor?"
    „Es gibt nur einen Weg, um Euch zu beweisen, dass ich nicht euer Sohn bin. Wollt Ihr eine Lüge leben, oder wollt Ihr die Wahrheit erfahren?"
    Der alte Mann sah ihm in die Augen. Verzweiflung, Angst und Furcht spiegelten sich darin, während Tränen der Trauer seine Wangen hinab liefen.
    Der Dämon begriff, dass in dem Mann ein Kampf tobte. Ein Teil hoffte, dass es genügen würde, dass der Körper des Sohnes noch atmete und sich bewegte, ein anderer Teil würde akzeptieren können, dass der Sohn nicht mehr war und dass er ihn für immer verloren hatte. Der Dämon musste also die Hoffnungen des Mannes zerstören und dann wollte er den Magier immer noch dazu überreden, ihn zurück in seine Welt zu bringen. Er würde nicht viel Zeit haben, den Körper dieses Menschen zu verlassen und den Magier anweisen, einen neuen Spalt zu bilden, damit er wieder nach Hause konnte. Wenn sein Körper zu lange ohne Geist auskommen musste, würde dieser ebenso sterben.
    Er wand sich von ihm ab und verließ den Raum. Aus dem Zimmer hinaus wand er sich beinahe instinktiv nach rechts, ging einen kurzen Flur entlang, der an eine Treppe endete und stieg hinab.
    „Was hast du vor?", fragte der Mann und folgte ihm, wäre auf der Treppe beinahe gestürzt und schaffte es erst an der Haustür, sich vor ihn zu stellen und ihm den Weg zu blockieren.
    „Geht mir aus den Augen Magier", zischte der Dämon und spürte, wie ein Teil seiner Selbst durch den Körper floss und versuchte, den Körper zu verbiegen und zu verändern. Doch es wollte ihm nicht gelingen.
    Wäre der Geist des Menschen unbeschadet gewesen, so wäre der Dämon in seiner Gestalt im Bett aufgewacht. Es war Instinkt, dass Dämonen, eingepfercht in einem menschlichen Körper genau dies taten und deswegen war es für ihn auch so frustrierend, dass es ihm nicht gelang.
    Der alte Mann schüttelte nur den Kopf. „Du bist verwirrt. Du brauchst Ruhe und eine warme Suppe. Ist dir denn überhaupt nicht kalt?"
    Kälte war einem Dämon fast unbekannt. Er blickte an sich herab. Er trug nur ein dünnes Leinengewand, nichts was ihn sonderlich vor der Kälte schützen würde, die draußen zu herrschen schien. Doch er musste hart bleiben. Er zerstörte die Illusion eines wiedergeborenen Sohnes und konnte dann nach Hause zurück. Zumindest hoffte er, dass es ihm gelingen würde.
    „Aus dem Weg alter Mann", zischte der Dämon nun noch wütender. „Zwingt mich nicht, Euch weh zu tun."
    „Ich werde hier nicht weg gehen, nicht solange du dich nicht beruhigt hast", sagte der Mann trotzig.
    Dem Dämon wurde es zu viel und er handelte.
    Seine Hand schnellte vor und er griff nach dem Arm des Mannes, um ihn weg zu ziehen und warf ihn zu Boden. Er sah nicht nach dem Mann, sondern öffnete die Tür und blickte hinaus. Es war Herbst, ein kalter Morgen, der Tau hing in dicken Tropfen an den Blättern der Bäume. Das Haus stand offenbar ein wenig abseits. Er konnte keine weiteren Gebäude sehen, aber mit dem feinen Gehör eines jungen Menschen konnte er ein Rauschen vernehmen. Wasser, welches sich seinen Weg durch die Landschaft bahnte.
    „Daritas", schrie der alte Mann, aber er ignorierte ihn.
    Seine nackten Füße liefen über das Gras. Die Nässe entzog dem Körper die Wärme. Er registrierte diese Emotion, doch er handelte nicht. Es war nicht wichtig, nicht für ihn. Er musste bereit sein. Er musste diesem Mann einen klaren Beweis liefern, dass er nicht der Sohn war, für den der alte Mann ihn immer noch hielt.
    „So bleib doch stehen", rief der Mann, doch der Dämon beschleunigte seine Schritte nur. Dem Fluss entgegen, jenem Fluss, in dem der Mensch eigentlich gestorben war, aber immer noch wandelte.
    Seine Füße trugen ihn schneller, bis er schließlich rannte.
    „Daritas", rief der Mann noch einmal, doch es klang leiser, erschöpft und müde.
    Der Dämon war sicher, dass der Mann aufgegeben hatte, doch dann bemerkte er es. Einem Schwall heißer Luft ähnlich strömte sie über ihn hinweg. Er blieb stolpernd stehen und drehte sich um, als seine Augen sahen, was der alte Mann tat.
    Er stand da, die Arme nach vorne ausgestreckt. Er hatte die Augen geschlossen und murmelte etwas vor sich her. Auf halben Wege hatte sich die Luft verändert. Er sah es nicht nur durch die menschlichen Augen, sondern auch durch seine dämonischen. Es war eine Struktur und Ordnung zu erkennen. Es war etwas, was ein jeder Dämon fürchtete. Und dass der Mann einen Zauber auf ihn wirkte, war der letzte Beweis, dass der Mann offenbar ebenso wie der Sohn seinen Verstand verloren hatte, oder sogar einen Teil seines Geistes. Die Struktur raste zu ihm und hüllte ihn einen Moment lang ein, bevor er von den Beinen gerissen wurde und mit dem Hinterkopf und Rücken auf dem Boden aufschlug.
    Es presste ihm die Luft aus den Lungen und die Magie ließ ihn innerlich zittern. Kein Dämon mochte Magie. Der menschliche Körper schützte ihn, doch in dieser Welt war er ebenso verwundbar, wie sein Wirtskörper.
    Der Schmerz des Körper schwappte über ihn. Ein protestierender Muskel hier, eine leichte Verletzung an der Stirn dort. Es war ein Zeichen, dass dieser Körper mehr Schwächen hatte, als ein Dämon. Aber sein Vorhaben war damit vereitelt worden, zumindest für diesen Moment.
    Mühsam kam er wieder auf die Beine und betrachtete den alten Mann, der voller Verzweiflung schien. Dann drehte er sich um und ging weiter seinem Ziel entgegen.
    „Nein!", schrie der Magier hinter ihm. „Daritas, Nein!"
    Er ignorierte seine Rufe, sondern machte sich darauf bereit, dass er ihn noch einmal einen Spruch zukommen lassen würde. Doch was dann geschah, überraschte selbst ihn.
    Er hatte sein Tempo gedrosselt, doch der alte Mann rannte ihm nach und riss ihn zu Boden. Beide schlugen auf dem Boden auf, der Vater umklammerte seinen Sohn und der Dämon versuchte sich aus dem Griff zu befreien.
    „Nein Daritas", stammelte der alte Mann und Tränen flossen über sein Gesicht. „Tu das nicht, nicht noch einmal."
    Der Dämon wurde angespannt. Das letzte Mal hatte der Vater ihn offenbar nicht davon abgehalten, obwohl er zu wissen schien, dass sein Sohn allen Anschein nach nicht in der Lage war, sich über Wasser zu halten. Warum tat er es dann jetzt?
    Er versuchte die Frage zu ignorieren, doch der Blick des Vaters war weiterhin auf ihn gerichtet. Etwas ging in ihm vor. Eine Veränderung.
    Der Dämon griff in sich hinein, dort, wo der Geist des Jungen noch war. Der Geist hatte sich verändert. Er hatte neue Masse bekommen. Es war unmöglich. Ein Teil der Seele hatte den Körper bereits verlassen. Wie sollte er nun wachsen? Er war beschädigt, verwundet. Etwas sonderbares ging hier vor sich. Als er sich mit aller Macht von dem Mann löste, geisterten Gedanken durch seinen Kopf. War es möglich, dass der Magier eine Mitschuld daran trug, dass der Geist wieder wuchs? Hatte am Ende der Dämon unrecht gehabt, mit seiner Behauptung, der Geist im Körper wäre beinahe verschwunden?
    „Daritas. Du musst das nicht tun", sagte der alte Mann. „Ich kann dich verstehen. Du erinnerst dich wieder an das, was passiert ist. Du musst das Schicksal nicht wiederholen. Bleib bei mir. Bleib bei deinem Vater."
    Der Dämon schwankte in seiner Entschlossenheit. Was wollte der Mann ihm damit sagen? War es eine gute oder schlechte Idee, ihn danach zu fragen?
    Er beobachtete den Mann, als er wieder auf die Beine kam und entschied sich.
    „Erzählt mir die Wahrheit. Was ist wirklich passiert?"
    Der Alte sah ihn an und seine Lippen zitterten vor Anspannung. Er sah sich um und blickte seinem Sohn in die Augen, als er sprach.
    „Es war ein Unfall", sagte er. „Ledosa ist gestürzt. Du konntest sie nicht retten."
    „Was ist passiert?", fragte der Dämon mit Nachdruck.
    „Ihr hattet einen Streit", sagte der Mann und hob beschwichtigend die Hände. „Sie wollte fort von hier und du nicht. Ihr wolltet euch einmal ein neues Leben aufbauen, doch sie wollte nicht mehr länger warten."
    Der Dämon griff sich an die Brust, als ein Schmerz ihn durchzuckte. Was er in sich fand war unglaublich. Der Geist des Menschen wurde immer größer. Es war unmöglich, aber der Dämon begann sich zu fragen, ob er bei dieser Rate, wie der Geist wuchs, eine Chance hatte, den Körper unter Kontrolle zu halten.
    „Was genau ist passiert?", fragte der Dämon und keuchte. Die Schmerzen breiteten sich langsam in seinem ganzen Körper aus.
    „Du hast sie geschlagen", sagte der Vater. „Aber das wolltest du nicht tun. Es war ein Unfall."
    „Ich habe sie geschlagen?", fragte der Dämon und Bilder zuckten vor seinem Inneren Auge. Es war ein wilde Abfolge, die er nicht verstand. „Was ist mit ihr passiert?"
    „Du warst so wütend", sagte der Vater und trat an ihn heran. „Dein Schlag war zu kräftig. Sie taumelte zur Brüstung der Brücke und stürzte hinüber. Du wolltest ihr noch helfen, doch sie glitt ab, stürzte ins Wasser und versank."
    Der Dämon spürte den Schmerz nun auch im Kopf. Die Bilderflut wollte nicht abreißen und die Erinnerungen des Mannes, der im Körper hauste waren immer deutlicher. Er sah eine Frau, die Ledosa sein musste. Eine hübsche Person mit haselnussbraunen Haaren und grünen Augen. Er spürte, wie der Geist des Menschen langsam aber sicher ihn verdrängte. War es möglich? War es möglich, dass der Geist des Menschen ihn aus diesem Gefängnis ausstoßen konnte und wenn ja, was würde dann mit ihm passieren?
    Er wand sich in seinen eigenen Gedanken. Kaum waren die Bilder verschwunden, wurde der Schmerz in seinem Körper immer deutlicher und er stöhnte auf und ging auf die Knie.
    „Was passiert hier?", fragte der Dämon und zum ersten Mal spürte er die Angst eines Menschen. Wenn er aus diesem Körper ausgestoßen werden würde, würde er innerhalb kurzer Zeit sterben und niemand konnte ihn dann noch helfen.
    „Daritas", sagte der alte Mann und kniete sich vor ihm nieder.
    „Was geht hier vor sich?" Der Dämon starrte den Vater an. „Ihr habt einen Fehler begangen."
    Der Vater sah ihn einen Moment lang an, dann durchbrach der menschliche Geist etwas in seinem Inneren und er schrie auf.
    Die Schmerzen brandeten durch seinen Körper, durch den Körper des Menschen. Er spürte, wie sich Muskeln verstärkten und wie Knochen zu schmelzen begannen. Seine Transformation begann, doch die Qualen waren unermesslich. Es musste am menschlichen Geist im Körper liegen.
    Der Dämon schrie und die beiden Geister berührten sich. Es brannte wie die Hölle als zwei unterschiedliche Geister begannen miteinander zu verschmelzen.
    „Nein", stammelte der Dämon und begriff nun was der Magier am Ende getan hatte. Er hatte vielleicht sogar Kenntnis davon gehabt, dass genau dies hier passieren würde.
    Sein trüber Blick richtete sich auf den alten Mann. Er konnte trotz allem erkennen, dass der Mann lächelte, während er den strampelnden und windenden Körper mit beiden Armen festhielt.
    „Alles wird gut, Daritas", sagte der Mann und lächelte weiter. „Es ist gleich geschafft."
    Der Dämon begriff es ebenso, die beiden Geister, die sich einen Körper geteilt hatten, verschmolzen immer mehr. Der Schmerz wandelte sich zu einem betäubten Gefühl der Ohnmacht.
    Dämon, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Wehre dich nicht. Wehre dich nicht vor dem Wunder, welches mein Vater vollbracht hat. Sei tapfer und stolz etwas Neues zu werden.
    Der Dämon begriff nicht ganz, was hier geschah. Der Geist des Jungen war doch verschwunden. Wie konnte diese Stimme nun existieren?
    Wir werden eins. Ein Teil von dir wird zu mir. Ich werde ein Teil von Euch. Wir werden eins werden, ein neuer Geist.
    Werde ich aufhören zu existieren?, fragte der Dämon in sich hinein. Die Geister verschmolzen immer schneller. Die Zeit seiner Existenz war dem Ende nahe. Ich will nicht sterben.
    Wir werden nicht sterben, sagte der Mensch. Wir werden gemeinsam leben.
    Die Geister verschmolzen vollkommen und der Dämon schrie aus ganzer Kehle, als sich die beiden Hälften vereinten und etwas Neues schufen. Er schrie und der Schmerz war so stark, dass er die Kontrolle über seinen Körper verlor und in den Abgrund stürzte. Ein schwarzes Loch, von dem er einfach verschluckt wurde und immer tiefer stürzte. Er hatte aufgehört zu existieren.


    Es dauerte eine ganze Weile, bis ihm klar wurde, dass er mit seiner Einschätzung Unrecht hatte.
    Daritas. Eine Stimme lockte ihn. Er wusste nicht, woher sie kam, doch er folgte ihr.
    Daritas. Der Ruf war deutlich und wurde immer lauter. Er schwamm durch eine Schwärze und spürte eine Strömung. Nicht nur er bewegte sich, sondern er wurde auch irgendwo hin gezogen.
    Daritas. Er konnte etwas spüren. Er fühlte Finger und Zehen, einen Körper, die Wärme der Haut. Er schwamm schneller durch die Dunkelheit. Er war noch existent. Er wusste nicht, was passiert war, aber er war noch am Leben. Er musste den Kampf gewonnen haben und strebte immer weiter, wusste, dass am Ende der Schwärze ein Licht auftauchen würde, was ihn wieder in die reale Welt bringen würde.
    Daritas, verlangte immer noch eine Stimme in seinen Kopf und er kam der Quelle näher. Er wusste es und dann schien es, als würde sein Geist in einen Körper gepresst und schlug die Augen auf.
    Warmes Licht erhellte den Raum. Der Geruch nach dem Tee, den er getrunken hatte, war wieder da, auch das alte Augenpaar, dass liebevoll seine Hand hielt und lächelte.
    „Daritas", sagte der Magier. „Endlich bist du wieder zurück unter den Lebenden."
    Der Dämon wollte verneinen, doch er zögerte. Was war passiert? Was war mit dem Geist des Menschen? Er suchte danach, doch er fand nichts. Er war fort, er war nicht mehr in diesem Körper, damit war er frei.
    Ja, wir sind frei, meldete sich eine Stimme und der Dämon erstarrte innerlich. Mein Vater hatte mich nicht aufgeben können. Er hat dich in diese Welt geholt um meinen verletzten Geist zu heilen. Du hast Recht: Ich war nicht mehr da, doch deine Essenz hat mich zurückgeholt. Dein Geist hat sich mit meinem verflochten. Die Teile, die mir fehlten hast du gegeben und ich habe dir meinen Geist zur Verfügung gestellt. Wir werden weiter verschmelzen, bis wir nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.
    „Was habt Ihr getan?", fragte der Dämon, doch er war sich nicht sicher, ob er die Antwort wirklich noch hören wollte. Er begriff schon zu viel und er hatte Angst, dass seine Befürchtungen wahr werden könnten.
    „Ich habe dir dein Leben gerettet", sagte der Mann und lächelte. „Du erkennst doch deinen Vater, oder?"
    Der Dämon zögerte und wollte den Kopf schütteln, doch der Geist von Daritas behielt Recht, sie verschmolzen noch immer und nun sprach auch der Sohn.
    „Ich bin hier", sagte er und hielt die Hand seines Vaters. „Du hast mich gerettet. Ich danke dir, für alles."
    Der Dämon konnte nichts dagegen tun. War er überhaupt noch ein Dämon? Das Sein als Dämon verschwamm, seine Erinnerungen blieben erhalten, aber die Gedanken des Mannes flossen in ihn ein. Aus zwei Stimmen wurde eine und als am nächsten Morgen der junge Mann erwachte, gab es keinen Dämon mehr, sondern nur noch Daritas.


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    Über den Dünen glitzern nicht nur die Sterne. Leuchtende und wabernde Lichter erhellen zuckend die kalte, sternenklare Wüstennacht, die jenseits des zehnten Türchens liegt. Ylhawth sind es, Wesen nicht aus Fleisch und Blut, die hier über den Himmel tanzen. Manche farbig schimmernd, manche gleißend hell. Es ist eine Nacht des Teilens für sie, eine Nacht des Erinnerns an uralte geteilte Geschichten, die fast älter sind als das älteste Leben dieser Welt. Bilder, Gedanken und Gefühle fluten von einem Geist zum nächsten. Und selbst Sterblichen - mit der entsprechenden Begabung - ist es vergönnt sie zu empfangen...



    Warum Heute so ist
    Jedes Gedankenbild wird klarer durch einen Klick... ;)


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    [Blockierte Grafik: http://imageshack.com/a/img543/3981/5jgt.png]


    [Blockierte Grafik: http://imageshack.com/a/img560/6446/er88.png]
    Edit: Oh! Imageshack hat die Comicbilder gefressen, ich muss mal suchen wo die abgespeichert sind, dann kann ich sie bei Gelegenheit wieder von woanders her verlinken. Sturmi 11/2016


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    Rostig und feucht ist der Rahmen des elften Türchens. Es liegt mitten in einem schummrigen Tunnel, der im Moment nur ein einziges Wesen beherbergt…



    Auf Messers Schneide


    Tropf, Tropf, Tropf...
    Das Geräusch hörte nicht auf.
    Tropf, Tropf, Tropf...
    Es wurde immer lauter.
    Tropf, Tropf, Tropf...
    Langsam öffnete Es die Augen. Es erwartete, dass ihm helles Sonnenlicht in die Augen stechen würde, doch umgab Es blasse, grüne, kranke Helligkeit, die von schimmelartigen Gewächsen ausging, die an den umgebenden Tunnelwänden wuchsen. Mühsam richtete Es sich auf und schaute sich um. Es hatte in einer Wasserlache in einer Art Abflussrohr gelegen, die sich aus einem dünnen, metalischen Metallrohr speiste, das hinter ihm aus der grauen Wand ragte.
    Plötzlich hämmerte es in seinem Kopf, sodass Es sich mit einer seiner Hände an der Wand abstützen musste. Nachdem der Anfall abgeklungen war, durchfuhr Es ein Schrecken als Es seine Hand sah. Es waren schwarze, dünne Klauen, die kaum ein Gefühl übertrugen. Es wusste, dass die Wand, an der seine Hand kurz vorher geruht hatte, feucht sein musste, doch Es spürte es nicht. Es blickte weiter an sich herab. Die Arme ebenso schwarz und dürr, der Oberkörper aus einem kupferfarbenen Drahtgeflecht, die Beine dünne, verkohlte Stumpen.
    Aber warum wunderte Es sich überhaupt? Es wusste nicht so recht, was Es eigentlich erwarten sollte. Jedoch wusste Es auch, dass Es eben nicht so war, wie Es sein sollte. Aber wer war Es selbst eigentlich? Panik stieg in ihm auf, als Es sich selbst die Frage nicht beantworten konnte. Es wusste doch, dass Es jemand sein musste.
    Was machte Es überhaupt hier? War Es entführt worden?
    Auch das wusste Es nicht. Genausowenig wie seinen Namen.
    Der Tunnel führte einige Schritte in die andere Richtung, bevor er sich leicht bog. Es beschloss nun endlich loszugehen und mehr über das Hier herauszufinden. Nach kurzes Zeit hatte Es die Kurve erreicht, hinter der es in geringer Entfernung einen Ausgang zu geben schien. Zumindest wurde es heller. In Richtung Helligkeit lief Es an den schimmelgrünen Wänden entlang, in der Hoffnung auf Licht und Antworten.


