Universum 2b: Fischige Nacht

  • Im Laufe des Abends fielen auch die Bilder herunter, wurden aber nicht beschädigt. Schließlich nahm Eroka das Auge vom Kamin und stellte es auf den Küchentisch und ein paar entbehrliche Gläser zur Kontrolle darum. Alles andere, das sich bereits auf dem Küchentisch befand, räumte sie um auf den Wohnzimmertisch.

    Die Bilder stellte sie zurück auf den Kaminsims.

    Kellen schlief mittlerweile in seinem Bett in Kastas altem Zimmer (sie wohnte eigentlich auf der anderen Seite der Stadt in einer WG).

    Und immer noch klingelte es ab und an.

    Wieder einmal öffnete Eroka die Tür. Diesmal standen zwei augenscheinliche Menschen, beides Frauen, verkleidet als Rochen und als Möwe davor.

    „Guten Tag“, sagte die blonde Möwe.

    „Wir sind hier um etwas Spaß zu haben“, erklärte der schwarzhaarige Rochen. „Wir waren schon im Park, aber das war nicht … intim genug.“

    „Fischköpfe?“, fragte Eroka, um darauf nicht eingehen zu müssen.

    „Frisch?“, fragte der Rochen.

    „Nein, eingelegt.“

    „Dann nicht.“

    Ein Klirren verriet, dass wieder irgendetwas irgendwo heruntergefallen war.

    „Was war das?“, fragte die Möwe.

    „Hast du es auch gespürt?“, erkundigte sich der Rochen.

    Gespürt?

    „Ja. Können wir reinkommen?“

    Konnte das irgendein Trick sein? Nein, das ergab keinen Sinn. Sie könnten auch einfach so reinkommen.

    „Bitte.“

    Die Menschen gingen an der Füchsin vorbei und sie folgte ihnen in die Küche. Eines der Gläser lag zerbrochen auf dem Boden. Es war seitlich aufgeprallt, als wäre es umgekippt und über den Tisch gerollt.

    „Interessanter Aufbau“, fand der Rochen. „Sie hatten also schon den Verdacht, dass mit dem Auge etwas nicht stimmt.“

    „Ja, aber es ergibt keinen Sinn. Mein Mann ist seit mehr als zwei Jahren tot und sein Auge fängt jetzt erst an, Sachen umzuwerfen.“

    „Hatte die Fischige Nacht eine besondere Bedeutung für ihn?“, fragte die Möwe.

    „Eben nicht.“

    „Ist etwas anders als sonst? Ist eine andere Personenkonstellation im Haus?“

    „Na ja, ich und mein Enkel Kellen sind allein hier, aber das gab es … Moment, nein. Es ist immer passiert, wenn ich in der Tür war, also …“

    „Nicht wirklich drinnen“, ergänzte der Rochen. „Es passiert nur, wenn Kellen allein im Haus ist.“

    Das war tatsächlich noch nie zuvor passiert.

    „Aber was hat er denn damit zu tun?“

    „Glaubt man in der Religion ihres verstorbenen Mannes an Wiedergeburt?“, fragte die Möwe.

    Die meisten Bewohner des Zivilisierten Reiches verehrten keine Götter. Sie glaubten an die Erheber, die ihre wilden Vorfahren zu dem gemacht hatten, was sie heute waren oder an die Gestalter, die die frühen Zivilisationen geschaffen hatten oder auch an verschiedene Verkörperungen von Naturgewalten. Aber die wenigsten beteten zu ihnen, verehrten sie, errichteten ihnen Tempel. Das taten nur kleinere Gruppen, die Anhänger des Gehörnten, die roten Eichhörnchen, die zu mächtigen Wächtergeistern beteten, die Anhänger der Erzählerin und die Wolfsstämme, Wiesel, die einen wolfgestaltigen Gott verehrten, dem sie die Fähigkeit einiger von ihnen zuschrieben, sich in wolfsartige Kreaturen zu verwandeln.

    Entsprechend gab es auch kaum organisierte Religionen. Neben diversen kleinen Sekten und den Religionen, die von außerhalb kamen, eigentlich nur den Tempel des Gehörnten.

    Aber auch ohne einer organisierten Religion anzugehören konnte man an ein Leben nach dem Tod glauben. Und Wiedergeburt war ein recht verbreitetes Konzept auf der Schneeebene.

    „Gut möglich.“

    „Wann ist Ihr Mann gestorben und wann wurde ihr Enkel geboren?“, hakte die Möwe nach.

    Nein. Das konnte doch nicht sein.

    „Erster März und fünfundzwanzigster Oktober. Beides 1990.“

    „Die anthropomorphen Füchse dieses Kontinents tragen etwa neun Monate, Zeugung also Ende Januar“, rechnete der Rochen. „Es dauert noch etwas, bis eine Seele entsteht oder sich eine existierende einnistet. Möglicherweise kommt noch eine Zeitverkrümmung dazu, Seelen verhalten sich nicht immer ganz linear.“

    „Aber mein Enkel kann doch nicht mein Mann sein!“

    „Ist er auch nicht“, nahm die Möwe den Faden wieder auf. „Eine normale Reinkarnation bedeutet ein vollkommen neues Leben. Neue DNS, neues Gehirn, neue Persönlichkeit. Keine Erinnerungen an ein früheres Leben. Die kommen erst wieder, wenn die Seele irgendwann womöglich doch in ein Jenseits eingeht.“

    „Und was hat das mit dem Auge zu tun?“

    „Es könnte auf die Seele seines früheren Trägers reagieren, sie aber nur klar erkennen, wenn keine andere Seele es stört“, spekulierte der Rochen.

    „Aber das ist nur ein vergoldetes Glasauge mit Saphiren. Kein magisches oder elektronisches Gerät, das Seelen aufspürt.“

    „Das werden wir ja sehen.“

    Der Rochen nahm das Auge an sich, ohne zu fragen, und schloss die Augen.

    „Keine Trägerstruktur“, stellte er fest. „Aber da ist ein Zauber. In sich selbst gebunden im Inneren.“

    „Aber was soll er da? Wie kommt er da hin?“

    „Kann ich nicht sagen. Nimm du mal, Anglia.“

    Die Möwe nahm das Auge an sich.

    „Das ist ziemlich alt. Wo hat er es gekauft?“

    „Er hat es sich machen lassen.“

    „Auf keinen Fall. Es ist mindestens zweihundert Jahre alt.“

    „Aber … warum sollte er gelogen haben?“

    „Keine Ahnung. Ich kann den Zauber auflösen.“

    Das konnte sie?

    „In Ordnung.“

    Was man von der Haut der Frau sah, begann regelrecht zu leuchten. Das Licht floss den Arm hinab in die Hand, die das Auge hielt. Diese strahlte kurz wirklich hell und erlosch dann wieder.

    „Dieses Artefakt ist jetzt entschärft“, verkündete Anglia, von der sich Eroka nicht mehr so sicher war, ob sie menschlich war. „Aber es ist alt und vermutlich historisch bedeutend. Ich würde es professionellen Archäologen überlassen.“

    Sie legte das Auge wieder zurück.

    „Danke für die Hilfe“, sagte Eroka, immer noch unsicher, wie viel sie von alldem glauben konnte und was eigentlich gerade passiert war. „Kann ich Ihnen irgendetwas anbieten?“

    „Blut“, sagte der Rochen.

    „Blut?“

    „Frisches Säugetierblut, wenn es geht.“

    „Ich hätte ein paar Speisemäuse.“

    „Das wäre gut.“

    Dass Menschen Blut tranken war eigentlich nicht normal. Dazu kam diese blasse Haut …

    Eroka ging trotzdem in die Speisekammer. In dem hell beleuchteten Raum lebten mehrere Speisemäuse in einem Käfig. Die Füchsin nahm einen Beutel von einem Haken an der Wand und fischte ein paar Mäuse aus dem Käfig um ihn zu füllen. Als der Sack einigermaßen schwer war, kehrte sie in die Küche zurück.

    „Hier bitte.“

    „Vielen Dank“, sagte die Frau im Rochenkostüm.

    Sie nahm den Beutel an sich und die beiden gingen wieder raus.

    „Einen schönen Abend noch“, wünschte Anglia.

    „Und eine gute Fischige Nacht“, ergänzte ihre Begleiterin.

    „Ihnen auch“, erwiderte Eroka, immer noch etwas verwirrt. „Ach ja, wenn es das ist, was Sie suchen, meine Freundin Leira feiert eine Party in der 22.“

    Die beiden entfernten sich. Eroka blieb noch eine Weile in der Tür stehen.

    Konnte das alles stimmen?

    Sie blieb noch eine Weile stehen. Lauschte. Nichts.

    Und dann klirrte es lauter als je zuvor.

    Verdammt. Natürlich hatten die beiden nur Unsinn geredet!

    Eroka rannte nach drinnen und fand zu ihrer Überraschung den Versuchsaufbau in der Küche unversehrt vor. Der Küche, in die Kellen nun gelaufen kam.

    „Oma! Monster!“

    Eroka wagte einen Blick ins große Esszimmer.

    Die Herkunft des Klirrens war dort leicht zu erkennen, denn die Glastür nach hinten in den Garten war zerbrochen.

    Im Zimmer stand jemand, der sich als Alianbestie verkleidet hatte. Als Meeresalianbestie, genaugenommen, wie am dunkelblauen Rücken, dem weißen Bauch, den Schwimmhäuten zwischen Fingern und Zehen und der zum Ruder umgebildeten Schwanzklinge zu erkennen war.

    Es war ohne Zweifel ein Kostüm, man konnte sehen, wo das Kopfstück auf das Oberteil aufsetzte und wo weiter unten die Hose begann. Die Oberfläche sah auch nach weichem Stoff aus, nicht nach hartem Panzer. Außerdem stimmten Proportionen und Haltung nicht für eine Alianbestie. Und schließlich gab es ja gar keine Meeresalianbestien.

    Kein Monster also. Aber ein Einbrecher. Und mit etwas an Maul und Krallen, das wie echtes Blut aussah – wobei das Blut am Maul in dem Fall keinen Sinn ergab, denn wie sollte man jemanden mit einem Maskenmaul verletzen?

    „Wer sind Sie und was wollen Sie?“

    „Mhmmh!“

    „Wie bitte?“

    „Hmhmh!“

    „Gehen Sie bitte wieder. Solange Sie dieses Kostüm tragen, laufe ich Ihnen mit Leichtigkeit davon und rufe die Polizei.“

    Das glaubte der Einbrecher offenbar nicht, denn urplötzlich sprintete er auf Eroka zu. Die wich überrascht zur Seite aus und der Kostümierte rammte den Küchentisch. Ohne sichtbare Mühe drehte er sich auf der Stelle um und nahm Eroka wieder ins Visier. Wieder sprintete er los und fiel plötzlich nach hinten um, wobei sein Kopf hart auf die Tischkante prallte.

    Eroka brauchte eine Weile um zu erkennen, was geschehen war: Beim ersten Zusammenprall mit dem Tisch musste das Auge herunter gerollt sein und nun war der Einbrecher darauf getreten.

    Eroka fragte sich, was jetzt das Klügste war. Die Polizei rufen klang vernünftig. Zur Sicherheit nochmal mit dem Stuhl draufhauen schien auch nicht verkehrt. Fesseln. Fesseln war gut. Der Vorhang vor der kaputten Glastür war eh zerrissen, also nahm sie die Kordel und ging zum bewusstlosen Einbrecher.

    „Monster tot?“, fragte Kellen.

    „Ich weiß nicht. Geh lieber ein Stück weg.“

    Kellen ging tiefer ins Wohnzimmer.

    Mit der Kordel fesselte sie die Arme auf den Rücken des Maskierten und vorsichtshalber noch ans Tischbein. Nur ein leichtes Zischen warnte sie und sie wich gerade noch rechtzeitig aus, ehe der Ruderschwanz zuschlug. Ohne nachzudenken packte sie ihn, rang ihn nieder und schlang ihn ebenfalls um das Tischbein.

    Er war definitiv aus Stoff. Mit einer Schicht Schaumstoff oder so darunter, aber sonst hohl. Sie konnte ihn zusammendrücken und am Tischbein verknoten.

    Erst danach fragte sie sich, wie das überhaupt möglich war. Was steckte in diesem Kostüm? Sie musste nachsehen.

    Sie packte den Kopf, wobei sie feststellte, dass das am Maul zweifellos echtes Blut war, und wich zurück, als das innere Maul vorschnellte und nach ihr schnappte. Zum Glück war seine Reichweite gering, also riss sie den Maskenkopf einfach herunter und warf ihn in eine Ecke.

    Und sah, was im Kostüm steckte.

    „Nein. Das … kann doch nicht sein.“

  • Neeein! Ein Cliffhanger! ;D

    Ich liebe diese Geschichte bisher, vielen Dank fürs tägliche Posten, es ist ein Tages-Highlight!

    Ich muss ehrlich sagen, dass ich am Anfang dachte, dass es mir mit mehreren Posts am Tag zu viel zu lesen ist. Als ich noch nicht gehookt war, hab ich aber ein wenig über die weiteren Posts drübergescrollt und dann doch gemerkt, dass ich alles lesen will. :D

    Das Selbstverständnis der Geschichte, nach dem es ein Mitrate-Rätsel gespickt mit Referenzen ist, lässt mich zwar manchmal etwas dumm fühlen, weil das absolute Schwächen von mir sind :pfeif: , aber ich lese die Geschichte zur reinen Unterhaltung trotzdem sehr gerne! :heartb:

  • Schön zu lesen, dass es dir gefällt. Der heutige Beitrag kommt etwas spät.

    Außerdem muss ich leider sagen, dass er den Cliffhanger nicht auflöst.


    Und diesmal haben wir wieder die Perspektive einer Figur, die einige hier im Forum bereits kennen.


    Siebter Abschnitt: Vladia


    Vladia sah auf die Stadt hinab. Aus ihrer fliegenden Kutsche hatte man einen guten Blick auf die zahlreichen leuchtenden Vorgärten.

    „Wo wollen wir landen?“, fragt Anglia.

    Sie war als Möwe verkleidet, sodass ihre Flügel nicht auffielen. Im Zivilisierten Reich war man einiges gewohnt, aber keinen Engel des Höchsten Wesens. Oder einen Teufelsvampir.

    Außerdem wurde Vladia hier streng genommen noch gesucht. Sicher suchte niemand mehr aktiv nach ihr, ihr Gefängnisausbruch war schließlich schon über zwanzig Jahre her, aber wenn sie jemand wiedererkannte, war das ziemlich ungünstig. Zum Glück war die Chance gering, man hatte sie damals auf der anderen Seite des Landes festgenommen. Und sie war ja jetzt verkleidet. Als Teufelsrochen. Damit ihre Hörner nicht auffielen, obwohl echte Teufelsrochen natürlich keine hatten.

    „Irgendwo, wo man uns nicht sieht.“

    Die schwebenden Pferdeskelette gehorchten Vladias Gedanken und zogen die Kutsche auch ohne Zügel in die richtige Richtung. Sie entdeckte bald die richtige Stelle, einen kleinen Wald am nördlichen Seeufer, nicht weit vom Niansring.

    Die Kutsche landete und als sie ganz zum Stehen gekommen war, entließ die Vampirin die Pferde, die zu zwei Haufen von Knochen zerfielen. Die Nanovampire, nekromantisch kontrollierte Mikroorganismen, auf ihnen, würden ihr erlauben, sie bei Bedarf wieder zusammenzufügen. Außerdem hielten sie Tiere fern, die womöglich Knochen fraßen.

    Vladia öffnete die Kutschentür.

    „Komm“, sagte sie und stieg aus. „So nahe am Äquator dauert die Nacht zwölf Stunden, wenn sich keine Nebensonne einmischt. Selbst in einer Gegend, in der es aufgrund der Zaströme trotzdem Jahreszeiten gibt und der Winter sogar richtig kalt wird. Das muss man ausnutzen.“

    Anglia stieg ebenfalls aus.

    „Du weißt, was wir abgemacht haben. Wir sind hier, um zu feiern. Wenn du irgendwo einen alten Feind siehst, und sei es Sukkubus, gehen wir ihm einfach aus dem Weg.“

    „Ja doch.“

    Als Vladia vor dreizehn Jahren endlich von ihrer zweiten Seele befreit worden war, hatte das Höchste Wesen ihr Anglia zur Seite gestellt. Auf den ersten Blick war es nur ein Weg gewesen, die Verantwortlichen für ihr Dilemma vor ihrer Rache zu retten. Auf den zweiten eine Strafe für sie beide – Vladia konnte unter Aufsicht nichts anstellen und Anglia blieb das Himmelreich des Lichts, ihre Heimat, verwehrt. Beide hatten in den Augen des Höchsten Wesens eine Strafe verdient.

    Womöglich war aber auch die Absicht des Höchsten Wesens gewesen, sicherzustellen, dass Vladia ihre zweite Chance, die sie erhielt, da sie mit nur einer Seele quasi eine andere Person war, nicht verschwendete. Doch das konnte auch ein unbeabsichtigter Nebeneffekt sein. Das Höchste Wesen war, wie es hieß, mächtiger als die üblichen Götter. Viele von ihnen beteten zu ihm und die mächtigeren seiner Engel konnten es mit ihnen aufnehmen. Doch es war nicht allmächtig. Nicht allwissend. Und ganz sicher nicht unfehlbar, das hatte schon das Naggakor-Debakel bewiesen.

