Meiner Meinung nach hat das Konzept der Mary Sue vor allem im Fanfiction-Bereich seine Berechtigung und davon abgeleitet dann auch überall dort, wo der Mode nachgegangen wird, ältere Werke ohne Beteiligung weiterzuspinnen. Bei Fanfictions wird damit nämlich eine Figur bezeichnet, die sowohl durch ihre Fähigkeiten als auch durch ihre sozialen Interaktionen die etablierten Regeln des Settings sprengt. Das führt dann dazu, dass so keine gute Geschichte mehr erzählt werden kann, weil die Mary Sue keine Herausforderungen hat und gleichzeitig die Leistungen und Fähigkeiten der etablierten Figuren entwertet werden.
Ich will den Leuten definitiv nicht ihre putzigen Begrifflichkeiten kaputt machen. Wenn die Fanfiction-Community unbedingt das Wort "Mary Sue" benutzen will, obwohl sie dadurch am eigentlichen Problem vorbeidenken, dann sollen sie mal machen.
Wenn die eigentliche Definition des Begriffs nicht so umstritten wäre, das mir sogar in diesem Thread dauernd neue Definitionen geliefert werden, dann würde ich sogar sagen, der Begriff ist eigentlich ok, weil er den Leuten zwar eine völlig falsche Art über Geschichten nachzudenken liefert, aber der Begriff als eine Art Multifunktions-Werkzeug dient, dass halt manchmal nicht funktioniert, weil das Werkzeug nicht auf das eigentliche Problem zugeschnitten ist.
Aber weil der Begriff zig Definitionen hat, wissen die kritisierten im Regelfall nicht mal, was sie falsch gemacht haben. Der vorhin benannte Vorteil, das zwei Worte so mehrere Absätze ersparen, ist also Quatsch, weil die Leute die Absätze brauchen, um die Worte zu verstehen.
Ich mag deine Definition Amanita. Was Mary Sue-Definitionen angeht ist sie ziemlich gut. Ich würde die Kritik nur eben weniger an einer authentischen Wiedergabe der Regeln eines Originalsettings festmachen, weil ich persönlich definitiv eine Fanfic lesen würde, wo Sherlock Holmes die Gadgets von Inspector Gadget besitzt und in sozialen Interaktionen bewundert wird. Oder wo Xena auf einmal die Top-Diplomatin von Themiscyra wird und unrealistisch positive Aufmerksamkeit bekommt und einen Gegenstand erhält, mit dem sie ohne Probleme die Götter zerstören kann. Weil sich so auch gute Geschichten erzählen lassen, ist Mary Sue eben in der Hinsicht kein Problem, denke ich.
Vielleicht hilft ein Verweis auf die Serie "One Punch Man". Der Protagonist, Saitama, ist ein Superheld der mit einem einzigen Faustschlag absolut alles kaputt machen kann. Ein einziger Faustschlag tötet z.B. Godzilla. Bis etwa Episode 7 ist die Serie dadurch eingeschränkt, weil der Autor Tomohiro immer wieder ziemlich absurde Gründe erfinden muss, weshalb ein Kampf gerade nicht stattfinden kann. Aber in Episode 7(?) erkennt Saitama, dass er durch seine Kraft anderen Leuten den Wind aus den Segeln nimmt und das seine Sofort-Siege der Bevölkerung keine Inspiration liefert, weil sie selbst oft mit Problemen im Leben kämpfen müssen, er selbst aber nicht. Und auf einmal hat Saitama einen wirklich interessanten Konflikt, muss einen Kampf liefern ohne zuzuschlagen. Muss sich verprügeln lassen und leiden, um dieses Ziel zu verfolgen. Muss anderen Leuten die Chance geben, ihn zu retten. Und, weil der Feind seinen "Rettern" hoffnungslos überlegen ist, muss Saitama den Gegner am Ende zur Strecke bringen sich aber gleichzeitig eine Coverstory einfallen lassen, damit alle das Gesicht wahren.
Auf Fanfiction übertragen heisst das: wenn eine Figur "sowohl durch ihre Fähigkeiten als auch durch ihre sozialen Interaktionen die etablierten Regeln des Settings sprengt" und die Fanfic keine passenden Herausforderungen (bzw. Konflikte) liefert, dann werden die Leistungen der Figuren entwertet.
