Im Laufe des Abends fielen auch die Bilder herunter, wurden aber nicht beschädigt. Schließlich nahm Eroka das Auge vom Kamin und stellte es auf den Küchentisch und ein paar entbehrliche Gläser zur Kontrolle darum. Alles andere, das sich bereits auf dem Küchentisch befand, räumte sie um auf den Wohnzimmertisch.
Die Bilder stellte sie zurück auf den Kaminsims.
Kellen schlief mittlerweile in seinem Bett in Kastas altem Zimmer (sie wohnte eigentlich auf der anderen Seite der Stadt in einer WG).
Und immer noch klingelte es ab und an.
Wieder einmal öffnete Eroka die Tür. Diesmal standen zwei augenscheinliche Menschen, beides Frauen, verkleidet als Rochen und als Möwe davor.
„Guten Tag“, sagte die blonde Möwe.
„Wir sind hier um etwas Spaß zu haben“, erklärte der schwarzhaarige Rochen. „Wir waren schon im Park, aber das war nicht … intim genug.“
„Fischköpfe?“, fragte Eroka, um darauf nicht eingehen zu müssen.
„Frisch?“, fragte der Rochen.
„Nein, eingelegt.“
„Dann nicht.“
Ein Klirren verriet, dass wieder irgendetwas irgendwo heruntergefallen war.
„Was war das?“, fragte die Möwe.
„Hast du es auch gespürt?“, erkundigte sich der Rochen.
Gespürt?
„Ja. Können wir reinkommen?“
Konnte das irgendein Trick sein? Nein, das ergab keinen Sinn. Sie könnten auch einfach so reinkommen.
„Bitte.“
Die Menschen gingen an der Füchsin vorbei und sie folgte ihnen in die Küche. Eines der Gläser lag zerbrochen auf dem Boden. Es war seitlich aufgeprallt, als wäre es umgekippt und über den Tisch gerollt.
„Interessanter Aufbau“, fand der Rochen. „Sie hatten also schon den Verdacht, dass mit dem Auge etwas nicht stimmt.“
„Ja, aber es ergibt keinen Sinn. Mein Mann ist seit mehr als zwei Jahren tot und sein Auge fängt jetzt erst an, Sachen umzuwerfen.“
„Hatte die Fischige Nacht eine besondere Bedeutung für ihn?“, fragte die Möwe.
„Eben nicht.“
„Ist etwas anders als sonst? Ist eine andere Personenkonstellation im Haus?“
„Na ja, ich und mein Enkel Kellen sind allein hier, aber das gab es … Moment, nein. Es ist immer passiert, wenn ich in der Tür war, also …“
„Nicht wirklich drinnen“, ergänzte der Rochen. „Es passiert nur, wenn Kellen allein im Haus ist.“
Das war tatsächlich noch nie zuvor passiert.
„Aber was hat er denn damit zu tun?“
„Glaubt man in der Religion ihres verstorbenen Mannes an Wiedergeburt?“, fragte die Möwe.
Die meisten Bewohner des Zivilisierten Reiches verehrten keine Götter. Sie glaubten an die Erheber, die ihre wilden Vorfahren zu dem gemacht hatten, was sie heute waren oder an die Gestalter, die die frühen Zivilisationen geschaffen hatten oder auch an verschiedene Verkörperungen von Naturgewalten. Aber die wenigsten beteten zu ihnen, verehrten sie, errichteten ihnen Tempel. Das taten nur kleinere Gruppen, die Anhänger des Gehörnten, die roten Eichhörnchen, die zu mächtigen Wächtergeistern beteten, die Anhänger der Erzählerin und die Wolfsstämme, Wiesel, die einen wolfgestaltigen Gott verehrten, dem sie die Fähigkeit einiger von ihnen zuschrieben, sich in wolfsartige Kreaturen zu verwandeln.
Entsprechend gab es auch kaum organisierte Religionen. Neben diversen kleinen Sekten und den Religionen, die von außerhalb kamen, eigentlich nur den Tempel des Gehörnten.
Aber auch ohne einer organisierten Religion anzugehören konnte man an ein Leben nach dem Tod glauben. Und Wiedergeburt war ein recht verbreitetes Konzept auf der Schneeebene.