    Vladia war ziemlich sicher, dass es zumindest eine Sache nicht erwartet hatte: dass sie sich in ihre Aufpasserin verliebte.

    Und genau hier wurde es wieder eine Strafe. Zwar erwiderte Anglia ihre Gefühle, doch jeder körperliche Kontakt konnte nur kurz sein, denn das Licht, das in Anglia brannte, brennen musste, um sie als halb-ätherisches Geschöpf zu ernähren, verdrängte die dämonische Magie, die Teufelsvampire am Unleben hielt.

    Trotzdem war ihr gemeinsames Leben besser als all die bedeutungslosen Affären zuvor.

    „Nachdem das geklärt ist“, meinte Anglia, „was machen wir als erstes?“


    Der Park war ganz nett. Die Feuer spendeten Wärme, die Vampire und Engel natürlich nicht brauchten, aber mochten, und es waren viele Leute unterwegs.

    Vladia trank nichts von den Getränken, die angeboten wurden, schon allein weil sie als Vampir empfindlicher auf Alkohol reagierte. Wasser war kein Problem, Säfte machten ihrer Verdauung schon Schwierigkeiten. Was das Essen anging waren Obst und Gemüse problematisch. Knoblauch ging natürlich gar nicht. Fleisch, Eier oder Milch waren in Ordnung, aber nicht ausreichend und der Geschmack war schwächer, als ihn die Lebenden wahrnahmen. Brot ging gar nicht. Es trocknete Vladias Mund aus und ließ sich nur mühsam herunterwürgen, wenn sie es im größten Hunger doch noch zu sich nahm.

    Anglia hingegen konnte essen und trinken was sie wollte, verdaute es aber nicht wirklich. Das Feuer des Höchsten Wesens in ihrem Körper ernährte sie. Woher das wiederum seine Kraft nahm, wusste nur das Höchste Wesen selbst.

    Aber es war schön, gegrilltes Fleisch zu riechen, das Feuer zu spüren und die vielen warmen Körper um sich.

    Plötzlich spürte Vladia noch etwas anderes. Es kam vom Zentrum des Parks, von dem runden Platz auf dem ein Schneeleopard gerade seinen Verkaufsstand aufbaute.

    „Merkst du das auch?“, fragte sie Anglia.

    „Ja. Ein starker Schutzzauber, der etwas Finsteres zurückhält. Ich denke, dieser Platz dort ist eins der Hauptsiegel. Vielleicht sogar das letzte.“

    Die sieben Siegel, die gebrochen werden mussten, um das Ende der Welt herbeizuführen. Unterschiedlichen Ursprungs und zu unterschiedlichem Zweck erschaffen und doch in ihrer Aufgabe verbunden, aufgrund der bizarren narrativen Natur der Welt. Weil sie so stark in die Geschichte eingebunden waren, gab es auch keinen Weg, ihren Bruch vorzeitig zu verhindern. Es würde geschehen und dann würde sich entscheiden, ob die Welt wirklich unterging oder nicht. Anfangen würde es in Yeovil, enden wahrscheinlich hier. Obwohl sich selbst das Höchste Wesen offenbar der Illusion hingab, dass sich der Siegelbruch verhindern ließ, denn es hatte davor gewarnt und eine Warnung vor etwas unvermeidbarem war ziemlich sinnlos.

    Ein Klang ließ Vladia und Anglia aufschrecken. Der Klang einer Trommel.

    „Was ist das?“, fragte Anglia gequält.

    „Ich habe gehört, hier will man mit der Kugelfischtrommel böse Geister und sowas vertreiben“, erinnerte sich Vladia. „Offenbar kommt die gerade auf uns zu, das ist ja nicht auszuhalten.“

    „Aber ich bin ein Engel! Das ist praktisch das Gegenteil von einem bösen Geist!“

    „Für Anhänger des Höchsten Wesens vielleicht. Für alle anderen sind Engel auch nur Monster. Immerhin habt ihr schon ganze Städte zerstört.“

    „Diese Trommel kommt näher, komm, wir gehen.“


    Im Park dem Trommler auszuweichen war durchaus machbar, das Gelände war ja nun wirklich nicht klein. Irgendwie schaffte es Anglia, trotzdem gegen den einzigen Menschen weit und breit zu prallen, eine dunkelhäutige und dunkelhaarige Frau im orangen Raumanzug, die den dazugehörigen Helm wie eine Tasche umgehängt hatte.

    „Zorrie“, sagte die. „Hei, you are humen!“

    „More or less“, antwortete Anglia.

    Viel Albionisch, oder in dieser Gegend wohl Subrisch, sprach Anglia nicht, und das merkte man auch.

    „You don’ has to buther. I has an fungas in my aer thad transchanges every I hear in my langua.“

    „Du kannst uns also verstehen, obwohl du unsere Sprache nicht sprichst?“, erkundigte sich Vladia. „Wie sieht das dann aus? Wie ein schlecht synchronisierter Film?“

    „Yez. Prettie mouch.“

    „Du sprichst einen seltsamen Dialekt“, fiel Anglia trotz ihrer geringen Kenntnisse auf.

    „Thad’ becouse I’ nod from your worl. I’ from an planed culled Pr –“

    „Ledin! Da bist du ja!“

    Vladia und Anglia mussten sich umdrehen um zu sehen, wer sie da unterbrach. Die Katze mit dem orange gefärbten Fell und Haupthaar trug den gleichen Raumanzug wie die Menschenfrau, die offenbar Ledin hieß, und hatte sich zusätzlich Gummistücke umgeschnallt, die sie wie einen Seestern wirken ließen (und ganz auf den Helm verzichtet).

    „Vladia“, zischte sie, als sie der Vampirin ins Gesicht sah.

    „Kennen wir uns?“, fragte die verwundert zurück.

    Sicher, in einem langen Leben vergaß man Leute. Aber diese Katze konnte noch nicht so alt sein.

    „Nein. Nicht persönlich“, ruderte ebendiese zurück. „Ledin, komm mit, sobald die anderen zurück sind müssen wir los.“

    „Wy? I’ nod cousing trubles. I look liek anie humen.“

    „Aber je länger wir hier sind, desto mehr Probleme machen die anderen. Die hatten nämlich keine Lust, zu warten.“

    „Oh. I can zee thad. Nozee, friends!“

    Das letzte schien eine Abschiedsfloskel zu sein, denn der Mensch ging mit der Katze mit.

    „Hat sie gesagt, sie ist von einem anderen Planeten?“, fragte Anglia.

    „Ja. Sicher von einer pentagonischen oder belackanischen Kolonie.“

    „Hm. Ist ja auch egal.“

    „Ja, aber jetzt bin ich hungrig. Menschenblut wäre genau richtig gewesen.“

    Das Blut der eigenen früheren Spezies war für Vampire immer am nahrhaftesten.

    „He.“

    Ohne Vorwarnung aber nicht unerwartet drückte Anglia ihre Lippen auf Vladias. Die ließ sich darauf ein, öffnete den Mund ein Stück. Die beiden wussten mittlerweile, wie lange sie das gefahrlos tun konnten.

    Die Wärme des göttlichen Feuers durchströmte Vladias Körper, durch den das wenige kühle Blut statt von einem Herzen von einer schlangengestaltigen Höllenbrut gepumpt wurde.

    Rechtzeitig bevor aus der angenehmen Wärme ein schmerzhaftes und letztlich tödliches Brennen werden konnte, brach der Engel den Kuss ab.

    „Halte noch ein bisschen aus. Es wird sich sicher jemand finden, der sich freiwillig anknabbern lässt.“

    Blut war am besten direkt von der Ader. Und dass das eine gewisse Intimität bedeutete, war Anglia klar. Offenbar hatte sie kein Problem damit.

  • Zunächst sah es nicht so aus, als würden Anglia und Vladia fündig werden. Vladia war schon versucht, gegrillten Fisch zu kaufen, als Anglia sie auf eine Gruppe nuttig kostümierter weiblicher Mauswiesel hinwies, von denen eines gerade versuchte, einen Typen anzubaggern.

    „Die sehen doch vielversprechend aus“, fand der Engel.

    „In der Tat. Halt dich etwas zurück.“

    Menschen wären besser gewesen, aber immerhin waren es Säugetiere. Vladia leckte sich die Lippen und ging auf die Gruppe zu.

    Tatsächlich wurde ein Wiesel auf sie aufmerksam und kam ihr entgegen. Es hatte an seinem knappen Rock und dem tief eingeschnittenen Oberteil einen leuchtend gelben Rand, der es von den anderen unterschied.

    „Hi“, grüßte es. „Sie sind auch hier um sich zu amüsieren?“

    „Allerdings.“

    Die meisten Anthros waren kleiner als Menschen oder ehemalige Menschen, doch die Mauswiesel gehörten in dieser Gegend zu den kleinsten. Das Mädchen um die zwanzig ging Vladia gerade mal bis zu den Hüften. Da wurde es aber gerade ziemlich anschmiegsam.

    „Weißt du, wir haben um elf auf dem Friedhof was vor. Wenn wir uns kurz vorher da treffen, kannst du mitmachen.“

    So lange wollte Vladia nun wirklich nicht hungern.

    Sie legte einen Arm um das Wiesel und hob es mühelos – als Vampir war sie deutlich stärker als ein Mensch von derselben Statur – so hoch, dass sie sich in die Augen sehen konnten.

    „Wie wäre es denn, wenn wir zwei in diesen Kirschhain gehen und schon mal alleine anfangen?“

    „Nichts dagegen.“

    Das Wiesel leckte über die Lippen dessen, was es für einen Menschen halten musste.

    „Nicht vergessen, freiwillig!“, sagte Anglia.

    Das Wiesel konnte es sicher nicht hören, Vladia aber schon.

    Vladia leckte über den Hals des Mädchens.

    „Weißt du, ich würde auch gern noch etwas … Blut abzapfen.“

    Das Wiesel riss seinen Kopf zurück. „Blut? Das geht nicht.“

    „Nur ein bisschen. Tut auch gar nicht weh.“

    Vladia zeigte ihre verlängerten Eckzähne.

    „Nein! Nein, nein, nein! Das geht nicht!“

    Die Vampirin setzte das zappelnde Wiesel wieder ab.

    „Schade. Dann erwarte aber auch nicht, dass ich um elf am Friedhof bin.“

    „Muss auch gar nicht sein! Ehrlich! Ich finde schon jemanden! Schöne Nacht noch!“

    Das Wiesel eilte zurück zu den anderen vier. Nein drei. Eines hatte sich von den anderen getrennt und war zu jemandem im Seeschlangenkostüm gegangen.

    Dann also kein Mauswiesel heute Nacht.

    Vladia kehrte zu Anglia zurück.

    „Sehen wir uns weiter um.“

    „He, ihr Süßen. Ihr sucht Gesellschaft?“

    Die Stimme kam von einer jungen Polarfüchsin, die nahe einem großen Heizstrahler stand. Vermutlich stand sie deshalb da, weil sie nichts als schwarze Spitzenunterwäsche und eine kleine Handtasche trug. Wenn man einmal von der Farbe absah, die den Rücken und die Rückseite der Arme schwarz und Beine und Schnauze orange machte.

    „Was stellst du denn da?“, fragte Anglia.

    „Einen niedlichen kleinen Pinguin. Und Pinguine sind nicht gerne allein.“

    „Wie alt bist du?“, fragte Vladia misstrauisch.

    „Süße achtzehn.“

    Älter war sie auf keinen Fall.

    „Also, habt ihr Lust? Beide zusammen kosten natürlich extra.“

    Darum ging es also.

    „Kein Interesse“, erklärte Anglia.

    „Ich brauche auch etwas … Blut“, erklärte Vladia.

    „Oh. Wenn du darauf stehst, das lässt sich machen. Wenn du es dir leisten kannst.“

    Die Füchsin kam sehr nahe.

    Vladia griff in die Tasche ihres Kostüms und holte ein paar Münzen hervor.

    „Sowas habe ich noch nie gesehen … ist das echtes Gold?“

    „In der Tat. Geld aus Gilmid. Zusammen etwa zweihundert Zirei.“

    Fast schneller als Vladia sehen konnte riss ihr das Mädchen die Münzen aus der Hand und ließ sie in der Handtasche verschwinden.

    „Ich bin Lina“, sagte es dann. „Und für zweihundert Zirei mache ich alles, was ihr wollt.“

    Vladia grinste.

    „Kommst du mit?“, fragte sie Anglia. „Ich stelle es mir schön vor, wenn du dabei bist.“

    „Du meinst, dass sie quasi stellvertretend für die jeweils andere …“, hakte Anglia nach.

    Vladia nickte.

    „Na gut.“

    „Sehr schön“, fand Lina. „Habt ihr einen gemütlichen Platz an den wir gehen können?“

    „Wir haben eine Kutsche.“

    „Klingt gut.“


    Spätestens als sie die Pferdeknochen vor der Kutsche sah, wurde der inzwischen doch frierenden Füchsin wohl klar, was los war.

    „Geld aus Gilmid, Blut … seid ihr etwa Vampire?“

    „Ich schon“, gab Vladia zu. „Spielt das eine Rolle?“

    „Nein. Ich hab heute schon Seltsameres gesehen.“

    Anglia öffnete die Kutschentür.

    „Nur herein spaziert!“


    „Ich nehme an wir sind dann fertig“, sagte Lina.

    „Ja“, seufzte Vladia, in eine Ecke der gepolsterten Bank gekuschelt.

    Natürlich war es Linas Körper gewesen, ihre Hände, ihre Zunge, ihre … nun, so ziemlich alles von ihr zu irgendeinem Zeitpunkt. Aber Vladia hatte die Augen keinen Moment von Anglia gelassen. Und umgekehrt war es genauso, ob Lina sich nun mit einer von beiden oder mit beiden gleichzeitig beschäftigt hatte. Nur beim Trinken, war es überdeutlich nicht Anglias Hals gewesen.

    Jetzt aber stand die Füchsin auf und zog sich ihre knappe Kleidung wieder an.

    „Vielleicht sehen wir uns nochmal“, sagte sie zum Abschied und stieg aus.

    „Ich glaube, die hat noch mehr Geld aus deinem Kostüm genommen“, merkte Anglia an.

    „Mir egal.“

    Vladia hatte noch jede Menge Geld übrig. In ihrem alten Unleben hatte sie einiges zusammengerafft, das wenigste davon rechtmäßig.

    „Als sie unsere Flügel gesehen hat, war sie schon erstaunt“, meinte Anglia dann.

    Anglias vermeintliche Möwenflügel waren natürlich ihre echten. Und Vladia hatte ähnliche, wenn auch schwarz gefiederte, die sie in den Schwingen ihres Rochenkostüms versteckte.

    „Aber gestört haben sie sie nicht“, meinte Anglia.

    „Wer hat schon was gegen weiche Federn.“

    „Ich bestimmt nicht.“

    „Und nun?“

    „Suchen wir uns was Schönes wo wir weiter feiern können.“

  • Diesmal gingen die beiden von ihrem Parkplatz in die nahe Wohngegend am Niansring. Viele Häuser waren dunkel, hier und da brannte Licht und die beiden versuchten ihr Glück. Außer Fischköpfen kam aber dabei nichts heraus. Und die waren auch noch trocken.

    „Irgendjemand muss doch eine Party feiern“, klagte Vladia.

    „Tut auch jemand. Wir müssen denjenigen nur finden. Sehen wir mal hier.“

    Die beiden gingen durch einen schlicht, mit nichts als zwei Laternen, geschmückten Vorgarten und Anglia klingelte an der Tür.

    Wenig später öffnete eine ungewöhnlich große Polarfüchsin in den Vierzigern, die scheinbar gar nicht kostümiert war.

    „Guten Tag“, sagte Anglia.

    „Wir sind hier um etwas Spaß zu haben“, erklärte Vladia. „Wir waren schon im Park, aber das war nicht … intim genug.“

    „Fischköpfe?“, fragte die Füchsin, eindeutig peinlich berührt von der direkten Anfrage.

    „Frisch?“, fragte Vladia ohne große Hoffnung.

    „Nein, eingelegt.“

    Besser als trocken, aber nichts für einen Vampir.

    „Dann nicht.“

    Eine Welle magischer Kraft kam aus der Wohnung, gefolgt von einem Klirren.

    „Was war das?“, fragte Anglia.

    „Hast du es auch gespürt?“, erkundigte sich Vladia.

    Es gab in diesem Land nicht viele Magier. Magie galt als unzuverlässig und gefährlich und wurde daher kaum unterrichtet. Aber natürlich gab es magische Wesen.

    „Ja. Können wir reinkommen?“

    Die Füchsin zögerte.

    „Bitte“, sagte sie schließlich.

    Die beiden gingen zielstrebig auf die Quelle der Magie zu, einen Kreis von Gläsern mit einer Art … goldenem Auge im Zentrum auf dem Küchentisch.