Aber wie gesagt, dazu braucht man (A) nur ein gutes Verständnis von Konflikt und (B) gibt es wirklich viele Definitionen von Mary Sue, also kommt die Kritik nur durch dieses Doppelwort nicht unbedingt rüber.
Herrschaftszeiten, ich kämpf seit Wochen in nem Schriftstellerforum gegen die Manosphere-Horde und versuch aufzuzeigen, warum mancher Tropus Sexismus im RL fördern kann und deshalb nur mit Bedacht benutzt werden sollte - aber hier reicht das mal wieder nicht, hier muß man wieder heiliger als heilig sein und darf sich nicht einen Schritt aus der vorgefertigten Zone herausbewegen.
Ich glaube nicht, dass man im Internet besonders erfolgreich gegen die "Horde" fremder Meinungen kämpfen kann, denn
1. die Leute sind meist stolz auf ihre Meinung und wollen nicht gegenteiliges hören
2. die Leute interpretieren Dinge durch ihre bisherigen Erfahrungen und so kommt auch das richtige Wort in den falschen Hals
3. die Leute wollen manchmal gar nicht wissen, wie Dinge wirklich sind und diskutieren nur, weil sie selbst überzeugen wollen
4. die Leute wissen teilweise, dass sie falsch liegen und es interessiert sie nicht, weil ihre scheinbare Meinung ihnen das gibt, was sie wollen
5. in der Sektenforschung ist inzwischen bekannt, dass die Hauptrekruitierungsmethode von Sekten ("neuen religiösen Bewegungen") die Diskussion ist. Das funktioniert nach der "sunk cost fallacy": je anhaltender die Diskussion, desto grösser die Chance, dass die Gegenseite oder das Publikum nicht wahrhaben will, dass die Diskussion unzufriedenstellend ausgeht... Das gilt nicht nur für Leute, die uns Religion andrehen wollen, sondern auch für Leute, die uns egal was andrehen wollen. Es ist besser, deren Zeug zu lesen und ab und zu Fragen zu stellen, als zu diskutieren.
Gerade das Thema "warum mancher Tropus Sexismus im RL fördern kann" ist eins, auf das sich Manosphere-Leute einlassen, weil sie genau wissen, wie nervös Leute bei der Vorstellung werde, dass irgendwelche Medien die sie selber herstellen oder anschauen als "nicht heilig genug" gelten und attackiert werden. Wenn die Manosphere ihre politischen Rivalen (die sie als Feinde begreift) als neuartige und absurde Religionsgemeinschaft darstellen kann, die im Sinne der katholischen Kirche zensiert, dann ist das sehr effektiv. Gerade darum ist dieses "wokeness in media" Thema beliebt.
Du hast schon Recht. Man kann natürlich die Existenz derart menschenähnlicher Außerirdischer, die sich sogar mit Menschen kreuzen können, hinterfragen - das ist nun wirklich extrem unwahrscheinlich, aber die Macher von Star Trek haben dann auch eine Erklärung dafür geliefert: eine Spezies von "Ur-Humanoiden" (ich weiß jetzt nicht mehr, wie sie heißen), die vor etlichen Millionen Jahren eine Art "genetische Saat" gelegt haben, die die verschiedenen planetaren Biosphären dazu brachte, Humanoide hervorzubringen. Und warum sollte bei Vulkaniern die Pigmentierung nicht in ähnlicher Weise wie bei Menschen von der Sonneneinstrahlung und damit von der geographischen Breite abhängen? Insofern ist es kein großer Sprung von Spock zu Tuvok.
Ähnliches gilt auch für Tolkiens Elben. Wir wissen so wenig über die Avari, dass da fast alles möglich ist. Es ist sowieso schon die Frage, ob solche Wesen realistisch sind - meiner Meinung nach eher nicht. Du erwähnst die Einflüsse realweltlicher Sprachen auf die Elben- und Zwergensprachen, die laut Tolkien viele Jahrtausende früher gesprochen wurden, das ist ähnlich fragwürdig wie die humanoiden Aliens in Star Trek.
Danke, danke! Ich habe gerne recht. Gute Ausführungen übrigens.