    Die menschenähnliche Gestalt bedeckte ihre Augen, als sie den Tunnelausgang erreichte. Niedergeschlagen merkte Es, dass es doch nicht die gleißende Helligkeit war, die Es eigentlich erhofft hatte. Die Umgebung war nebelverhangen und in trübes Licht getaucht, sodass Es nicht weit sehen konnte. Doch was es erkennen konnte, war nur trostlos. Graubrauner, schlammiger Boden und Schrott und Müll. Aber wieder wusste Es eigentlich nicht, warum Es etwas anderes erwartete. Und da fiel es ihm ein. Die Sonne! Ja genau! Es hatte Sonne erwartet. Vor seinem inneren Auge sah Es eine grüne Wiese mit Gras und vom Himmel leuchtete es gleißend hell herab. Das war die Sonne und auf der Wiese war Gras. Frisches, grünes Gras. Es erinnerte sich an den Geruch von frisch gemähtem Rasen. Es wurde aus seinen Erinnerungen gerissen, als Es etwas hörte. Ein Rumpeln, aber dabei auch ein Geräusch, das scharfes Metall verursacht, wenn es grob auf anderes Metall trifft. Aus dem Nebel schälte sich langsam die Silhouette einer schwebenden Kugel aus Metallschrott, der innerhalb der unsichtbaren Grenzen der Kugel in rasendem Tempo rotierte. Man brauchte nicht viel Fantasie, um zu erahnen, was mit jedem lebenden Wesen passieren würde, dass zu nahe an die Entität geriet. Es verfiel in Panik und rannte so schnell wie möglich weg von der Schrottkugel, die es anscheinend auf Es abgesehen hatte. Es rannte so schnell von der Kugel weg, wie es konnte, aber der Abstand wurde nicht geringer. Hastig stolperte Es einen flachen Hügel hinauf, der aus nassem Schlamm bestand, auf dem Es immer wieder ausglitt. Die Kugel hatte Es fast auf der Kuppe erreicht, als Es sich fallen ließ und den Berg herabkullerte. Vor Schreck, dass die Kugel Es fast erreicht hatte, schrie Es auf und versuchte sich wieder zu fangen, als sich ein kleiner Spalt auf der Schräge des Hügels vor ihm auftat, in den das menschenähnliche Wesen hineinfiel. Es versuchte sich am Rand der kleinen Grube festzuhalten, aber starke Hände zogen es hinab, warfen Es zu Boden und verschlossen die Luke gleich hinter ihm wieder. Von hellem Licht geblendet und festgehalten, versuchte Es sich loszumachen und um sich zu schlagen. Doch der Griff war zu fest und allmählich klärte sich sein Blickfeld. Vor ihm stand ein Wesen mit eingefallenem Gesicht, dass von einer dicken, schwarzen Brille dominiert wurde. Es hatte genauso dürre Gliedmaßen wie es selbst, die der Stärke, die anscheinend in ihnen steckten, spotteten.
    „Hast du dich wieder beruhigt edle Dame? Ich habe dich schon eine ganze Weile beobachtet, musste aber warten, bis du in die Nähe einer unserer Luken kommen würdest", erklärte das andere Es mit einem spottenden Unterton. Die Augen des angesprochenen Wesens weiteten sich. Es war also eine Frau. Vor ihrem inneren Auge erschienen nun Bilder von Menschen mit feinen Gesichtern und vorwiegend langen Haaren.
    Erst spät reagierte sie mit einem zögerlichen Nicken auf die Frage, nachdem das andere Wesen sie schon längst losgelassen hatte, als sie aufgehört hatte sich zu wehren. Jede Menge Fragen rasten durch ihren Kopf und jetzt sprudelten sie aus ihr heraus: „Wo sind wir? Wie bin ich hier hingekommen? Was sind wir? Was war das hier draußen? Wie heißt du?"
    Das andere Wesen machte eine beschwichtigende Geste und führte sie durch einen kurzen Gang, der einfach in die Erde gegraben worden war, in einen kleinen Raum in dem nur eine alte Couch stand.
    „Setz dich doch!", sagte das andere Wesen und nahm demonstrativ auf dem alten Möbel Platz.
    Kurz entschlossen setzte sie sich ebenfalls, so weit weg wie möglich von dem anderen. Ruhig und mit einer etwas heiseren Stimme begann es zu erzählen:
    „Ich bin Rosti. Zumindest werde ich so genannt. Wir sind die Erwachten und wir sind in den Niemandslanden, oder auch die Welt im Nebel genannt. Was das da oben ist... Sagen wir etwas, was uns nicht freundlich gesonnen ist. Wie du hier hergekommen bist?..." Es machte eine kurze Kunstpause und kicherte dann, was sich anhörte wie eine mit Schrauben gefüllte Dose. „Also hier in meinem bescheidenen Außenposten bist du durch die Luke gekommen, mehr weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall bist du jetzt hier... Wie soll ich dich denn nennen?"
    Sein Gegenüber hob nur traurig die Schultern. Rosti überlegte einen Moment und sprach dann:„Ja… Fallen. Ich nenne dich Fallen. Was hältst du davon?" Sie nickte nur kurz und dankbar und grübelte dann weiter über sich selbst nach. „Mit der nächsten Ablösung bringe ich dich zurück in die Stadt. Ruh dich jetzt ein wenig aus."
    Daraufhin verließ Rosti das Zimmer in einen anderen Tunnel, der von dem Raum abzweigte und ließ sie allein mit ihren Gedanken auf der Couch zurück.


    Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Rosti pfeifend wieder und führte sie wieder durch einen anderen Tunnel, der von Gaslampen sporadisch erleuchtet war. Er war etwas angespannt, hatte nun eine Kettenweste angezogen und trug einen Stab in der Hand an dessen Ende eine aufgeklappte Schere mit Draht festgebunden war. Woher sie wusste, dass es eine Schere war und wie man sie benutzte, wusste sie auch nicht, was sie fast rasend machte. Durch eine schwere Eisenluke verließen sie das Erdreich, um an die trostlose Oberfläche zu kommen. Sie befanden sich in einer trüben, nebelverhangenen Schrottebene. Jedoch blinkte vor ihren Füßen etwas. Es war ein kleines, graviertes Namensschild aus Metall. Auf ihm stand ein Name. „Paula" , las sie. Der Name weckte etwas in ihr. Sie spürte, dass er zu ihr gehörte. „Rosti... Sagt dir der Name Paula etwas?", fragte sie vorsichtig. Schlagartig änderte sich seine Miene. Die Gedanken und das Uhrwerk rasten in seiner Brust, dann umarmte er sie heftig. „Ja! Du bist meine Geliebte!", sagte er laut schluchzend. „Ich bin dein geliebter Mark." Und jetzt fiel es auch ihr wieder ein. Erinnerungen strömten ihr Gedächtnis.
    Sie mit Mark in einem Restaurant bei Kerzenschein. Sie in seinen Armen. Sie allein auf einer Parkbank mit ihm. Dann sie beide in einem Auto. Plötzlich kommen sie von der Fahrbahn ab. Mark neben ihr mit blutendem Kopf. Er liegt in einem Krankenhauszimmer, vollgestopft mit Schläuchen, die ihn am Leben halten. Dann sie wieder alleine. Eine Pistole liegt in ihrer Hand, die sie auf sich selbst richtet...
    In ihren Armen sprach Rosti, alias ihr geliebter Mark wieder: „Du bist gekommen, um mich wieder zu retten!"
    „Ja", antwortete Paula. Hand in Hand sackten die beiden Wesen zusammen.


    In zwei verschiedenen Krankenzimmern des selben Krankenhauses erwachten gleichzeitig wieder zwei Menschen, die eigentlich für tot gehalten worden waren.


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    Der Marktplatz, auf den das zwölfte Türchen führt, wird von einem Flickenteppich aus farbenfrohen Baldachinen überspannt, um die stärksten Sonnenstrahlen von den Kunden fernzuhalten. Menschen von nah und fern - viele in nicht minder farbenfrohen Gewändern - tummeln sich unter ihnen, sie erwecken den Platz in einem Gewirr von Licht und Schatten zum Leben. Einer von ihnen ist ein zerlumpter Junge, der sich zielstrebig durch die Menge bewegt...



    Idiotenbruder


    Als der Händler ausholte, stürmte Ralukha heran, laut schimpfend und Kihon mit Verwünschungen bedeckend, und genau das war es, was den Händler zurückhielt. Überraschung. Er senkte die Hand nicht, aber er schlug nicht zu, während Ralukha Kihon eine Kopfnuss versetzte.
    „Ich habe dir gesagt, du sollst am Brunnen auf mich warten!" schimpfte er. „Kannst du nicht einmal das tun, was ich dir sage? Ich weiß wirklich nicht, womit ich dich verdient habe! Nutzloser Idiot! Ich hoffe, er hat euch keine Unannehmlichkeiten gemacht?" wandte er sich nahtlos an den Händler. „Etwas zerbrochen? Zerstört? Nicht? Oh, das ist gut." Er gab Kihon einen weiteren Stoß. „Dummer Bengel. Entschuldige dich!"
    „Aber ich…"
    „Halt den Mund! Werter Herr, Ihr müsst entschuldigen. Mein kleiner Bruder ist nicht so ganz…" Ralukha deutete ein verlegenes Grinsen an und machte ein paar vage Gesten. „Ihr wisst schon. Darum muss ich auf ihn aufpassen, aber das ist nicht immer so einfach, wenn man auf dem Markt…"
    „Hey!" empörte sich Kihon und fing sich einen Ellbogenstoß dafür.
    „Ich bitte vielmals um Vergebung, sollte er Euch belästigt haben." Ralukha machte eine Verbeugung, griff in Kihons Nacken und zwang ihn, sich ebenfalls zu verbeugen. Mehrmals. Dabei entschuldigte er sich ununterbrochen weiter.
    „Ihr seid beide nutzlose Bengel!" unterbrach der Händler schließlich grollend. „Weg von meinem Stand jetzt!"
    Ralukha öffnete den Mund, aber der Mann hob die Hand drohend höher, also packte Ralukha Kihon am Kragen und zerrte ihn mit. Zwang ihn, in ein paar Schritten Entfernung nochmals stehenzubleiben und sich vor dem Händler zu verbeugen, dann griff er seinen Arm und sie rannten davon. Über den ganzen Markt, durch eine Seitenstraße, über einen Hof, durch ein Tor und dann schubste Ralukha Kihon zu einer Leiter.
    „Rauf!" befahl er. Kletterte ihm nach und zwang ihn so, das hohe Tempo aufrecht zu erhalten, bis sie oben auf dem Dach ankamen. Kihon natürlich als Erster, und so war Ralukha auf die Tirade gefasst, die losbrechen würde, als er sich über die niedrige Brüstung schwang. Kihon war außer Atem, aber so sehr nun auch wieder nicht.
    „Was sollte das denn?" herrschte er Ralukha an. „Diese ganze alberne Geschichte von deinem kleinen Idioten-Bruder? Wieso hast du dich überhaupt eingemischt? Ich hatte alles unter Kontrolle. Ich hätte dem fetten Schwachkopf problemlos ausweichen können! Der ist viel zu langsam, um mich zu treffen!"
    „Und dann?" knurrte Ralukha zurück. „Hättest du zurückgeschlagen?"
    „Der hätte keine Chance gegen mich gehabt!"
    „Und genau das ist es! Du kannst nicht in diesen Lumpen herumrennen und Leute auf dem Markt zusammenschlagen!"
    „Er hat angefangen!"
    „Natürlich hat er angefangen! Er hat dich für einen Dieb gehalten!"
    „Ich habe nicht versucht, etwas zu stehlen."
    „Das wäre ja auch noch schöner gewesen", empörte sich Ralukha. „Du kannst dich nicht einmal glaubwürdig für einen Bettler ausgeben! Bettler schlagen keine ehrbaren Händler zusammen! Zumindest nicht am helllichten Tag mitten auf dem Markt!"
    „Als ob ich das nicht wüsste!"
    „Dann tu es nicht!" brüllte Ralukha. „Wenn du einen Bettler darstellen willst, kannst du nicht reagieren wie ein Prinz."
    Kihon öffnete den Mund, und für einen Moment glaubte Ralukha, er würde tatsächlich „Aber ich bin ein Prinz!" antworten oder etwas ähnlich Bescheuertes. Etwas, was sie keinen Schritt weiterbrachte hier, genauso wenig wie die anderen albernen Dinge gerade. Aber Kihon war auch nicht dermaßen blöd, und so fiel ihm gerade in letzter Sekunde selbst auf, wie dämlich er sich gerade anstellte.
    „Oh", sagte er nämlich.
    Ralukha seufzte. „Na, immerhin", bemerkte er sarkastisch.
    „Tut mir leid", antwortete Ralukha. Er versuchte ein Grinsen. „Idiotischer kleiner Bruder, was?"
    Ralukha verdrehte die Augen. „Vielleicht sollten wir versuchen, dir die Rolle beizubringen. Könnte erfolgversprechender sein."
    „Es lief gut", verteidigte sich Kihon. „Bis er angefangen hat, mich zu beleidigen."
    „Er hat dich nicht beleidigt", korrigierte Ralukha genervt. „Er wollte dich loswerden, weil dir anzusehen war, dass du nichts kaufen wirst. Aber dann bist du auf die bescheuerte Idee gekommen, dich daran zu erinnern, dass du ihm körperlich überlegen bist. Das hat deine ganze Körpersprache verändert und darum ist die Sache eskaliert."
    „Er hätte mich nicht schlagen können."
    „Ja, eben. Das versuche ich die ganze Zeit, dir zu sagen. Wenn du in den Klamotten da herumläufst, kannst du es dir nicht leisten, zu signalisieren, dass du jeden Angriff abwehren wirst. Dann wirst du angegriffen."
    „Aber wenn ich…"
    „Finde ich das toll und großartig und bewundere dich unendlich dafür, wenn du das willst", unterbrach Ralukha. „Abgesehen davon ruiniert es deine gesamte Verkleidung. Es reicht nicht, so auszusehen wie das, was du darstellen willst. Du musst dich auch so verhalten. Dich so halten."
    „Wenn er mich beleidigt…"
    „Beleidigt er das, was er sieht. Das heißt, bis dahin warst du ganz gut. Recht glaubwürdig. Aber dann hast du dich aufgerichtet."
    Kihon runzelte die Stirn. Ralukha seufzte wieder.
    „Was glaubst du, warum du seit deiner Kindheit ständig angehalten wirst, dich aufrecht zu halten?" fragte er geduldiger. „Dich ordentlich zu setzen, den Kopf gerade zu halten, das Kinn zu heben, Menschen in die Augen zu sehen, all der Kram?"
    „Gute Manieren?" Es klang wie eine Frage. Kihon wusste, es war die falsche Antwort, aber zuzugeben, dass er keine Ahnung hatte, stand außer Frage.
    „Deinen Platz behaupten", korrigierte Ralukha. „Egal, was für ein Platz das ist, du musst dich entsprechend halten, damit es glaubwürdig ist."
    „Darum die ganze Verbeugerei grade?"
    „Und das ganze Getue, ja." Ralukha zog zwei Orangen hervor und reichte Kihon eine davon. „Aber ich schätze, für deinen ersten Versuch war's okay. Wir üben vor dem nächsten halt intensiver."
    „Wo hast du die her?" fragte Kihon statt einer Antwort.
    „Von dem Händler, den du nicht bestohlen hast", antwortete Ralukha einfach. „Je länger ich drüber nachdenke, umso besser finde ich die Idee mit dem idiotischen Bruder. Das lenkt ab… auch an der Rolle müsstest du natürlich erst noch eine Weile üben."
    Kihon zog eine Grimasse.
    „Und deine Eitelkeit ablegen", ergänzte Ralukha grinsend. „Ja, ich glaube, das wird eine sehr nützliche Lektion. Wenn du erst mal glaubhaft sabbern kannst…"


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    Das dreizehnte Türchen tarnt sich als tropfenbesprengte gläserne Automatiktür. Ihre Sensorfelder sind durch den Nieselregen scheinbar verwirrt, ein stetiges auf-zu-auf-zu ist die Folge. Die Reisenden, die sich gerade im wettergeschützten Restaurant- und Wartebereich aufwärmen, beobachten amüsiert, wie eine junge Frau nicht etwa eine der anderen Türen nimmt, sondern eine "auf"-Phase nutzt um sich hinaus ins nasskalte Wetter zu wagen…