    „Interessanter Aufbau“, fand Vladia. „Sie hatten also schon den Verdacht, dass mit dem Auge etwas nicht stimmt.“

    „Ja, aber es ergibt keinen Sinn. Mein Mann ist seit mehr als zwei Jahren tot und sein Auge fängt jetzt erst an, Sachen umzuwerfen.“

    Nun, dafür gab es eine Reihe von möglichen Erklärungen.

    „Hatte die Fischige Nacht eine besondere Bedeutung für ihn?“, fragte die Anglia.

    „Eben nicht.“

    „Ist etwas anders als sonst? Ist eine andere Personenkonstellation im Haus?“

    „Na ja, ich und mein Enkel Kellen sind allein hier, aber das gab es … Moment, nein. Es ist immer passiert, wenn ich in der Tür war, also …“

    „Nicht wirklich drinnen“, ergänzte Vladia. Das war es also. „Es passiert nur, wenn Kellen allein im Haus ist.“

    „Aber was hat er denn damit zu tun?“

    „Glaubt man in der Religion Ihres verstorbenen Mannes an Wiedergeburt?“, fragte die Anglia.

    Ein interessanter Gedanke. Vladia und Anglia wussten beide, dass Wiedergeburt vorkam. Viele Dämonen und Engel waren wiedergeborene Sterbliche.

    „Gut möglich“, sagte die Füchsin und gab damit zu, nicht viel über den Glauben ihres Mannes zu wissen.

    „Wann ist Ihr Mann gestorben und wann wurde ihr Enkel geboren?“, erkundigte sich Anglia.

    „Erster März und fünfundzwanzigster Oktober. Beides 1990.“

    Mal sehen …

    „Die anthropomorphen Füchse dieses Kontinents tragen etwa neun Monate, Zeugung also Ende Januar“, rechnete Vladia. „Es dauert noch etwas, bis eine Seele entsteht oder sich eine existierende einnistet. Möglicherweise kommt noch eine Zeitverkrümmung dazu, Seelen verhalten sich nicht immer ganz linear.“

    Zum Beispiel war ihre eigene in die Vergangenheit gereist und hatte deshalb eine Weile doppelt in ihrem Körper gesteckt und ihr eine Menge Ärger eingebrockt.

    „Aber mein Enkel kann doch nicht mein Mann sein!“, warf die Füchsin ein.

    „Ist er auch nicht“, beruhigte Anglia sie. „Eine normale Reinkarnation bedeutet ein vollkommen neues Leben. Neue DNS, neues Gehirn, neue Persönlichkeit. Keine Erinnerungen an ein früheres Leben. Die kommen erst wieder, wenn die Seele irgendwann womöglich doch in ein Jenseits eingeht.“

    Bei Engeln und Dämonen galt genau das natürlich nicht. Die erinnerten sich an alles.

    „Und was hat das mit dem Auge zu tun?“

    „Es könnte auf die Seele seines früheren Trägers reagieren, sie aber nur klar erkennen, wenn keine andere Seele es stört“, theoretisierte Vladia.

    „Aber das ist nur ein vergoldetes Glasauge mit Saphiren. Kein magisches oder elektronisches Gerät, das Seelen aufspürt“, erklärte die Füchsin verzweifelt.

    „Das werden wir ja sehen.“

    Vladia nahm das Auge kurzentschlossen an sich und schloss ihre eigenen.

    Interessant. Es war kein typisches magisches Artefakt, es gab keine Art magischer Schaltkreise. Stattdessen lag der Zauber einfach im Inneren, war sich selbst Halt genug.

    „Keine Trägerstruktur“, versuchte die Vampirin es zu erklären. „Aber da ist ein Zauber. In sich selbst gebunden im Inneren.“

    „Aber was soll er da? Wie kommt er da hin?“

    Vladia drang tiefer ein. Folgte den verwobenen Strukturen. Da war eine Art Gerüst, aber es war ätherisch, wie die nichtbiologische Hälfte des Erbguts der Engel (was weder mit der Chemikalie Äther noch mit dem Äther, der die Dunkelheit zwischen den Sternen füllte, etwas zu tun hatte). Neben dem höchsten Wesen und seinen Dienern arbeiteten nur noch die Elfen mit solchen Methoden.

    Natürlich gab es Elfen in dieser Gegend. In den Bergen der Ungeheuer vor allem, und auch darunter, wo ein ganzes Silberhandelfenreich lag. Auch im Zivilisierten Reich und in Ctonia, wo sie oft mit den geisterhaften Feen zusammen lebten und mit ihnen für die häufigen Elfenfeen verantwortlich waren, die mit menschenähnlichem aber kleinem Körper, Insektenflügeln und spitzen Ohren dem klassischen Feenbild entsprachen. Angeblich war sogar die Mutter der Königin eine Elfe.

    Und dann sah Vladia sie. Die Bilder.

  • Das Auge hatte nicht alles aufgenommen, was es gesehen hatte, nur ab und zu ein Bild. Die Aufnahmen reichten allerdings eine ganze Weile zurück, daher waren es viele. Vladia konnte sie sich gezielt ansehen und so überflog sie sie.

    Die ältesten zeigten Elfen, was nicht sonderlich überraschend war. Finsterelfen. Dem Hintergrund nach in Naggakor. Sie kannte diese Gruppierung recht gut. Sie war noch nicht wieder in Gilmid gewesen, als die Finsterelfen angekommen waren, wusste aber, dass es ihnen nur möglich gewesen war, der Untotenherrscherin Galisaba ein Stück ihres Landes zu entreißen und Naggakor zu gründen, weil das Höchste Wesen den Dunklen Gral, der Gilmid und die darunter liegende Hölle beschützt hatte, hatte zerstören lassen. Doch die Errichtung von Naggakor, mit seinen Sklavenjägern und Foltermeistern, hatte das Höchste Wesen sicherlich nicht geplant oder vorhergesehen.

    Da sie nun in Gilmid lebte, waren die Finsterelfen also ihre direkten Nachbarn. Es sah aus, als habe einer von ihnen das Auge getragen, was den Zauber erklärte, denn ein Magier, der sich auf ätherische Strukturen verstand, konnte damit sicherlich sehen.

    Sichua. Die Magierin Sichua hatte ein goldenes Auge gehabt. Vladia hatte sie gekannt, während des Bündnisses zwischen Gilmid und Naggakor mit ihr zusammengearbeitet. Sie lebte nicht mehr, was erklärte, warum das Auge zeigte, wie es durch verschiedene Hände gegangen war. Gestohlen von einem Koboldsklaven und damit zu den Koboldpiraten des Umringten Meeres gelangt und schließlich auf den Umringten Kontinent und ins Zivilisierte Reich. Und irgendwann in den Besitz eines Fuchses, der der Ehemann der Hausherrin sein musste, denn sie war ziemlich oft zu sehen – auch jünger und mit deutlich weniger an, als sie jetzt trug. Vladia sah sich den Anfang dieser Bilder an, versuchte zu erkennen, wie der Fuchs an das Auge gekommen war. Offenbar hatte es vorher einem recht zwielichtigen Händler gehört, einem Hehler womöglich, so wie er seine Ware versteckte. Ganz außen im Geflecht befand sich der Zauber, der die Wellen aussandte, offenbar eine Art Signalfunktion, verbunden mit einem Speicher im Inneren, der etwas enthielt, was die Vampirin nicht deuten konnte. Es konnten allerdings tatsächlich Abdrücke von Seelen sein.

    Vladia öffnete die Augen wieder und stellte fest, dass das genaue Betrachten des Zaubers nicht länger als eine Sekunde gedauert haben konnte.

    Sie erinnerte sich an die Frage, die die Hausherrin gestellt hatte.

    „Kann ich nicht sagen“, log sie, „Nimm du mal, Anglia.“

    Als Engel kam sie mit ätherischen Strukturen besser zurecht.

    „Das ist ziemlich alt. Wo hat er es gekauft?“, wollte sie wissen.

    „Er hat es sich machen lassen.“

    „Auf keinen Fall. Es ist mindestens zweihundert Jahre alt.“

    „Aber … warum sollte er gelogen haben?“

    Vermutlich, weil er nicht gern zugegeben hätte, es von einem Hehler gekauft zu haben. Vielleicht auch, um die Geldprobleme zu verheimlichen, die ihn dazu gebracht hatten, eine verdächtig billige Prothese zu kaufen.

    „Keine Ahnung. Ich kann den Zauber auflösen.“

    Alle Engel konnten ätherische Strukturen erschaffen, wenn auch in begrenztem Maße. Anglia konnte einen Zauber wie diesen niemals selbst ausführen. Aber sie konnte sehen, an welchem Faden sie ziehen musste, damit sich alle Knoten lösten.

    „In Ordnung.“

    Anglias Feuer loderte hell auf und schien stärker durch ihre Haut als normal. Dann floss es durch die Arme zum Auge und konzentrierte sich, während Anglia wohl mit ihrer ätherischen Seite direkt in den Zauber griff. Dann war es auch schon wieder bei Normalhelligkeit.

    „Dieses Artefakt ist jetzt entschärft“, verkündete der Engel. „Aber es ist alt und vermutlich historisch bedeutend. Ich würde es professionellen Archäologen überlassen.“

    Das war wahrscheinlich nicht die schlechteste Idee.

    „Danke für die Hilfe“, sagte die Füchsin verunsichert. „Kann ich Ihnen irgendetwas anbieten?“

    „Blut“, sagte Vladia.

    Nach dieser Sache war sie wieder hungrig. Menschenblut hätte länger vorgehalten.

    „Blut?“

    „Frisches Säugetierblut, wenn es geht.“

    „Ich hätte ein paar Speisemäuse.“

    „Das wäre gut.“

    Ein Vorteil einer derart von Raubtieren geprägten Gesellschaft war, dass man lebende Futtertiere überall kaufen konnte. Die Füchsin verließ die Küche und kam mit einem zappelnden und quiekenden Beutel wieder.

    „Hier bitte“, sagte sie.

    „Vielen Dank“, erwiderte Vladia und nahm den Beutel an sich.

    Dann machte sie sich zusammen mit Anglia auf nach draußen.

    „Einen schönen Abend noch“, wünschte der Engel.

    „Und eine gute Fischige Nacht“, ergänzte der Teufelsvampir.

    „Ihnen auch. Ach ja, wenn es das ist, was Sie suchen, meine Freundin Leira feiert eine Party in der 22.“

    Die Füchsin blieb eine Weile in der Tür stehen, als die beiden schon wieder die Straße erreicht hatten.

    „Gehen wir zu dieser Party?“, fragte Vladia.

    „Klar. Warum nicht.“

    Die Vampirin fischte eine Maus aus dem Beutel und biss hinein.

    „Hast du auch die Bilder gesehen?“, fragte Anglia.

    Vladia sog das letzte Blut aus dem kleinen Beutetier, ehe sie antwortete.

    „Ja. Und diese Muster im Inneren. Waren das wirklich Abdrücke von Seelen?“

    „Sah danach aus. Aber sicher bin ich nicht. Vielleicht hat das Auge auch auf etwas ganz anderes reagiert.“

    Vladia nahm sich eine zweite Maus.

    „Da will ich aber richtig feiern“, sagte Anglia plötzlich.

    „Wie meinst du das?“

    „Ich meine, da suchst du nicht nach jemandem zu trinken. Da werden wir einfach nur feiern. Am besten merkt überhaupt niemand, was wir sind.“

    „Dann lass mich vorher die Mäuse austrinken.“

  • Vladia legte den Beutel mit blutleeren Mäusekadavern in eine Schüssel in der wohl mal Fischköpfe gewesen waren vor der Tür eines dunklen Hauses. Vielleicht wollte sie noch jemand.

    Dann gingen sie und Anglia zum Nachbarhaus, der Zweiundzwanzig, und hielten inne, als jemand ihnen auf dem Weg durch den Vorgarten entgegen kam.

    Es war die als Seestern verkleidete Katze, die, nun allein, aus dem Haus kam. Was durch die offene Tür zu hören war, bestätigte, dass dort eine Party gefeiert wurde.

    „Hallo“, grüßte Anglia. „So sieht man sich wieder.“

    „Tut mir leid. Ich habe es wieder eilig“, meinte die Seesternkatze und ging an dem Paar vorbei.

    „Ich hatte wieder den Eindruck, dass sie mich persönlich kennt“, dachte Vladia laut. „Aber ich habe sie noch nie gesehen.“

    „Vielleicht hat sie über dich gelesen und sich in was rein gesteigert.“

    „Vielleicht.“

    Anglia klingelte an der deutlich mit einer 22 aus Seeigeln markierten Tür.

    Es öffnete ein männlicher Bergfuchs. Er war eher kräftig gebaut, etwas übergewichtig und als Walross verkleidet.

    „Guten Abend“, grüßte er. „Sind Sie Gäste oder Sammler?“

    „Gäste“, behauptete Vladia.

    „Wir haben Sie aber nicht eingeladen. An zwei Menschen würde ich mich erinnern.“

    „Nein“, gab Anglia zu. „Wir kommen nur so vorbei.“

    „Na, kommt einfach rein.“

    „Aber ich bin eingeladen!“, rief jemand hinter den beiden und lief zu ihnen an der Tür. Es war ein als Quallenschwarm verkleideter Eiswolf.

    „Grarr, natürlich. Ich werde nicht den Mann verärgern, der mal meine Tochter unterrichten wird.“

    Die beiden Caniden gingen gemeinsam ins Innere. Vladia und Anglia folgten und Anglia schloss die Tür hinter sich.

    Das Haus war ähnlich aufgebaut wie das mit dem Auge, in einem pentagonischen oder subrischen Stil. Allerdings war es stärker geschmückt und teurer eingerichtet. Und voll mit Leuten, die sich tanzend, redend, trinkend oder sonst wie amüsierten.

    „Tanzen?“, fragte Anglia.

    „Okay“, antwortete Vladia.

    Die anderen Gäste gingen den beiden Tänzerinnen ein wenig aus dem Weg. Nicht verwunderlich. Als Menschen überragten sie die meisten hier (allerdings nicht den Eisbären) und ihre Flügel machten sie auch etwas breiter (erneut, nicht als den Eisbären, dessen Schildkrötenpanzer ihn auch etwas breiter machte als er von Natur aus schon war).

    Nach kurzer Zeit hatten sie schon genug und stellten sich etwas abseits der anderen.

    „Das war gut“, fand Anglia. „Aber auf Dauer wird mir hier etwas warm.“

    „Kein Wunder, wenn wir aus der Kälte da draußen kommen. Aber was machen wir denn als nächstes?“

    „Wir sollten irgendwen ansprechen. Bestimmt gibt es hier interessante Leute.“

    Ein attraktives Bergfuchsweibchen im Meerjungfrauenkostüm nahm ihnen das ab.

    „Ich sehe, Sie haben noch nichts zu trinken. Einen Champagner?“

    „Ich trinke niemals … Champagner“, nutzte Vladia die Gelegenheit um einen klassischen Vampirspruch abzuwandeln.

    „Wir haben auch andere Getränke.“

    „Nein danke“, lehnte auch Anglia ab. „Mich nährt die Liebe des Höchsten Wesens.“

    „Durst hätte ich ja schon …“, gab Vladia zu.

    Es war nicht mehr so dringend, aber auf Dauer machten auch ein paar Mäuse nicht satt.

    Das Gespräch ging noch ein Weilchen weiter ohne irgendwohin zu führen, bis Vladia etwas auffiel.

    „Hier stimmt etwas nicht“, sagte sie. „Es liegt etwas in der Luft. Ich kann es riechen.“

    Aber was war das? Blut war dabei, klar. Aber blutete jemand oder war nur ein Nahrungsbehälter undicht? Und da war noch etwas anderes.

    „Ich spüre auch etwas“, bestätigte Anglia. „Aber ich kann es nicht einordnen.“

    Wenn Anglia es spürte, konnte es nicht nur ein Geruch sein.

    Die Bergfüchsin, wahrscheinlich die Gastgeberin, zog sich zurück. Natürlich mussten die beiden einen seltsamen Eindruck auf sie gemacht haben. Aber das war jetzt egal.

    „Wie fühlt es sich denn an?“, fragte Vladia.

    „Kalt. Nass.“

    „Fischig?“

    „Ja. Aber fischiger als ein einfacher Fisch. Es ist ganz nahe. Vor der Tür. Es greift durch sie hindurch.“

    „Wirklich? Aber was kann das …“

    „Es entfernt sich wieder. Aber es hat irgendetwas zurückgelassen.“

    Fischiger als ein einfacher Fisch. Mehr Fisch sein als ein Fisch konnte eigentlich nur eine Fischgottheit. Aber warum sollte ein Fischgott hier herumlaufen und irgendetwas zurücklassen?

    Aber es stimmte, es war ein starker Fischgeruch gewesen, der Vladia aufgefallen war. Im Nachhinein war das mehr als deutlich. Allerdings war da auch noch der Blutgeruch, vielleicht schon länger, sie hatte ihn nur allein noch nicht bemerkt.