„Gut möglich.“
„Wann ist Ihr Mann gestorben und wann wurde ihr Enkel geboren?“, hakte die Möwe nach.
Nein. Das konnte doch nicht sein.
„Erster März und fünfundzwanzigster Oktober. Beides 1990.“
„Die anthropomorphen Füchse dieses Kontinents tragen etwa neun Monate, Zeugung also Ende Januar“, rechnete der Rochen. „Es dauert noch etwas, bis eine Seele entsteht oder sich eine existierende einnistet. Möglicherweise kommt noch eine Zeitverkrümmung dazu, Seelen verhalten sich nicht immer ganz linear.“
„Aber mein Enkel kann doch nicht mein Mann sein!“
„Ist er auch nicht“, nahm die Möwe den Faden wieder auf. „Eine normale Reinkarnation bedeutet ein vollkommen neues Leben. Neue DNS, neues Gehirn, neue Persönlichkeit. Keine Erinnerungen an ein früheres Leben. Die kommen erst wieder, wenn die Seele irgendwann womöglich doch in ein Jenseits eingeht.“
„Und was hat das mit dem Auge zu tun?“
„Es könnte auf die Seele seines früheren Trägers reagieren, sie aber nur klar erkennen, wenn keine andere Seele es stört“, spekulierte der Rochen.
„Aber das ist nur ein vergoldetes Glasauge mit Saphiren. Kein magisches oder elektronisches Gerät, das Seelen aufspürt.“
„Das werden wir ja sehen.“
Der Rochen nahm das Auge an sich, ohne zu fragen, und schloss die Augen.
„Keine Trägerstruktur“, stellte er fest. „Aber da ist ein Zauber. In sich selbst gebunden im Inneren.“
„Aber was soll er da? Wie kommt er da hin?“
„Kann ich nicht sagen. Nimm du mal, Anglia.“
Die Möwe nahm das Auge an sich.
„Das ist ziemlich alt. Wo hat er es gekauft?“
„Er hat es sich machen lassen.“
„Auf keinen Fall. Es ist mindestens zweihundert Jahre alt.“
„Aber … warum sollte er gelogen haben?“
„Keine Ahnung. Ich kann den Zauber auflösen.“
Das konnte sie?
„In Ordnung.“
Was man von der Haut der Frau sah, begann regelrecht zu leuchten. Das Licht floss den Arm hinab in die Hand, die das Auge hielt. Diese strahlte kurz wirklich hell und erlosch dann wieder.
„Dieses Artefakt ist jetzt entschärft“, verkündete Anglia, von der sich Eroka nicht mehr so sicher war, ob sie menschlich war. „Aber es ist alt und vermutlich historisch bedeutend. Ich würde es professionellen Archäologen überlassen.“
Sie legte das Auge wieder zurück.
„Danke für die Hilfe“, sagte Eroka, immer noch unsicher, wie viel sie von alldem glauben konnte und was eigentlich gerade passiert war. „Kann ich Ihnen irgendetwas anbieten?“
„Blut“, sagte der Rochen.
„Blut?“
„Frisches Säugetierblut, wenn es geht.“
„Ich hätte ein paar Speisemäuse.“
„Das wäre gut.“
Dass Menschen Blut tranken war eigentlich nicht normal. Dazu kam diese blasse Haut …
Eroka ging trotzdem in die Speisekammer. In dem hell beleuchteten Raum lebten mehrere Speisemäuse in einem Käfig. Die Füchsin nahm einen Beutel von einem Haken an der Wand und fischte ein paar Mäuse aus dem Käfig um ihn zu füllen. Als der Sack einigermaßen schwer war, kehrte sie in die Küche zurück.
„Hier bitte.“
„Vielen Dank“, sagte die Frau im Rochenkostüm.
Sie nahm den Beutel an sich und die beiden gingen wieder raus.
„Einen schönen Abend noch“, wünschte Anglia.
„Und eine gute Fischige Nacht“, ergänzte ihre Begleiterin.
„Ihnen auch“, erwiderte Eroka, immer noch etwas verwirrt. „Ach ja, wenn es das ist, was Sie suchen, meine Freundin Leira feiert eine Party in der 22.“
Die beiden entfernten sich. Eroka blieb noch eine Weile in der Tür stehen.