    Heimfahrt


    Es nieselte, der Himmel war grau, es war kalt. Deianna wickelte sich den rotblau karierten Schal ein drittes Mal um den Hals und wischte mit den Fingerspitzen der zu dünnen Handschuhe über die Brillengläser. Blöde Idee, alles noch verschmierter als vorher. Das Mädchen rückte die Umhängetasche zurecht, nahm die Brille ab und zog den linken Fuß hoch, um die Gläser am Hosenbein abzuwischen. Half auch nicht, immer noch verschmiert.
    "He, Blinki, ein Tuch?" Deianna musterte den Sprecher, einen verschwommenen, kaugummikauenden Kerl, und zupfte ihm das Taschentuch aus der Hand. Seinen Namen wusste sie nicht, aber sie hatte ihn in einigen Vorlesungen schon gesehen, und ihm schien es auch so zu gehen.
    "Jau. Mein Retter, spinn ich, alles nass, Dreck ..."
    "Was ist dein Zug?"
    "Gilan."
    "Bah ... drei Stunden, hm?"
    Deianna nickte ausgiebig und putzte ebenso ausgiebig ihre Brille, bevor sie sie wieder aufsetzte und den jetzt gestochen scharfen Kerl nochmals musterte - spitze, rotgefrorene Nase, schmale Lippen und dunkle Augen, der Rest in dunkelgrüne Wolle und einen dicken braunen Mantel vermummt. "Geht so, hab Rechenkram mit. Dein Zug?"
    "Nyc rüber nur."
    "Klassischer Nycobianer? Kannst du so reden?"
    "Näh. Interstellarer Import. Komm von Nestrev." Er spuckte seinen Kaugummi in den Müll und zog ein schiefes Grinsen. "Du? Lynidisches Original? Oder auch Import."
    "Näh, importiert ist nur mein Name. Ich frier hier ja auch genug ... bah, Dreckswetter, nasses ..."
    "Muss so sein. Ohne Dreckswetter ist der Sternkreistag nicht echt", erklärte er mit lehrerhaft erhobenem Zeigefinger, "Mit dem Dreckswetter verdient man sich die Geschenke."
    "Näh", machte Deianna und zog eine Fratze.
    Dreimal machte es Ding, dann erklang: "Kontinentaltransfer nach Süden fährt auf Trasse 28 ein."
    "Ist mein Zug", sagte das Mädchen, "Krieg ich deinen Schlüssel?" Sie bohrte einen behandschuhten Finger zwischen Ärmel und Handschuh des anderen Armes und erwischte die Kom-Taste auf Anhieb.
    "Oh, ja klar. Fahr gut." Der Kerl zog seinen Ärmel ebenfalls hoch, drückte seine Kom-Taste und schlug sein Handgelenk gegen Deiannas. Beide Kom piepsten zur Bestätigung.
    "Jau, auch du." Sie zwinkerten einander kurz an, dann rannte Deianna die Trassenunterführung entlang, bis sie sich bei 28 einreihen konnte.
    Leise summend öffneten sich die Türen der Transportröhre und des Zuges, und brav ein Passagier nach dem anderen betrat den Zug. Zwei Minuten nur, dann schlossen sich die Türen wieder und der Zug beschleunigte. Nicht dass man es spüren könnte, Gravitationssysteme gab es auch in Zügen, aber durch die Fenster sah man es natürlich.
    Deianna schob sich an der alten Frau und ihrem überdimensionalen Koffer vorbei und fragte sich, wie die das Teil in nur zwei Minuten in den Zug gewuchtet hatte. Vielleicht war es ja eine alte Gewichtheberin?
    Ein Kleinkind krabbelte zwischen zwei Rucksäcken hervor, Deianna stieg vorsichtig mit einem ganz weiten Schritt drüber. Wo waren da die Eltern? Krümelpflanzer waren die, so gar nicht aufzupassen ...
    Das Durcheinander blieb hinter Deianna zurück, sie erspähte sogar einen Sitzplatz. Eilig spurtete sie hin und nahm ihn in Beschlag.
    "Ah, und gefragt wird nicht mehr? Die Jugend von heute ..."
    "Höh ...", machte Deianna perplex und starrte die Frau ihr gegenüber an.
    "Bitte, ist hier noch frei?"
    "Da war doch frei, saß ja keiner da", stellte Deianna fest, "außer, da wäre ein Unsichtbarer gesessen, aber dann hätte ich das ja auch gemerkt, weil dann tät ich jetzt ja auf dem draufsitzen und dafür sitz ich zu tief. Jau?"
    "Also bitte ..." Die Frau gegenüber musterte sie pikiert und begann, in einer Schmalz-und-Sperma-Schmonzette mit erstaunlich eindeutigem Einband zu lesen.
    Deianna packte lieber ihren Rechenkram aus, sonst blühte ihr am Ende noch ein Gespräch über Literatur.
    "Ist da noch Platz wo?"
    Einen Moment lang erwartete Deianna eine Beschwerde über die Jugend von heute, dann stellte sie fest, dass der Fragesteller sicher doppelt so alt war wie die pikierte Dame. "Klar", sagte das Mädchen also, "es sei denn, da wär wo ein Unsichtbarer, aber das merkt man dann ja, wenn man sich auf ihn draufsetzt ..."
    Der alte Mann kicherte, wackelte dabei seltsam mit den Schultern, und setzte sich. "Huch!", machte er und stockte mitten in der Bewegung, als würde er auf jemandem draufsitzen. Die pikierte Dame musterte ihn entsetzt, worauf er sich dann doch anständig hinsetzte. "Was is'n das da?", fragte er und zeigte auf Deiannas Rechenkram.
    "Dimensionalknotenberechnung."
    "Ja? Nach Tylsam oder Kadreve-Bainik?"
    Deianna hob eine Braue. "Tylsam. Sie kennen den Kram?"
    "Pilot", grinste er.
    "Ach ... Piloten!", machte die pikierte Dame und wirkte plötzlich unglaublich verständnisvoll.
    Deianna grinste den Piloten breit an und fragte: "Was sind Sie denn so rumgeflogen?"
    "Dabrai zuerst, mit 800 Raketen und zwei Stunden Partikelstrahl unterm Arsch. Später dann ein echtes Leitschiff."
    "Boah."
    "Beim Leitschiff war es dann aber nicht mehr so spannend", sagte er, "Ist zwar ein unglaubliches Gerät, aber fast alles läuft automatisch."
    "Im Gefecht auch?"
    "Nein, wobei, doch, aber manchmal kommt der Instinkt noch dran. Ohne Gefecht ist es wirklich fast bloß Ziel eingeben und Knopf drücken." Er sah Deianna durchdringend an. "Du willst Pilot werden?"
    "Jau, aber kommerziell."
    "Linienflüge? Naja ..."
    "Dachte eher so an Mineypu ..."
    "Gut so", sagte er und klopfte ihr kräftig auf die Schulter, "Denk dir, wieviel Trilit die Kraftwerke sich liefern lassen! Ohne Mineypu müssten wir das alles importieren!"
    "Also, Unsinn", wandte die Dame jetzt wieder pikiert ein, "Trilit ist ja wohl wirklich genug da. Mein Mann ist Raffineriearbeiter im Asteroidengürtel und was die da alles rausholen ..."
    "46 Prozent", sagte der Pilot, "Die Zukunft braucht die Wiederaufladestationen."
    "Hm." Überzeugt war die Dame sichtlich nicht, vielmehr nahm sie den Piloten sichtlich nicht für voll. Sie steckte die Nase wieder in ihr Buch.
    "Manchmal denke ich, wir hätten gar nicht mit den Trilitkraftwerken anfangen sollen ...", überlegte er, "aber dann müssten wir alles mit Kraftwerken pflastern ..."
    Deianna ließ das Gespräch jetzt auch fallen und widmete sich voll und ganz ihrem Rechenkram. Mit weniger als der gesamten Aufmerksamkeit gaben sich diese Formeln ja auch nicht zufrieden, wenig anschaulich war die Materie noch dazu, irgendwo schrie ein Kleinkind. Deianna raufte sich die Haare, als sie feststellte, dass sie schon zum zweiten Mal im Kreis dachte - und das bei ein und derselben Teilrechnung.
    "Du kannst Pause machen, du rechnest schon fast eine Stunde", grinste der Pilot.
    "Näh, oder?"
    "Doch doch."
    Deianna stellte verdutzt fest, dass die pikierte Dame weg war. "Wann ist die denn ausgestiegen?"
    "In Aomis, vor zwanzig Minuten."
    "Oh." Deianna rutschte auf ihrem Platz hin und her. "Wohin fahren Sie so? Heim zum Sternkreistag?"
    Der Pilot nickte, wackelte aber gleichzeitig komisch mit den Schultern. "Diabi Malkelo, meine Töchter haben mich eingeladen. Daheim bin ich ja im hohen Norden."
    "Daheim im Sauwetter ... freuen Sie sich, mal nicht zu frieren."
    "Oh, ich fürchte, ich werde vielmehr gewaltig schwitzen ..."
    Deianna rollte mit den Augen. "Näh, im Sommer ist es doch in Tecandria auch warm."
    Jetzt zog er sein Grinsen bis über beide Ohren. "Nur dass Tecandria für mich auch ziemlich warm ist. Ich komme aus Liazk." Deianna fröstelte unwillkürlich, dort taute es ja nur in ein paar Wochen im Jahr und selbst dann war es noch arschkalt. "Der Zug ist eigentlich eine Qual, was die Temperaturgewöhnung angeht", seufzte er, "In vier Stunden vom ewigen Eis in die Sandwüste, das haut einen um, wenn man aussteigt."
    "Eher in die andere Richtung ..."
    "Oder das, ja."
    "Ist es schwer, fliegen zu lernen?", bog Deianna das Thema auf ein weniger frostiges um.
    Der Pilot wackelte komisch mit den Schultern. "Weiß nicht - hab ich seit einigen Jahrzehnten nicht mehr gemacht." Er grinste breit, lachte dann leise und erklärte versonnen: "Damals war auch Sternenkreistag. Ich hab gebüffelt wie ein blöder, aber die Dimensionalknotenberechnung nach Kadreve-Bainik einfach nicht kapiert, nach Tylsam ist ja leichter, aber das gab's damals noch nicht. Ich hab sogar beim Kreisschmaus die Definitionen auf den Knien liegen gehabt und meine Tante war sooo nah dran", er deutete mit zwei Fingern einen winzigen Abstand an, "mir die Pilotenausbildung zu verbieten, weil ich das Fest ruiniere."
    "Näh, echt?"
    "Sie nahm den Schmaus und die Feuerzettel sehr ernst."
    "Feuerzettel haben wir keine mehr", sagte Deianna, "weil da mein Opa mal das Tischtuch angekokelt hat. Danach hat meine Oma vorgeschlagen, die Bitten auf dem Sensorgerät zu schreiben und die Datei dann feierlich zu löschen."
    "Und das macht ihr?"
    "Näh. Wenn bitten, dann bloß noch in Gedanken. Müsst ja ein Luschengott sein, wenn der nicht Gedanken lesen kann."
    "Uh, von meiner Tante hättest du dir jetzt eine saftige Ohrfeige eingefangen ..."
    "Is ja nicht meine Tante", grinste sie, "Meine Familie ist da sehr pragmatisch. Außerdem wird in meiner Familie nicht geohrfeigt."
    "Naja, du musst bedenken, das war damals noch Sternenreich, da war alles ein bisschen anders."
    "Hm, jau, welche Schicht war das denn?"
    Er rollte mit den Augen. "Hoch genug für die Pilotenausbildung. Aber nur gerade so."
    "Welche denn?", beharrte Deianna.
    Er rollte wieder mit den Augen, ausgiebiger als zuvor. "Dreiundzwanzig, und das nur, weil mein Vater mit mir getauscht hat." Er wackelte mit den Schultern, rutschte auf dem Sitz hin und her und lehnte sich dann bequem in den Sitzbezug. "Da wurde ständig rumgetauscht, dass kaum mehr jemand den Überblick hatte. Wenn jemand schichtabwärts heiraten wollte, dann wurde die Schicht in Sicherheit getauscht, geheiratet und zurückgetauscht. Kam dann schichttechnisch auch den Kindern zugute, und am Ende bekam eines davon die hohe Schicht zugetauscht. Du musst denken, die Schichten waren wirklich viel Wert, auch im Alltag! Da tauschte man sich im hohen Alter noch schnell abwärts, damit die hohe Schicht nicht wegstirbt!"
    "Äh ... gruselig ..." Deianna wünschte sich tatsächlich das frostige Thema von vorhin zurück. Warum hatte sie bloß gefragt?
    "Tja, und dann kam die Revolution. Der Kommandant hat sogar versucht, die Kadetten zu verheizen, aber die meisten haben gemeutert. Also, eigentlich nicht gemeutert, er hätte uns ja gar nicht fliegen schicken dürfen, Kadetten gegen altes Eisen. Trotzdem, ein paar Kadetten sind standrechtlich erschossen worden ... nicht dass er das gedurft hätte, aber naja."
    "Uh ..."
    Er schwieg einen Moment und musterte Deianna. "Manchmal mach ich mir Sorgen, dass uns das nochmal blüht", sagte er dann, "Wenn es im AIT kracht, geht das an uns sicher nicht spurlos vorbei."
    "Hm ..."
    "He, Sie da!", erklang von der nächsten Sitzgruppe, "Wir versuchen hier ein bisschen in beschauliche Stimmung zu kommen, packen Sie Ihren Pessimismus nach dem Sternkreistag wieder aus!"
    "Genau", stimmte noch jemand zu, "und so schlecht sieht es im AIT doch gar nicht aus! Der Kiodan kriegt die Sache nämlich noch gebacken, sag ich! Und das schreib ich auch auf meinen Feuerzettel!"
    Deianna klinkte sich wieder aus, als nun von allen Seiten eingebracht wurde, was jeweils auf die Feuerzettel geschrieben würde. Sie hatte immerhin Dimensionalknotenberechnung zu üben. Diesmal fiel ihr auch endlich auf, was sie bisher so konsequent falsch gemacht hatte. Einfach so einen Term fallenlassen, sie sollte sich was schämen ...
    "He, baldige Pilotin", holte der Pilot sie wieder zurück, "Gehst du eigentlich zur Klippe?"
    "Näh. Ist ja viel zu voll da, beschaulich ist was anderes. Außerdem sieht man die Sterne eh nicht bei so viel Leuchtreklame rundherum."
    "Die werden abgeschaltet", nickte er heftig, "Ich werde diesmal hingehen, mir die Sterne mal mit einer anderen Sichtweise anschauen."
    "Glauben Sie dran?", fragte sie, "Also, wenn ich das fragen darf ..."
    "Hm. Naja. Irgendwie." Er starrte kurz aus dem Fenster, wo allerdings gerade nur das Innere eines Tunnels zu sehen war. "Das Licht mitten im Sternkreis war jedenfalls eine Supernova, die Mákia haben das schon ein paar Jahrhunderte lang erwartet, und die Sterne rundherum sind ja auch nicht wirklich im Kreis, es sieht von hier aus nur so aus ..." Deianna musterte ihn aufmerksam. "Aber irgendwas ist da ... schaden kann es nicht, oder?" Er sah sie an und schmunzelte. "Du?"
    "Weiß nicht ..." Der Tunnel war zu Ende, das gab Deianna die Möglichkeit, auf die Myalmi-Bucht hinauszustarren ohne sich dabei zu merkwürdig vorzukommen. "Eigentlich fand ich es schon immer eine komische Idee, dass Gott uns übersehen könnte, nur weil wir plötzlich auf einem anderen Planeten sind ...", sagte sie dann, "Aber wenn man davon ausgeht, dass sich die Leute damals da echt Sorgen gemacht haben, dann ist irgendwie doch verständlich, dass es da zur Beruhigung ein Zeichen gibt. Oder? Dann halt eine Supernova zünden, die grad im Blickfeld ist ... oder?"
    "Vielleicht." Er griff in seine Schenkeltasche und holte Stift und Papier heraus, er vertiefte sich in seine Notizen und ergänze es nach einigen Momenten auch. Deianna beobachtete ihn eine Weile lang dabei, dann widmete sie sich auch selbst wieder ihrem Rechenkram. "Wenn man es nur genau wissen könnte ...", ergriff der Pilot schließlich nachdenklich wieder das Wort, "Wenn man zurückreisen könnte und zusehen, wie der Prophet auf der Klippe kniet und betet und dann das Licht im Sternkreis sieht ..."
    "Ich glaub nicht, dass das helfen würd", murmelte Deianna, "Dass es passiert ist, ist ja klar. Die Bedeutung muss man aber selber rausfinden."
    "Ja, klar." Er sah hinaus aus dem Fenster, der Überblick über den großen Raumhafen Kallile Beramma war beeindruckend und es hob auch gerade ein Cori-Linienflug ab. "Naja, als Symbol der Hoffnung kann man es auf jeden Fall mal verstehen", sagte er, "und das tu ich auch."
    Deianna runzelte die Stirn. Eigentlich fielen ihr da noch ganz andere Symbole der Hoffnung ein, zuvorderst natürlich der keine-Toten-Vertrag. Aber Hoffnung konnte es tatsächlich nie genug geben, von daher konnte sie gut auch das Licht im Sternkreis genauso betrachten, wenn auch nicht ganz so fassbar.
    Aber das hatte Religion wohl an sich, dass sie nur schwer fassbar war.
    Einige Sitzgruppen weiter vorne am Anfang des Waggons begann es, eine Kom nach der anderen spielte ihren Meldeton. Ganz verschiedene, manche nur kleine Piepsequenzen, andere halbe Orchesterwerke, wieder andere einen Tierschrei oder einen kurzen Satz. Die Meldewelle kam näher, jeweils zwei Sekunden zwischen einem Meldeton und dem nächsten, schließlich war auch Deiannas dran und spielte die ersten beiden Takte von Adilan Kendratas Sommerschlaflied. Beim Piloten erklang gleich darauf eine Fanfarensequenz.
    "Tja", sagte Deianna, "war eine nette Fahrt mit Ihnen."
    "War nett, finde ich auch", sagte er. Gemächlich steckte er Stift und Papier wieder in die Schenkeltasche, dann zog er einen Beutel heraus und stopfte seine warme Winterjacke hinein. Deianna folgte seinem Beispiel, sie wollte natürlich auch nicht komplett eingepackt am Äquator aus dem klimatisierten Zug aussteigen. "Und einen netten Kom-Ton hast du", sagte er noch.
    "Und noch dazu hat den nicht auch noch jeder sonst", grinste Deianna, "Es gibt welche, ein paar, so zwanzig vielleicht, damit hat man drei Viertel der Studenten in Kadezi Yamaara abgedeckt."
    Der Pilot kicherte und wackelte mit den Schultern. "Kann ich mir vorstellen. Ist zufällig eines davon Lichtschlaf? Grausiger Krach ..."
    "Näh ... aber so grausig ist es gar nicht, so im Vergleich. Am häufigsten ist nämlich das Yalliyalliyalli-Lied ..."
    "Auuuu ..." Er machte ein Gesicht wie 32 schmerzende Zähne.
    Ein Kleinkind irgendwo begann prompt zu krähen: "Yada yada yalli yalli ..."
    Deianna und der Pilot, und noch einige Leute, flüchteten eiligst in die andere Richtung zu den Türen, auch wenn der Zug noch fuhr. Aber der neongrüne dreieckige und oben schief abgeschnittene Turm der Filmsynchrogesellschaft war schon zu sehen, ebenso der Lwian-Turm, in dem das riesige Pendel hing, und das schimmernde Glasfrontgebäude des Flottenhauptkommandos. Und dann tauchte der Zug ab und fuhr in die Waggonsternleite Lyn Keetra ein, wurde dreimal auf ein Nachbargleis geschubst und einmal nach oben gehoben, fuhr wieder aus der Sternleite hinaus und in den Hauptbahnhof ein.
    Schon beeindruckend, so eine beleuchtete Sternleite. Viele Bahnhöfe hatten das nicht, die meisten Sternleiten waren zappenduster.
    Langsam glitten die Türen von Zug und Transportröhre auf und Deianna sprang hinaus. Die Hitze schlug ihr entgegen, endlich wieder zuhause.
    "He, baldige Pilotin", sagte der Pilot, "Wann fährst du wieder zurück?"
    "In zehn Tagen, Dienstag, halb zwei, dritter Waggon."
    Er grinste. "Gut, dann buche ich auch den - man sieht sich, und schönen Feiertag!"
    "Ebenfalls!", rief sie ihm nach, als er schon fürchterlich schwitzend davonmarschierte.
    "Willkommen in Lyn!", erklang aus den Lautsprechern, "Bitte beachten Sie den Temperaturunterschied und überanstrengen Sie sich nicht. Wir wünschen einen angenehmen Aufenthalt!"
    Deianna rückte ihre durch die Winterjacke ziemlich ausgebeulte Umhängetasche zurecht und entfernte sich von der Trasse, sie nahm die Überführung und schlenderte ins Bahnhofsgebäude. Der deftige Geruch von Seni-Kamtche drang in ihre Nase, sie folgte ihm plötzlich hungrig und stellte sich beim Imbiss an. Es dauerte ohnehin noch vermutlich eine Stunde, bis sie sich zu ihren Eltern wagen konnte, ohne irgendein Putzwerkzeug samt entsprechendem Auftrag zu bekommen. Also musste sie auch nicht gleich den nächsten Lokaltransfer nach Gilan nehmen.
    Die ersten beiden Takte des Sommerschlafliedes erklangen, Deianna drückte ihren Zeigefinger auf die Kom-Taste und hielt ihn dort, bis die Kom sagte: "Zaram Igenola."
    Zaram Igenola? Wer war denn das und warum hatte Deianna ihn im Kom-Speicher?
    Sie drückte die Taste nochmals. "Ja?"
    "He, Blinki", grüßte Zaram, "Gut in der Wüste angekommen?"
    Deianna grinste bis zu den Ohren, verschob den Erwerb der Schale Kamtche und suchte sich eine ruhige Ecke. "Jau, bin gut angekommen", sagte sie, "und du?"
    "Keine Verspätung, kein Ärger. Alles bestens - nur leider keiner im Haus unter vierzig, ich brauch mal jemanden zum quatschen."
    "Oh, nur zu ..." Sie strahlte den in ihrer ruhigen Ecke befestigten Feuerlöscher an. "Ich quatsch gern mit ..."


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    Das vierzehnte Türchen verbirgt sich im Dunkel zwischen einigen Bäumen, durch die sich ein im Sternenlicht bleicher Pfad auf den nächtlichen Strand hinausschlängelt. Alles scheint ruhig - doch… hat sich dort vorne nicht etwas bewegt?



    Rendezvous


    Vrona schreckte hoch. War sie etwa eingenickt? Das stete Rauschen der Brandung und die lauwarme Nacht mussten sie eingelullt haben. Mit Sicherheit hatte die Müdigkeit nach dem Tagwerk ebenfalls ihren Teil dazu beigetragen. Doch war da nicht gerade ein Geräusch gewesen? Vrona spitzte ihre Ohren und blickte sich in den Sanddünen um.
    Eine dunkle Gestalt eilte mit fliegender Mähne am flachen Stand unterhalb von ihr entlang. Erst als er nur noch wenige Meter von ihr entfernt war, erkannte sie ihn im Sternenlicht.
    „Dékon!", rief sie halblaut, um das Meer gerade noch zu übertönen. „Hier bin ich."
    Der Gerufene verhielt augenblicklich im Schritt und stapfte durch den feinen Sand zu ihr hoch.
    „Vrona, wo hast du gesteckt?", fragte Dékon knurrend. „Ich bin bereits einmal den kompletten Strand bis zum Clanhaus abgelaufen."
    Obwohl er offenbar wütend klingen wollte, konnte sie seiner Stimme entnehmen, wie froh er in Wirklichkeit war, sie gefunden zu haben. So senkte sie den Blick, und neigte entschuldigend den Kopf leicht zur Seite. „Tut mir leid, Dékon. Heute gingen meine Eltern so früh schlafen, dass ich mich früher aus dem Haus schleichen konnte." Sie schielte ihn von unten an. „Ich fürchte, ich bin eingeschlafen, während ich auf dich wartete."
    Seine Züge entspannten sich bei ihren Worten sichtlich. Sanft ergriff er ihre Schultern, nur um sie fast übergangslos zu umarmen. „Ach Vro. Hauptsache es geht dir gut."
    Glücklich schmiegte sie sich an seine breite Schulter. Die eingeflochtenen Holzperlen in seinen Bart störten sie nicht, zeugten sie doch davon, dass er kürzlich das Übergangsritual zum Mann bestanden hatte. So standen die Zwei eng umschlungen, ohne sich zu rühren. Als wenn der Augenblick für sie nie vergehen sollte. Sowohl einander als auch den Moment für immer festhalten wollend.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit ließen die Beiden dann doch zumindest soweit voneinander ab, dass sich ihre Blicke wieder trafen. Langsam beugte sich Dèkon zu ihr herab, bis sich ihre Nasen berührten. Liebevoll rieben sie sie aneinander, bis er seinen Kopf in ihrem kurzen Haar vergrub und tief ihren Duft einsog. Mit leisem Knurren wanderte seine Nase abwärts zu ihrem Hals, während sie atemlos in seinen Armen lag.
    „Warte", flüsterte sie, während ihre Hand kraftlos versuchte ihn von sich zu schieben. Doch Dékon reagierte nicht darauf. Fordernd begann er an ihrem Hals zu knabbern.
    „Stop!", entfuhr es Vrona. Mit einem Schmerzenslaut taumelte ihr Freund unvermittelt zwei Schritte rückwärts und griff sich an die Brust.
    „Verdamm, Vro! Was sollte denn das?", stieß er zornig hervor.
    Wütend fauchte sie zurück. „Diese Frage steht doch wohl eher mir zu!" Vrona stemmte ihre Hände in die Hüften, während sie heftig durchatmete. „Was bei den Göttern ist in dich gefahren?"
    Für einen Sekundenbruchteil wirkte es fast so, als wenn er sich auf sie stürzen wollte. Ob seine Zurückhaltung seiner Selbstbeherrschung oder seinem Schmerz geschuldet war, wusste sie nicht zu sagen. Doch sein wilder dunkler Blick schien mit jedem Herzschlag klarer zu werden, je länger sie einander anstarrten.
    Schließlich stieß Dékon einen Seufzer aus. „Ich …", begann er nach Worten suchend. „Es ging mit mir durch. Entschuldige Vro."
    Auch ihre Stimme verlor an Schärfe. „Du weißt doch, dass ich jünger bin als du. Hab noch etwas Geduld."
    Missmutig schaute ihr Freund auf ein sich im Wind wiegendes Federgrasbüschel zu seinen Füßen. Er hüllte sich in Schweigen, während sie vergeblich seinen Blick suchte. Nach einer Weile entfuhr ihr ebenfalls ein, wenn auch verhaltener, Seufzer.
    Sie musterte ihn, wie er so still vor ihr stand. Die abstehenden hellen Haare, die fast seine Ohren verbargen. Der langsam länger werdende Wangenbart, der gerade mal die ersten Perlen zu halten vermochte. Die locker fallende Weste über seiner ansonsten nackten Brust, sowie die übliche knielange Hose mit einer dunklen Schärpe um die Hüfte. Seine nackten Füße wirkten noch immer ein wenig verkrampft.
    Vrona fasste sich ein Herz und trat eine Schritt auf ihn zu. Zögernd griff sie mit ihrer Rechten nach seiner Hand, die noch immer auf seiner Brust ruhte. Irritiert registrierte sie ein paar glitzernde Tropfen auf ihren dunklen Nägeln. Sie zog ihre Hand ein Stückchen zurück und stellte entsetzt fest, dass etwas Blut und Haare an ihren Fingerspitzen klebten.
    Mit geweiteten Augen griff sie mit beiden Händen nach seiner Brust, doch wagte sie nicht seine Hand wegzuzerren.
    Mit belegter Stimme hob sie an: „Zeig mir das mal bitte."
    „Ist schon gut", erwiderte er ruhig.
    „Es ist nicht gut, Dékon." Ihre Gedanken überschlugen sich. Energischer fuhr sie fort: „Dékon K'Témis! Zeig mir sofort deine Brust."
    Widerwillig ließ er seine Hand sinken, die vier offene Furchen in seiner Brust offenbarte. Blut hatte sein Brusthaar dunkel verfärbt und troff nun ungehindert seinen Bauch hinab.
    Kurz nur starrte Vrona auf die Wunde, dann griff sie zu ihrer eigenen Schärpe und riss sie der Länge nach entzwei. Mit flatternden Händen versuchte sie mehr schlecht als recht die eine Hälfte des Stoffgürtels um seine Brust zu wickeln. Vrona kämpfte sowohl mit dem Stoff, als auch mit seiner Weste, als auch mit ihren vor Nervosität fahrigen Fingern. Zumindest so lange, bis Dékon ruhig aber fest ihre Hände ergriff, und sie damit zwang zu ihm aufzuschauen.
    „Atme erst mal durch, Vro." Tief blickte er ihr in die Augen. „So kann das nichts werden. Lass mich erst mal hinsetzen und die Weste ausziehen." Leicht neckend fügte er noch hinzu: „Danach darfst du gerne noch mal versuchen mich zu verarzten, kleine Wildkatze."
    Da Vrona sich nicht zu entscheiden wusste, ob sie ihn dafür ohrfeigen oder küssen sollte, beschloss sie seinem Vorschlag vorerst zu befolgen und nickt einfach.
    Dékon entließ ihre Hände aus seinem Griff, streifte sein Oberteil von den Schultern und lies es achtlos in den Sand fallen. Vro hätte schwören können, dass er dabei leicht geschmunzelt hatte. Dieser Mistkerl löste ein regelrechtes Wechselbad der Gefühle in ihr aus. Heute stärker, denn je. Zumindest ihre Finger gewannen zunehmend ihre alte Sicherheit zurück, als sie ihn erneut verband. Kritisch prüfte sie den Halt der Stoffbahnen. Sie sahen nicht perfekt aus, doch der Verband erfüllte zweifelsohne seinen Zweck, wie sie nicht ohne einen gewissen Stolz feststellte.
    Als sie Dékons Blick auf sich ruhen spürte, schmolz ihre gerade wiedergewonnene Selbstsicherheit allerdings dahin. Natürlich bemerkte er das und wackelte mit den Ohren, auf die Art und Weise, die sie stets zum Lachen brachte. Mistkerl!
    „Lass uns einfach da vorne auf die Düne legen und die Sterne beobachten", schlug Dékon vor.
    So etwas hatten sie beim ersten nächtlichen Treffen ebenfalls gemacht. Die damit verbundene Ursprünglichkeit und Unverfänglichkeit der Situation beruhigte Vronas strapaziertes Nervenkostüm ein wenig.
    So lagen sie, Seite an Seite, an der Flanke eines spärlich bewachsenen Hügels und starrten in den Himmel. Der Wind trug die Gerüche des Meeres heran und der feine Sand unter ihr fühlte sich weich und angenehm kühl an. Als der zweiunddreißigste Teil eines Tages verstrichen war, versank auch Tinés, der kleinste der Monde, hinter dem Meer. Eine langgestreckte ellipsenförmige Sternenansammlung, die sich von Horizont zu Horizont erstreckte, zeichnete sich nun deutlicher ab als zuvor.
    Ungewollt durchlief Vrona ein Schauer bei diesem Anblick. Dékon musste es aus dem Augenwinkel bemerkt haben, denn er wandte ihr den Kopf zu.
    „Ist dir etwa kalt? Möchtest du nach Hause, Vro?"
    „Nein." Sie schüttelte den Kopf. „Ich musste nur gerade an die Geschichten über das Dämonenauge denken."
    „Ernsthaft?", fragte Dékon. „Das ist doch nur ein Märchen, dass man den Kindern erzählt, wenn sie nicht ins Bett gehen wollen." Er setzte sich auf und hob mit theatralischer Geste an: „Das böse Dämonenauge sucht noch immer nach uns im Dunkeln der Nacht. Sollte es uns jemals finden, kehren die bösen Götter zurück und fressen uns alle auf." Bei den letzten Worten kippte Dékons Stimme zunehmend ins Kichern.
    Vrona knuffte ihn in gespielter Empörung in die Seite. „Hör auf mich aufzuziehen. Nur weil ich an die Götter glaube, bedeutet das noch lange nicht, dass ich nicht weiß, was das da oben ist."
    „Ach, wirklich?", frotzelte Dékon fröhlich weiter.
    „Ja, wirklich!" Sie blickte wieder zu den Myriaden von Sternen, aus denen das Auge der Dämonen bestand. „All das sind Sonnen, ähnlich unserer Eigenen. Doch was sagt dir, dass dieses Märchen nicht einen wahren Kern enthält? Das dort", wobei sie mit ausgestrecktem Arm nach oben wies, „nicht irgendetwas Furchterregendes auf uns lauert."
    „Hm", sinnierte ihr Freund, „dann brauchen wir nur bis zum ersten Jahresgeviert warten, denn dann ist das Dämonenauge vom Nachthimmel abgewandt."
    „Vielleicht", antwortete Vrona unsicher. „Doch die Sterne sind doch eigentlich immer da, oder?", grübelte sie.
    „Ach, ist doch egal", fuhr sie nach kurzer Pause fort. „Erzähl mir lieber mal, ob du ernsthaft darüber nachdenkst, dem Orden beizutreten. Glaubst du deine Eltern stimmen dem zu?"