    Vladia folgte ihm. Er kam aus der Küche. Nun, so verwunderlich war das ja nicht. Er war auch nicht mehr so stark. Vermutlich hatte sich nur jemand eine Zwischenmahlzeit gegönnt.

    Das konnte sie doch auch, oder?

    Ja.

    Vladia schob die Küchentür auf. Drinnen fielen ihr zuerst zwei Kühlboxen und ein Tisch ohne Tischdecke auf. Auf dem Küchensims standen ein paar mit Folie abgedeckte Schüsseln und Bleche mit Speisen, die wohl für später gedacht waren. Nichts davon sah für sie appetitlich aus.

    Im Kühlschrank musste sie gar nicht erst suchen, genau wie in den Kühlboxen, denn was brachte schon kaltes Blut? Ein Käfig mit lebendem Futter war nicht zu sehen. Hinter der Tür da musste die Speisekammer sein, vielleicht war da einer. Oder vielleicht sah sie doch mal in den Kühlschrank, wenn sich Blut fand, konnte sie es ja in der Mikrowelle warm machen.

    Sie entschied sich für den Kühlschrank, fand aber nur eine große Schüssel grüner Götterspeise und haufenweise Fertiggerichte, die sie bei so reichen Leuten etwas fehl am Platz fand.

    Vielleicht sollte sie doch mal eine Kühlbox öffnen.

    Ein widerlicher Geruch lenkte sie ab. Was war da denn los? War das … ja, das war der fischige Geruch, der sich zuvor schon unter den Blutduft gemischt hatte. Nur viel stärker.

    Dabei konnte man ja nicht trinken.

    Ob sie nachsehen sollte, woher das kam? Nicht aus der Küche, so viel war sicher, der Gestank zog durch die Tür zum Wohnzimmer herein.

    Sie hörte auch überraschte Schreie, alle von der Gastgeberin.

    Schnell kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.

    „Aaahh!!!“

    Es war auch diesmal die Gastgeberin, die schrie. Und sie stand innen vor der Tür und wurde angegriffen von – Fischköpfen?

    „Schatz!“, rief das falsche Walross und lief in die entsprechende Richtung. Die Fischköpfe griffen als Reaktion nur schneller und in größerer Zahl an.

    Fast ebenso schnell bekämpfte die Bergfüchsin sie.

    „Ist es das?“, fragte Vladia.

    „Ja“, antwortete Anglia und richtete einen Arm auf die bedauernswerte Frau. „Das hat das kalte, nasse Ding hiergelassen. Eine Art Fluch.“

    Wieder floss das Feuer sichtbar leuchtend in die Hand des Engels. Die Bergfüchsin hatte sich mittlerweile hingesetzt, aber der Angriff ließ nicht nach.

    Dann sank Anglias Leuchten schlagartig auf das Normalmaß. Die Fischköpfe fielen von der Hausherrin ab, sie selbst kippte um. Jetzt war auch ihr wahrscheinlicher Ehemann da und hob sie hoch.

    „Raus!“, rief er, „Raus, alle raus, die Party ist beendet!“

    Er trat zur Seite um die Gäste durch zu lassen, und sie gingen. Auch Vladia und Anglia schlossen sich an.

    „Was sollte das denn?“, fragte Vladia. „Welches Wesen macht so einen Blödsinn? Wer profitiert davon?“

    „Vielleicht ist es einfach ein Witzbold“, schlug Anglia vor. „Oder es hatte was gegen die Party.“

    Vladia ließ ihren Blick über die aufbrechenden Gäste schweifen. Ihr fiel besonders eines der Wiesel auf – die anderen vier konnte sie nicht entdecken – das einen Schneeleoparden im Krakenkostüm am Arm hinter sich her zog. Das mit dem roten Kragen. Sie hatte es auf der Party nicht gesehen (ihn allerdings schon), es musste gekommen sein, als sie in der Küche gewesen war.

    „Diese Party ist vorbei, wohin jetzt?“, fragte Anglia.

    Vladia wusste auch nicht recht weiter. Sie war immer noch etwas hungrig – diese Anthros waren einfach kein Ersatz für Menschen. Aber sie konnte notfalls etwas Fisch essen. Und wenn sie nichts bekam würde sie auch nicht gleich umkippen.

    Allerdings wollten sie ja mehr, als nur die Nacht überleben.

    Das hier war Niansstadt. Was hatte Niansstadt noch so … den See, den riesigen Park – den Tempel des Gehörnten.

    „Ich weiß, was ich mir gerne ansehen würde.“

  • Der Tempel hatte etwas angenehm bedrohliches, wie es den Dienern des Gehörnten angemessen war. Er war vor über hundert Jahren gebaut worden, während des Bürgerkrieges, den man heute den Großen Krieg nannte, als die Schneeebene Teil der Vereinigten Horde des Gehörnten gewesen war, die der Gehörnte Drakon über einen untoten Stellvertreter selbst regiert hatte. Nach dem Krieg hatte sich die Königin selbst dafür eingesetzt, dass er und andere Gebetsstätten des Gehörnten nicht wieder abgerissen wurden, wie es viele forderten. Und ihr Plan war aufgegangen. Die Anhänger des Gehörnten Drakon waren heute nur noch eine harmlose religiöse Gemeinschaft, die keine Ahnung mehr hatte, wie ihr Gott wirklich war.

    „Da gehen wir rein?“, fragte Anglia. „Das fühlt sich … nicht gut an.“

    „Natürlich nicht. Der Grundstein wurde vom Stellvertreter des Gehörnten selbst gesegnet. Er enthält die Macht eines der alten Drakons. Und keines freundlichen.“

    „Und wir gehen … in sein Maul.“

    „Ganz genau.“

    Durch das Drakonmaul gelangten die beiden in die Gebetshalle, in der in einer runden Grube das große Opferfeuer brannte, in dem heutzutage natürlich keine intelligenten Lebewesen mehr gegrillt wurden.

    Eine Tür führte tiefer in das Gebäude, wo weltlichere Räume untergebracht waren – Priesterunterkunft, Wasserversorgung, Waffenkammer …

    Am Feuer saß, im roten Umhang mit einem Goldrand, der ihn als obersten Priester des Tempels auszeichnete, ein kleiner, alter Bergfuchs.

    Seine goldenen Augen leuchteten regelrecht auf, als er die Besucher bemerkte.

    „Willkommen, meine Damen!“, sagte er und stand auf. „Was kann ich denn für Sie tun?“

    Sollte das eine Anmache werden?

    „Wenn ihr einen Wunsch an den Gehörnten habt, schreibt ihn einfach auf eine der Tafeln.“

    Der Fuchs wies auf den Haufen hölzerner Gebetstäfelchen, die heutzutage das lebende Opfer ersetzten, dem die Wünsche in die Haut geritzt wurden, und der dafür sprach, dass noch nicht viele Gläubige heute hier vorbei gekommen waren.

    „Nun, so einfach ist es eigentlich nicht, auf das Holz zu schreiben. Aber ich führe gerne Ihre Hände, wenn Sie Schwierigkeiten haben.“

    Das war jetzt definitiv eine Anmache.

    „Eigentlich kosten die Tafeln zehn Zirei das Stück. Aber wenn Sie wollen, können Sie Mitglied des Tempels werden, dann sind es nur noch fünf. Die Formalitäten können wir ganz schnell hinter uns bringen.“

    „Ich will hier raus“, quiekte Anglia.

    „Das klingt interessant“, behauptete Vladia. „Aber ich frage mich, wie mir der Gehörnte Drakon denn helfen kann. Sagt man nicht, dass er schläft?“

    Und zwar unter der Wüste des Drakonsturzes in derselben Seelen fangenden Felsformation, die auch Hellenas Hölle und die Unterwelt der Alonokatzen beherbergte, seit er damals von den anderen Drakons besiegt worden war.

    „Das ist wohl wahr“, bestätigte der Priester. „Sein Körper schläft, aber sein Geist ist wach und mächtig. Er beeinflusst die Welt.“

    Das war allerdings nur zur Hälfte wahr. Der Geist des Gehörnten war ziemlich aktiv, einen direkten Einfluss hatte er aber nur auf seine unmittelbare Umgebung. Es sei denn, er war mächtiger, als Vladia wusste. Eine beunruhigende Vorstellung.

    „So wie er damals Giftstachel wieder ins Leben gerufen hat um seine Anhänger zu führen?“

    „Nun, es ist keinesfalls sicher, dass das wirklich Giftstachel war oder dass der Gehörnte ihn geschickt hat. Es ist wahr, er ist ein kriegerischer Gott, ein Drakon eben, aber einen solchen Bürgerkrieg anzuzetteln hätte ihm doch nichts gebracht.“

    Natürlich war es Giftstachel gewesen. Der Gehörnte sammelte die Seelen seiner Anhänger in seinem Geist. Das wusste Vladia von jemandem, der selbst dort gewesen war und nur über die Traumebene hatte entkommen können, wo er jetzt noch als Traumpirat unterwegs war.

    „Ist das das, was Sie glauben, oder das, was Sie nach außen hin erzählen?“

    „Was unterstellen Sie mir da?“

    „Glauben Sie nicht in Wahrheit, dass die Anhänger des Gehörnten damals unterdrückt und verfolgt wurden, dass der Gehörnte ihnen den vor langer Zeit in seinen Diensten verstorbenen Piraten Giftstachel als Retter schickte und dass der Krieg den dieser begann nicht nur gerechtfertigt war, sondern letztlich auch den gewünschten Erfolg brachte, als die Königin Ihre Religion anerkannte, damit so etwas nie wieder passieren kann?“

    „Nun … das ist natürlich auch eine Sichtweise.“

    Und eine recht verbreitete. Obwohl der Gehörnte damals sicherlich nicht die Anerkennung seiner Anhänger als religiöse Gruppe im Sinn gehabt hätte. Eher so etwas wie den Kopf der Königin auf einem Spieß. Einer der Drakons, die ihn gestürzt hatten, Surulam, hatte ihr erzählt, wie er damals gewesen war. Rachsüchtig, jähzornig, gierig und vor allem ein echter Kontrollfreak. Niemand, der sich für Religionsfreiheit einsetzte. Und laut denen, die später mit ihm zu tun hatten, hatte er sich seitdem nicht wirklich verändert.

    Vladia beschloss, den Priester zu überrumpeln, indem sie Thema und Ton schlagartig wechselte.

    „Gibt es hier irgendwelche interessanten Kunstwerke? Wandreliefs oder zeremonielle Gegenstände?“

    „Ich warte draußen“, entschied Anglia.


    „Er hat mir tatsächlich die hinteren Räume gezeigt. Der alte Schreibdolch hat mir besonders gefallen, da konnte man den Schmerz fast schmecken“, berichtete Vladia.

    „Schön für dich“, meinte Anglia. „Ist damit wenigstens dein Hunger gestillt?“

    „Gestillt natürlich nicht, aber etwas besänftigt.“

    „Und … wollte er dir an die Wäsche?“

    „Ziemlich dreist sogar. Aber er ist nicht weit gekommen. Vermutlich tun ihm noch die Finger weh.“

    Der Typ war wirklich sagenhaft unverschämt gewesen. Kein Wunder, dass die ganze Nacht kaum jemand da gewesen war.

    „Was tun wir jetzt?“, erkundigte sich Anglia. „So spät dürften auf den Partys schon alle betrunken sein. Also keine gute Gesellschaft, wenn man selbst auf Alkohol … anders reagiert.“

    „Im Park wird noch gefeiert. Versuchen wir es nochmal“, entschied Vladia.

    Und vielleicht war ja diese Ledin wieder dort und bereit, ein wenig Blut zu opfern. Und falls nicht, nun, Vladia hielt gut bis zur nächsten Nacht aus. Solange nur Anglia bei ihr war.

  • Damit wäre das Rätsel der toten Mäuse wohl gelöst. Welche Fragen mag der nächste Abschnitt beantworten?


    Achter Abschnitt: Aylette


    Aylette Min betrachtete ihren jüngsten Sohn. Das Feuerfischkostüm stand Sevian gut, fand sie. Zum Glück hatte Eroka Zeit dafür gehabt, sie selbst hätte das nie so gut hinbekommen.

    Auf ein eigenes Kostüm hatte die Polarfüchsin vorerst verzichtet, um die Kleinen nicht zu verängstigen.

    Warum sie sich darauf eingelassen hatte, sowohl auf Suianas Sohn als auch auf Leiras Tochter aufzupassen, war ihr selbst ein Rätsel.

    Es klingelte an der Tür.

    „Ich mache auf!“, rief Garibati, der im Wohnzimmer viel näher an der Tür war als Aylette in der Küche.

    Es klingelte schon den ganzen Abend. Bisher waren es immer Kinder gewesen, die Fischköpfe und gerne auch andere Leckereien gesammelt hatten. Aylettes ältere Söhne, Urian und Lurian, waren auch schon zu diesem Zweck aufgebrochen. Sie erwartete sie gegen zehn zurück.

    „Es ist Suiana!“, meldete Garibati.

    „Endlich!“, rief Sevian und lief los.

    Seine Mutter folgte ihm zur Haustür, auf deren anderer Seite tatsächlich ihre Freundin Suiana mit einer Schar von Kindern wartete. Garibati übergab gerade fünf Fischköpfe, jeden mit einem Minischokoriegel dazu, da nun wirklich nicht jeder gerne Fischköpfe aß.

    Suiana war verkleidet als Eiskrabbe und Garibati trug bereits den Taucheranzug, der ihm als Kostüm diente.

    Aylette hatte Garibati auf der Uni kennen gelernt und war recht bald von ihm schwanger geworden. Sie hatten geheiratet, ehe sie mit dreiundzwanzig ihre Tochter Kelin zur Welt gebracht hatte, die heute schon selbst studierte. Studium mit Kind war ziemlich anstrengend gewesen und so hatten sie mit dem nächsten neun Jahre gewartet. Heute hatten sie fünf und das reichte dann auch.

    „Du bist so weit?“, fragte Suiana Sevian.

    „Ja. Los!“

    „Wo ist Lekiu?“, wollte sie noch wissen.

    Sie hatte ihn vorbeigebracht, bevor sie zur Schule gegangen war um sich vorzubereiten.

    Aylette sah Garibati an.

    „Gleich hier“, sagte der. „Lekiu!“

    Der zweijährige Fuchs (größtenteils Polarfuchs aber etwas Rotfuchs sah man schon) kam aus dem Esszimmer.

    Offenbar musste er zweimal hinsehen, um zu erkennen, was los war.

    „Mama Krabbe“, stellte er dann fest.

    „Ja, das stimmt. Ich muss jetzt los, aber ich hole dich morgen früh wieder ab, ja?“

    „Weiß ich.“

    Suiana wandte sich wieder an Aylette.

    „Ich habe meine Taschenlampe zuhause vergessen. Kannst du mir eine leihen?“

    „Natürlich. Ich sollte hier im Schrank eine haben …“

    Aylette öffnete eine Schublade im Wohnzimmerschrank und fand gleich mehrere Taschenlampen vor. Die erste, die sie herausholte, eine kleine rote, leuchtete ordentlich, also gab sie sie Suiana.

    „Danke. Wir gehen dann auch. Tschüs.“

    „Tschüs, Suiana. Tschüs, Schatz.“

    „Tschüs, Mama.“

    „Tschüs, Schatz.“

    Lekiu hielt es offenbar nicht für nötig, zu antworten.

    Während Suiana mit den Kindern wegging, sah ihnen Aylette noch eine Weile nach und wollte dann die Tür wieder schließen, als noch ein Kind durch den Vorgarten kam. Die Spezies dieses Kindes konnte sie nicht bestimmen, denn es trug eine perfekte Kugelfischmaske, ganz so als hätte es eine Kugelfischlaterne auf dem Kopf, und war auch sonst vollständig grün gekleidet, samt Handschuhen, sodass man Fell oder Haut nicht sehen konnte.

    „Moment“, sagte Aylette und holte noch einen Fischkopf und einen Schokoriegel aus der Schüssel.

    Das Kind schien fragend zu blicken, auch wenn das durch die Maske natürlich gar nicht zu sehen sein konnte.

    „Ich weiß, ich trage kein Kostüm. Ich habe kleine Kinder hier, die will ich nicht erschrecken.“

    Das Kind blickte weiter. Warum hatte Aylette das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen?

    „Ich habe ja ein Kostüm. Ich werde es später anziehen, wenn ich zu einer Party gehe. Jetzt noch nicht.“

    Das Kind streckte die Hand aus, deren Handschuh mit Schwimmhäuten und schwarzen Krallen verziert war, und Aylette legte Fischkopf und Süßigkeit hinein. Dabei berührte sie mit den Fingerspitzen den Handschuh. Er fühlte sich glatt und feucht an und irgendwie kribbelte es in den Fingerspitzen jetzt. Was das wohl für ein Stoff war?

    Das Kind ging und Aylette schloss die Tür wirklich.

    „Ich gehe zurück in die Küche zu Acida“, sagte sie zu ihrem Mann. „Du passt weiter auf Lekiu auf?“

    „Erstmal ja. Ich bring ihn dir rüber, wenn ich zu Leira gehe.“

    „Wo ist eigentlich Mista?“

    Mista war Aylettes jüngstes Kind, fünf Jahre alt.

