Ein Ausschnitt aus dem Lebens eines *hüstel* Kriegshelden der Arunier nach Ende des Krieges.
Pflichtbewusst
Der Mann kniete nieder. Mit den Händen schöpfte er Wasser und trank so schnell er konnte. Es schmeckte beißend salzig und bitter. Ein Geschmack, der an Tränen erinnerte, aber viel stärker war. Es kostete ihn große Überwindung, nicht alles sofort wieder hochzuwürgen.
Er griff in seine Tasche und holte eine Flasche mit süßem Wasser hervor. Daraus trank er bis der abstoßende Geschmack aus seinem Mund verschwunden war. Langsam spürte er die Wirkung. Von einem angenehmen Gefühl zu sprechen wäre übertrieben. Es erinnerte viel mehr an einen betäubten Schmerz, der wieder hervorbrechen würde, sobald die Wirkung der Droge nachließ.
Die Gabe, einst Mittelpunkt seines Lebens, war zur Qual geworden. Wie ein Parasit, der ihn von innen heraus auffraß, oder wie die kleinen Dämonen abergläubischer Geschichten, die dem Menschen zuerst dienten, bevor sie sich des Nachts auf seine Brust krallten, bis er erstickte. Jämmerliches Ersticken gehörte zu den Dingen, die er fast jede Nacht in seinen Albträumen erlitt.
Viel zu laute, fröhliche Stimmen und Geplätscher drangen an seine Ohren. Eine Gruppe von jungen Elementarmagiern spielte im Wasser.
„Hört auf euch vollzuspritzen“, mahnte ihre Ausbilderin. „Für Leute ohne Gabe kann das gefährlich werden. Sie vertragen das viele Salz nicht.“
Widerwillig gehorchten die jungen Leute. Auf ihren Spaß verzichteten sie nur ungern. Dann bemerkten sie den Fremden und schauten ihn neugierig an. Das überraschte ihn nicht. Sein rotes Haar und seine blasse Haut fielen hier in Avechain sofort auf.
Auch die Ausbilderin bemerkte ihn. „Wandre in Frieden“, sagte sie.
Er wusste, dass das die übliche Grußformel in Avechain war. Zynisch kam es ihm trotzdem vor.
Die knappe Badekleidung der avecheyanischen Magierin ließ viel braungebrannte Haut unbedeckt. Der Besucher bemerkte das nur am Rande. Seine Aufmerksamkeit wurde fast vollständig vom Element der Magierin in ihren Bann gezogen. Calcium, so wie Dorea, seine Frau, die ihn verlassen hatte. Dorea. Sie waren sich einmal so nahe gestanden.
„Kann ich Euch helfen?“, fragte die Calciummagierin.
Sah er so verloren aus? Vielleicht hatte sie auch einfach häufiger mit Gästen zu tun, die den Weg zu den Gasthäusern nicht mehr fanden.
„Vielen Dank, aber ich komme zurecht. Ich mache nur einen kleinen Spaziergang.“
Für was rechtfertigte er sich eigentlich? Er hatte alle Papiere unterschrieben und durfte sich in diesem Land aufhalten.
„Ich dachte nur.“ Sie hielt inne, offenbar wusste sie nicht mehr genau, was sie gedacht hatte. „Eure Gabe ist sehr stark.“ Einen Augenblick lang wirkte sie nachdenklich. „Ihr seid Rabanus Ostreatus, nicht wahr?“
„Das ist richtig“, sagte Rabanus. Machte es diese verfluchte Gabe so einfach ihn zu erkennen?
Die Frau runzelte fast unmerklich die Stirn. „Ich weiß, was Ihr getan habt.“
„Ich habe meine Pflicht getan“, entgegnete Rabanus kühl.
Hörte das denn nie auf? Reichte es nicht, wenn seine Arunier ihm furchtsam aus dem Weg gingen oder hinter seinem Rücken über ihn redeten? Auch die Novizen, oder wie auch immer die Avechai ihre jungen Magier nannten, hörten nun aufmerksam zu. Er überlegte kurz, ob er die Avechai an die Gräueltaten der Ruarier erinnern sollte. Rabanus entschied sich dagegen. Vermutlich wusste sie davon sowieso. Die Avechai hatten schließlich Truppen geschickt, um auf Seiten der Arunier zu kämpfen.