    Nach einem achten Teil eines Tages verfärbte das Morgenrot schließlich den Himmel.
    „Jetzt muss ich aber wirklich zurück", gähnte Vrona.
    Mit wehmütigem Lächeln nickte Dékon. „Treffen wir uns nächsten Voll-Tisén wieder hier am Strand?" Klang da etwa ein Hauch Unsicherheit mit in seiner Stimme?
    „Natürlich." Sie schenkte ihm ihr schönstes Lächeln, das ihre Eckzähne entblößte. Zärtlich strich sie über die Härchen an seinen spitzen Ohren, bis das Kitzeln ihn unwillkürlich mit den Lauschern zucken ließ.
    Deutlich erkannte sie, wie seine senkrechten Pupillen sich durch das zunehmende Licht zusammen zogen. Sie hätte ewig in diese herrlich rotgoldenen Augen blicken können.
    Dékon erhob sich und zog sie mit sich hoch. „Auf bald Vro." Plötzlich nahm er eine feierliche Haltung ein. Er fuhr die schwarze Kralle seines Daumens aus und strich damit langsam sein Brustbein hinab bis zum Bauch. Dabei rezitierte er feierlich die ersten Worte der Bindung: „Ich, Dékon K'Témis, schwöre hiermit beim Blute des Clans Nehéma, dich mit meinem Leben zu schützen."
    Völlig perplex starrte Vrona ihn an. Doch dann stahl sich wieder das schalkhafte Lächeln auf seine Züge, bei dem sie immer rätselte, ob er etwas ernst meinte, oder sie nur veralberte. Kurz nickte er ihr zu, dann rannte er unvermittelt los in Richtung des Hofes seiner Sippe.
    Hatte er das gerade ernst gemeint? Wollte er tatsächlich den Bund mit ihr eingehen, wenn sie alt genug geworden war? Ihr Innerstes kribbelte, als wenn es mit perlendem Mineralwasser angefüllt worden wäre. Ungläubig imitierte sie Dékon, indem sie das Schwurzeichen auf der eigenen Brust nachzog.
    Der Himmel verfärbte sich bereits zusehends. Ein deutliches Anzeichen dafür, dass die Sonne in Kürze über den Horizont spähen würde. Rasch klopfte sie den Sand aus ihrem Kurzhaarfell, dann spurtete sie nach Hause, ein freudiges Knurren im Hals.


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    Ein großer Hütehund saust durch das fünfzehnte Türchen, mit großen Sätzen durch das hohe Gras bis hin zu einem jungen Mann, um den er freudig bellend herumspringt. Der lacht nur und weist ihn mit Wort und Geste an, die kleine Schafherde zusammenzuhalten, die zielstrebig vor ihnen den schmalen Pfad entlangtrottet…



    Das goldene Glöckchen


    In einem Dorf, da lebte einmal ein armer Hirte namens Titz. Seine Hütte war bescheiden und manchmal reichte sein Verdienst nicht einmal für das tägliche Brot. Gern hätte er ein neues Stübchen gebaut, das Hüttchen vergrößert – und noch viel lieber hätte er sich die schmucke Dori als Braut geholt – aber daran war nicht zu denken, so arm wie er war. So lebte er also bescheiden und allein. Der braune Hütehund war seine einzige Gesellschaft und sein einziger Freund. Tag für Tag zogen sie zusammen mit den Schafen des Dorfes hinaus auf die Weiden. Der Weg war weit, doch Titz verlor weder Mut noch frohen Sinn. Ob Regen, Sturm oder Sonnenschein, stets machte er sich pünktlich auf den Weg und brachte am Abend die Schafe satt und sicher zurück. Kein Schäflein war ihm je verloren gegangen.
    Dann eines Tages wurde Titz mit seiner Herde von einem Gewitter überrascht. Die Schafe drängten sich blökend aneinander, umringten ihren Hirten, als könnte der Schutz und Trost bieten. Da krachte es auch schon von Blitz und Donner. Nur ein paar Schritt entfernt, in einen Felsen, war der Blitz hineingefahren. Panisch stoben die Schafe auseinander. Titz und sein Hund rannten hinterher und mühten sich redlich, all die verängstigen Tiere wieder zusammenzutreiben. Das war ein hartes Werk. Der Regen hinderte die Sicht. Der Donner übertönte jeden Ruf. Der Wind stemmte sich gegen jede Bewegung. Dann endlich zogen die Wolken auf. Titz sah auf die Herde, die sich wieder zusammengefunden hatte. Die Schafe waren nass und ängstlich – und ein Tier fehlte. Das kleinste Schaf mit dem Glöckchen, das so lustig bimmelte. Titz befahl dem treuen Hund bei den Schafen zu bleiben, sie zusammenzuhalten und zu beschützen. Er selbst aber ging wieder los, um auch das letzte Schaf noch zu suchen. Er rief und er lockte. Er wanderte weit durch die Hügel. Doch von dem verlorenen Schaf war nichts zu sehen. Schon fürchtete er, ein Raubtier habe das Schaf davongetragen oder der Blitz habe es erschlagen. Bittere Vorwürfe machte er sich, das arme Tier nicht besser geschützt zu haben. Und der Bauer, dem das Schaf gehörte, oh, der Bauer würde ihn strafen.
    Als Titz so zwischen den Felsen herumirrte, meinte er plötzlich, ein leises Klingeln und Bimmeln zu hören. Voll neu geschöpfter Hoffnung erklomm er den Hang, folgte dem Glöckchenton, bis zu einer tiefen Spalte im Fels. Kaum groß genug für ein Schaf, zu schmal für einen ausgewachsenen Menschen. Da war das Tier hineingestürzt. Titz sprach dem Schäflein Mut zu, das jämmerlich in der Spalte blökte. Er sah sich um, suchte einen anderen Weg oder wenigstens etwas, um das Loch größer zu brechen. Da sah er plötzlich einen Mann. Einen jungen Burschen in abgetragener Kleidung. Bunte Bänder flatterten an seinem Hut, als habe ihn der Regen nicht berührt.
    „Was suchst du?" fragte der Bursche freundlich. „Kann ich dir helfen?"
    „Gebe der Himmel, dass du es kannst", antwortete Titz voller Hoffnung. „Ein Schaf meiner Herde ist in diese Spalte gestürzt. Freund, hast du ein Seil, damit ich in das Loch hinabsteigen kann? Oder Hammer oder Beil, um den Durchgang zu vergrößern?" Er seufzte. „Oder Rat, wenn ich nicht weiterweiß?"
    Der junge Bursche zog eine Flöte aus dem Gürtel und spielte ein paar trillernde Töne. Titz wurde ganz leicht ums Herz dabei und auch das Schäflein in der Grube klang gleich munterer.
    „Ich habe etwas besseres", sagte der Bursche da. „Ich habe einen Weg. Komm, ich will dir einen anderen Eingang zeigen."
    Titz zögerte nicht. Gemeinsam stiegen die beiden den Hang wieder hinab. Der Bursche führte ihn zwischen den Felsen hindurch um den halben Hügel herum, bis zu einer Höhle. Der Eingang war niedrig zwischen Felsen versteckt. Kalte Luft strömte heraus wie der Atem eines Geistes. Titz schauderte im Angesicht der Finsternis.
    „Da ist ein Gang, der dich bis zu deinem Schaf führen wird", versprach der Bursche. Er nahm wieder die Flöte. „Ich will spielen, dass du den Mut nicht verlierst. Spielen, damit du weißt, wo der Rückweg ist."
    „Was werde ich darin finden?" fragte Titz bang.
    „Dein Schaf", antwortete der Bursche mit lustig blitzenden Augen.
    „Und Gefahr? Mir ist so beklommen wie niemals in meinem Leben zuvor."
    „Da drin ist nur das, was du selbst mit hineinnimmst", erklärte der Bursche ernst. „Also fass dir ein Herz und Mut und wage den Weg. Rette das Schaf, das dir so teuer ist."
    Da nickte Titz. Er schluckte alle Bangigkeit hinunter und kroch in das Höhlenloch. Hu, was war das finster! Doch bald wurde der Gang höher. Titz konnte aufrecht stehen. Fahler Lichtschimmer drang von oben durch Felsspalten und Lücken. Licht, das auf den Wänden schimmerte und Bewegungen zurückwarf. Titz erschrak – doch es war nur sein Spiegelbild, das ihm entgegenblickte. Der Gang war von Spiegeln gesäumt, die dem Hirten sein eigenes blasses Gesicht zeigten. Da musste er lachen. Wie hatte er nur vor sich selbst erschrecken können? Und Lachen klang auch in den trillernden Flötentönen, die ihm der Bursche von draußen hinterhersandte. Da säumte Titz nicht länger. Er rannte den Gang entlang – und seine Spiegelbilder rannten mit ihm. Bald erreichte er eine Kammer, in der das Schäflein hinter ein paar Steinen gefangen war. Es blökte freudig, als es ihn erkannte. Titz hob das Tier froh aus seiner Falle. Doch was war das? Da lagen Münzen, wo das Schaf gelegen hatte. Gold und Silber, ein ganzer Schatz! Wie gebannt sah der Hirte darauf hinab. Doch da zappelte das Schaf und blökte wieder und von draußen klangen die Flötentöne heran, wie Weckruf in einem lähmenden Traum. Da schüttelte sich Titz, packte das Schaf und rannte nach draußen, ohne das Gold angerührt zu haben. Wem immer es auch gehören mochte, Titz wollte sich nicht an fremden Gut vergehen. Vorbei an den mit ihm rennenden Spiegelbildern lief Titz zurück. Er kroch hinaus, und da strahlte die Sonne. Der Bursche setzte die Flöte ab und lachte. Auch Titz musste lachen. Er umarmte das Schaf wie ein verlorenes Kind, so froh, es gerettet zu haben.
    „Gut gemacht", lobte der Bursche. „Und schau, das Schäflein hat dir deinen Lohn gebracht für deine Ehrlichkeit und deinen Mut."
    Titz schaute hin – und tatsächlich, das Glöckchen, das lustig um des Schäfleins Hals bimmelte, das war jetzt aus purem Gold! Das Glöckchen, weit mehr als ein paar Münzen, mochte reichen, sein Haus neu zu bauen und um die hübsche Dori zu freien. Aber Titz schüttelte den Kopf. „Das Schaf gehört nicht mir. Der Bauer, zu dem ich es bringen muss, wird das Glöckchen haben wollen. Ich kann ihm das Schaf nicht ohne bringen."
    Der Bursche spitzte die Lippen, als sei ihm ein lustiger Gedanke gekommen. „Dann gib ihm das Schaf mit dem Glöckchen", riet er. „Und wenn er wissen will, wie du dazu gekommen bist, beschreib ihm den Weg und was du erlebt hast. Es soll dein Schaden nicht sein."
    Titz dankte für den Rat und die Hilfe und machte sich eilends auf den Weg zurück zur Herde. Es war längst Zeit, mit den Schafen ins Dorf zurückzukehren.


    Die Hälfte der Schafsherde gehörte dem Bauern Jock, der schon ungeduldig wartete. Titz hatte sich noch nie verspätet und so fragte Jock sogleich unwillig, wo er sich so lange herumgetrieben habe. Titz erzählte von dem Gewitter, das die Schafe zerstreut hatte. Doch bevor er mehr berichten wollte, brachte er erst die Tiere in ihre Ställe. Ein jedes zu seinem Herrn. Das Schaf mit dem goldenen Glöckchen, das aber gehörte dem Bauern Jock. Titz zeigte es ihm und sofort flammte Goldgier in dem Bauern und brennender Geiz. Er nahm das Glöckchen, versteckte es in seiner Tasche und zog Titz mit in sein Haus, auf dass der ihm alles erzähle. In einer schmeichelnden Freundlichkeit, die Titz nicht von ihm kannte, bot er Schnaps und Schinken an und fragte, wie das Schaf zu dem goldenen Glöckchen gekommen sei. Wie der Bursche mit der Flöte es geraten hatte, erzählte Titz, was ihm widerfahren war. Vom Schaf in der Spalte, dem Burschen und der Höhle und den Münzen, die dort noch lagen. Jock lauschte mit gierigem Blick. Er wollte mehr Gold als nur das Glöckchen, er wollte den ganzen Schatz. Doch zuvor wollte er Titz in Sicherheit wiegen.
    „Ich will dir das Schaf schenken, um das du dich so bemüht hast", sagte Jock. Dabei dachte er, das sei ein billiger Preis. Das Schaf war dürr und durch den Sturz halb lahm. „Das soll der Lohn für deine Ehrlichkeit sein. Aber sprich zu niemandem, was du erlebt hast, sonst werden die Leute neidisch. Und morgen geh zu einer anderen Weide."
    Titz freute sich über das Geschenk. So hatte der Bursche ihm tatsächlich gut geraten. Das Schaf mochte kein Goldschatz sein, doch er wollte es hegen und pflegen und zum Grundstock einer eigenen kleinen Herde machen. Er bedankte sich bei Jock und ging frohgemut nach Hause in seine Hütte.
    Jock aber ersann kühne Pläne. Im Morgengrauen nahm er sich das größte Schaf von seinen Tieren, denn er dachte, je größer das Schaf um so größer die Glocke. Mit dem Tier ging er den Weg, den Titz ihm beschrieben hatte. Das Schaf aber sträubte sich, es wollte nicht getrennt von der Herde sein. Jock musste es ziehen und tragen und so war er ganz erschöpft, als er den Hang mit der Spalte fand. Wie Titz beschrieben hatte, war das Loch kaum groß genug für ein Schaf, zu schmal für einen ausgewachsenen Menschen. Jock musste alle Gewalt anwenden, um das dicke Schaf in die Spalte zu zwängen. Er schob und schlug und trat, bis das Tier endlich hinabstürzte und leise jammernd liegenblieb. Jock wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann sah er sich um. Keiner hatte die Tat beobachtet. Er ging leise davon, nur um dann wie suchend durch die Gegend zu laufen. „Mein Schaf!" klagte er dabei lauthals. „Mein armes Schaf! Wo wird es sein? Zu Hilfe, zu Hilfe!"
    Bald war er wieder an dem Spalt angekommen. Er rief nun lauter um Hilfe – und wie er es erhofft hatte, traf er auf den Burschen, den Titz ihm beschrieben hatte. Ein abgerissener Kerl, ein wandernder Spielmann vielleicht. Der Hut mit den bunten Bändern beschattete sein Gesicht.
    „Was ist passiert?" fragte der Fremde freundlich.
    „Oh weh!" klagte Bauer Jock, „mein armes Schaf ist davongelaufen und in diesen schrecklichen Spalt gestürzt. Oh weh, oh weh, das arme Tier!" Er presste gar einige Tränen hervor, um recht großes Mitleid zu erwecken. „Weißt du nicht Rat, guter Mann? Ich kann das Tier doch nicht in seinem Elend lassen! Es ist alles, was ich besitze!"
    Der Bursche spielte auf seiner Flöte ein paar nachdenklich trillernde Töne. „Ich will dir einen anderen Eingang zeigen", sagte er dann.
    Fast hätte Jock gejubelt, doch er beherrschte sich und zeigte weiter ein kummervolles Gesicht. Und doch drängte er den anderen zur Eile. Er konnte es nicht erwarten, all das Gold zu sehen. „Ist es hier?" fragte er begierig, als sie den Eingang erreichten.
    Der Bursche nickte. „Ich will hier spielen, dass du den Rückweg nicht verfehlst", sagte er dann. „Und bedenke, darin ist nur das, was du selbst mit hineinnimmst."
    Doch Jock hörte schon nicht mehr auf die mahnenden Worte. Der Golddurst überwog jede Vernunft und jedes Besinnen. Er rannte fast zum Eingang und schob sich durch die schmale Öffnung. Hu, war es finster! Nur langsam kam der gierige Bauer voran. Dann wurde der Gang höher, fahler Lichtschimmer erhellte den Weg. Jock lief voran – und erschrak als er Bewegungen um sich sah. Hässliche Gestalten in Unendlichkeit gespiegelt. Verzerrte Fratzen und gierig krumme Hände. Von draußen die Flötentöne klangen schrill. Jock rannte weiter, erkannte nicht sich selbst in diesen Fratzen. Dann kam er an die Kammer. Die gespiegelten Gestalten blieben zurück und Jock vergaß schnell ihre verzerrten Grimassen. Gold! Hier musste das Gold sein! Er stützte weiter und fand das Schaf. Doch das arme Tier regte sich nicht mehr. Es hatte sich bei dem bösen Sturz das Genick gebrochen. Jock zerrte es achtlos beiseite. Er suchte das Gold. Und da war auch Gold! Da waren Münzen genug für einen ganzen Schatz! Er war reich! All das war sein! Sein Gold!
    Jock stopfte sich die Taschen voll mit Gold. Münzen, Ketten, Goldstücke. Nichts sollte zurückbleiben, alles gehörte ihm. Schwer war die Last. Es dauerte lange, bis er sich von dem Schatzort trennen konnte. Bis er sicher war, dass kein Krümelchen zurückblieb. Fiebernden Sinnes kehrte er dann um, von misstönend schrillen Flötentönen geführt. Doch als er zurück in den Gang trat, da schrie er vor Entsetzen. Ungeheuer waren da versammelt. Schreckliche Geschöpfe, aufgedunsen und ekelhaft. Mit hervorquellenden Augen starrten sie ihn an, streckten blutige Krallen nach ihm aus. In Unendlichkeit vervielfältigt standen sie Spalier. Jock verlor schier den Verstand. Schreiend raste er durch den Gang. Stürzte, schlug sich blutig. Raffte sich auf, rannte weiter und stürzte wieder. Das Gold zog ihn zu Boden, doch er konnte kein Stück davon zurücklassen. Zerschunden und halb wahnsinnig kroch er aus dem Ausgang der Höhle. Dort brach er winselnd zusammen.
    Der Flötenspieler betrachtete ihn mit kaltem Spott. „In der Höhle ist nur, was du mit hineingenommen hast." Er berührte den Bauern mit dem Fuß, so dass der die Augen öffnete. Jock sah auf seine Hände, blutig und zerschunden von Steinen und Fels – doch das Gold, dass sie gehalten hatten, das war verschwunden. Wie im Fieber heulte er auf, durchsuchte Taschen und alles was er bei sich trug. Wo war das Gold? Wo war das Gold!?
    „Kein Lohn für dich", erklärte der Bursche leichthin.
    Der Bauer schäumte vor Wut, erstickte fast an Enttäuschung und Zorn. Schlug um sich wie tollwütig, bar jeder menschlichen Würde. Er stieß Verwünschungen aus, fluchte, schrie, doch nichts davon machte Eindruck auf den Burschen.
    „Gier und Geiz kennen keine Freundlichkeit", sagte der kalt, „geizig und gierig wie du bist, verdienst du weder Lohn noch gute Worte. Verschwinde, hier ist kein Platz für dich." Damit drehte er sich um und ging davon. Setzte die Flöte an die Lippen, wie um eine lästige Begegnung vergessen zu machen.
    Jock, der Bauer, hörte kaum die Flötentöne. Wut rauschte in seinem Kopf, Hass, Verzweiflung und Wahnsinn. Er wollte zur Höhle stürzten, noch einmal die Schätze holen – doch auch die Höhle war verschwunden. Da schrie er laut auf und rannte davon. Rannte bis zur Erschöpfung zurück ins Dorf. Er schrie und tobte dort weiter, sah nicht, dass die Leute vor ihm zurückwichen, blutbesudelt und von Sinnen wie er war. Er schlug und trat um sich, als seine Frau ihn ins Haus bringen ließ, ihn ins Schlafzimmer sperrte. Dort schrie und tobte er noch bis zum nächsten Morgen – und starb dann am Wahnsinn.
    Alle im Dorf waren entsetzt. Jocks Witwe war verstört über das entsetzliche Ende ihres Mannes. Sie war fassungslos über sein Tun und seine Worte. Von verfluchten Schafen hatte er geschrien, tausend Teufeln in Spiegeln und verfluchtem Gold. Sie war entsetzt und wollte mit all dem nichts zu tun haben. Noch am selben Tag schenkte sie Titz die Schafe ihres Mannes und auch das goldene Glöckchen, mit dem es begonnen hatte. Sie wollte all dem Spuk ein Ende machen. Frieden finden und Verwünschungen keinen Raum geben.
    Titz war erstaunt und er war gerührt. Und dann freute er sich über den plötzlichen Reichtum. Er hatte nun eine eigene Herde, von der er leben konnte. Er konnte das Glöckchen verkaufen und hatte dann Geld für sein Haus. Geld, um seine Dori zu heiraten! Und so geschah es auch. Bald wurde lustig Hochzeit gefeiert. Vom verfluchten und wahnsinnigen Jock sprach dabei keiner mehr. Nur fröhliche Stimmen sollten erklingen, Musik und Tanz. Und Titz und Dori lebten glücklich und zufrieden und hatten immer ihr gutes Auskommen.