    „Oben in ihrem Zimmer.“

    „Gut.“

    Aylette kehrte in die Küche zurück, wo Acida im alten Laufstall herumtobte. Auf allen Vieren war die einjährige Bergfüchsin schon ziemlich schnell unterwegs. Manche Leute, auch Leira, nahmen Kinder in dem Alter an die Leine, wenn sie mit ihnen spazieren gingen. Aylette kam das etwas seltsam vor.

    Sie hob den Ball auf, der, obwohl er nicht zwischen den Gittern hindurch passte, irgendwie aus dem Laufstall gelangt war und warf ihn wieder hinein. Acida stürzte sich sofort darauf.


    Garibati verbaute mit Lekiu zusammen das ganze Wohnzimmer mit großen zusammensteckbaren Bausteinen. Aylette kam irgendwann mit Acida dazu, die Lekiu sogleich einmauerte. Sie hatte allerdings kein Problem damit, die Mauern, die sie störten, wieder einzureißen. Mista kam ein paar Mal scheinbar grundlos (noch immer in dem Fetzenfischkostüm von ihrer Kindergartenfeier) herunter, aber Aylette hatte den starken Verdacht, dass sie sich heimlich an den Süßigkeiten für vorbei kommende Kinder vergriff.

    Solche klingelten natürlich ab und zu an der Tür und als es nun wieder klingelte, erwartete Aylette nichts anderes, als Garibati öffnete.

    Zur Überraschung beider stand aber ein Mann im Kostüm eines Weißhais davor.

    „Hallo“, sagte er und nahm seine Maske ab.

    „Papa!“, rief Lekiu.

    „Kaioru!“, staunte Aylette. „Ich dachte, du hast heute Abend keine Zeit. Deshalb ist Lekiu ja nicht bei dir.“

    „Habe ich auch nicht. Ich wollte nur kurz mal nach dem Rechten sehen, dann muss ich auch schon wieder los. Hallo Kleiner!“

    Lekiu lief zu seinem Vater, der ihn hochhob.

    „Wo sind eure Kinder?“

    „Mista ist oben“, antwortete Garibati. „Die hatte schon ihre Feier im Kindergarten. Urian und Lurian sammeln wahrscheinlich mehr Süßigkeiten als Fischköpfe und Sevian ist auf der Party in der Schule.“

    „Und ihr dürft auf Acida aufpassen, weil Leira feiert.“

    „Genau“, bestätigte Aylette.

    „Ich muss dann auch wieder los.“

    Kaioru setzte seinen Sohn ab.

    „Tschüs, Kleiner.“

    „Tschüs, Papa!“

    Kaioru war vor ein paar Jahren mit Suiana zusammen gekommen. Gar nicht so lange später hatten sie Lekiu gehabt und vorgehabt zu heiraten. Ein Verkehrsunfall mit einem Todesfall bei der anderen Partei hatte die Beziehung jedoch extrem belastet und nun waren die beiden getrennt.

    Aylette sah zu Garibati. Ihnen konnte so etwas hoffentlich nicht passieren.


    Einige Zeit später war Acida in der Küche eingeschlafen und das Wohnzimmer noch mehr zugebaut. Unglaublich wie viele dieser Bausteine sich im Laufe der Jahre in diesem Haushalt angesammelt hatten.

    Als es wieder klingelte machte Aylette selbst auf.

    Draußen standen eine große braunfellige Gestalt mit seltsam geformtem Kopf, eine lila Menschenfrau in Unterwäsche und ein Haufen Aale und Tentakel.

    Aylette konnte keinen Moment lang glauben, dass das Kostüme waren. Selbst Filmkostüme sahen aus der Nähe nicht so echt aus. Sie hatte auch nie von Arten gehört, die von Natur aus so aussahen, weder irdisch noch außerirdisch.

    Vielleicht waren es Dämonen. Aber das hieß dann, sie waren nicht verkleidet.

    „Hallo“, sagte die Menschenfrau. „Wir hätten gerne einen Fischkopf.“

    „Oder auch zwei“, ergänzte einer der Aale. „Oder drei.“

    „Sei nicht so gierig.“

    „Ein Fischkopf und ein Schokoriegel“, erwiderte Aylette. „Das kann jeder haben.“

    „Nur für sie“, meinte der Mensch und zeigte auf den Tentakelhaufen.

    Aylette reichte beides und das kleine Wesen nahm es ihr mit seinen Tentakeln ab. Den Fischkopf stopfte es sofort in das nicht sprechende seiner beiden Aalmäuler. Den Riegel packte es aus und stopfte ihn dann hinterher.

    „Vielen Dank“, sagte der sprechende Kopf. „Oh nein. Ich fürchte ich muss mich …“

    Der Nahrungskopf erbrach sich blau in eine Kugelfischlaterne, während der Kommunikationskopf weitersprach.

    „… übergeben.“

    Anders als erwartet ging die Laterne nicht aus. Stattdessen schoss kurz eine Feuersäule heraus, dann brannte sie leicht angekokelt und seltsam riechend weiter.

    „Schon gut“, meinte Aylette.

    Sie wollte sich wegen einer Laterne nicht mit eventuellen Dämonen anlegen.

    Als die drei wieder gingen, schloss Aylette die Tür.

    „Ich gehe dann auch mal los“, entschied Garibati. „Du kommst hier zurecht?“

    „Sicher. Aber vergiss nicht, mich um Viertel vor elf abzulösen.“

    „Wie geplant. Keine Sorge.“

    Garibati öffnete die Tür wieder. Dann schob er seine Tauchermaske hoch und gab seiner Frau einen Kuss.“

    „Bis heute Nacht“, sagte er.

    „Bis heute Nacht“, erwiderte sie.

  • Lekiu baute weiter mit den Bausteinen, bis er müde wurde und Aylette ihn ins Gästebett brachte. Die Fischkopfsammler wurden älter und weniger. Es konnte auch nicht mehr so lange dauern, bis Sevian nach Hause gebracht wurde.

    Jetzt wo die Kleinen schliefen, konnte sie eigentlich ihr Kostüm schon mal anziehen …

    Diese Überlegung wurde wieder einmal durch die Türklingel unterbrochen.

    Vor der Tür standen Aujilei, ihr Freund Kell und drei jüngere Teenager. Aylette kannte die drei, sie waren in der Klasse ihrer älteren Söhne. Der Fuchs war Kemmer, das Hermelin Sista und das Kaninchen, das im Schmetterlingskostüm richtig niedlich aussah, war Metla. Urian war total verknallt in sie und glaubte, seine Mutter wisse es nicht.

    „Sammelt ihr Fischköpfe?“, fragte Aylette.

    „Auch“, antwortete Metla. „Aber vor allem suchen wir Kugelfischlaternen. Für ein kleines Projekt.“

    „Du passt auf, dass die Kinder keinen Unsinn anstellen?“, fragte Aylette Aujilei.

    „Natürlich“, bestätigte die.

    „Nehmt die da.“

    Aylette zeigte auf die angekokelte Laterne in die das Aalwesen gekotzt hatte.

    Sista griff danach und hielt dann inne, bevor sie sie berührte.

    „Ich hab noch Sojasauce an den Fingern.“

    Sie leckte die Finger ab, dann lud sie die Laterne auf einen Bollerwagen.

    „Also, viermal Fischkopf und Schokoriegel und einmal nur Schokoriegel, nehme ich an.“

    Metla würde ja wohl keinen Fisch essen.

    „Ich hatte genug“, widersprach Aujilei. „Außerdem kann ich nach Erokas Fischkopf keine Schokolade essen, das verdirbt den Geschmack.“

    Ansonsten waren alle mit dem Angebot zufrieden.

    „Schönen Abend noch“, sagte Kell, als die fünf gingen.

    „Schöne Nacht!“, rief Aylette ihnen hinterher.

    Sie schloss die Tür. Jetzt aber zum Kostüm. Halt. Mista sollte inzwischen auch schlafen gehen. Also erst sie ins Bett bringen.


    Nachdem das erledigt war, ging Aylette ins Schlafzimmer und öffnete den Schrank. Sie würde Acida später hier rauf bringen müssen, ehe sie selbst schlafen ging – nein, das würde ja Garibati tun.

    Sie widmete sich dem im Schrank hängenden Kostüm. Garibati kannte es natürlich, aber sonst niemand. Sie hatte es in einem Katalog entdeckt und heimlich bestellt, um sogar Eroka damit überraschen zu können.

    Es gab drei Arten von Alianbestien auf dem Umringten Kontinent, die Gemeine Alianbestie, die Pilzalianbestie und die Alianbestie des Gehörnten, und man kannte eine weitere, die auf dem Mars vorkam. Alle gefährlich, aber zähmbar. Die Meeresalianbestie hingegen war ein reiner Mythos.

    Und gerade deshalb perfekt.

    Aylette berührte gerade einen Ärmel, als das Kribbeln in den Fingerspitzen zurückkehrte. In denselben Fingerspitzen. Denen, mit denen sie die Hand des Kugelfischkindes berührt hatte und jetzt den Stoff des Kostüms berührte. Dann war es auch schon wieder vorbei.

    Dafür drehte sich der Kostümkopf und sah sie an.

    „Was zum …“

    Sie beendete den Satz absichtlich nicht, wie sie es sich in der Gegenwart ihrer Kinder angewöhnt hatte, aber das Kostüm hätte ihr auch keine Zeit gelassen, denn plötzlich sprang sie der Maskenkopf an und stülpte sich über ihren.

    „Hil – hmmhhm!“

    Der Stoffschlauch an dem das Innenmaul angebracht war, hatte sich nach innen gewölbt und eng über Aylettes Schnauze gezogen, sodass er sie am Sprechen hinderte. Zum Glück war der Stoff luftdurchlässig.

    Sie griff mit den Händen nach dem Kopf, doch schon sprangen die Handschuhe aus dem Schrank, zogen sich über diese und wurden steif, sodass sie nicht mehr in der Lage war, damit zu greifen.

    Nun sprang sie auch der Rest des Kostüms an. Aylette konnte nicht genau erkennen, wie es fähig war, sie ganz einzuhüllen, während sie weiter aufrecht stand, aber nach Sekundenbruchteilen war sie eingepackt in stocksteifen Stoff.

    Das konnte doch nicht wahr sein.

    „Hmh!“

    Und dann bewegte sich das Kostüm. Auch in der Bewegung blieb es unnachgiebig und es war zu stark um es abzubremsen. Die Füchsin konnte nur hilflos zusehen, wie das Monsterkostüm mit ihr im Inneren das Schlafzimmer verließ und die Treppe hinunter ging.

    Es würde doch den Kindern nichts tun, oder?

    Zunächst zerlegte es nur das Bauwerk im Wohnzimmer. Dann ging es in die Küche zu Acida – und zum Glück gleich weiter.

    Letztlich verließ es das Haus auf der Rückseite, sprintete durch den Garten und übersprang den Zaun.

    Wohin konnte es denn wollen?


    „Jetzt sind wir also am Strand und werfen Fischköpfe ins Wasser“, sagte die Krabbenspinne.

    Aylette erkannte ihre Stimme. Das war Dionea. Dann war der Drachenfisch sicher ihre Tochter Netes. Die Größe kam hin.

    „Das macht man eben in der Fischigen Nacht“, sagte der Fisch und bestätigte damit seine Identität.

    Netes drehte sich zu Aylette.

    „Hi“, grüßte sie.

    „Hmmh!“, versuchte Aylette sie zu warnen.

    Dann schoss auch schon das innere Maul hervor und schnappte nach ihr.

    Netes wich rechtzeitig zurück.

    „Was wird das denn?“, fragte Dionea erschrocken.

    „Das Kostüm ist aus Stoff, das war nur ein Scherz“, meinte Netes, klang aber unsicher.

    „Mir egal! Wir gehen! Und Sie folgen uns nicht!“

    „HMHMMH!“

    Dionea nahm ihre Tochter am Arm und ging in Richtung Straße.

    Das Kostüm folgte den beiden nicht.

    Stattdessen wandte es sich dem See zu.

    Meeresalianbestie. Und das war ein Salzwassersee mit direkter Verbindung zum Meer.

    Oh nicht doch.

    Leider doch. Ohne Rücksicht auf die Trägerin, sprang das Kostüm ins eiskalte Wasser.


    Zum Glück war das Kostüm für die Fischige Nacht gedacht, also für Schnee und nasse Straßen. Nur durch die Lücken zwischen den einzelnen Teilen drang etwas Wasser. Das war allerdings unangenehm genug.

    Nach einer Weile streckte das Kostüm den Kopf aus dem See.

    Da war jemand am Ufer. Ein fetter Eisbär, der nichts als eine Hose trug.

    Das Kostüm schwamm direkt auf ihn zu. Er schien es zu bemerken, aber keine Angst zu haben. Wovor auch? Jemandem in einem Kostüm?

    Jetzt stieg es aus dem Wasser. Und er kam darauf zu. He, das war Kaspen. Aus Urians und Lurians Klasse. Er kam weiter auf sie zu.

    „He, wer bist du denn?“, fragte er.

    „Hmmmh!“, warnte Aylette.

    „Was?“

    „Mhmhm!“

    „Sprich mal deutlich!“

    Das versuchte sie ja!

    Vom Kostüm geführt riss sie plötzlich ihre Arme nach vorn und die Krallen, die eigentlich stumpf sein sollten, fuhren durch das Bauchfell und die Haut.

    „Aua!“, rief der Bär.

    Die Verletzung war nur oberflächlich und Kaspen eher wütend als verängstigt.

    „Hmhmmh!“, versuchte es Aylette noch einmal.

    „Ich geb dir gleich hm hm hm!“

    Dann tat der Eisbär etwas völlig unerwartetes: Er ließ sich nach vorn fallen und begrub sie unter sich. Dann packte er den Kopf des Kostüms.

    Konnte er ihn herunterziehen? Sie befreien? Stark war er sicher.

    Plötzlich schoss das innere Maul heraus und zerriss die Kehle des Bären.

    Vollkommen verblüfft starrte der auf sein fließendes Blut, dann verlor er auch schon das Bewusstsein.

    Er war doch nicht tot, oder? Oder?

    Mühelos wälzte das Kostüm ihn zur Seite und stand auf.

    Dann wandte es sich wieder dem Bauch zu. Kurz darauf war der Junge ganz sicher tot.

    Aus irgendeinem Grund machte das Ausweiden dem Kostüm plötzlich keinen Spaß mehr und es lief wieder los. Am Ufer entlang, dann den Weg an der Anstalt hinauf.

    War das Aujilei, die da an dem Loch an der Wand stand?

    Das Kostüm schien sie nicht zu beachten. Gut. Und das … das war doch der Junge mit der Kugelfischmaske!

    Aujilei verschwand durch das Loch und der seltsame Junge folgte. Was ging da vor?

    Das Kostüm kümmerte sich nicht darum. Es kehrte wieder um in Richtung See.

  • Nachdem es Kaspens Leiche in den See geworfen hatte, war das Kostüm etwas ziellos herumgelaufen. Jetzt entfernte es sich vom See. Es schlich hinter den Gärten der Häuser herum. Es wollte doch nicht zurück zu ihr? Zu Mista, Lekiu und Acida?

    Nein, es lief weiter.

    Schließlich sprang es doch noch über einen Zaun in einen Garten.

    Den englischen Rasen und die akkurat beschnittenen Bäume hätte Aylette überall wiedererkannt. Das war Erokas Garten. Und da war die Glasfassade ihres Esszimmers, auch wenn man das Zimmer aufgrund der zugezogenen Vorhänge nicht sehen konnte.

    Das Kostüm beschleunigte. Und hielt genau auf die Glastür zu.

    Es würde doch nicht …

    Klirrend brach das Glas. Irgendwie gelangte kein Splitter in das Kostüm oder schnitt es auf.

    Aylettes Blick fiel auf Kellen, Kastas Sohn.

    Oh nein. Das Kostüm würde doch nicht …

    „Hmhhm!“, versuchte die Polarfüchsin verzweifelt zu rufen. „HMHHMH!“

    Kellen blieb eine Weile stehen und starrte sie an.

    Dann lief er in die Küche.

    „Oma! Monster!“, rief er.

    Seine Großmutter, Eroka, erschien in der Küchentür.

    „Wer sind Sie und was wollen Sie?“, fragte sie.

    „Mhmmh!“

    „Wie bitte?“

    „Hmhmh!“

    „Gehen Sie bitte wieder. Solange Sie dieses Kostüm tragen, laufe ich Ihnen mit Leichtigkeit davon und rufe die Polizei.“

    Darauf schien das Kostüm zu reagieren, denn es rannte aus dem Stand auf Eroka zu. Die warf sich zur Seite und das Kostüm rannte in den Küchentisch, auf dem ungewöhnlich viele Gläser standen. Gerade beim Aufprall war der Stoff natürlich wieder nachgiebig und Aylette bekam die Kante der Tischplatte mit voller Wucht in den Bauch.