„Den ruarischen Schergen und Soldaten gönne ich jeden Tod“, sagte die Calciummagierin. „Aber was ist mit all den Frauen und Kindern und Alten? Den Flüchtlingen in Weska?“
Warum wurden diese Geschichten sogar hier in Avechain erzählt? Diese Leute in ihrer friedlichen kleinen Welt hatten doch keine Ahnung vom Krieg, würden nie begreifen können.
„Ich habe nichts getan, was nicht notwendig war, um diesen Krieg möglichst schnell zu beenden. Mit einem freien Silaris und nicht unter den Joch der Ruarier. Und jetzt entschuldigt mich bitte.“
Rabanus wandte sich ab und ging weiter. Er hatte alles richtig gemacht. Es gab überhaupt keinen Grund daran zu zweifeln.
Die avecheyanische Sonne brannte heiß vom strahlendblauen Himmel. Hier am Strand des Salzmeers wuchsen keine Pflanzen, doch drüben in der Stadt konnte er selbst von hier aus die Palmen sehen. Palmen, nicht die Bäume des Landes, das er liebte.
Warum war er davongelaufen? Fort, in dieses Land, das nicht seines war, in dem man ihn allenfalls duldete. Nein, er war nicht davongelaufen. Um seine Gesundheit stand es nicht so gut und er hatte gehofft, die Schwierigkeiten mit seiner Gabe hier am Salzmeer in den Griff zu bekommen. Und er wollte nicht, dass ihn die Menschen, die ihn kannten, schwach sahen. Das auch.
Rabanus erinnerte sich noch genau daran, wie es gewesen war, als er diesen Ort zum ersten Mal besucht hatte. Er war kaum älter gewesen als die Schüler der Calciummagierin und genauso unbeschwert. Die anderen waren auch dabei gewesen. Dorea, Valerius, Lucasta. Der Ort hatte ihnen allen Kraft und Zuversicht gegeben. Nun ja, bei Lucasta konnte es nicht am Wasser liegen, von ihrem Element gab es hier nicht allzu viel, doch sie hatte sich anstecken lassen.
Rabanus war sich sicher gewesen, dass es wieder so sein würde. Wenn er sich irgendwo erholen konnte, dann hier. Jetzt lebte er schon seit zwei Jahren am Salzmeer und nichts hatte sich gebessert. Die Mengen an Salz, die er in sich hineinstopfte waren längst nicht mehr gesund. Erleichterung brachten sie ihm nur kurzfristig.
Manchmal dachte er darüber nach, einen der erfahrenen, avecheyanischen Adepten um Rat zu fragen, doch er konnte sich nicht dazu aufraffen. Er wollte nicht, dass sie ihn für einen Schwächling hielten. Das würden sie tun, erstrecht, wenn sie auch noch von den Träumen erfuhren.
Albträume waren etwas für ängstliche Frauen. Oder für Männer, die zu feige waren, um zu töten. Von denen hatte es einige gegeben. Teilweise brauchte es Drogen und Elektroschocks, damit die ihre Pflicht wieder erfüllten, jedenfalls hatte er so etwas munkeln hören.
Rabanus war nie ein Feigling gewesen. Er war immer an vorderster Front dabei. Anders als Valerius, der nicht mit ansehen konnte, was der Sprengstoff und das Gift anrichteten, die seine Firma im sicheren Daris Kaja zusammenbraute. Valerius hatte kräftig verdient am Krieg. Jetzt baute er auch in Ruaris Fabriken. Einer der reichsten Männer Aruniens. Rabanus schüttelte den Kopf. Wenn ihm früher jemand gesagt hatte, dass sein Freund einmal so werden würde, hätte er ihn für verrückt erklärt. Die Ideen, die seine Firma erfolgreich gemacht hatten, stammten fast alle von Rabanus, aber das hielt die Leute nicht davon ab, alles, was ihnen gefiel, Valerius zuzurechnen.
Er schrieb Rabanus jede Woche und bekam schöne Worte über das Wetter und die gastfreundlichen Avechai zurück.
Ob die toten Arbeiterinnen ihn wohl auch manchmal in seinen Träumen heimsuchten?
Rabanus nahm den anderen Brief aus seiner Tasche und las ihn zum zweiten Mal.