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    Das sechzehnte Türchen mündet in einen langen weißgetünchten Korridor mit vielen Türen, deren einziges Unterscheidungsmerkmal die schlicht gehaltenene Beschilderung ist. Was hinter diesen Türen vorgeht, nun…



    Das Verhör


    Die sarilische Geheimpolizei war dafür verantwortlich ausländische Spione, Terroristen, Aufrührer, Serienmörder sowie Land-und Wasserschänder aus dem Verkehr zu ziehen. In Sarilien selbst fand sich von diesem Gesindel nicht allzu viel, doch mit ausländischen Spionen hatte das Land immer wieder zu kämpfen. Die Arunier spionierten in Sarilien genauso wie überall sonst auch und die Avechai waren dort ebenfalls sehr aktiv. Die Geheimdienste beider Länder zeichneten für eine nicht geringe Anzahl an Sabotageakten und Mordanschlägen verantwortlich, doch dank der Geheimpolizei hielt sich ihre Erfolgsrate sehr in Grenzen.
    Deshalb war Orvan siru Avenco auch so stolz darauf, bei dieser Behörde zu arbeiten und seinem Land auf diese Art zu dienen. Dies tat er seit Ende des Krieges, also seit ungefähr zwanzig Jahren.
    Orvan verfügte über nicht unerhebliche magische Fähigkeiten, sie waren eine der Zugangsvoraussetzungen. Mentale Magie war eine der wichtigsten Waffen der Geheimpolizei. Falls er darauf getestet worden wäre, hätte man Orvans Gabe wohl als Natriummagie bezeichnet, doch er legte auf solchen Firlefanz keinen Wert. Zum Frühstück verspeiste er jeden Morgen ein ordentliches Stück Schinken, am liebsten vom Wildschwein und dann kam er auch gut durch den Tag.


    An einem sonnigen Frühsommertag musste sich Orvan mit einem recht ungewöhnlichen Fall beschäftigen.
    Zwei Beamten seiner Abteilung führten eine junge Frau oder eher ein Mädchen in den Verhörraum. Das erste, was an ihr auffiel, war ihr Aufzug. Sie trug einen sehr kurzen Rock und ein extrem eng anliegendes Oberteil, das nicht ganz herunterreichte, sondern eine Speckfalte zwischen den beiden Kleidungsstücken freiließ. Augen und Lippen waren beide unnatürlich angemalt. Es handelte sich hier ganz offensichtlich nicht um eine Sarilerin und auch nicht um eine Besucherin, die sich bemühte, nicht aufzufallen.
    Per Gedankenübertragung wandte Orvan sich an seine Mitarbeiter: „Warum ist die hier? Das ist doch was für die Behörde für Verstöße gegen die öffentliche Ordnung."
    „Vermutlich arunische Spionin", erfuhr Orvan. „Angeblich mit ihrer Schule hier. Komplizen sind ebenfalls hier. Keine Waffen oder Magie."
    Orvan bedankte sich für die Informationen und sagte: „Ihr könnt mich dann mit der jungen Dame allein lassen."
    „Jawohl Doniku."
    Die beiden verließen den Raum und Orvan wandte sich der jungen Arunierin zu. Sie war recht blass im Gesicht soweit man das unter der vielen Farbe erkennen konnte.


    „Was soll das hier eigentlich? Ich habe überhaupt nichts gemacht. Wir haben nur an unserem Schulprojekt gearbeitet", sagte die Arunierin. „Warum werde ich deswegen festgenommen?"
    Sie ging offensichtlich davon aus, dass Orvan Arunisch sprach, was auch der Fall war. Trotzdem ärgerte ihn diese arunische Arroganz. Arunier glaubten immer, ihr Land wäre der Mittelpunkt der Welt. Ob es in Arunien üblich war, so mit der Polizei zu reden? Kein Sariler hätte sich das getraut.
    „Ich stelle hier die Fragen und du gibst Antworten", stellte er klar. Das Mädchen war nicht älter als sechzehn und in Sarilien war es grundsätzlich üblich, Menschen gleichen oder niederen Ranges zu duzen. Die Anrede Bürgerin traf hier auch nicht zu, weil sie ja keine war.
    „Wie heißt du?"
    „Lorina, Lorina Mellea."
    Das schien die Wahrheit zu sein. Jedenfalls wenn die Arunierin nicht gelernt hatte, ihre Gedanken abzuschirmen. Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.
    „Gut, Lorina. Weshalb haben die Kollegen dich hierher gebracht?"
    „Ja, das weiß ich ja nicht. Wir haben gar nichts gemacht."
    „Was genau habt ihr gemacht?"
    „Ja nichts, ja, ich meine, wir haben an unserem Schulprojekt gearbeitet."
    „Und was genau ist bei diesem Schulprojekt verlangt?"
    „Ähm ja, nun, wir sollen Bilder machen, von allem, was uns irgendwie auffällt. Das gibt dann eine Kollage für die Schule. Ziemlich bescheuert, oder?"
    Respekt vor den Lehrern hatte sie also auch nicht.
    „Was heißt, „alles was euch auffällt?" Könntest du da noch etwas konkreter werden?"
    „Viel mehr hat uns unser Lehrer nicht gesagt. Wir sollen das selber entscheiden, was uns halt auffällt, was irgendwie anders ist als bei uns zuhause und so."
    Die war ja ganz redselig, dachte sich Orvan. Anders als gemeinhin angenommen war es ihm und der Mehrheit seiner Kollegen wesentlich lieber, wenn sie ohne Zwang ans Ziel kamen. Natürlich würde er die Angaben des Mädchens noch überprüfen müssen. Eine Person ihres Alters würde auch nicht ins Gefängnis sondern höchstens in ein Jugendlager geschickt werden. Wenn die Lehrer an ihrer Schule und die Eltern das Problem nicht selbst in den Griff bekamen.
    „Wie heißt denn dein Lehrer?"
    Lorina beantwortete auch diese Frage und Orvan teilte den Kollegen den Namen über Gedanken mit. So konnten sie gleich überprüfen, ob er schon einmal an fragwürdigen Projekten beteiligt gewesen war.
    „Was ist dir und deinen Freundinnen denn so aufgefallen?"
    Lorina begann zu erzählen und Orvan verstand langsam warum die Stadtpolizei von Benada Verdacht geschöpft hatte. Die Arunierinnen hatten unter anderem wichtige Amtsträger und das Chemiezentrum Benada mit einigen Schiffen fotografiert.


    Orvans Gefühl sagte ihm, dass die junge Arunierin wahrscheinlich die Wahrheit erzählt hatte, aber es war Vorschrift, das auch noch durch Gedankenlesung zu überprüfen. Wenn der Gefangene sich nicht gezielt wehrte, war das keine große Sache. Falls doch, konnte es recht unangenehm werden und gegebenenfalls würden auch weitere Maßnahmen erforderlich. Orvan hielt es allerdings für sehr unwahrscheinlich, dass eine Sechzehnjährige dazu in der Lage sein würde.
    „Gut, Lorina. Wenn das alles stimmt, hast du selbst kein Verbrechen begangen. Du hast dich unangemessen verhalten, aber das lag wahrscheinlich daran, dass du es nicht besser weißt. Allerdings muss ich erst noch deine Gedanken lesen, damit ich sicher weiß, ob du lügst oder nicht."
    Lorina wirkte erschrocken. „Gedankenlesen? Geht das wirklich?"
    Orvan hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass die gewöhnlichen Arunier kaum Ahnung von Magie hatten. „Ja, das geht wirklich. Eure Elementarmagier können das sicher auch."
    „Keine Ahnung. Ich hab mit dem ganzen Kram nichts zu tun. Ach ja, na gut, tut das weh?"
    „Nicht, wenn du nicht versuchst, irgendwas vor mir zu verstecken." Es war gut, wenn sie das vorher wusste.
    „Aber, das ist doch Privatsache. Aber-"
    Ihr fiel anscheinend auf, dass sie durch ihre Widerrede alles nur noch schlimmer machte.
    „Glaubst du wirklich, ich interessiere mich dafür, auf welchen Jungen du stehst, oder ob deine Monatsblutung regelmäßig ist."
    Lorina errötete und schaute zu Boden. Orvan wusste, dass Arunier über dieses Thema nicht redeten und schon gar nicht mit Männern, aber peinliche Berührtheit machte den oder die Betroffene empfänglicher für die Magie.


    „Schau mich an!", befahl Orvan.
    Die Arunierin gehorchte, doch es fiel ihr ganz offensichtlich schwer den Blickkontakt zu halten. Das schadete aber nichts, denn auch das bedeutete, dass ihre Abwehrfähigkeiten schlechter waren.
    So war es tatsächlich. Lorinas Gedanken waren kaum abgeschirmt und Orvan fiel es nicht schwer, etwas zu finden. Wie eigentlich immer bei dieser Prozedur erhaschte er Blicke auf alles Mögliche, was ihn nicht interessierte. Lorinas Füße taten weh, weil sie in Arunien so viel laufen musste, zuhause wurde sie immer von der Mutter mit dem Auto zur Schule gefahren. Ihre Schuhe waren dafür nicht geeignet. Außerdem fand sie, dass Orvan gut aussah, ein Punkt, der seine Gefangenen sonst überhaupt nicht interessierte. Lorina schien absolut keine Ahnung vom Ernst der Lage zu haben.
    Er suchte gezielt nach den Erinnerungen, die ihm das zeigten, was Lorina erzählt hatte. Der fragliche Lehrer, er unterrichtete Geographie, kam ihm tatsächlich bekannt vor. Er würde sich das Gesicht gut einprägen, vielleicht fiel ihm oder einem der Kollegen etwas dazu ein. Lorina selbst war beim Fotografieren aber offensichtlich wirklich völlig naiv vorgegangen und hatte sich nur für die spannenden Uniformen und Symbole interessiert. Außerdem hatte sie anscheinend noch nie ein Chemikalientankschiff gesehen, weil sie nicht an einem Fluss wohnte.


    „Gut, das war alles von unserer Seite", sagte er schließlich.
    Lorina war schneeweiß im Gesicht und zitterte. Orvan wunderte sich darüber nicht unbedingt. Jeder wusste schließlich, dass Arunier extrem zart besaitet waren, vor allem ihre Frauen. Anscheinend war das dort sogar eine Art Ideal. Sein sowieso schon recht geringer Respekt für die arunischen Männer sank noch weiter, wenn er darüber nachdachte, dass die Kleidung wie Lorina sie trug offensichtlich attraktiv finden mussten. Sonst würde sie sich ja nicht so anziehen.
    „Du gehst mit den Kollegen mit. Die begleiten dich zum Amt für öffentliche Ordnung. Dort bekommst du etwas Ordentliches zum Anziehen. Sie werden dir auch erklären, wie man sich in Sarilien verhält. Wir gehen davon aus, dass du dich aus Unwissenheit falsch verhalten hast. Noch einmal gilt diese Entschuldigung aber nicht."


    Die Nachforschungen mit den Kollegen ergaben, dass Lorinas Lehrer tatsächlich selbst schon einmal in einen Fall von Spionage verwickelt gewesen war. Anscheinend hatte er nun seine Schulklasse, die mit einer Kollegin nach Sarilien fuhr, missbraucht, um seine Arbeit fortzuführen. Er hatte wohl gehofft, dass die Kinder in ihrer Naivität die „richtigen" Dinge fotografieren würden und zumindest bei Lorina hatte er damit auch Recht gehabt.
    Alle waren sich darüber einig, dass diese Vorgehensweise abstoßend und niederträchtig war. Niemand wunderte sich darüber, wenn es um die Arunier ging. Orvan würde dem Sicherheitsminister die Sache melden, der würde sie vor die Staatslenkerin bringen und die würde sich beim arunischen Botschafter beschweren. Wie schon so oft würde der entweder jede Verantwortung von sich weisen oder sich schlicht weigern irgendwas zu tun.


    Orvan kannte dieses Spiel inzwischen recht gut. Er wusste auch, dass die gewöhnlichen Arunier häufig wesentlich zugänglicher waren, vor allem, wenn ihre eigene Sicherheit oder die ihrer Kinder bedroht wurde. Deswegen würde er dafür sorgen, dass die Eltern von Lorina und ihren Klassenkameraden von der Sache erfuhren. Dann würde sich die Lehrerkarriere dieses Menschen wohl schnell dem Ende zuneigen.
    Wenn es bloß eine Möglichkeit gäbe, ihn ganz von der Spionage abzuhalten, aber das war nicht möglich. Der Arm der sarilischen Geheimpolizei reichte nicht bis ins Ausland. Die Sariler wollten sich nicht in die Angelegenheiten anderer Völker einmischen und wünschten sich dasselbe von den anderen, vergeblich, wie Orvan immer wieder feststellen musste.
    Ahnungslose Kinder so vorzuschicken war aber wirklich der Gipfel der Feigheit, die Arunier übertrafen sich immer wieder selbst.
    Orvan war froh darüber, dass er die Situation relativ schnell durchschaut hatte. Übermäßige Härte gegen dieses ahnungslose Mädchen hätte es den Aruniern erlaubt, sich als Opfer darzustellen und Vorwürfe zu erheben. Das war so nicht möglich, solange sie Lorina keine Lügenmärchen in den Mund legten.
    Jetzt ging es mit dem nächsten Gefangenen weiter. Ein Landwirt, der seine Pestizidreste im Wald vergraben hatte, statt sie ordnungsgemäß abzugeben.


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    Es gluckert und plätschert leise, als sich das Wasser seinen Weg durchs siebzehnte Türchen bahnt. Um zu sehen woher es kommt muss man dem Verlauf des Bächleins folgen…



    Die verfluchte Quelle


    Es war schon zu später Stunde und die ersten Gäste hatten das Gasthaus schon verlassen. Nur jene, die ihren Kummer immer noch mit Bier und Wein zu ertränken versuchten, saßen tapfer auf den Stühlen und hielten sich meist an den Tischen fest, um nicht all zu sehr zu schwanken.
    Die Gerüchte, die an diesem Abend entstanden, begannen damit, dass sich die Tür öffnete und ein Mann den Schankraum betrat. Er war ein großer muskulöser Kerl. Seine schwarzen Haare waren kurz geschnitten und er hatte einen feinen Bart, dem er scheinbar ebenso viel Beachtung schenkte, wie seinen Armen, die eher an Baumstämme erinnerten. Seine Kleidung war einfach, funktional und nicht zu übertrieben.
    Der Mann sah sich nur kurz um und setzte sich in der hintersten Ecke an einen Tisch. Er wollte zweifellos seine Ruhe haben, doch diese war ihm nicht gegönnt. Er bestellte sich einen Krug Bier, kein ungewöhnlicher Wunsch in dieser Gegend.
    Doch bevor der Riese sein Bier genießen konnte, trat ein anderer Mann in den Schankraum und die Laune des großen Mannes verfinsterte sich zusehends.
    Ein Mann, wie ein dürrer Zweig stand in dem Raum. Seine Kleidung war aus feinster Seide. Er hatte eine sonderbare Kopfbedeckung, die kaum etwas von seinem grauen Haaren verdecken konnte. Als der dürre Kerl den Riesen entdeckte, lächelte er und seine Augen schienen zu funkeln. Eilig ging er zu ihm und setzte sich ungefragt an seinen Tisch. Das Lächeln in seinem Gesicht blieb auch, als der Mann mit einem Grummeln in der Kehle zu sprechen begann.
    „Was wollt Ihr von mir?", fragte er und beugte sich vor. „Ich könnte Euch mit Leichtigkeit eure dürren Ärmchen brechen,", er lächelte böse, „oder Euer Genick."
    „Ich habe Euch erklärt, warum ich Euch gesucht habe", sagte der Mann und fühlte sich in keinster Weise bedroht und betrachtete die anderen Menschen im Schankraum, die diese Unterhaltung mit anhören konnten. „Ich benötige Eure Hilfe."
    Der Riese schüttelte den Kopf. „Das sagtet Ihr bereits, aber Ihr weigert Euch, mir den Grund zu nennen. Warum sollte ich Euch deswegen auch nur im Mindesten vertrauen?"
    Der Wirt kam in diesem Moment, stellte dem Riesen einen großen Krug Bier vor seiner Nase und verneigte sich knapp, so als würde er einen König bedienen. Der Riese nahm den Krug und trank einige große Schlucke, um sich ein wenig zu beruhigen.
    „Trinkt Euch satt", sagte der dünne Mann und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ihr werdet Euch morgen früh wünschen, dass Ihr auf mich gehört hättet. Ihr werdet davon furchtbare Kopfschmerzen bekommen."
    „Besser, als das, was Ihr erwarten könnt", sagte der Riese und knallte den Krug auf den Tisch, dass man Angst haben musste, er würde zerbrechen.
    Unbeeindruckt beobachtete der eine den anderen. Der Wirt stand immer noch neben den Tisch und wartete offenbar darauf, dass entweder die Situation eskalierte, oder aber der neue Gast sich ebenso etwas bestellte.
    Schließlich stand der dünne Mann auf und betrachtete den Wirt einen Moment lang. „Das Bier wurde hier gemacht? Aus der Quelle der Umgebung?"
    Der Wirt nickte zögerlich. „Gibt es einen Grund, warum Ihr das wissen wollt?" Der Wirt verschränkte die Arme vor der Brust. Der beleibte Bauch kam nun nur noch besser zur Geltung und verschaffte ihm dabei eine ganze eigene Form der Autorität.
    „Euch wurde übel mitgespielt", sagte der Mann und sah den Wirt traurig an. „Ereignisse sind geschehen, die das Leben in dieser Region vollkommen verändert haben. Dinge, die nicht zu erklären sind, sind passiert. Manch einer von Euch spricht von einem Fluch." Der dürre Mann betrachtete den Wirt, dessen Augen ihn aufgeregt musterten. „Ihr wisst, wovon ich rede, nicht wahr?"
    Der Wirt nickte.
    Der Riese runzelte die Stirn und erhob sich. Er sah sich im Schankraum um. Niemand sprach mehr ein Wort. Alle Blicke waren auf ihn, den Wirt und den fremden dünnen Mann gerichtet.
    „Wovon sprecht Ihr?", fragte er vorsichtig. Irgendwie erschien ihm die Situation zu angespannt. Obwohl er keine Angst hatte, war er vorsichtig und war versucht zu ermitteln, ob dieser Fremde eine Gefahr darstellte.
    Der Fremde sah den Riesen an. „Habe ich endlich Euer Interesse geweckt?" Er lächelte schwach, bevor er weiter sprach. „Mein Name ist Inotan Rekios und ich bin Magier. Ich brauche Euch, um einen Fehler wieder gut zu machen, den ich vor vielen Jahren begangen habe."
    „Was für einen Fehler?", fragte der Riese und starrte den Wirt an. „Was meint er?"
    Der Magier sah den Wirt an und nickte ihm zu, dass er sprechen sollte.
    Der Wirt räusperte sich und bekam beinahe nicht einmal die Zähne auseinander. Er war es wohl nicht gewohnt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, besonders dann, wenn ein solch schlimmes Schicksal die Region erfasst hatte.
    Unruhig blickte er den Magier an. „Ihr behauptet, Ihr hätte einen Fehler begangen. Seid Ihr euch dessen sicher?"
    Der Magier ließ die Schultern hängen und blickte den Mann seufzend an. „Ich bedaure, aber ja, ich bin für diesen Fluch verantwortlich."
    Obwohl er leise sprach, konnte jeder im Raum seine Stimme hören und einige Leute murmelten schon miteinander, andere zischten, dass sie gefälligst wieder ruhig sein sollten. Doch der Riese starrte den Magier nur an und hatte nur eine einzige Frage:
    „Was für einen Fluch meint Ihr?" Er sah sich in dem Raum um. Den Menschen schien es gut zu gehen. Sie hatten Geld, um sich abends zu betrinken. Ihre Kleidung war nicht zerschlissen und niemand schien seinen Körper zu vernachlässigen. Alles in allem, sah es so aus, als würde es den Menschen hier an nichts mangeln.
    Der Magier legte dem Wirt eine Hand auf die Schulter. „Sagt, was sich hier zugetragen hat und was noch immer passiert."
    Der Wirt nickte und räusperte sich. Er wagte kaum, das angespannte Gesicht des Riesen zu betrachten. Es schien, als würde er Angst haben, von dem großen Mann geschlagen zu werden.
    „Die Kinder", stammelte er leise. „Es sind die Kinder."
    Der Riese runzelte die Stirn und betrachtete den scheinbar verzweifelten Mann. „Was ist mit ihnen?"
    „Es begann vor sechs Jahren", sagte der Wirt und seufzte. „Meine Frau war eine der Ersten. Sie gebar ein totes Kind und war eine der letzten, die überhaupt schwanger wurden. Seit sechs Jahren hat niemand mehr den Schrei eines Babys in diesem Dorf gehört und jene, die schwanger waren, gebaren nur tote Kinder."
    Der Riese schluckte und packte den Magier am Kragen. „Und Ihr gebt zu, für diese Schande verantwortlich zu sein?"
    „Ja", sagte der Magier und blickte dem Riesen in die Augen. „Ich habe eine Fehler gemacht und ich bereue es jeden Tag, was ich getan habe, aber genau deswegen bin ich hier. Ich will meinen Fehler wieder rückgängig machen und dafür sorgen, dass in diesem Dorf wieder Kinderlachen erschallt und dass sie in den Obstbäumen klettern und den Menschen mit ihrem Lächeln das Leben ein wenig einfacher machen. Ich möchte, dass alles wieder so wird, wie es vorher war, aber alleine bin ich machtlos."
    „Ihr seid ein Magier", stellte der Riese fest und sah die Menschen in Schankraum an. „Warum habt Ihr nicht früher versucht, Euren Fehler rückgängig zu machen?"
    „Weil ich Euch brauche", sagte der Magier und der Riese runzelte die Stirn.
    „Ich bin kein Magier. Ich kann Euch nicht helfen. Das werdet Ihr schon alleine machen müssen."
    „Da irrt Ihr euch", sagte der Magier und atmete tief durch. „Ich habe seit sechs Jahren nach jemanden gesucht, der etwas in sich trägt, was mir helfen kann, diesen Fluch zu brechen. Ihr seid der Erste, den ich gefunden habe und wenn Ihr eure Hilfe verweigert, könnten noch einmal sechs Jahre vergehen, bis ich vielleicht einen weiteren wie Euch finde, der in der Lage ist, die Quelle zu reinigen, und den Schaden, den ich angerichtet habe, wieder gut zu machen."
    „Warum ich?", fragte der große Mann.
    „Ihr habt etwas an Euch, was man nicht so leicht erklären kann. Aber ich als Magier kann es erkennen und deswegen sehe ich auch die große Chance, dass ich diesen Fluch brechen kann. Mit Eurer Hilfe versteht sich. Dort, wohin ich zu gehen gedenke, wird mir meine Magie nichts nützen, doch Ihr könnt diesen Fluch brechen, Ihr müsst lediglich mit mir kommen."
    „Ist es möglich?", fragte der Wirt und seine Stimme verdeutlichte die Hoffnung und die Angst gleichermaßen.
    Der Magier lächelte den Wirt an und nickte. „Ja, es ist möglich. Er kann mir helfen, diesen Fluch zu brechen."
    Der Riese sah die beiden Männer an und schließlich wanderte sein Blick über die Menschen im Schankraum. Alle warteten auf seine Antwort. Alle hatten den gleichen hoffnungsvollen Blick in ihren Augen. Er konnte nicht verstehen, warum die Wut über den Magier nicht überhand nahm und die Menschen ihn beleidigten.
    Aber sie saßen einfach ganz still da und lauschten den Worten, sie hielten ihre Bierkrüge umklammert, wie Kinder, die hier nicht mehr zu sein schienen. Er wandte sich wieder an den Magier als er sprach, doch seine Stimme war angespannt.
    „Was soll ich eurer Meinung nach tun?", fragte der große Mann. „Ich kenne die Magie nicht und ihr verlangt, dass ich euch bedingungslos vertraue."
    „Ja", sagte Inotan knapp. „Ich möchte, dass Ihr mir vertraut. Ihr benötigt kein Wissen über Magie. Wohin wir gehen, ist die Magie machtlos, deswegen habe ich es nicht alleine schaffen können, den Fluch zu brechen."
    Der Riese zögerte noch immer, doch er betrachtete den Wirt, der seine Hoffnung in den Augen trug. Die Menschen um ihn herum starrten ihn an, wollten die erlösenden Worte hören, die nur er diesen armen Seelen bringen konnte. Das war der Ausschlag und er nickte.
    „In Ordnung, ich helfe Euch." Die Stimmen im Raum wurden wieder laut und Inotan lächelte breit.
    „Ich danke Euch, mein großer Freund", sagte er und legte einen Hand auf seine Schulter. „Ich danke Euch aus tiefstem Herzen."