    So schnell, dass ihr schwindelig wurde, drehte sich das Kostüm wieder um, und versuchte einen erneuten Angriff. Ehe es aber auch nur die Tür zum Esszimmer erreicht hatte, trat es auf irgendetwas rundes, verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten.

    Aylette hatte gar keine Zeit, erleichtert zu sein, ehe plötzlich alles schwarz wurde.

  • Da die Arbeit wieder begonnen hat, wird es wohl jetzt immer etwas später werden.


    Wie auch immer, nun folgt der vielleicht ... unangenehmste Abschnitt der ganzen Geschichte.


    Neunter Abschnitt: Grarr


    Grarr betrachtete die Quallengirlande, die er gerade aufgehängt hatte. Ja, die sah doch gut aus. Der Eiswolf ließ seinen Blick durch die Turnhalle schweifen. Die Tische in der Mitte, mit kleinen Kugelfischlaternen, die Girlanden, die große dunkelbraune Muschel mit den zahnartigen weißen Stacheln, die hier und da in Dreiergruppen aus dem gewellten Rand ragten.

    Ja. Alles angemessen.

    Natürlich wussten die Kinder diesen Tag nicht zu schätzen. Sie kannten das Fischgesicht nicht so wie er es kannte. Sie waren nicht dabei gewesen, als es vor vielen Jahren Niansstadt besucht hatte.

    Das war eine Fischige Nacht gewesen … Wie lange war es jetzt her? Dreißig Jahre, nicht wahr? Ein Jubiläum.

    Das Fischgesicht hatte ihm den Schrecken seines Lebens eingejagt. Natürlich hatte er damals noch nicht gewusst, wer und was es war. Doch nach der Begegnung, die er als einziger aus seiner Bande überlebt hatte, hatte er nachgeforscht. Er hatte das Fischgesicht studiert und seine Regeln. Und wenn es je wiederkam, würde es sehen, dass er alles richtig machte.

    Nicht wie diese Kinder. Aber das machte sie ja gerade zu Kindern, oder? Sie würden es noch lernen.

    Durch den Eingangsbereich ging Grarr nach draußen auf den Hof. Die Kinder waren nicht da. Suiana musste mit ihnen losgezogen sein, Fischköpfe sammeln. Das war gut so. Die Feuerstelle war noch kalt. Natürlich. Man entzündete kein Feuer, um es dann allein zu lassen.

    Grarr betrat das Hauptgebäude, den ehemaligen Fürstensitz. Der Stadtgründer Ebtomian hatte ihn bauen lassen und darin gewohnt. Ein Ritter von Thaine. Und der Orden verwaltete die Schule noch heute, auch wenn niemand vom Personal Mitglied war.

    Der abgewetzte Steinboden musste mit neuen Teppichen vor weiterer Abnutzung geschützt werden, doch an den Rändern der Flure und Räume war er noch sichtbar. Auch die Wände strahlten noch die mittelalterliche Wehrhaftigkeit der Burgen des Ordens aus, auch wenn dies keine ganze Burg gewesen war.

    Eine breite Treppe und ein langer Flur führten Grarr in den ehemaligen Schlafsaal, wo heute das Büro der Direktorin war. Die ältere Schneehäsin war vertieft in irgendein Schriftstück.

    Er kannte sie schon seit längerem. Früher war Aunhar seine Lehrerin gewesen und eine … etwas nervige. Und bereit, die Klasse jederzeit für ihren jeweils aktuellen Freund stehen zu lassen. Gar nicht so viel anders als Suiana, seine damalige Mitschülerin und jetzige Kollegin, heute.

    „Frau Direktorin?“, sagte er vorsichtig.

    Sie blickte auf.

    „Oh. Grarr. Sind Sie fertig?“

    „Mit allem. Ich will Ihnen nur mitteilen, dass ich nun gehe.“

    „Natürlich. Gehen Sie nur.“

    „Wollen Sie nicht auch Feierabend machen?“

    „Und Suiana allein hier zurücklassen? Oh nein. Dafür ist sie zu … chaotisch. Außerdem ist zuhause niemand. Meine Frau arbeitet noch.“

    „Na dann … noch eine schöne Fischige Nacht.“

    „Danke, Ihnen auch.“


    Als er über die Treppe nach unten ging, konnte Grarr die Polarfüchsin sehen, die sich im zentralen Flur des Gebäudes aufhielt. Sie hatte ihr Rückenfell schwarz gefärbt und Beine und Schnauze orange und trug offenbar nichts als schwarze Unterwäsche.

    Wohl kaum ein angemessenes Kostüm.

    Sie bemerkte ihn auch und kam ihm ein paar Stufen entgegen, nur um ihm zu folgen, als er an ihr vorbei ging.

    „Hi, Süßer“, grüßte sie. „Heute Abend schon was vor?“

    Er drehte sich um und sah sie an. Das Mädchen kannte er doch.

    „Lina.“

    „Oh, Sie kennen mich noch.“

    Allerdings. Er erinnerte sich, dass sie mit vierzehn die Schule abgebrochen hatte. Wie lange war das jetzt her …

    Sie trat nahe an ihn heran.

    „Für ein paar Zirei können Sie mich näher kennen lernen“, flüsterte sie ihm, aufgrund des deutlichen Größenunterschiedes, ein gutes Stück unter das Ohr.

    Er erinnerte sich wieder, wann es gewesen war.

    „Hör mal, ich weiß, dass du erst siebzehn bist. Du darfst deinen Körper gar nicht verkaufen.“

    „Das nehmen wir doch nicht so genau, hm?“

    „Und auf dem Schulgelände ist es sowieso verboten.“

    „Na, darauf kommt es dann doch auch nicht mehr an, oder?“

    „Weiß deine Mutter, was du hier tust?“

    Sichtlich erschrocken wich Lina zurück.

    „Sagen Sie ihr nichts davon! Bitte!“

    „Das hängt ganz von dir ab.“

    Er packte ihren Arm und zog sie wieder an sich heran.

    „He! Wollen Sie jetzt ‘nen Gratisfick erpressen? Das ist aber ganz mies.“

    Stimmt.

    Er legte seine rechte Hand auf ihren Hintern, während er mit der linken in seine Hosentasche griff.

    „Findest du? Fragen wir doch deine Mutter, was sie darüber denkt.“

    Das Mädchen schloss die Augen und atmete tief durch. Dann lächelte es und öffnete sie wieder.

    „Das wird nicht nötig sein.“

    Es schmiegte sich an ihn und rieb sich an seinem Schritt.

    „Hast du hier einen ruhigen Ort für uns?“

    Er fand, was er in seiner Hosentasche suchte.

    „Ich denke, ich weiß da was …“

    „Backen wir auch Stockbrot?“, rief eine Kinderstimme.

    „Natürlich. Das habe ich doch schon gesagt“, antwortete Suianas.

    Grarr schubste Lina von sich weg und ließ das Klappmesser in seiner Tasche los.

    „Geh nach Hause!“, sagte er. „Du hast an dieser Schule nichts mehr zu suchen!“

    „Oh, Herr Grarr, Sie sind noch hier?“

    Lina eilte schon davon, als Suiana, verkleidet als Eiskrabbe, mit den Kindern durch das Tor zum vorderen Gebäudeteil herein kam.

    Sie konnte mit den Kindern umgehen, das war nicht zu leugnen. Solange ihr Freund nicht dazwischen kam. Und dass sie derzeit keinen hatte, machte es nur noch schlimmer, denn das bedeutete nur mehr Verabredungen.

    Sie war natürlich auch in der Stadt gewesen, damals, vor dreißig Jahren. Aber soweit Grarr wusste, war sie nicht dem Fischgesicht oder einem seiner Boten begegnet.

    Aber alles in allem war die weiß-orange gescheckte Füchsin die meiste Zeit da.

    „Praktisch weg. Ich wurde von diesem Mädchen aufgehalten, das hier rumlungerte, aber das Problem konnte ich lösen.“

    „Gut. Einen schönen Abend noch.“

    „Eine gute Fischige Nacht.“

    „Was heißt rumlungern?“, fragte ein Kind.


    Als Grarr nach Hause kam, fand er seinen Sohn in der kleinen Werkstatt im Keller vor. Rarrg war sechs Jahre alt – alt genug um mit den relativ ungefährlichen Werkzeugen hier umzugehen.

    Seine Mutter hätte das womöglich anders gesehen …

    Mike war sechs Jahre jünger gewesen als Grarr, zehn Jahre alt in der Nacht in der das Fischgesicht gekommen war. Ihm war sie nicht begegnet, jedenfalls hatte sie es nicht erwähnt, doch sie und ihre Freundin hatten eine Kreatur getroffen, die zweifellos durch seine Macht entstanden oder zumindest in die Stadt gelangt war. Sie hatten sich von hinten in den dschungelartigen Garten eines Hauses geschlichen, in dem ein alter Botaniker gelebt hatte, um ihm irgendeinen blöden Streich zu spielen, als Rache dafür, dass er ihnen nur Fischköpfe und keine Süßigkeiten gegeben hatte.

    Die Tentakel des Pflanzenwesens, dem sie nach langem herumirren im scheinbar riesigen Garten begegnet waren, hatten sie beide gepackt und ihnen ziemlich zugesetzt, doch nur die Freundin hatten sie zerrissen, ehe der Botaniker mit Unkrautvernichter eingegriffen hatte.

    Er hatte nicht erklären können, wo diese Pflanze her kam.

    Grarr konnte es. Das Fischgesicht tat so etwas. Es beschwor oder veränderte Dinge, damit sie ihm nützten, damit sie die bestraften, die seinen Regeln nicht gehorchten.

    „Machst du Laternen?“, fragte er.

    „Ja“, antwortete Rarrg. Er drehte sich um und offenbarte, dass er seine Kugelfischmaske aus Pappe trug. „Koii kommt bald her. Das hier ist die siebte, aber viel Material ist nicht mehr da.“

    „Für wie viele reicht es denn noch?“

    „Ich glaub … noch fünf.“

    „Das genügt. Ich besorge später Material für nächstes Jahr. Mach jetzt erst mal eine Pause.“


    Auch wenn Rarrg zuhause bleiben würde, nicht einmal die Tür öffnen würde (denn niemand würde klingeln, wenn die Schüssel mit den Fischköpfen draußen stand), musste er doch ein Kostüm tragen. Natürlich hatte er es heute schon einmal getragen, zur Feier in der Vorschule, aber das zählte nicht. Da war es noch nicht dunkel gewesen. Seitdem trug er die alte Kugelfischmaske. Aber die war nur eine Maske und zudem nicht mehr im besten Zustand.

    Also zog er nun das Kostüm wieder an und stand bald darauf als wehrhafter Seeigel vor seinem Vater.

    „Perfekt“, fand der.

    Es klingelte an der Tür.

    Vielleicht Kinder, die Fischköpfe sammelten. Noch stand die Schüssel ja nicht draußen. Oder Koii.

    Als Grarr öffnete stand tatsächlich der vierzehnjährige Schneelöwe Koii samt seinem kleinen Handwagen vor ihm. Der Wolf betrachtete die Verkleidung als Tiefseeanglerfisch. Angemessen, befand er.

    „Hallo. Ich bin hier um die bestellte Ware abzuholen.“

    „Rarrg, Koii ist hier. Wie viele Laternen hast du ihm versprochen?“, rief Grarr in die Wohnung.

    „Sechs!“, rief Rarrg zurück. „Der Rest ist für unseren Vorgarten!“

    „Ich nehme an, die große kann ich nicht nehmen“, scherzte der Löwe.

    Grarr warf einen Blick auf sein eigenes Werk aus einem alten Zelt, einem Gaslicht und viel Draht, das bereits hell brannte und laut fauchte.

    „Nein, das wird eher nicht gehen. Ich hole die Laternen.“

    „Und ich krame schon mal das Geld raus. Eine ist umsonst, wie immer?“

    „Ja, die für dich. Verkaufe sie nicht.“

    „Wie immer.“

    Grarr hatte gelernt, die Kugelfischlaternen zu machen, nachdem ihn damals eine gerettet hatte. Die und sein Feuerzeug. Obwohl er nicht mehr rauchte, hatte er immer noch stets eins dabei, für den Fall, dass in der Fischigen Nacht die Laterne ausging.

    Inzwischen machte er nur noch wenige selbst. Sein Sohn konnte das gut.

  • Grarr hängte das Schild mit der Aufschrift „Jeder nur einen“ um seinen Hals, ehe er die große hölzerne Schüssel nahm, die er mit Fischköpfen gefüllt hatte. Sie waren getrocknet, damit der Geruch kein Ungeziefer anzog (wobei es für Ameisen eh zu kalt war), gewürzt und mit Soße verfeinert, wie jedes Jahr.

    Als er rausging fiel ihm eine Katze auf, die gerade die Dekoration bewunderte. Sie trug ein Meerjungfrauenkostüm mit blauer Perücke und hatte ein geflecktes Fell.

    Ein kleiner Leopard? Ein Ozelot?

    „Sie wollen wohl nicht den ganzen Abend zuhause bleiben“, rief sie von der Grundstücksgrenze hinüber.

    „Ganz recht“, erwiderte er. „Ich bereite das hier vor, dann ziehe ich mein Kostüm an und gehe selbst los. Möchten Sie einen?“

    „Ich habe schon einen geopfert.“

    „Nun, dass man nur einen opfert heißt nicht, dass man nur einen haben kann. Sie schmecken gut. Wenn Sie einen in den See werfen ist das Ihr Opfer. Wenn ich Ihnen einen gebe ist es meins.“

    „Inwiefern das?“

    „Weil jeder, der sich in dieser Nacht angemessen verkleidet, zum Avatar des Fischgesichts wird.“

    Das Mädchen kam näher. Grarr stellte die Schüssel ab und nahm sich das Schild ab um es dahinter zu stellen. Jetzt konnte er erkennen, dass die junge Frau eine Wildkatze war. Wenn auch ungewöhnlich gemustert.

    Er setzte sich auf die Türschwelle und sie nahm neben ihm Platz.

    „Ich bin nicht von hier“, begann sie. „Wer ist dieses Fischgesicht?“

    Ah. Zur Abwechslung mal jemand, den es interessierte.

    Und Grarr erklärte es.

    Während des höchst angenehmen Gespräches, bemerkte er eine Gruppe, die einen Bollerwagen mit Kugelfischlaternen hinter sich her zog. Sie bestand aus seinen Schülern, wenn auch aus zwei ganz verschiedenen Klassen.

    Was sie wohl vorhatten? Das Interesse für Kugelfischlaternen war erst einmal gut, aber man konnte in große Schwierigkeiten geraten, wenn man Unsinn mit ihnen anstellte.

    Er und seine Freunde hatten sie damals gestohlen, zu Pyramiden aufgestapelt und sie mit Bällen abgeworfen.

    Und dann war das Fischgesicht erschienen …

    „Sagen Sie, gehen Sie ganz alleine feiern?“, fragte die Katze, nachdem er so ziemlich alles erklärt hatte.

    „Ja, mein Sohn ist noch zu jung dafür. Er bleibt hier und macht mehr Fischlaternen.“

    „Bei seiner Mutter?“

    „Nein, alleine. Er kommt gut alleine zurecht.“

    Die Katze lehnte sich gegen Grarr.

    „Lust auf eine Begleitung?“, schnurrte sie.

    Bloß nicht.

    Er lachte.

    „Nein, wirklich nicht. Und … das hier ist auch nicht die Nacht dafür. Aber warum interessiert dich das eigentlich so?“

    „Die Fischige Nacht ist der Grund warum ich hier bin. Und … ich mag es, wenn die Dinge vollständig sind.“

    Er verstand.

    „Das Fest macht erst wirklich Spaß, wenn du alle Hintergründe kennst.“

    „Ja.“

    „Du magst keine fehlenden Teile im Puzzle.“

    „Hmh.“

    „Nun, wenn du dich vorher über das Fest informiert hast, habe ich dir jetzt alles erzählt, was dir noch neu sein könnte. Nach dem aktuellen Forschungsstand. Nimm einen Fischkopf, ich ziehe mich jetzt um.“

    „Eine Sache noch. Warum die Köpfe?“

    „Als man den Fisch noch nicht so fein aufteilen konnte und ihn nur roh aß, waren die Parasiten im Darm eine große Gefahr. Deshalb aßen die Kobolde und die wilden Füchse und Wölfe nur die Köpfe.“

    Er entschied, dass es Zeit war, die Sache zu beenden. Also stand er auf und ging rein.


    „Sieh zu, dass das Licht im vorderen Teil des Hauses aus bleibt. Sonst klingeln nur wieder alle, die mehr als Fischköpfe wollen“, rief Grarr seinem Sohn zu, der gerade wieder hinunter zur Kellerwerkstatt ging.

    Schließlich konnte sein Sohn nicht ständig Leute abwimmeln.

    Der Wolf zog den letzten Handschuh über. Er war so etwas wie eine Quallenhandpuppe, wobei einzelne Fäden einzelne Finger beherbergten und er daher gut damit greifen konnte.

    Der andere Handschuh war nur schwarz, wie der größte Teil des Kostüms, bis auf die aufgemalten und angenähten weißen Quallen überall und den großen Quallenhut.