Konnte das alles stimmen?
Sie blieb noch eine Weile stehen. Lauschte. Nichts.
Und dann klirrte es lauter als je zuvor.
Verdammt. Natürlich hatten die beiden nur Unsinn geredet!
Eroka rannte nach drinnen und fand zu ihrer Überraschung den Versuchsaufbau in der Küche unversehrt vor. Der Küche, in die Kellen nun gelaufen kam.
„Oma! Monster!“
Eroka wagte einen Blick ins große Esszimmer.
Die Herkunft des Klirrens war dort leicht zu erkennen, denn die Glastür nach hinten in den Garten war zerbrochen.
Im Zimmer stand jemand, der sich als Alianbestie verkleidet hatte. Als Meeresalianbestie, genaugenommen, wie am dunkelblauen Rücken, dem weißen Bauch, den Schwimmhäuten zwischen Fingern und Zehen und der zum Ruder umgebildeten Schwanzklinge zu erkennen war.
Es war ohne Zweifel ein Kostüm, man konnte sehen, wo das Kopfstück auf das Oberteil aufsetzte und wo weiter unten die Hose begann. Die Oberfläche sah auch nach weichem Stoff aus, nicht nach hartem Panzer. Außerdem stimmten Proportionen und Haltung nicht für eine Alianbestie. Und schließlich gab es ja gar keine Meeresalianbestien.
Kein Monster also. Aber ein Einbrecher. Und mit etwas an Maul und Krallen, das wie echtes Blut aussah – wobei das Blut am Maul in dem Fall keinen Sinn ergab, denn wie sollte man jemanden mit einem Maskenmaul verletzen?
„Wer sind Sie und was wollen Sie?“
„Mhmmh!“
„Wie bitte?“
„Hmhmh!“
„Gehen Sie bitte wieder. Solange Sie dieses Kostüm tragen, laufe ich Ihnen mit Leichtigkeit davon und rufe die Polizei.“
Das glaubte der Einbrecher offenbar nicht, denn urplötzlich sprintete er auf Eroka zu. Die wich überrascht zur Seite aus und der Kostümierte rammte den Küchentisch. Ohne sichtbare Mühe drehte er sich auf der Stelle um und nahm Eroka wieder ins Visier. Wieder sprintete er los und fiel plötzlich nach hinten um, wobei sein Kopf hart auf die Tischkante prallte.
Eroka brauchte eine Weile um zu erkennen, was geschehen war: Beim ersten Zusammenprall mit dem Tisch musste das Auge herunter gerollt sein und nun war der Einbrecher darauf getreten.
Eroka fragte sich, was jetzt das Klügste war. Die Polizei rufen klang vernünftig. Zur Sicherheit nochmal mit dem Stuhl draufhauen schien auch nicht verkehrt. Fesseln. Fesseln war gut. Der Vorhang vor der kaputten Glastür war eh zerrissen, also nahm sie die Kordel und ging zum bewusstlosen Einbrecher.
„Monster tot?“, fragte Kellen.
„Ich weiß nicht. Geh lieber ein Stück weg.“
Kellen ging tiefer ins Wohnzimmer.
Mit der Kordel fesselte sie die Arme auf den Rücken des Maskierten und vorsichtshalber noch ans Tischbein. Nur ein leichtes Zischen warnte sie und sie wich gerade noch rechtzeitig aus, ehe der Ruderschwanz zuschlug. Ohne nachzudenken packte sie ihn, rang ihn nieder und schlang ihn ebenfalls um das Tischbein.
Er war definitiv aus Stoff. Mit einer Schicht Schaumstoff oder so darunter, aber sonst hohl. Sie konnte ihn zusammendrücken und am Tischbein verknoten.
Erst danach fragte sie sich, wie das überhaupt möglich war. Was steckte in diesem Kostüm? Sie musste nachsehen.
Sie packte den Kopf, wobei sie feststellte, dass das am Maul zweifellos echtes Blut war, und wich zurück, als das innere Maul vorschnellte und nach ihr schnappte. Zum Glück war seine Reichweite gering, also riss sie den Maskenkopf einfach herunter und warf ihn in eine Ecke.
Und sah, was im Kostüm steckte.
„Nein. Das … kann doch nicht sein.“