    Der nächste Morgen hatte kaum begonnen, als die beiden Reisenden schon auf ihren Reittieren saßen und in südliche Richtung unterwegs waren. Der Magier saß auf einem Maulesel, der den schmächtigen Magier leicht tragen konnte. Der Riese allerdings saß auf einen gewaltigen Tier von Pferd. Es war ein Schlachtross, anders konnte Inotan es nicht ausdrücken.
    Endlich, nach so vielen Jahren hatte er einen Menschen gefunden, der ihm helfen konnte, den Fluch der Quelle zu brechen. Er hatte schon beinahe selbst die Hoffnung aufgegeben. Er wusste nicht, was passiert wäre, wenn der Mann abgelehnt hätte. Er wusste auch nicht, was passiert wäre, wenn die Menschen in dem Raum anders reagiert hätten. Keine Verwünschung wurde gegen ihn ausgesprochen. Die Männer waren schon gebrochen, gequält durch den Fluch der Quelle, der nicht nur ihre Kinder, sondern auch ihre Hoffnungen raubte. Inotan war sich bewusst, was er tat, doch der Riese hatte nicht einmal den blassesten Schimmer, dass er einen Preis für seine Hilfe zu bezahlen hatte. Und dieser Preis war hoch.
    Ihre Reise führte sie fast den gesamten Tag nach Süden. Die Sonne hatte den Horizont beinahe schon erreicht und der Riese machte Anstalten, eine Rast einzulegen.
    „Heute kommen wir nicht mehr weit, wir sollten uns ein Lager suchen", meinte er und betrachtete den Magier, der ziemlich in Gedanken versunken schien. „Magier?"
    Inotan zuckte zusammen. „Was? Nein, es ist nicht mehr weit, vielleicht noch eine Meile."
    Der Riese runzelte die Stirn. Vor ihnen lag ein Pfad, der nicht sehr häufig benutzt wurde, doch eine Quelle war weit und breit nicht zu sehen, noch nicht einmal ein kleiner Fluss, oder ein Bach. Nichts deutete darauf hin, dass die Quelle ganz in der Nähe war.
    Doch der große Mann ließ den Magier gewähren. Nach einer Meile, verließen sie den Weg und die Pferde liefen durch langes Gras, bis der Magier sein Tier anhalten ließ und abstieg.
    „Lasst Euer Pferd hier. Wir sind da", sagte Inotan und ging voran.
    Der Riese runzelte die Stirn und blieb einen Moment auf seinem Pferd sitzen. Rund um ihn herum gab es nichts, was darauf schließen ließ, dass sie die Quelle erreicht hatten. Er setzte ab und zögerte einen Moment. Der Magier war hinter einem kleinen Hügel verschwunden. Er sollte sich beeilen, dachte er sich noch, als er plötzlich einen Schrei des Magiers hörte.
    Er rannte los, den Hügel mit schnellen Schritten überwindend und wäre beinahe selbst in das Loch im Boden gestürzt, an dessen Rand sich der Magier verzweifelt festhielt und sich immer wieder nach unten blickte, hinein in einen schwarzen Schlund, der ihn zu verschlucken versuchte.
    Der Riese zögerte nicht und zog den Magier aus seiner brenzligen Situation und setzte ihn ein wenig unsanft neben sich ins Gras.
    „Törichter Mann", sagte der Riese wütend. „Wenn ihr sterben solltet, wird dieser Fluch dann jemals gebrochen werden können?"
    Der Magier blickte dem Riesen traurig in die Augen und schüttelte den Kopf. „Töricht. So hat mich schon lange niemand mehr genannt, aber ich nehme es euch nicht übel. Ich war vor sechs Jahren töricht genug, zu hoffen, dass ich mit diesem Spruch den Menschen eine Hilfe bin und dann passierte das."
    Er machte eine Handbewegung, die die gesamte Umgebung einschloss. „Die Welt verändert sich hier schnell und ich bin daran schuld. Wir werden in dieses Loch klettern müssen. Dort unten werden wir die Quelle finden."
    Der Riese sah den Mann an und erhob sich wieder. Er nahm einen Stein und ließ ihn in das Loch fallen. Er schloss die Augen, bis man das Echo des Aufpralls hörte und ging zurück zu seinem Pferd. Er hatte immer ein Seil bei sich und in diesem Fall würde es wahrscheinlich gerade so reichen.
    „Was hätten wir gemacht, wenn ich kein Seil bei mir hätte?", fragte der Riese wütend, band ein Ende des Seils an einen Baum und ließ das andere Ende in die Dunkelheit hinab. „Habt Ihr auch darüber nachgedacht?"
    „Es sollte hier kein Loch geben", sagte Inotan wütend. „Ich bin vielleicht töricht, aber nicht dumm."
    „Ihr seid Magier", sagte der Riese wütend. „Ihr habt mit Dingen gespielt, die Ihr nicht versteht und richtet großen Schaden an."
    „Ich habe nicht gewusst, dass so etwas passieren würde", rechtfertigte sich der Magier.
    „Denkt Ihr wirklich, das würde einen Unterschied machen?", fragte der Riese und holte auch noch einige Fackeln, von der er eine entzündete und sie ins Loch fallen ließ. Der Riese sah, dass sein Seil ausreichte und kletterte als erstes hinab in die Dunkelheit und half dem Magier so gut es ging, nachzukommen.
    Dieser musste erst einmal seine Angst überwinden, um langsam am Seil herunter zu klettern. Zwei Schritt vor dem Boden rutschte er ab und der Riese musste ihn auffangen.
    Er brummte genervt, als er den leichten Mann wieder auf die Füße stellte, entzündete eine zweite Fackel und reichte die erste dem Magier.
    „Wohin?", fragte der Riese.
    Inotan sah sich um. Das Loch war entstanden, als die darunter liegende Höhle eingestürzt war. Genauer gesagt standen sie in einem Höhlengang, der sich durch den Untergrund wie eine Schlange wand. Er sah sich genau um und lächelte schließlich den Riesen an.
    „Ein Nebengang von der eigentlichen Höhle. Ich habe das gesamte Höhlensystem in meinem Kopf. Ich weiß also wo wir sind. Glück im Unglück würde ich sagen", meinte der Magier, doch der Riese sah ihn nur brummend an.
    Inotan übernahm daraufhin die Führung und folgte dem Gang, der schließlich in eine große Kammer führte, die mit Tropfsteinen gesäumt war, die von der Decke herab hingen und sich zum Teil schon mit dem Boden verbunden hatten. Doch die Schönheit des Ortes war trügerisch und der Magier achtete kaum darauf und führte den Riesen weiter, in einen kleinen Seitenarm der Höhle.
    Die Decke wurde immer niedriger, auch die Seitenwände kamen immer näher. Irgendwann musste sich der große Mann ducken, um nicht gegen die Decke zu stoßen, als sie eine weitere, viel kleinere Höhle erreichten, aus dem nur der Gang, aus dem sie kamen, hinaus führte.
    „Ich denke hier sind wir falsch", sagte der Riese, doch der Magier schüttelte den Kopf und ging zu der Wand am anderen Ende der kleinen Höhle.
    „Wir sind hier genau richtig", sagte Inotan und lächelte, als er den Stein berührte. Kleine Rinnsale liefen von der Decke hinab und sammelten sich in einer kleinen Senke im Boden, wo es auch abfließen konnte. Wohin konnte man nicht sehen, aber das war für den Magier auch nicht weiter wichtig und drehte sich um. „Das hier ist sie, die Quelle."
    Der Riese kam näher, war aber immer noch skeptisch. „In Ordnung, was soll ich jetzt tun?"
    Der Magier begann sich abzutasten und holte dann aus einer verborgenen Tasche einen weißen Stein, den er dem Riesen in die Hand drückte. Eine schwache Spur von blauer Farbe war darin zu erkennen. Stirn runzelnd betrachtete er den Stein, dann den Magier und verlangte eine Antwort.
    „Achtet darauf, es wird Euch schützen, zumindest hoffe ich es", sagte der Magier und betrachtete den Riesen. „Ich bedaure, aber ich muss gehen. Sie wird nicht kommen, wenn ich in der Nähe bin."
    „Wer wird kommen?", fragte der Riese.
    „Die Quelle", sagte der Magier sachlich. „Dies hier ist Ihr Reich und ich habe sie erschaffen, ohne es zu wollen. Meine Anwesenheit macht Ihr Angst, doch sie muss erscheinen, damit ich sie vernichten kann.
    Der Stein zwingt sie zu Euch zu kommen. Ihr habt die Stärke, dieses Wesen hinzuhalten."
    „Wozu?", fragte der Riese vorsichtig.
    „Je länger sie mit Euch spricht, umso schwächer wird sie. Ihr werdet sie hinhalten müssen. Redet mit Ihr, prügelt auf sie ein. Egal was Ihr tut, Ihr dürft nicht zulassen, dass sie sich wieder mit der Wand vereint, denn sie gewährt jedem Menschen nur eine einzige Gelegenheit um mit Ihr zu sprechen."
    Der Riese verstand nicht, was der Magier von ihm verlangte, doch so langsam setzten sich die Teile eines Rätsels zusammen. „Es ist viel gefährlicher, als Ihr dachtet, oder?"
    Der Magier schluckte und konnte nicht antworten.
    „Ihr habt es gewusst", sagte der Riese schließlich. „Ihr habt gewusst, dass ich mein Leben riskieren würde."
    „Hättet Ihr zugestimmt, wenn ich es Euch gesagt hätte?", fragte der Magier und betrachtete den Riesen einen Moment. Sein Schweigen war Antwort genug. „Wollt Ihr diesen Fluch brechen oder nicht? Es ist Eure Entscheidung. Ich kann Euch nicht zwingen hier zu bleiben. Ich werde Euch nicht mit meiner Magie hier aufhalten können. Meine Magie ist hier nutzlos, denn ich kann hier keinen Zauber wirken. Nicht in der Nähe der Quelle. Ich bin Euch unterlegen, in jeder nur erdenklichen Art und Weise."
    Der Riese musterte den Mann und war einen Moment lang versucht, dass Angebot anzunehmen und zu gehen, doch dann betrachtete er die Wand und das Wasser das daran entlang floss. Auch waren ihm die Gesichter der Männer im Schankraum des Gasthauses nicht entgangen. Hoffnung und Trauer hatte in ihren Augen gelegen. Sie wollten, dass dieser Fluch gebrochen wurde und diese Hoffnung lag nun bei ihm. Er durfte sie nicht enttäuschen, seine eigene Ehre hinderte ihn daran.
    „Woher weiß sie, dass ich hier bin?", fragte der Riese. „Und wie lange werde ich warten müssen?"
    „Das weiß ich nicht", sagte der Magier und klang erleichtert. „Ich weiß es wirklich nicht. Aber bitte versucht alles, damit dieser Fluch endlich gebrochen werden kann."
    Der Riese blickte noch einmal zur Wand, dann wieder zum Magier und nickte. „In Ordnung. Ich werde tun, was Ihr verlangt. Sorgt nur dafür, dass der Preis, den ich gerade zahle nicht zu hoch ist."
    Inotan nickte dankbar, trat vor und umarmte den Riesen einfach. Er war den Tränen nahe, dass er jetzt plötzlich so nahe an einer Lösung seines Problemes stand. Der Riese schob ihn sanft von sich und betrachtete ihn einen Moment lang.
    „Bereit?", fragte der Riese und Inotan nickte und zitterte leicht. „Dann geht. Ich hoffe, Ihr wisst, was Ihr zu tun habt."
    Inotan konnte nicht antworten, sondern nickte nur und verließ die kleine Höhle.
    Der Riese setzte sich auf einen flachen Stein und beobachtete das Wasser, welches am Fels hinab lief und wartete auf die Ankunft der Quelle, jenes Wesen, welches dafür verantwortlich war, dass es in diesem kleinen Dorf keine Kinder mehr gab. Er selbst verstand die Verbindung nicht, doch wenn sein Handeln den Fluch brechen konnte, so würde er es tun.
    Die Zeit verrann und er wurde unsicher, ob der Magier ihn nicht vielleicht doch mehr belogen hatte, als er zu Anfang angenommen hatte. Er konnte nicht ewig auf diesem Stein warten. Er war schon versucht, einfach zu gehen, oder den Magier zu rufen, der sich vielleicht irgendwo versteckt hielt und einen seiner Zauber bereit hielt, um die Quelle zu vernichten. Doch dann begann das Schauspiel.
    Zunächst hörte man ein fernes Rauschen, wie von einem Wasserfall. Als der Riese zu der Wand blickte, erkannte er sofort, dass mehr Wasser den Stein hinab floss. Die kleine Pfütze am Boden wurde schnell größer und das Wasser wurde dunkel, fast schon schwarz. Auch an der Wand flossen nun dunkle Tropfen hinab und sammelten sich in der weiter wachsenden Fläche.
    Das Schwarz sammelte sich in der Mitte, während sich das Wasser selbst immer weiter ausbreitete. Vorsichtig stand der Riese auf und starrte auf den Punkt, wo das Schwarz sich konzentrierte und sich langsam aufrichtete. Eine schwarze Wassersäule erhob sich, fast so groß wie der Riese, und wuchs auch in der Breite, bis sich ein Wesen aus diesem schwarzen Wasser schälte. Das überflüssige Wasser floss ab und legte schlanke Beine, einen makellosen Körper und ein ovales Gesicht frei, mit leuchtend grünen Augen und einem Wust aus Haaren, die nass am Rücken des Wesens klebten.
    Der Riese konnte kaum den Blick von den beinahe leuchtenden Augen der Frau vor ihm abwenden. Sie war nackt und eine der schönsten Gestalten, die er je gesehen hatte. Er hatte Schwierigkeiten, den Fluch und das Leid der Menschen mit dieser Person in Einklang bringen zu können. Er schluckte und blickte ihr in die Augen, als sie einen Schritt vortrat, die Pfütze nicht verlassend, aber mit einem Lächeln auf den Lippen.
    „Du bist die Quelle", sagte der Riese und die Frau nickte freundlich.
    „Nenn mich Kunari. Ich habe schon lange auf ein Wesen wie dich gewartet. Es ist mir eine Freude, dich kennen zu lernen, Epak."
    Der Riese runzelte die Stirn. „Woher kennst du meinen Namen?" Weder die Menschen im Dorf, noch der Magier hatten seinen wahren Namen erfahren, aber dieser Frau war es gelungen. Er war misstrauisch und zog sich einen Schritt zurück.
    „Der Fels, das Wasser, das Land", sagte Kunari und lächelte. „Ich bin hier gefangen, doch ich erfahre dennoch Dinge. Sei nicht überrascht, dass ich deinen Namen kenne. Ich weiß auch, dass Inotan mich vernichten will."
    „Du bist für einen furchtbaren Fluch verantwortlich", sagte Epak mutig.
    „Wirklich?", fragte die Frau nicht unfreundlich. „Ich bin erschaffen worden und durch meine Erschaffung wurde meine Natur bestimmt. Wenn jemand eine Schuld am Tod der Kinder hat, dann ist es Inotan, nicht ich."
    Der Riese zögerte und die Frau trat einen Schritt näher.
    „Es gibt einen Weg, um den Fluch zu brechen, und mich am Leben zu erhalten. Inotan hat die richtige Person zu mir geschickt. Er hat dich zu mir geschickt. Vielleicht kann er es nicht über sein Herz bringen, und suchte nach dir, um meine Existenz zu sichern."
    „Wovon sprichst du?", fragte Epak und wurde unruhig, da er nun im Rücken schon die Wand der Höhle spüren konnte. „Ich bin nicht hier, um dich zu retten."
    „Dann hat Inotan die falsche Person gesucht", stellte die Frau fest und streckte den Arm aus.
    Epak schlug sie fort und die Frau ging einen Schritt zurück. „Du hast nicht das Recht, eine Existenz zu besitzen. Du bist von einem Magier erschaffen worden. Du bist nicht einmal real."
    „Ich bin nicht real?", fragte die Frau kühl und kam wieder näher. „Epak, ich bin nicht gekommen, nur um mit dir zu reden. Der Stein, den Inotan dir gegeben hat, um mich aus meinem Fels zu locken wäre unnötig gewesen. Ich wäre auch so gekommen, denn du wirst mir helfen, real zu werden. Dein Körper, wird mir gute Dienste erweisen."
    Die Frau schnellte vor und griff den Arm des Riesen. Ein heißer Schmerz bohrte sich in sein Fleisch und Epak schrie auf. Ihm blieb keine Zeit zu reagieren, denn im gleichen Moment presste die Frau ihre eiskalten Lippen auf die Seinen. Es war, als würde er ertrinken. Wie kaltes Wasser floss etwas seine Kehle hinab. Er konnte nicht mehr atmen, versuchte sich mit aller Kraft zu befreien, doch die Stärke der Frau konnte er nicht brechen und verlor den Kampf.
    Seine Sicht verschwamm und er spürte seine Beine nicht mehr. Die ganze Kraft floss aus seinem Körper und schließlich sank er zu Boden. Den Aufprall spürte er schon gar nicht mehr.


    Seine Augen öffneten sich und er blickte zur Decke der Höhle. Er hatte einen dumpfen Schmerz im Arm und im Kopf. Er war noch vollkommen benommen von den Ereignissen und setzte sich langsam auf. Etwas war anders, aber erst, als sich sein Mund ohne sein Zutun öffnete, begriff er, was vorgefallen war.
    „Endlich bin ich von dem Fels befreit", drangen die Worte aus seinem Mund. Aber er war es nicht, der gesprochen hatte. Es musste die Frau gewesen sein, Kunari, die Quelle.
    Panik stieg in ihm auf, als sich sein Körper ohne sein Zutun erhob und einen Weg aus der Quellhöhle suchte. Der Magier war verschwunden. Warum hatte der Mann dies getan? Hatte er gar nicht vorgehabt, die Quelle zu vernichten?
    Epak wusste, dadurch, dass die Quelle nun in seinem Körper war, würde der Fluch gebrochen sein, aber sollte er den Rest seines Lebens in diesem Körper gefangen sein und nicht fähig, sich der Umwelt bemerkbar zu machen?
    Sein Körper blieb stehen und Epak brauchte einen Moment, um sich eine Frage zu stellen: Konnte die Quelle seine Gedanken hören?
    „Ja", drang es aus seinem Mund. „Nun bin ich frei und kann ein Leben führen, wie jedes normale Wesen auch. Dein Körper existiert noch lange, lange genug, damit ich mir ein erfülltes Leben aufbauen kann. Der Fluch, den du so sehr gefürchtet hast, ist fort. Schließlich bin ich nicht mehr an dem Fels gebunden."
    Er spürte das Lächeln auf seinem Gesicht und Kunari ging weiter. Epak wusste nicht, was er tun sollte. Warum war der Magier nicht in der Nähe? Warum war er nicht da, um ihm zu helfen? Er hatte ihn betrogen und in größter Not einfach im Stich gelassen und nun musste er seinen Körper mit einem Wesen teilen, welches noch nicht einmal real war.
    Epak, zumindest sein Körper ging zu der Stelle, wo er und der Magier sich abgeseilt hatten. Wenige Schritte davor trat Inotan aus einer dunklen Ecke und stellte sich dem Riesen in den Weg.
    Epak sah, wie der Magier einen Kristall in der Hand hielt, ähnlich dem, den auch er in den Hand hielt, um die Quelle anzulocken.
    „Es ist vorbei", sagte Inotan knapp. „Verlasse diesen Körper. Du bist niemals dafür bestimmt gewesen, eine Existenz zu bekommen. Du musst dich deinem Schicksal fügen."
    „Schicksal?", fragte Kunari spöttisch. „Du hast Ihm nicht viel erzählt, oder? Ich kann seine Gedanken hören. Er hat Angst und er ist unsicher, ob er dich hassen soll, oder sein jetziges Schicksal akzeptieren kann. Du hast ihn belogen. Du hast Ihm nicht gesagt, dass er ein Wirt für mich sein würde. Du hast Ihm nicht gesagt, dass ich diesen Körper nur zu gerne an mich nehme um endlich frei zu sein. Du hast ihm nicht gesagt, wer ich in deinen Augen einmal war, bevor du mich zu dieser Existenz verdammt hast."
    „Du vergisst, wer vor dir steht", sagte Inotan. „Ich bin dein Meister. Ich habe dich erschaffen und ich kann dich genauso gut auch wieder vernichten."
    „Wie denn?", fragte Kunari und lächelte noch breiter, während sie an den Magier heran trat. „Ich habe nun einen Körper. Du kannst mich nicht mehr vernichten. Ich bin frei und kann tun, was immer ich tun will."
    „Ich kann nicht zulassen, dass du diese Höhle verlässt", sagte Inotan und schluckte.
    „Wieso?", fragte die Quelle wütend und trat an ihn heran. „Weil du mich erschaffen hast, Inotan? Weil du den Schmerz nicht ertragen konntest, als du mich das erste Mal verloren hast? Ist der Schmerz in deinem Herzen nun überwunden? Du kannst mich nicht mehr vernichten. Ich bin nun lebendig. Du wirst mich nicht mit deiner Magie umbringen, weil dass auch den Mann in mir umbringen würde."
    Inotan schluckte und blickte dem Riesen in die Augen. „Ich weiß. Kunari, es tut mir leid, was ich getan habe. Ich habe es nicht ahnen können. Aber du musst diesen Körper verlassen. Um deinetwillen und um seinetwillen.
    „Und wie willst du das machen?", fragte die Quelle skeptisch.
    Inotan sah den Riesen an, blickte aber in Wahrheit nur die Frau an, die sich dahinter verbarg. Eine Frau, die er vor langer Zeit einmal kannte. Es schmerzte ihn, dass zu tun, was getan werden musste.„Du bist nun sterblich."
    Die Quelle begriff nicht schnell genug und sah die Klinge auch nicht kommen, die sich mit einem heißen Schmerz in die Brust bohrte.
    Epak schrie im Inneren seines Körpers auf, als er das ganze Blut sah, das seine Hand besudelte und sich schnell auf seiner Brust ausbreitete.
    Kunari blickte den Magier an. „Was hast du getan? Nun werden wir beide sterben."
    Der Körper brach zusammen, das Atmen fiel ihnen schwer. Epak spürte den Schmerz nur gedämpft, so wie er seinen ganzen Körper nur gedämpft spürte. Er konnte aber alles durch seine Augen klar und deutlich sehen.
    Inotan kniete sich neben den Mann nieder und blickte ihm in die Augen.
    „Kann der Mann mich hören?", fragte Inotan und die Quelle nickte langsam. Die Kraft entschwand dem Körper schnell.
    „Es tut mir Leid", begann der Magier. „Ich wusste, dass der Preis hoch sein würde und ich wusste auch, dass Kunari Euren Körper nicht hergeben würde. Ich kann nichts mehr für euch tun, euch nur ein wenig Zeit verschaffen. Vielleicht finde ich einen Weg, euch beide zu retten, oder ich sterbe vorher. Ich werde versuchen, auch diesen Schaden wieder gut zu machen."
    Epak sah dem Magier in die Augen und er öffnete den Mund. Kunari gestattete ihm, selbst einige Worte zu sprechen.
    „Ich bin Epak. Merkt euch meinen Namen und erzählt meine Geschichte."
    „Unsere", versprach der Magier und hielt seine Hand. „Ich werde versuchen Euch zu retten. Aber es kann dauern."
    „Uns bleibt nicht viel Zeit", sagte Epak. „Die Kräfte schwinden rasch."
    Inotan nickte. „Ich tue dies für Euch. Ich wünschte, es hätte genug Zeit gegeben, um Freunde zu werden."
    „Dafür ist es noch nicht zu spät", sagte Epak und schluckte schwer. „Aber erklärt mir eine Sache noch, bevor Ihr geht."
    „Welche?", fragte Inotan und hielt die Hand des Mannes.
    „Wer war Kunari, bevor sie zur Quelle wurde?"
    Inotan schluckte und schloss die Augen. „Meine Frau."
    Inotan konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten und schloss die Augen, um den Spruch zu wirken.
    Er spürte, wie der Spruch durch den Körper des Mannes floss. Von der Haarspitze floss der Zauber durch die Arme und Beine, durch jede Arterie und Vene, die Haut und schließlich auch durch das Herz, welches in seinem Schlag aussetzte und ausharrte, in einem Moment der Zeit, der nicht enden würde.
    Als der Magier sein Werk vollbracht hatte, öffnete er die Augen und betrachtete den Körper des Riesen. Reglos und starr blickte er Inotan immer noch an und der Magier erhob sich langsam. Der Spruch würde die beiden bewahren, sowohl den Körper, als auch die beiden Geister, die darin gefangen waren. Einen Fluch hatte er nun gebrochen, doch seine Arbeit war noch lange nicht getan. Er musste einen Weg finden, um den Tod des Mannes zu verhindern, und einen Weg, um die Seele der Quelle zu befreien, um sie dann zu vernichten, oder zu retten. Er hätte niemals versuchen sollen, den Geist seiner Frau zu retten. Damit hatte er nur großes Unheil angerichtet. Doch er wusste nicht, ob er das neue Unheil wieder in Ordnung bringen konnte. Er würde wiederkommen, in zehn Jahren, solange würde der Spruch halten. Er hoffte, dass es ausreichen würde.
    Der Fluch war gebrochen, nun eingeschlossen im Körper eines Sterbenden. Inotan begab sich auf den Weg hinaus zu seinem Reittier und ließ das stolze Schlachtross des Riesen frei. Zumindest einer sollte an diesem Tag frei sein. Er gehörte nicht dazu.