    Er sah in den Spiegel. Ja, er machte sich ganz gut als Quallenschwarm.

    „Ich gehe jetzt los!“, rief er.

    Sein Sohn antwortete nicht. Er war wohl beschäftigt. Vielleicht hatte er ihn auch nicht gehört, was eigentlich nichts machte, denn er wusste ja sowieso Bescheid.

    Grarr verließ das Haus und überquerte die verkehrsfreie Straße. Von diesem Ende des Parks aus nahm er einen der Wege in Richtung Zentrum.

    Er konnte den Platz mit den Ständen nicht sehen, da einige Bäume im Weg standen, aber er wusste ungefähr, wie man sie auch dieses Jahr wieder aufgebaut haben würde.

    Und er wusste, was für Leute er dort erwarten konnte.

    Unterwegs überholten ihn zwei Gestalten, eine Spinnenkrabbe und ein kleinerer Drachenfisch.

    „Ich will irgendwohin wo mehr Leute sind“, sagte die Krabbe gerade. „Wer weiß, wie viele Spinner es noch gibt.“

    „Der im Alianbestienkostüm war sicher harmlos“, wandte der Drachenfisch ein.

    Grarr erkannte die Stimme, aber ihm fiel der Name des Mädchens nicht ein.

    „Oh, hallo, Herr Grarr.“

    Der Drachenfisch nahm seine Maske ab.

    Netes. Genau.

    „Hallo, Netes. Sie sind auch auf dem Weg in den Park?“

    „Meiner Mutter hat der See nicht gefallen.“

    „Dir doch wohl auch nicht“, meinte die Krabbe.

    Aber sie waren da gewesen. Und sie trugen Kostüme. Soweit verhielten sie sich korrekt.

    „Sie wollen auch feiern?“, fragte Netes.

    „Ich will vor allem die Trommel hören.“

    „Aujilei ist noch vor uns von hier abgehauen“, meinte Netes’ Mutter.

    Richtig. Aujilei schlug dieses Jahr die Trommel. Wie hatte er das nur übersehen können, als er sie mit Metla gesehen hatte?

    „Aber sie wollte sicher zurückkommen“, meinte er. „So eine Ehre wirft man doch nicht weg.“

    „Irgendwann bestimmt“, stimmte Netes zu.

    Allerdings war tatsächlich noch keine Trommel zu hören.


    Grarr war enttäuscht. Er hatte im Park eine Weile auf Aujilei gewartet, aber sie war nicht mehr aufgetaucht. Er hatte ein paar notgeile Mauswiesel in unangemessenen Kostümen gesehen, aber die konnte ihre Strafe ja nicht vor aller Augen ereilen.

    Es gab allerdings noch einen Ort, an dem er finden konnte, was er suchte: Leiras berüchtigte Fischparty für Erwachsene. Er hatte ja sogar eine Einladung bekommen.

    Die 22 war deutlich markiert mit Seeigeln auf der Tür, die die Hausnummer bildeten, aber er hätte sie auch so gefunden, schließlich wohnte er ja nur zwei Häuser weiter.

    Sehen konnte er die Seeigel nur seitlich von der Straße, denn die Tür stand offen. Ein Walross sprach mit einem Rochen und einer Möwe, die beide Menschen zu sein schienen.

    Als er das Grundstück betrat, konnte er nicht nur Lenthel im Walrosskostüm erkennen, er verstand auch, was er mit den beiden besprach.

    „Wir haben Sie aber nicht eingeladen. An zwei Menschen würde ich mich erinnern.“

    „Nein“, gab die Möwe zu. „Wir kommen nur so vorbei.“

    „Na, kommt einfach rein.“

    „Aber ich bin eingeladen!“, rief Grarr,

    Er beeilte sich, zur Tür zu kommen.

    „Grarr, natürlich. Ich werde nicht den Mann verärgern, der mal meine Tochter unterrichten wird.“

    Lenthel grinste und die beiden Männer gingen ins Innere des Hauses.

    Die Party war schon in vollem Gange, Lenthels Frau Leira konnte Grarr zwar nicht sehen, dafür andere Nachbarn wie Garibati und die unzertrennlichen Hans und Käse.

    Lenthel war ursprünglich nicht aus Niansstadt und Leira war damals nicht auf Grarrs Schule gewesen, sondern auf der kleinen Privatschule. Das war nur logisch, Anhänger des Gehörnten Drakon schickten ihre Tochter nicht auf eine Schule des Ordens von Thaine. Wobei Lenthel das offenbar nicht so ernst nahm, wenn er ihn als zukünftigen Lehrer seiner Tochter sah.

    Die Party war … fürchterlich. An sich war es nicht schlimm, zu feiern, und alle waren auch kostümiert, aber es war nicht zu übersehen, dass viele es eilig hatten, aus den Kostümen wieder heraus zu kommen. Und dass einige Kostüme designt waren um genau diesen Wunsch zu wecken. Dazu wurden Unmengen von Alkohol konsumiert.

    Als er seinen Blick über die Gäste schweifen ließ, fielen Grarr einige grenzwertige Kostüme auf, aber eines ging überhaupt nicht.

    In der Kleidung eines mittelalterlichen Henkers, an der so gar nichts auf das Meer hinwies, machte sich ein weibliches Hermelin, augenscheinlich wenig jünger als er, über das Buffet her.

    Da musste jemand eingreifen.

    Der Lehrer sah sich nach einem geeigneten Ort um. Die Küche fiel ihm ins Auge. Er huschte hinein und sah sich die Schiebetür von innen an. Ja, ein Riegel. Perfekt. Es lebe die Paranoia der Reichen.

    Eine Tischdecke gab es auch. Und da standen Kühlboxen.

    Grarr sah hinein. In einer waren Fischköpfe, die anderen beiden enthielten nur ein paar Kühlelemente. Die Fischköpfe konnte man ins Eisfach umfüllen.

    Zufrieden verließ er die Küche wieder.

    Grarr ging auf das Wiesel zu.

    „Guten Abend, schöne Dame. Ich glaube, wir wurden uns noch nicht vorgestellt.“

    Das Hermelin drehte sich um und kicherte.

    „Naimee“, enthüllte es.

    „Ich bin Grarr. Ich bin Lehrer.“

    „Das ist ja sehr … interessant.“

    Es dauerte nur wenige Minuten, bis sich Naimee an den Wolf schmiegte und er sie mühelos in die Küche führen konnte. Nein, sie respektierte das Fischgesicht offensichtlich kein bisschen.

    Er schloss die Schiebetür und schob den Riegel vor.

    „So haben wir etwas … Privatsphäre.“

    Sie war schon dabei sich auszuziehen.

    „Leg dich doch auf den Tisch“, schlug er vor, als er nach dem Klappmesser in seiner Tasche griff. „Die Tischdecke ist sicher waschbar. Da kriegt man eventuelle Flecken wieder raus.“

  • Als Grarr die Küche wieder verließ, kam Leira gerade ins Wohnzimmer.

    Er mischte sich wieder unter die Gäste. Dass er eine Kühlbox bei sich trug, schien niemandem aufzufallen.

    Er suchte nach weiteren Regelbrechern, aber die Gäste bewegten sich alle schlimmstenfalls in einer Grauzone. Es sah ganz so aus, als sei seine Arbeit hier getan.

    Dann bemerkte Grarr, dass Leira einen weiteren Gast einließ. Ein Mauswiesel, das ganz und gar nicht angemessen gekleidet war. Es war, und das äußerst freizügig, verkleidet als der urbane Mythos Squire Batons (klar zu erkennen an den roten Uniformrändern und dem Kampfstab auf dem Rücken), der zu einer Superheldenfigur für Kinder verarbeitet worden war.

    Kein Meeresthema, nuttig und eine Figur aus einer Kindersendung – das war unverzeihlich.

    Und als ob das nicht schlimm genug gewesen wäre, hielt es schnurstracks auf einen männlichen Schneeleoparden im Kostüm eines Kraken zu.

    Die Unterhaltung zwischen beiden konnte Grarr zwar nicht hören, aber die Gestik und Mimik war überdeutlich.

    „Aaahh!!!“

    Das war Leira. Sie stand im Eingang und wurde angegriffen von Fischköpfen.

    Fischköpfen. So etwas passierte nicht einfach. Es war wieder da.

    „Schatz!“

    Lenthel lief in Richtung seiner Frau. Als er sie erreichte, fiel sie schon zu Boden.

    Die Fischköpfe allerdings hatten ihre Attacke offenbar beendet.

    „Raus!“, rief er, „Raus, alle raus, die Party ist beendet!“

    Er trug seine Frau ins Innere, sodass die Gäste Platz hatten zu gehen. Grarr behielt dabei das Wiesel im Auge. Es zog den Schneeleoparden am Arm durch die Wohnung und nach draußen.

    Grarr folgte, nicht zu dicht.

    Die beiden gingen in den Park. Vielleicht konnte er sie zwischen den Bäumen erwischen.

    Als er das Gras betrat, klappte er das Messer in seiner Tasche auf.

    Kurz vor den Bäumen stießen zwei weitere Wiesel dazu, Squire Cups und Squire Coins. Ebenfalls dabei waren ein junger aber wohl erwachsener Polarfuchs im Kostüm eines Hummers und eine etwas jüngere Füchsin im Schwarzhaikostüm, die er als seine Schülerin Kasta erkannte.

    Das waren zu viele.

    Grarr sah auf die Kühltasche. Es wurde sowieso Zeit, die Ausbeute nach Hause zu bringen.


    Als er nach Hause kam fiel ihm als erstes auf, dass neue Laternen im Vorgarten standen. Rarrg war fleißig gewesen. Dann bemerkte er etwas anderes.

    Direkt vor Grarrs Tür stand jemand und nahm einen Fischkopf aus der Schüssel. Der schwarz gefärbte Rücken war schon verräterisch, aber als Lina sich umdrehte erkannte der Eiswolf sie sicher.

    „Guten Abend, Lina.“

    Die Füchsin zögerte.

    „Guten Abend“, antwortete sie schließlich.

    Er kam auf sie zu. Dabei bemerkte er, dass die Holzschüssel vor der Tür leer war. Hoffentlich hatte niemand mehr als einen Fischkopf genommen. In größeren Mengen war die Spezialsoße alles andere als magenfreundlich.

    „Wissen Sie was, sagen Sie meiner Mutter was Sie wollen! Die wird Ihnen sowieso nicht glauben!“

    Sie bluffte. Er beschloss, mitzuspielen.

    „Ach, das habe ich doch nur gesagt, weil ich dich vom Schulgelände weg haben wollte. Hast du vielleicht Lust, dir ein paar Zirei zu verdienen?“

    Ihr Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig.

    „Aber immer doch.“

    Grarr schloss die Tür auf und führte Lina in sein Haus. Sogleich bewunderte sie die Einrichtung.

    Es war eigentlich nichts Besonderes dabei, jedenfalls nichts, das auf den ersten Blick besonders erschien (man musste schon sehr genau hinsehen um festzustellen, dass der Schirm der Stehlampe eine Brustwarze hatte). Er bekam ein Lehrergehalt und musste ein Kind versorgen. Allerdings wusste er, wie es bei Lina zuhause aussah. Im Vergleich dazu wohnte er in einer Villa.

    Die Tür zur Kellertreppe stand immer noch offen.

    „Rarrg, bist du noch da unten?“

    „Ja!“, kam die Stimme des Jungen zurück. „Ich bastle was aus den Pergamentresten!“

    „Ich habe neue Haut besorgt! Das wird tolles Pergament für nächstes Jahr!“

    „Stell sie vor die Treppe, ich sehe sie mir später an!“

    Grarr stellte die Kühlbox ab. Dann legte er einen Arm um Lina, die Hand auf ihre Schulter, und führte sie die Treppe hoch.

    „Wo ist seine Mutter?“, wollte sie vielleicht wissen, fragte sie aber wahrscheinlich nur, um eine künstliche Nähe herzustellen.

    „Sie wurde vor einigen Jahren überfallen und dabei tödlich verletzt. Rarrg war noch sehr jung, er erinnert sich nicht mehr an sie.“

    Im Grunde hatte die Sache mit Mike auch in der Fischigen Nacht vor dreißig Jahren begonnen. Erst hatte man Grarr verdächtigt, seine Freunde selbst getötet zu haben. Ein Beamter hatte ihn gleich bei der Ebtom-Anstalt abliefern wollen, aber die war gerade erst gelöscht und dann ja auch nie wieder geöffnet worden. Man hatte ihm schließlich doch geglaubt, zumal die Tat viel zu professionell ausgeführt war, als dass er es hätte gewesen sein können. Das Fischgesicht hatte seine Freunde nicht nur getötet, es hatte ihnen die Haut abgezogen. Er hätte das damals nie so gut hinbekommen.

    Natürlich hatte er Therapie gebraucht. Gruppensitzungen bei den Opfern Magischer, Ektoplasmischer oder Göttlicher Katastrophen, OMEGK. Es war unglaublich, was den Leuten so zustieß. Manche hatten durch unbedachte Wünsche an magische Kreaturen ihre Spezies gewechselt, hatten nicht nur entdeckt, dass der beste Freund ein Werwolf war, sondern hatten sich auch infiziert und ihn im Sumpf ertrinken sehen, hatten festgestellt, dass ihre geliebten Verwandten seit langem tot und mordende Geister waren oder waren im Alter von zwölf Jahren von einer besessenen Puppe versklavt worden. Die Zeitungen berichteten nie über soetwas.

    Auch Mike war zu den Treffen gekommen und Grarr hatte sie so näher kennen gelernt. Ein romantisches Interesse hatte er an einem kleinen Mädchen natürlich nicht gehabt.

    Das war erst viel später gekommen, als er nach Studium und ein paar Reisen wieder nach Niansstadt gekommen war.

    Sie war ihm perfekt erschienen, schon weil sie aufgrund ihrer Erlebnisse das Fischgesicht ebenfalls respektiert, ja gefürchtet, hatte.

    Aber wie sich letztlich herausgestellt hatte, nicht genug. Nicht genug um ihrem Sohn denselben Respekt beizubringen.

    „Ich werde nächstes Jahr achtzehn“, sagte Lina. „Meinst du nicht, der Junge kann eine Mutter gebrauchen?“

    Darauf wollte sie also hinaus. Sie wühlte seine schmerzhaften Erinnerungen auf um sich dann ins gemachte Nest zu setzen. Als ob sein Sohn eine Mutter gebraucht hätte, die nur elf Jahre älter war als er.

    Sie würde es nicht so leicht haben wie die anderen, beschloss Grarr. Sie würde leiden.

    Er nahm die Hand von ihrer Schulter und legte sie auf ihren Hintern.

    „Besprechen wir das doch hinterher.“

  • Grarr sah auf die Füchsin hinab. Sie hatte sich bereitwillig mit Hand und Fußgelenken an die Bettpfosten fesseln lassen, sobald er ihr einen Bonus dafür versprochen hatte. Ihre Kleidung, falls man das überhaupt so nennen konnte, war sie auch gern losgeworden. Sogar dem Knebel hatte sie zugestimmt.

    Erst als er die Plastikfolie unter sie gelegt hatte, war sie etwas nervös geworden.

    Er hatte inzwischen ein paar Schnitte gemacht, noch nicht tief, aber schmerzhaft. Er hatte keine Ahnung von Folter. Letztendlich würde er sie wohl einfach häuten ohne sie vorher zu töten. Aber irgendwie erschien ihm das nicht genug.

    Sie wusste ja noch nicht, dass sie sterben sollte. Vielleicht konnte er sie glauben lassen, er wolle ihr etwas anderes antun.

    „Legen deine Kunden eigentlich Wert auf dein Aussehen?“, fragte er sie.

    Der Knebel saß so fest, dass sie kein hörbares Geräusch heraus brachte.

    „Würde es dem Geschäft schaden, wenn du, sagen wir mal, nur ein Auge hättest?“

    Panik verdrängte den Schmerz in ihrem Gesicht und sie wehrte sich heftiger gegen die Fesseln.

    Er legte das Messer über ihrem rechten Auge an.

    „Du solltest besser still halten. Das Messer könnte sonst abrutschen und vielleicht deinen Hals erwischen.“

    Und sie hörte tatsächlich auf, sich zu wehren. Still lag sie natürlich trotzdem nicht. Sie zitterte wie ein Kind, das man zur Strafe im Kühlschrank sitzen ließ.

    Normalerweise machte es ihm keinen Spaß, die Angst in den Augen der Verurteilten zu sehen. Er erlöste sie so schnell wie möglich davon. Hier war es etwas anderes.

    Er schnitt in die Haut, bis er auf den Schädel traf. Dann erhöhte er den Druck ein bisschen, auch wenn die Klinge natürlich hier noch nicht tiefer eindrang. Als er sie schräg über das blaue Polarfuchsauge zog, drang sie tief ein, ehe sie auf der anderen Seite wieder dem Knochen folgend nach oben stieg.

    Unglaublicher Schmerz war im Gesicht der Füchsin zu erkennen, Augenflüssigkeit vermischte sich mit Blut.

    „Das wird eine hübsche Narbe geben“, behauptete Grarr.