Mein Freund Rabanus,
ich hoffe, die Seeluft tut ihre Wirkung und es geht dir besser. Gerne würde ich dich wieder einmal besuchen, aber zurzeit kann ich hier nicht weg. Du wirst es nicht glauben, aber die Zirkelräte wollen tatsächlich wieder alles aufgeben, was wir im Krieg erreicht haben. Alles wieder so machen wie früher. Dasselbe Pack, mit dem wir damals zu kämpfen hatten. Edelgasmagier, Edelmetallmagier, all diejenigen, die überhaupt keinen Beitrag zur Verteidigung unseres Vaterlands geleistet haben. Jetzt wollen sie wieder bestimmen und den einfachen Menschen den Zugang zum Zirkel verwehren. Nach allem, was sie und ihre Familien im Krieg geleistet haben. Es ist eine Schande.
Ich weiß von deinen gesundheitlichen Problemen, aber glaubst du nicht, dass du nicht vielleicht doch nach Arunien zurückkehren könntest? Unsere Pflicht ist noch nicht erfüllt. Der Krieg gegen Ruaris ist gewonnen, aber wenn wir diesen Dummschwätzern die Macht im Alchimistenzirkel überlassen, hat Arunien trotzdem verloren. Ohne dich hätten wir es selbst während des Krieges nicht geschafft zu verhindern, dass sie so vielen unserer jungen Leute die Ausbildung verweigern. Wenn du uns helfen würdest, können wir sie zum Schweigen bringen, dieses Mal für immer.
Bitte denk darüber nach.
In Freundschaft
Lucasta Clossiana
Rabanus faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn weg. Lucasta, immer wieder Lucasta. Er erinnerte sich noch genau daran, wie sie ihn damals an der Universität von Ergalla immer wieder ermahnt hatte, seine Pflicht im Krieg zu tun. Als Adept des Alchimistenzirkels und Hochschullehrer wäre er dazu nicht gezwungen gewesen. „Ich würde ohne Zögern für mein Land kämpfen, wenn sie mir dies gestatten würden“, hatte sie immer wieder gesagt. Damals war er sich nicht sicher gewesen, ob sie die Wahrheit sprach. „Ich würde, wenn ich dürfte“, konnte man leicht sagen.
Inzwischen kannte er die Antwort. Ihre Zeit war gekommen. Irgendwann konnte das arunische Militär einer so begabten Magierin wie ihr den Einsatz im Krieg nicht mehr verwehren.
Er erinnerte sich noch genau an das Duell der Phosphormagier, in dem es Lucasta gelungen war, einen Feind zu vernichten, der dasselbe Element beherrschte wie sie. Das war überaus schwierig. Rabanus selbst hatte nie die Gelegenheit bekommen zu beweisen, ob auch er dazu in der Lage war. Auf Seiten der Ruarier kämpften keine Chlormagier. Sie starben während der Ausbildung, liefen fort oder wurden von ihren Familien versteckt. Inzwischen machten wohl einige rührende Geschichten darüber die Runde in Arunien. Rabanus hatte sich nie für sie interessiert.
Eins war ihm jedoch klar: Die Unfähigkeit der Ruarier, ihre Elementarmagier sinnvoll auszubilden, war eine wichtige Ursache für ihre Niederlage. Bei allen Fehlern und allem albernen Brimborium, solche Probleme gab es in Arunien kaum. Es konnte also nicht alles schlecht sein, was die Alten für wichtig hielten.
Inzwischen maßte sich Rabanus nicht mehr an alleine entscheiden zu können, was wichtig war und was nicht. Er erlebte am eigenen Leib, wie es war, wenn sich die eigene Gabe gegen einen selbst wandte und konnte nichts dagegen tun.
„Wenn du uns helfen würdest, könnten wir sie zum Schweigen bringen, dieses Mal für immer.“ Sprach Lucasta hier nur von Argumenten, oder stellte sie sich eine endgültige Lösung anders vor? Rabanus hielt letzteres durchaus für wahrscheinlich. Nach dem langen Krieg fiel ihnen das Töten leicht, aber weise wäre es in diesem Fall nicht, davon war er überzeugt.
Der Krieg war vorbei und sie hatten ihn nicht gegen ihre eigenen Landsleute geführt. Dieser Konflikt musste anders gelöst werden und es war seine Pflicht, dafür zu tun, was er konnte.
Rabanus bog in die Straße ein, die hinauf in die Stadt führte. Er musste zum Bahnhof, um sich eine Fahrkarte zu kaufen. Eine Fahrkarte nach Ergalla.