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    Ein Windstoß weht durch das offene achtzehnte Türchen, welches sich als Fenster tarnt, hinein in einen nächtlichen hohen Raum. Der Vollmond enthüllt dunkle Kirschholzvertäfelungen und Bücherregale, die bis hoch zur stuckverzierten Decke reichen. Auf dem großen, schweren Schreibtisch liegt eine dicke Akte mit aufgeschlagenem Deckel, daneben ein offenes Buch, dessen handbeschriebenen Seiten im Nachtwind flattern, beinahe so, als würde jemand darin blättern...



    Projekt Bifröst


    Die folgenden Aufzeichnungen stammen aus dem geheim-militärischen Archiv der königlich, norwegischen Akademie der Wissenschaften in Oslo. Sie wurden im Rahmen des Geheimprojektes „Bifröst" unter Leitung des Barons Prof. Dr. Sören Huitfeldt, Leiter des Seminars für paranormale Forschung in Oslo, von dem höchstselbst diese Aufzeichnungen stammen, geschrieben. Der folgende Ausschnitt zeigt die offizielle Endzeit des Projektes vom 30.10.1863 bis zur Wintersonnenwende desselben Jahres am 22.12.



    30.10.1863, Gut Rumpetrollvannet bei Hammerfest, Abend


    Für das morgige Samheinfest habe ich den ersten Testlauf angeordnet. Die Nervosität bei mir, meinen wissenschaftlichen Assistenten und sogar bei den Technikern ist sehr groß. Ich habe alle Apparaturen am frühen Abend routinemäßig testen lassen. Es gab keine Beanstandungen. Das Wetteramt hat für die heutige Nacht eine Sturmwarnung herausgegeben, was ich für ein gutes Omen halte. Es könnte eine Gunst oder zumindest eine Aufmerksamkeitsbekundung Thors sein.
    Die Geräte werde ich Punkt Mitternacht hochfahren lassen.



    31.10.1863, Gut Rumpetrollvannet, Morgen


    Der Versuch lief trotz aller guten Vorzeichen ereignislos. Wir sendeten Gebete und Anrufungen auf allen uns bekannten Frequenzen in den Aether. Wir rezitierten auf Altisländlich, Altnorwegisch, Altschwedisch und Altdänisch. Während des Sendens maßen wir einen Anstieg der Raumtemperatur und der psychoenergetischen Aktivitäten innerhalb des Gebäudes. Jedoch stiegen die Messwerte leider nie über den Normalausfallbereich. Gegen drei Uhr brachen wir die Versuchsreihe ab. Die Ernüchterung in der Gruppe ist groß.



    03.11.1863, Gut Rumpetrollvannet, Abend


    Der Tempel in Uppsala hat meine Anfrage für einen Priester zur Unterstützung abgelehnt. Man dürfe das Wirken der Götter nicht herausfordern. Bergström und Linnerholm haben sich heute Mittag lautstark gestritten und wollten sich fast zum Duell herausfordern. Ich habe den beiden dieses ungebührliche Verhalten, unter Androhung der Versetzung aus dem Projekt, untersagt. Die Techniker reden Unterdessen von einer Beschädigung der Apparaturen in der letzten Nacht. Vermutlich sind Ratten hier die Täter.



    11.11.1863, Gut Rumpetrollvannet, Abend


    Aus unserem recht müßigen Einerlei riss uns heute die überraschende Ankunft eines Professor Dr. Svansson aus Reykjavik (Von dem ich ehrlich gesagt noch nie etwas gehört habe). Er sei von dem Institutsleiter in Oslo angesprochen worden, nachdem dieser mitbekommen habe, dass wir keine priesterliche Unterstützung erhalten würden. Svansson sei Experte für die urnordische Sprache und auch in einem Godenseminar in seiner Jugendzeit gewesen.



    20.11.1863, Gut Rumpetrollvannet, Morgen


    Seit Svanssons Eintreffen hat sich die Stimmung etwas verbessert. Seine Geschichten und Art muntern die Mitarbeiter auf. Wir hoffen auf seine Gebete und Sachverständnis. Einige Techniker munkeln wohl, dass es Odin selbst sei. Man muss immerhin zugestehen, dass die Erscheinung des Isländers durchaus Ehrfucht gebietend ist. Er ist ein Mann fortgeschrittenen Alters, aber von einer körperlich eindrucksvollen Gestalt. Sein ursprünglich rotes Haar, das mehrheitlich von grau durchsetzt ist, trägt er lang und offen. Stets führt er einen langen Wanderstab mit sich, den er aber nicht wie eine Gehhilfe, sondern eine Waffe greift. Am Eindrucksvollsten auf die Techniker wirkt jedoch sein fehlendes Auge, dass er im Kampf mit den Russen ließ. Dazu kommt noch seine Vorliebe für Hüte und Mäntel. Ehrlich gesagt wundert es mich nicht, dass ein Mann mit so einem Hang zur Selbstdarstellung nicht bei den Goden aufgenommen wurde. Dennoch komme ich gut mit ihm zurecht und bin für seine Hilfe dankbar.



    27.11.1863, Gut Rumpetrollvannet, Abend


    Es sind noch fast vier Wochen bis wir den nächsten Testlauf wagen wollen und die Moral meiner Mitarbeiter schwankt von Tag zu Tag. An einem Tag stürmen sie in mein Büro, unterbreiten begeistert Verbesserungsvorschläge, am nächsten dann versinkt alles in Lethargie. Mittendrin immer Svansson, der zwar wie zufällig durch die Gänge schlendert und sich mit den Leuten dabei ungezwungen unterhält, aber dennoch etwas zu suchen, ja fast getrieben zu sein scheint. Ich selbst versuche, ganz im gelehrten Sinn, mich nicht von den Affekten meiner Umgebung beeinflussen zu lassen, um meinen Leuten ein Vorbild der Tugend der Ruhe und Standhaftigkeit seien zu können.



    01.12.1863, Gut Rumpetrollvannet, Morgen


    Letzte Nacht waren aus dem Speisesaal Kampfgeräusche zu vernehmen, ließ mich eines der Dienstmädchen des Gutes wissen. Ich verlangte nach Linnerholm und Bergström, die letzten Abend mal wieder im Streit auseinander gegangen sind. Bekümmert musste ich dann den Casus lösen, als ich einen frischen Kratzer auf Linnerholms Wange sah. Unter dem Protest der Beiden verwies ich sie meiner Stube in dem Wissen, dass ich sie noch heute entlassen würde. Natürlich hatten sie vehement ihre Unschuld bestritten, aber die Beweise sprechen wohl für sich. Svansson kam wenig später in mein Bureau und ließ mich wissen, dass er die Beiden auch für unschuldig halte. Auf die Frage, ob er es mir beweisen könne, starrte er mich eine Weile mit seinem Auge an, so dass mir kurz ganz bang wurde, aber verneinte es dann. Ich wies ihn darauf hin, dass ich sein Engagement respektiere, aber hier eine der wichtigsten Forschungen des Königreiches leite und mir solche Fehltritte unter meinen Mitarbeitern nicht leisten kann.



    01.12.1863, Gut Rumpetrollvannet, Abend


    Am späten Nachmittag klopfte ein weinendes Hausmädchen an meine Zimmertür. Unter Tränen gestand sie, dass sie Linnerholm letzte Nacht die Narbe bei einem all zu heftigen Liebesspiel zugefügt habe. Weiterhin schwor sie, dass sie die ganze Nacht zusammen gewesen seien. Nun bin ich bemüßigt mich bei meinen beiden Mitarbeitern zu entschuldigen, ein wenig zerknirscht zwar wegen meines Fehlurteils, aber mehr mit einem lachenden Auge, da ich mich nicht nach neuem Personal umsehen muss.



    08.12.1863, Gut Rumpetrollvannet, Abend


    Schäfer und Bauern berichten, dass Tiere in der nahen Umgebung in ihren Winterquartieren gerissen werden. Die Spuren deuten auf Wölfe oder Hunde hin. Die Tierhalter sprechen es zwar nicht aus, doch spüre ich eine Art Vorwurf mir gegenüber. Auch Svansson wirkte beunruhigt wegen der Berichte um das getötete Vieh. Mich beschleicht der Verdacht, dass er mehr weiß, als er zuzugeben gedenkt. Doch werde ich ihn nicht von meiner Seite aus bedrängen oder einem Waschweibe gleich Vermutungen anstellen.



    14.12.1863, Gut Rumpetrollvannet, Mittag


    Heute Morgen lag der Kadaver eines toten Wolfes vor der Tür des Anwesens. Dass die Dienstfrauen bestürzt waren, wunderte mich nicht, aber die Beunruhigung im Gesicht Svanssons umso mehr. Er wies das Gesinde an das Tier zu verbrennen und sprach bei der Verbrennung ein paar Worte in der urnordischen Sprache unserer Vorväter, derer ich leider nicht besonders mächtig bin.



    20.12.1863, Gut Rumpetrollvannet, Abend


    Es stürmt mittlerweile seit drei Tagen. Die Mitarbeiter sind beunruhigt und das einfache Gesinde behauptet Augen und Gesichter in den sturmgepeitschten Bäumen, Wolken und Windverwehungen zu sehen. Dessen ungeachtet haben wir heute wieder mit den ersten Testläufen begonnen. Die Apparaturen arbeiten vorschriftsmäßig.



    21.12.1863, Gut Rumpetrollvannet, Morgen


    Der Sturm hat heute Nacht wieder zugenommen. Eine der Küchenfrauen wurde beim Gang vom Gesinde- zum Herrenhaus von einem umherfliegenden Ast erschlagen. Wir müssen die Leiche in einem der Keller lagern, da ein Transport oder Verbrennen bei der Wetterlage nicht infrage kommt. Linnerholm plädiert dafür das Experiment heute Nacht nicht durchzuführen. Ich bin nicht gewillt dem stattzugeben und auch Svansson hat mir überraschend energisch klargemacht, dass das Experiment heute Nacht stattfinden muss.



    22.12.1863, Hammerfest, Morgen


    Noch immer von den Ereignissen letzter Nacht erschüttert, will ich versuchen diese zu ordnen und hier aufzuschreiben. Eine halbe Stunde vor Mitternacht begannen wir damit die Apparaturen hochzufahren. Svansson begann Punkt Mitternacht mit dem rezitieren. Wie letztes Mal vernahmen wir wieder einen leichten Anstieg der Messwerte. Eine Viertelstunde später verstärkte sich der Wind noch ein weiteres Mal. Plötzlich rissen alle Türen im Gut, von der Hauptpforte bis zu dem Labor, auf. Svansson hieß uns sofort das Labor zu verlassen. Er selbst war hinter mir und wollte als Letzter gehen. Jedoch verriegelte er die Labortür hinter mir von Innen. Ich schrie nach meinem Kollegen, aber er rief nur, dass wir alle sofort verschwinden sollen. Letztendlich gaben wir es auf die Tür aufzubrechen und eilten aus dem Haus. Gerade noch rechtzeitig bevor eine gewaltige, explosive Druckwelle die unteren Bereiche des Anwesens verwüstete. Seltsamerweise hörte der Sturm schlagartig nach der Explosion auf. Bergström ritt sofort nach Hammerfest um Hilfe zu holen. Währenddessen trauten wir uns nicht in das Haus, da wir Einstürze und weitere Explosionen fürchteten. Wir überließen den hammerfester Rettungsmannschaften das Feld und quartierten uns verstört und niedergeschlagen in dem großen, hiesigen Gasthof ein. Erst in den frühen Morgenstunden fand ich ein wenig zu Ruhe. Möge Odin Svansson beschützen, aber ich wage nicht um ihn zu hoffen.



    22.12.1863, Hammerfest, Abend


    Es wurde keine Leiche in dem Labor gefunden. Auch sonst sind Alle, die in dem Haus waren, noch rechtzeitig ins Freie gekommen. (Die Leiche der erschlagenen Magd fanden wir unversehrt). Es fehlt von Svansson also jede Spur, die Hitze und das Feuer in dem Labor könnten jedoch so groß gewesen sein, dass nichts mehr von ihm übrig geblieben ist. Ich werde mich als erstes auf die Suche nach seinen Angehörigen machen, um ihnen die traurige Nachricht selbst zu überbringen.



    05.01.1863, Oslo, Abend


    Ich habe die letzten beiden Wochen mit Nachforschungen über Svansson verbracht. Konnte keine Verwandten und sonstigen Angehörigen finden. Auch kennt man ihn nicht an der Universität in Reykjavik. Er schien ein Hochstapler gewesen zu sein, jedoch war seine Kompetenz augenscheinlich. Mit meinem Abschlussbericht will ich nun aber dieses Kapitel schließen.[/font][/i]



    Abschlussbericht


    Unabhängig von den Ungereimtheiten mit Svansson, rate ich von einer Weiterführung des Projektes ab. Je nachdem wie man die Forschungsberichte interpretiert, kann man sagen, dass wir keine nennenswerten Ergebnisse erzielt haben, oder, was ich für weitaus ausschlaggebender halte, Ergebnisse, die wir nicht kontrollieren und verstehen können. Wenn sich der königliche Wissenschaftsrat jedoch zu einer Weiterführung des Programms entschließen sollte, stehe ich nicht zur Verfügung.


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    Der Wind peitscht den Regen gegen das neunzehnte Türchen. Es könnte aber auch Gischt vom nahen Meer sein, unmöglich zu sagen bei diesem Sturm. Ein Mann nähert sich mit schnellen Schritten. In seinen Armen birgt er ein Bündel, das er sehr vorsichtig unter seinem Mantel hält, als er mit der freien Hand die Tür aufstößt. Wärme, Licht und Lachen heißen ihn willkommen…



    Seemannsgarn


    Der erste Wintersturm hatte sogar die erfahrenen Seeleute überrascht, war er doch um Wochen früher als üblich über die Küste hergefallen und riss und zerrte nun energisch an den fest vertäuten Booten der Fischer von Imasis. Seit Tagen war ans Fischen nicht zu denken.
    In der Hafenbucht ankerten zwei der wendigen Kleinsegler, die sich auch um diese Jahreszeit die Küste entlangtrauten. Sie waren bei den ersten Anzeichen des Sturms in den natürlichen Hafen des Dorfes eingelaufen. Eine betagte Dóla schaukelte ebenfalls auf den Wellen. Die "Silberqualle" war beinahe so groß wie eine behäbige Handelstachíbe, lag jedoch nicht so tief im Wasser, und hätte den Sturm draußen auf See gut überstanden. Doch Schiffskapitän Rasquen Telares gab gut auf seine Dóla acht, und hätte nie riskiert, dass der Sturm sie in Küstennähe auf eine Klippe trieb.
    Der, der sich über die unfreiwilligen Gäste am meisten freute, war der Wirt der "Tanzenden Schaluppe". Die Schenke platzte an diesem Abend aus allen Nähten. Ein Wirrwarr verschiedener Akzente verriet die bunt gemischte Herkunft der Seefahrer, die einander bei 'Speer und Schild' und verschiedenen Würfelspielen die Heuer aus der Tasche zogen, um sie gleich darauf in flüssiges Gold zu verwandeln.
    Käptn Telares, der die "Qualle" bei seinem Stellvertreter Cormil in guten Händen wußte, war ein leidlich guter Ykaarspieler und hatte sie mitgebracht, um sie "auszuführen, verstehst du, Cormil, wie eine Dame". Dabei hatte er leise gelacht, dass sein wettergegerbtes Gesicht unzählige Fältchen warf, und die vielen graumelierten Zöpfchen um seinen Kopf wippten als würden sie ihm zustimmen.
    Müßig zupfte er auf den Saiten seiner abgegriffenen Ykaar, gelegentlich formten sich die Töne zu Liedern, die von den Männern aufgegriffen wurden, die sie kannten. Der stoppelbärtige Fischer vom Fenstertisch hatte seine Flöte dabei, doch nach einem mißglückten Duettversuch - und einem vielsagenden Blickkontakt - wechselten sie sich lieber ab, statt es nochmals gemeinsam zu versuchen.
    Die Musik, gute Getränke, würzige Fischsuppe und die geteilten Geschichten taten an diesem Abend ihr übriges, um die Gedanken der Männer von den Sonderschichten und Reparaturen abzulenken, die sie erwarteten, sobald der Landurlaub vorbei war.
    Diese Geschichten waren es auch, denen viele der Fischer mit glänzenden Augen lauschten. Die meisten von ihnen waren ihr Lebtag nicht aus Imasis herausgekommen, und genossen den Hauch von Abenteuer und Exotik, der in den farbigen Erzählungen der Gäste mitschwang.
    Es gab jedoch auch Einheimische, die sich nicht lumpen ließen und Gleiches mit Gleichem vergalten. Sie berichteten von fantastische Erlebnissen und Begebenheiten, die sich in der Gegend zugetragen hatten, manche davon Generationen vor ihrer Geburt, manche wie gestern erst geschehen.
    Vor allem der alte Gewan, Vater der Wirtin und ehemaliger Seemann, war so einer. Die Götter hatten ihn zusätzlich zu seinem guten Gedächtnis mit großen Lungen gesegnet - was ihm an diesem Abend einen lautstarken Vorteil verschaffte - nur trinkfest war er nicht. Spätestens nach dem zweiten Bier kam er in Fahrt, dann sprudelten die Geschichten nur so aus ihm heraus, und je mehr Biere danach noch folgten, desto wirrer wurde das was er von sich gab. Besonders dann, wenn ihn jemand mittendrin unterbrach.
    „Un ich sach dir, es war so!" behauptete er, knallte energisch den Bierhumpen auf den Tisch. Wütend funkelte er den kupferhäutigen Canrorer an, der es gewagt hatte, ihn zu unterbrechen. "Ich kann ja wohl son Tuikhviech von Treibholz unterscheiden, und nen Lucchai von nem Plattenfisch. Aber es war nix von denen. Da gibts noch mehr, da unten! Sie lauern, grau und schleimig, stieren rauf zu dir. Glaubst du, die dünnen Planken schützen dich? Nee, nich vor denen, denn die Brut der Tiefe, die steigt hoch, um dich zu holen! Habs selbst gesehn, so wahr wie du nich richtig sprechen kannst! Was, wenn der olle Käptn nich gekommen wär? Dann säß hier mal kein Gewan mehr, damit du Wortverdreher drüber lachen kannst!"
    Die leisen Töne der Ykaar waren verstummt. Telaren lauschte ebenso gebannt wie alle anderen. Die Aufmerksamkeit war Wind in Gewans Segeln.
    „Es war genauson böser Sturm wie heut, won gescheiter Mann inner Spelunke hockt bisser vergeht. Nur, daß wir mitten aufm Meer warn, drei Tage hinterm Feldrakenriff, und ich häng festgebunden anner Reling und kotz mir die Seele aussm Leib. Auf der windabgewandten Seite war das, und ich guck nach unten, und schrei so laut, daß mich der Käptn trotzm Sturm hört! Da kommt er her, und wird noch fast ins Meer gespült, und guckt mit mir zusammen runter, und da hängen sie! Wie... riesige Nacktschnecken mit Armen, und ham am Rumpf geklebt als wollten sie uns runterziehn!"
    "Hm," machte der Canrorer. "Wie kommt, ich nie seh so eins, in mehr wie fünfzehn Jahr auf Wasser? Riesig Insekten - ich seh, riesig Fische - ja, einmal ich seh riesig... weißnichtwas. Aber… riesig Schnecke, Freund?"
    "Glaubste nich?" Gewan nahm einen großen Schluck von seinem Bier. Sein Gesicht war rot angelaufen, wie immer wenn er sich aufregte. "Fahr doch du mal hinters Feldrakenriff, bis da wos ganze Grünzeug im Wasser wächst, bis de fast nich mehr durchkommst, wo kaum wer langfährt, nur der durchgedrehte Käptn bei dem ich damals angeheuert hab! Wenns dann nachts an den Planken kratzt, dann will ich dich mal sehn wie du ruhig schläfst, wenns Wasser leuchtet und du siehst wie schwarzer Seetang aus der Tiefe reicht bis hoch zu dir, als würd der Gevatter selbst seine Arme nach dir strecken! Und dazwischen wimmelts in den Schatten unter dir. Wär nicht das erste Schiff das nie von da zurückkommt!"
    Der Alte merkte nicht, daß sein Sohn Dorba, Rausschmeißer der „Tanzenden Schaluppe", langsam aber sicher auf den Tisch zusteuerte.
    „Ich hab den Käptn angebrüllt, daß die uns entern wolln, damals im Sturm. Aber was macht der? Schlägt mirs Messer ausser Hand, und sagt ich soll mich nich so ham! Das war son Ausländer, weiß nich woher, und hat mich für verrückt erklärt. Hat gesagt, das hätt ich mir nur eingebildet, und mich beim nächsten Landgang glatt gefeuert. Un keiner der annern Jungs hats mir geglaubt. Scheiß auf die gute Heuer, bin nimmer dahin mitgefahrn, bei keinem nich. Und mein gutes Messer war auch weg - hätt mich nich mal wehren können gegen die."
    Dorbas schwere Hand legte sich auf Gewans Schulter.
    „Jetzt langts mal wieder, Vatter. Reg dich mal wieder ab, sonst wars das mit dem Bier für heute."
    „Aber der glaubts mir nich! Und die alle auch nich!" Gewans anklagende Geste umfasste die Gäste der Spelunke und die ganze restliche Welt.
    „Ich glaub dir, Gewan." Jakkaren, ein alter Mann mit Stummelzähnen, sog an seiner Pfeife. „Ich hab früher Schiffsrümpfe bauen helfen, oben in Dacnice. Die machen immer diese kleinen Griffe dran, völlig nutzlos, dicht überm Wasser. Nen extra Schnitzer gabs für die. Ich hab den mal gefragt warum, und er hat mir von Geistern erzählt, dass die das Schiff übers Meer tragen solln wenns gefährlich wird. Wenn du mich fragst, warn se das: Meergeister. Ham euer Schiff gerettet, da im Sturm. Recht hatter gehabt, dein Käptn, daß der die nicht angreift. Solltest dankbar sein, nicht fluchen."
    Ein iskendischer Maat beugte sich vor.
    „Ich glaube ja, du hast die Seelenhüter getroffen. Sie treiben die Seelen der Ertrunkenen zusammen, und hüten sie, damit sie nicht hinauf zu den Lebenden steigen. Sie warten nur darauf dass einer ertrinkt. Aber wer weiß schon, ob sie nicht manchmal nachhelfen..."
    „Ich weiß zufällig, dass es genau andersherum ist", warf ein glattrasierter Händler ein. "Ich komme nämlich grade vom Nordwesten, Seihseide kaufen und so weiter. Dort erzählt man, die Herrin der Wasser habe Piraten und Meuterer in ihre Dienste gezwungen und ihnen Schwänze wie sie Tuikh haben angezaubert. Man sagt, dass ihre Leiber das Grüngrau des Wassers annehmen. Sie müssen so lange mit den Wellen schwimmen, unsichtbar in der Nähe jeden Schiffes, bis sie ihre Schuld abbüßen, indem sie Menschen in Seenot zu Hilfe kommen. In den Steilhangdörfern hat fast jeder so ein Pfeiflein um. Einfach nur reinblasen und Rettung naht."
    "Also ich wollte mich ungern von verfluchten Verbrechern retten lassen," murmelte Telares trocken, schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Bier.
    "Na, die Lebenden hören es ja auch, vor allem wenns mal wieder Nebel hat. Ich glaube ja, dass die Legende davon kommt." Der Händler zwinkerte verschwörerisch. Er tastete in seiner Gürteltasche herum, und fand was er suchte. "Hier, so eins ist das… seht ihr? Mit Göttinzeichen drauf, hab ich für meine Jüngste daheim gekauft. Und bis dahin muss ich nur, wenn ich in Seenot gerate…", und er setzte das fingerlange Pfeifchen an die Lippen. Ein hoher, langgezogener Pfiff erschrillte, brach jedoch sofort wieder ab, als Gewan aufsprang.
    "Biste wahnsinnig, Gischthirn?! Du lockst die her damit!", ereiferte sich der Alte. Er sprang auf und wollte mit bloßen Fäusten auf den Händler losgehen, der -
    "Halt!"
    Kapitän Telares duldete keine Schlägereien in seiner Gegenwart. In einer fließenden Bewegung war er von seinem Platz aufgestanden und verstellte Gewan nun den Weg.
    Gewan stierte ihn sekundenlang an, blinzelte dann unter dem unnachgiebigen Blick.
    "Wir sind uns", sagte Telares langsam, "denke ich einig, dass das Meer uns allen sehr gefährlich werden kann. Ist das nicht so?"
    "Uh… ja…"
    Der Kapitän nickte unmerklich. "Dann wäre das ja geklärt."
    "Ja", Gewan atmete schwer. "Kapitän." Er kniff die Augen zusammen, als versuche er sich zu erinnern, warum er sich so aufgeregt hatte.
    Sein Sohn stand direkt hinter ihm, deswegen konnte Gewan nicht sehen, wie Dorbas Mundwinkel anerkennend zuckten.
    "Wird Zeit, die Fensterläden zu prüfen, Vatter. Hilfste mir?"
    "Ja, ja ich helf dir. Is wohl besser, wenn wir die richtig fest verschließen. Sicherer. Komm, gehn wir gucken."
    Hinter den beiden Männern flammten langsam die ersten Gespräche wieder auf. Die Flöte begann zu trillern, und Stühle ruckten hin und her, als die Männer es sich wieder bequem machten. Einer von ihnen hielt auf dem Weg zur Latrine wie zufällig bei dem Händler an. "Äh, sag mal, guter Mann. So als Händler… hast du noch wo so ne Pfeife?"
    "Nun… ich hatte noch ein paar für meine Verwandtschaft gekauft. Ich hab ne große Familie. Aber für dich könnt ich vielleicht schon noch eine über haben. Magst du eine mit Wellenmotiv oder Yulzeichen drauf?"
    Telares am Tisch nebenan seufzte.
    "Na komm, Holdeste", murmelte er, tätschelte den Klangkörper seiner Ykaar und schlug sie dann wieder in ihr wasserdichtes Leder ein. "Das wars für heute. Krach genug gibts ja jetzt."
    Er warf ein paar Münzen auf den Tisch, kehrte der "Tanzenden Schaluppe" den Rücken und marschierte die paar Meter zum Hafenbecken, Richtung "Qualle".
    Sein langjähriger Matrose Pagnel, der dort wachte, hob die buschigen Brauen. "Nanu, Käptn? So gut wie nüchtern?"
    "Ich sag nur Yulpfeifen. Diese Dinger verbreiten sich wie eine Plage."
    Der andere wiegte den Kopf. "Sie werden wieder aus der Mode kommen wenn sie keine Wirkung zeigen."
    "Sag das Kkoui und seinen Kopfschmerzen. Jeder wird seine Pfeife testen wollen - und er kann bei dem Wellengang noch nichtmal aus dem Hafen flüchten."
    "Aber er hat immerhin von unserem besten Bienenwachs. Und das kalte Wasser des ganzen Ozeans um seine Schläfen zu kühlen."
    Telares grinste. "Da hast du auch wieder recht."
    In den tanzenden Wellen nahe der Ankerkette brodelte das Wasser. Der Wind trug ein hohes, mitleidheischendes Quieken herüber.
    "Ich weiß, mein Freund, ich weiß", murmelte Telares, nestelte ein fingerlanges Pfeifchen unter seinem Überwurf hervor und blies eine kurze Tonfolge hinein, die er selbst nicht hören konnte. "Versuch einfach zu schlafen."


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    Wer durch das zwanzigste Türchen schwimmt, sieht vor sich eine Siedlung, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat, denn kein Mensch vermag so tief und ausdauernd zu tauchen…



    Seetangbande


    In den oberen Bereichen des Tangwalddorfs war es immer noch zu ungemütlich um dort zu übernachten. Das Meer war zwar nicht mehr so aufgewühlt wie noch vor wenigen Wochen, aber die Sturmwogen ließen immer noch wirbelnde Säulen aus Luftblasen zwischen den dicken Kelpsträngen tanzen. In den oberen Flechtnestern zu schlafen wäre wie der Versuch gewesen, an ein bockiges Tuikh geschirrt ein Nickerchen zu halten.
    An Abenden wie diesen zogen sich die Leute in die unteren Bereiche des Dorfes zurück, wo die Wasser ruhiger waren und das gelbliche Glühen der Schwärmer in ihren Käfigen eine gewisse Tröstlichkeit in den mit Treibholz verstärkten Sturmnestern vermittelte.
    Vor stürmischen Laichlingen boten die Sturmnester jedoch keinen Schutz.
    "Papa, Yhquyik will mir nichts vom Krill abgeben!" quietschte Ouyioy - seine Jüngste - entrüstet, und klickerte ihren Bruder böse an.
    Aus seiner Konzentration gerissen, ließ Kkouioquikkiqui den kleinen Treibholzrahmen mit der miniaturisierten Strömungskarte sinken, die er studiert hatte. "Sohn, wie viele Klappen hat der Esskorb?"
    "Ja ja, sie kriegt's ja schon. Damit sie mal richtig lernt zu essen, und nicht immer das halbe Abendessen hinterher im Nest rumschwimmt…", stichelte Yhquyik.
    Kkouioquikkiqui holte tief Wasser, schloss die Augen und zählte auf menschlich bis acht. Erst als er die unaussprechlichen Zählworte in seinem Geist fehlerlos vergegenwärtigt hatte, öffnete er die Augen wieder. "Ihr wollt doch beide, dass ich euch vor dem Schlafengehen noch weitergebe, oder? Ich habe euch schon mindestens sechzehn mal sechzehn Mal weitergegeben warum wir nicht streiten sondern teilen, damit das Dorf gedeiht. Wollt ihr das heute abend wirklich nochmal hören?"
    "Nein, Papa."
    "Bloß nicht!"
    "Dann ist ja gut." Kkouioquikkiqui hatte wie die meisten Erwachsenen auch keine Lust, diese bestimmte Geschichte seinen Kindern schon wieder zu erzählen, hatte er sie doch aus seiner eigenen Kinderzeit noch gründlich satt. "Überlegt euch - ohne zu streiten! - schonmal, was ich euch dann weitergeben soll."
    "Die Flutgeschichte!"
    "Mit dir und Tangkopf drin, ja, Papa?"
    Bei der Heiligqualle, sie waren sich tatsächlich einmal einig! "Gut. Aber erst wird aufgegessen, und dann schwimmt ihr beide zusammen raus zum Vorratskäfig und füllt den Korb für eure Mutter wieder auf. Sie wird hungrig sein wenn sie nachher vom Netzeweben kommt."
    Die Stirnflecken der beiden pulsierten bestätigend, und sie beugten sich über den Krillkorb. Gefräßige Stille erfüllte das Nest, und nach einer Weile schwammen die zwei einträchtig hinaus, um seinen Auftrag zu erfüllen. Kkouioquikkiqui nutzte die Ruhephase bis zu ihrer Rückkehr, um sich die paar Sauerlarven im Tangmantel einzuverleiben, die noch vom Frühmahl übrig waren - und die Krillkrebschen zu vernaschen, die seiner Tochter beim Essen entwischt waren. Ihre Mundwinkeltentakel waren einfach noch nicht lang genug um richtig zuzupacken.
    Es dauerte nicht lange und die Türklappe ging wieder auf.
    "Da sind wir wieder!" quiekte Ouyioy, und Yhquyik hängte den Krillkorb in eine der Strömungsrinnen, damit die Krill nicht in einer schlecht durchströmten Ecke des Nests erstickten. "Fertig, Papa! Weitergeben, weitergeben, weitergeben!"
    "Dann mal rein in eure Schlafschlingen." Bis Kkouioquikkiqui sich vergewissert hatte dass der Krillkorb richtig zu war, schlüpften die beiden mit den Schwänzen in ihre Hängeschlingen, damit sie im Schlaf nicht im Nest herumtrieben.
    Kkouioquikkiqui setzte den dichter gewebten Nachtkorb auf den Lichtkorb mit den Schwärmern, und es wurde schummrig im Nest. Er ließ sich zwischen die zwei Kinder sinken, legte seine Echtarme um sie und begann, wie er jedes Mal begann…
    "Einmal vor langer Zeit, schenkte uns die heilige Qualle das Licht der Erkenntnis. Wir reichen es weiter, von ihr zu uns, von dir zu mir, von mir zu euch. Drum lauscht und lernt und macht es ebenso. Vor vielen Jahren, als ich noch nicht den Hochzeitsknoten mit eurer Mama geknüpft hatte, da wollte ich die Meere sehen und ging auf Reisen. Drei Jahre schwamm ich mit den Karawanen von einer Seeoase bis zur nächsten, sogar zum Heiligen Berg schwamm ich und opferte da, und viele Freunde traf ich nah und fern, die gaben ihr Wissen an mich weiter: wie man Tauschhandel treibt, wie man den Tuikh ruft und vor die Floße schirrt, wie man die Federflitzer jagt, die durch die wasserlose Leere schwimmen, wie man sich gegen räuberische Fische wehrt und die ungehobelten Menschen meidet, die so mutig auf den Meeren reisen obwohl sie die einfachsten Dinge nicht wissen, und die meisten sogar nichtmal, dass wir hier wohnen. Doch…-"
    "Wieso ist das mutig von den Menschen?"
    "Ganz einfach: wir sind hier zuhause, die Menschen nicht. Sie können von ihren seltsamen Schüsselflößen jederzeit ins Wasser fallen, und dann sterben sie. Stellt euch vor wir würden uns beim Federflitzerfangen vorsehen müssen, nicht in den Himmel zu fallen weil wir da vertrocknen, hm? Aber jetzt hört weiter:
    Eines Tages, mitten auf dem Meer, traf uns ein Sturm. Ein paar von uns tauchten mit den Tuikh ab, doch ich und ein paar andere wir blieben oben, um die Floße zu hüten, und banden uns drauf fest, um sie nicht zu verlieren. Auf den Wellen tanzten wir, und wurden hin- und hergeworfen, aber der Sturm war heftig und trieb die Flöße auseinander, bis ich mit meinem ganz alleine war. Das Meer wurde immer wilder, und ich mußte mich mit aller Kraft festhalten. Das Floß war wie ein bockiges Tuikh, und das Meer war stärker. Das Floß zerbrach in seine Teile, riß mich los, mir donnerte eine Strebe an den Kopf, und das letzte was ich sah ist, wie von ferne eine große Welle kam, dann wurde alles schwarz um mich."
    "Die Flutwelle!!" quietschten Ouyioy und Yhquyik im Duett.
    "Ja. Sie trug mich mit sich, weiter zur Küste hin. Die Sturmflut war so heftig, dass sie über den Strand kletterte, weiter hinein über die Dünen, und alles was da kam wurde von ihr mitgerissen, bis sie nicht mehr damit spielen wollte, und deshalb ist das nächste, was ich weiß, wie ich an der Luft aufwache, kaum mehr richtig atmen kann weil meine Haut so trocken und meine Wasserlunge fast leer ist, und ich starke Schmerzen in der Seite habe, und eine dicke Beule am Kopf. Und ratet mal wer mich so fand."
    "Tangkopf!"
    "Genau. Er hat sich über mich gebeugt, und diese vielen Haare, die die Menschen haben, hat er geflochten wie kleine Seile die von seinem Kopf hängen, und sie wackeln hin und her wie Tangstränge in den Wellen, nur dass die nach oben wackeln und Tangkopfs Haare wackeln nach unten."
    "Wieso hat er dir geholfen?" wollte Yhquyik wissen.
    "Weil Tangkopfs Papa ein kluger Mann war, und sein Wissen an ihn weitergegeben hat, und Tangkopf wußte dass Leute einander helfen sollen wenn sie können. Er hat mich mit Wasser übergossen, und ist dann nochmal fort und hat ein seltsames Tier geholt, das ein Festlandfloß ziehen kann. Damit hat er mich zu einem ihrer Tuikhhirten gebracht, der wußte wie man meine Wunde an der Seite heilen kann, und mich in ein flaches Becken gelegt hat, bis es mir besser geht."
    Kkouioquikkiquis Gesichtsflecken flimmerten leicht im Halbdunkel, als er sich an diese schmerzhafte Zeit erinnerte. Die Narbe war ihm bis heute geblieben, ein flacher Wulst an der Seite, der aber selbst beim schnellen Schwimmen kaum bemerkbar war.
    "Es hat wochenlang gedauert bis ich wieder richtig schwimmen konnte. In der Zeit ist Tangkopf ganz oft da gewesen, und weil er so neugierig und mir so langweilig war, haben wir probiert zu reden. Der Tuikhhirte hatte eine alte Signalflöte, damit kann man rufen, und Ja und Nein und ganz leichte Sachen sagen, weil die Tuikh ja auch gut hören können. Später habe ich ihm dann eine richtige gemacht, die er nehmen kann. Die Menschen sind ja fast taub, sie hören dich überhaupt nur wenn du _ s o _ t i e f _ sprichst."
    Ouyioy klickerte fröhlich, und versuchte - mit wenig Erfolg - genauso tief und langsam zu quieken, was Yhquyik natürlich auch gleich probieren mußte.
    Kkouioquikkiqui rubbelte den beiden liebevoll über die Köpfe. "Es ist komisch mit Tangkopf, wißt ihr - er kann kein Heiliglicht rufen, um von Geist zu Geist direkt zu sprechen, aber wenn ich es rufe kann ich zu ihm sprechen. Es ist fast als wäre es doch irgendwo in ihm drin. Am Anfang als ich das mit dem Geist-Geist-sprechen rausgefunden habe, hatten wir beide oft Kopfschmerzen, aber es war interessant, und wir haben einander dadurch viel mehr weitergegeben als nur Ja und Nein. So haben wir gelernt dass wir uns mögen, den Freundschaftsknoten zwischen uns geknüpft, und den Rest wißt ihr."
    Yhquyik blinzelte. "Wann kommt Tangkopf dich wieder abholen, Papa?"
    "Wenn die Wasser ruhiger sind. Spätestens wenn der Tang beginnt zu blühen."
    "Dürfen wir ihm wieder hallo sagen wie das letzte Mal?" fragte Ouyioy schläfrig.
    "Kommt drauf an wie oft ich euch noch eine bestimmte Geschichte weitergeben muss. Jetzt schlaf, Ouyioy."
    "Gibst du uns morgen weiter wie ihr mit seinem Schüsselfloß zwischen den Lucchai-Inseln durchgefahren seid? Oder wie ihr…."
    "Gute Nacht, Yhquyik", unterbrach ihn Kkouioquikkiqui sanft.
    Yhquyiks Augen waren schon beinahe zu. "Nacht, Papa…"
    Ein Weilchen ließ sich Kkouioquikkiqui noch bei ihnen im Wasser treiben, dann traf ihn ein grüßend gespieener Wasserschwall - lautlos um die Kinder nicht zu wecken - an der Schulter. Er drehte sich um. Seine Frau Thikkyouiqui schwebte in der Türklappe. Er schwamm zu ihr hin, und sie legte ihre Stirn an seine.
    "Da bin ich endlich. Hat länger gedauert heute abend. Schlafen sie schon?"
    "Grade so. Wir haben noch Krill für dich."
    "Ah, ich hatte schon Meeresameisen vorhin. Der Kelpstrang neben dem Versammlungsnest war befallen, da haben wir sie aufgesammelt und gleich gegessen."
    "Dann gibt's die Krill morgen zum Frühmahl. Die Sauerlarven sind nämlich alle."
    "Wie lief's mit den Kindern? Was mußtest du ihnen weitergeben? Doch nicht etwa schon wieder…?"
    Ihre Gesichtsflecken pulsierten ihn neckisch an.
    "Nein, sie waren brav. Sie haben sich die Flutgeschichte gewünscht."
    "Ah." Thikkyouiqui drehte sich um und hakte die Türklappe ein. "Wo wollt ihr denn diesmal hin?"
    "Vielleicht zu dieser Menschenstadt in der Nähe von Drei-Süßquellen-Dorf. Tangkopf sagt, die Menschen machen dort guten Stein, der Licht durchlässt. Können wir sicher gegen Perlen oder irgendwelches Essen tauschen oder so, ich muss nochmal mit Tangkopf drüber reden."
    Seite an Seite schwammen die beiden zu ihren Schlafschlingen. Kkouioquikkiqui half seiner Frau hinein.
    "Bringst du mir wieder von diesem Zeug mit, dass man in heißem Süßwasser einweichen muss?"
    Kkouioquikkiqui glitt in seine Schlinge neben sie. "Meinst du Tee?"
    "Mhmm, ja."
    Als Thikkyouiqui ihre Brustfinger mit den seinen verschränkte und Kkouioquikkiqui seine Echtarme um sie legte, kitzelte ihn auf einmal etwas am Augenwulst. "Was…uh…?"
    Ihrer beider Gesichtsflecken pulsierten amüsiert, als ein einzelnes verirrtes Krilltierchen eifrig rudernd zwischen ihren Köpfen hindurchschwebte. Kkouioquikkiquis Mundwinkeltentakel schlugen aus, fingen das Tierchen und schoben es zärtlich in Thikkyouiquis Mund.
    Ihre Gesichtsflecken pulsierten mit einem Hauch von rosa, als sie es einsaugte, und sie schmiegte sich an ihn. Während Kkouioquikkiqui in Wachstarre verharrte, und der Heiligqualle mit einem kurzen Gebet für sein Leben, seine wunderbare Frau, seine aufgeweckten Kinder und seinen ungewöhnlichen Freund dankte, schlief Thikkyouiqui in seinen Armen ein.


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