    Das war natürlich gelogen. Der Schnitt würde keine Zeit haben, zu vernarben.

    „Ob dir jemand glaubt, wenn du erzählst, dass ich dir das angetan habe? Schließlich gibt es eine Menge Verrückte da draußen. Jeder Freier stellt ein Risiko dar. Du willst nicht zugeben, dass du mit einem Unbekannten mitgegangen bist und schiebst stattdessen alles deinem früheren Lehrer in die Schuhe? Wie kannst du nur.“

    Es war nicht anzunehmen, dass er damit wirklich durchkäme. Würde ihn die Polizei erst einmal verdächtigen, dann würde sie schnell eine ganze Menge Hinweise auf seine diversen Taten finden. Aber so weit würde es natürlich gar nicht erst kommen.

    Er hob ihre Handtasche vom Boden auf.

    „Recht schwer“, fand er und öffnete sie.

    Er fand einiges Geld darin, darunter auch fremde Währungen, sogar blaue Münzen, die ihm gar nichts sagten.

    „Deine Tageseinnahmen, hm? Waren wohl viele Touristen unter deinen Freiern.“

    Er schloss die Tasche wieder und warf sie zurück auf den Boden.

    „Wo wir schon von Freiern reden …“

    Er legte die Messerspitze auf ihren Bauch, schnitte aber nicht ein. Dann ließ er sie abwärts wandern, bis er zwischen ihren Beinen ankam.

    „Wie reagieren die wohl, wenn sie hier hartes Narbengewebe vorfinden?“

    Jetzt schaffte es Lina tatsächlich, ein leises Wimmern von sich zu geben.

    Grarr kam eine neue Idee. Er hatte nicht oft eine Verurteilte bei sich zuhause. Er konnte es nutzen.

    „Warte einen Moment“, bat er Lina und verließ das Schlafzimmer.

    Er ging die Treppe hinunter. Die Kühlbox stand noch vor der Kellertreppe. Sollte er Rarrg rufen? Nein, eigentlich wollte er wissen, was der Junge aus den Pergamentresten bastelte.

    Er stieg hinab.

    Rarrg trug noch immer sein Kostüm. Er bemalte gerade etwas … ja, eine Maske. Eine Maske des Fischgesichts.

    „Hast du die heute gemacht?“, fragte Grarr.

    „Ich hatte nur noch kleine Pergamentstreifen übrig. Also hab ich etwas Leim genommen und sie so geklebt, dass sie sich überlappen. Das Pergament ist zu dick für eine Laterne und natürlich ganz steif, aber als Maske funktioniert es.“

    „Willst du die nächstes Jahr tragen?“

    „Ja. So. Jetzt ist die Bemalung fertig.“

    „Sehr schön. Dann lass sie mal trocknen.“

    Vorsichtig legte Grarr die Maske hin.

    „Soll ich schon anfangen, die Haut vorzubereiten?“, fragte er.

    Pergament machen konnte er schon.

    „Dafür ist morgen noch Zeit“, erwiderte sein Vater. „Sie wird ja gut gekühlt. Möchtest du vielleicht lernen, wie man die Haut abzieht?“

    „Au ja!“

    „Dann komm. Ich habe oben eine böse Frau, die das Fischgesicht verspottet hat. An der kannst du üben.“

    Aufgeregt lief der sechsjährige Wolf die Treppe hoch. Grarr folgte ihm.

    „Wo ist sie denn?“, fragte der Junge, als er schon auf der Treppe in den ersten Stock war.

    „Im Schlafzimmer.“

    Er kam oben an und öffnete die entsprechende Tür.

    „Hier ist aber niemand!“

    Was?

    Grarr lief hoch.

    Tatsächlich, Lina war verschwunden. Ihre Kleidung, die Fesseln und der Knebel waren noch da. Die Handtasche nicht. Die Fessel der rechten Hand war blutig und voll mit ausgerissenen Haaren und Hautfetzen. Die kleine Schlampe musste richtig Angst gehabt haben. Er hätte sie nicht alleine lassen dürfen.

    Das Fenster stand offen. Als Grarr hinaus sah, konnte er Spuren des Aufpralls im Boden erkennen und Blutspuren, die davon weg führten.

    Konnte er Lina noch einholen? Nicht, wenn sie zum nächsten Haus lief. Er musste alle Spuren im Haus beseitigen. Alles Pergament loswerden, die neue Haut, die gestohlene Kühlbox und die Tischdecke. Das Messer und die Plastikfolie. Die Blutflecken.

    War das überhaupt zu schaffen?

    „Ist sie weggelaufen, Papa?“

    Halt. Es gab noch einen Weg. Das Fischgesicht war in der Stadt. Er konnte es um Hilfe bitten.

    Wie würde er das am besten … die Maske. Als sein Avatar würde er das Fischgesicht rufen können.

    „Ist sie weggelaufen?“, fragte Rarrg.

    Grarr antwortete nicht sondern stürmte die Treppe hinunter und sofort weiter in den Keller.

    Die Maske lag auf der Werkbank. Die Farbe war noch nicht trocken, aber sie verlief nicht, als Grarr das Stück hochhob und vor sein Gesicht hielt. Er musste es etwas hoch halten, denn die Aussparung an der Unterseite war für die schmalere Schnauze seines Sohnes gemacht.

    „Fischgesicht, ich weiß, man spricht sonst nicht zu dir. Doch dein treuester Diener ist in großer Gefahr. Eine Sünderin ist mir entkommen und droht, all meine Dienste an dir zunichte zu machen. Ich bitte dich, bestrafe sie und bringe die zum Schweigen, denen sie von mir erzählt hat. Ich werde dir auch heute Nacht noch viele Fischköpfe als Opfer darbringen.“

    Ein lautes Knirschen ertönte oben.

    Grarr legte die Maske wieder hin. War das die Hilfe? Oder das Verderben?

    Vorsichtig stieg er die Kellertreppe hinauf. Als er hoch genug war, konnte er sehen, dass die Haustür offen stand.

    Er stieg schneller hinauf und klappte sein Messer auf.

    „Wer ist da?“

    Doch nicht jetzt schon die Polizei, oder?

    Jemand trat ein. Es war kein Polizist.

    Nur wenig trockene Haut hing noch am Körper. Rippen lagen offen. Der Schädel war fast frei und der Unterkiefer fehlte. Das Kleid war zerrissen und vermodert.

    An der rechten Hand fehlten fast alle Finger, vom linken Arm war nur noch ein Stumpf übrig, aus dem ein abgebrochener Knochen ragte.

    „Mike?“

    „Grarrrrrr …“

    Das Wort war nicht mit dem kaum noch vorhandenen Maul geformt, dennoch klang es rasselnd und schwerfällig.

    Grarr trat ganz hinauf, vor den Zombie. Wer hatte diesen Leichnam wiedererweckt? Das Fischgesicht? Aber warum?

    Mike trat näher.

    „Du …“, sagte sie.

    Er wusste, dass das nicht wirklich seine Frau war. Mikes Seele war lange fort. Aber offenbar waren im Gehirn des erweckten Leichnams einige Erinnerungen zurückgeblieben.

    „Das warrrrst du …“

    Er wusste, was sie meinte.

    „Das war nicht zu vermeiden. Du hast den Jungen verzogen.“

    „Das warrrst du!“

    Plötzlich war sie bei ihm. Sie roch gar nicht so stark. Etwas erdig.

    Sie legte den heilen Arm um ihn, doch ohne Finger konnte sie nicht greifen.

    Hatte sie inzwischen dazugelernt? Hatte das Fischgesicht sie geschickt, um ihm zu dienen? Um für ihn das Problem zu lösen?

    Ein stechender Schmerz durchfuhr Grarr. Er sah hinab und stellte fest, dass der abgebrochene linke Arm in seinem Bauch steckte.

    Eine Bauchwunde. Gar nicht gut. Noch dazu von einem dreckigen Knochen.

    Er versuchte, um Hilfe zu rufen, aber irgendwie ging es nicht.

    Und draußen heulten nun tatsächlich die Polizeisirenen.

    „Papa?“, rief Rarrg von oben. „Wer ist das?“

    Der augenlose Blick des Wiedergängers wanderte nach oben.

    „Lauf weg!“, versuchte Grarr zu rufen.

    Aber es kam kein Ton heraus.

  • Ja, der Typ hat wirklich ein Hermelin gehäutet um aus der Haut Pergament zu machen. Wenn er den Zombie überlebt, bringt ihn Tö wegen Pelzverschwendung um.


    Heute echt spät, ich weiß.


    Zehnter Abschnitt: Suiana


    Suiana Guss betrachtete die Kinder. Alle da, außer Sevian. Aber den sollte sie ja auch abholen. Alle trugen Kostüme, viele Kugelfischlampen. Auch sie war vorbereitet. Ihr Eiskrabbenkostüm hatte sogar eine Tasche für die … in der Tasche war keine Taschenlampe. Sie hatte sie zuhause vergessen. Na gut.

    Sie ließen den Park hinter sich und waren auf der großen Straße.

    „Wir machen jetzt die große Runde. An jedem Haus kriegen fünf von euch was, so bekommt jeder genug.“

    Es tat gut, wieder zu arbeiten. Seit sie damals aufgehört hatte als sie mit Aujilei schwanger gewesen war, war sie nicht wieder richtig rein gekommen. Und inzwischen hatte sie mit Lekiu ein zweites Kind. Dennoch hatte sie sich nun endlich zusammengerissen und sich die Arbeit besorgt, die sie ursprünglich gelernt hatte. Das ging ganz gut. Wenn sie wie heute einmal später arbeiten musste, passte eine ihrer Freundinnen, meist und auch heute Aylette, auf den Kleinen auf.

    Nicht nur Kinder ihrer Klasse waren nun bei ihr, sondern alle Viert- und Fünftklässler, die an der Fischfeier teilnahmen. Außer Sevian.

    „Unterwegs holen wir noch Sevian ab“, erklärte die weiß-orange gescheckte Kreuzung aus Rot- und Polarfuchs den Schülern. „Und jetzt los!“


    Die Runde lief gut. Die Kinder benahmen sich und außer Sevian bekam sie bei Aylette auch noch eine Taschenlampe. Ein unbekanntes Kind mit einer grünen, fies grinsenden Kugelfischmaske, die Aujileis Trommel ähnelte, hängte sich dran, hielt aber etwas Abstand. Zunächst gab es keine Zwischenfälle. Erst gegen Ende fing ein Kind an zu schreien.

    „Er hat meine Fischköpfe geklaut!“

    Suiana seufzte. Wieder ein Streit unter Schülern.

    Erst als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass die kleine Schneehäsin Kria keineswegs einen ihrer gleichaltrigen Mitschüler anklagte.

    „Kaspen! Gib Kria sofort ihre Tasche zurück!“

    Der nicht einmal kostümierte Eisbär dachte gar nicht daran.

    „Sie können mich mal am Arsch lecken!“

    „Ich habe die Telefonnummer deiner Eltern!“

    Der Junge gab den schwarzen Beutel mit dem Fischgesicht darauf wieder zurück.

    „Entschuldige dich!“

    „Tut mir leid.“

    Dann verzog sich Kaspen.

    „Wenn du alt genug bist, darfst du an meinem Fischkopf lutschen!“, rief er Kria ärgerlich zu.

    Suiana würde seine Eltern informieren.

    „Ich esse doch gar keinen Fisch“, meinte Kria. „Ich will die Köpfe bloß in den See werfen.“


    Danach ging die Runde weiter. Die meisten Leute waren noch zuhause und gaben etwas. Suianas Kollege Grarr war nicht da, aber sein Sohn rückte fünf Fischköpfe raus. Er trug eine Maske des grünen Kugelfisches, die nicht ganz so gut war wie die des unbekannten Kindes, das Suiana jetzt nicht mehr entdecken konnte.

    Und dann waren sie auch an der alten Anstalt, in Sichtweite der Schule.

    Das Ding war Suiana unheimlich. Als sie selbst noch zur Schule gegangen war, hatte es ihr richtig Angst gemacht. Man hatte da nicht nur harmlose Geisteskranke untergebracht sondern auch gestörte Verbrecher. Neben der Schule.

    Schon komisch, dass sich nie jemand beschwert hatte.

    „Gehen wir jetzt zur Schule?“

    „Nein. Erst gehen wir an den See.“


    Am Seeufer war es kalt, aber das war ja nichts Neues. Suiana warf einen Fischkopf ins Wasser. Ein paar Kinder machten es nach, aber die meisten nicht. Sie wollte sie auch nicht dazu auffordern. Das war schließlich nur eine alberne Tradition.

    „Hier ist es ungemütlich. Gehen wir in die Schule.“

    „Gehen wir hinten rum?“, fragte das Hermelin Suk.

    „Nein, wir gehen von vorne rein. Vielleicht muss ich das Haupttor aufschließen.“


    Sie gingen um das Gebäude herum und durch das Haupttor rein. Suiana musste es nicht aufschließen, wahrscheinlich war Direktorin Aunhar noch da.

    „Backen wir auch Stockbrot?“, wollte die Schneehäsin Klisa wissen.

    „Natürlich. Das habe ich doch schon gesagt“, antwortete Suiana.

    Sie kamen ins Treppenhaus und Suiana sah Grarr und ein freizügig verkleidetes Mädchen. Lina, wenn sie sich richtig erinnerte.

    „Geh nach Hause!“, sagte er gerade zu ihr. „Du hast an dieser Schule nichts mehr zu suchen!“

    „Oh, Herr Grarr, Sie sind noch hier?“, fragte Suiana, obwohl das ja offensichtlich war.

    „Praktisch weg. Ich wurde von diesem Mädchen aufgehalten, das hier rumlungerte, aber das Problem konnte ich lösen.“

    Tatsächlich machte sich Lina aus dem Staub.

    „Gut. Einen schönen Abend noch.“

    „Eine gute Fischige Nacht.“

    Grarr verschwand in Richtung Haupttor.

    „Was heißt rumlungern?“, fragte der Schneelöwe Rel.


    Wenig später waren sie draußen auf dem Hof. Es bereitete ihr etwas Mühe, aber schließlich gelang es Suiana, das große Feuer zu entzünden.

    „Jetzt wird es warm“, versprach sie den Kindern, die nicht schon in der Turnhalle waren. „Und wenn es richtig brennt, können wir auch Stockbrot backen. Sehen wir mal, was der Teig macht.“

    Sie war eine furchtbare Köchin, aber Stockbrot bekam sie noch hin.


    In der letzten halben Stunde waren die übrigen Aufpasser erschienen. Ein Lehrer, zwei Eltern. Nachdem ihr Kollege die Turnhalle übernahm und die Eltern bei ihr auf dem Hof waren, konnte sich Suiana etwas entspannen.

    Dennoch behielt sie natürlich die Kinder am Feuer im Auge. Je mehr Augen darauf gerichtet waren, desto besser. Allerdings machte das Nichtstun in der Wärme schon etwas träge …

    Als Suiana aus dem Augenwinkel sah, wie sich jemand näherte, glaubte sie zunächst, es sei ein Schüler. Als sie hinsah erkannte sie aber, dass es sich um eine junge gefleckte Katze handelte, die fast das gleiche Meerjungfrauenkostüm trug wie Leira.

    „Was kann ich für Sie tun?“, fragte die Lehrerin. „Gehören Sie zu einem der Kinder? Ein schönes Meerjungfrauenkostüm übrigens.“

    „Danke. Nein, ich bin nur zufällig hier. Ich habe im See etwas gesehen und …“

    Ah. Eine Touristin.

    „Sie haben einen Fischkopf reingeworfen und einen Schatten gesehen. Ja, kommt öfter vor. Das ist nur ein Fischschwarm, wir haben ein Gitter an der Verbindung zum Meer damit nichts Größeres rein kommt.“

    „Es war eben kein Fischschwarm. Ganz sicher nicht. Kann nicht aus Versehen mit dem Gitter etwas eingeschlossen worden sein?“

    „Der See wurde mit Echolot durchsucht, dort gibt es nichts Großes. Und es hat auch nie Zwischenfälle gegeben.“

    Das war nicht ganz wahr. Aber inzwischen waren alle Probleme mit dem See gelöst. Und welches schreckliche Seeungeheuer reagierte schon auf einen kleinen Fischkopf?

    „Würden Sie es dennoch melden?“

    „Ich sage der Direktorin Bescheid.“

    Offenbar klang Suiana genervter als beabsichtigt, denn die Fremde bemerkte es sofort.

    „Sie mögen die Direktorin wohl nicht.“

    Offenbar war es nicht zu vermeiden. Sie erklärte der Katze ihr schwieriges Verhältnis zu Direktorin Aunhar.

    Aus irgendeinem Grund änderte sich der Ton der Unbekannten.

    „Das ist jetzt vielleicht etwas direkt, aber … sind Sie … in einer Beziehung?“

    Sie wollte doch nicht …

    „Nicht mehr. Wir haben uns getrennt seit diesem Unfall mit unserem Sohn.“

    „Oh.“

    Das war wohl missverständlich gewesen.

    „Ihm ist nichts passiert, das war nicht das Problem, aber mein Freund und ich sind seitdem nicht so wirklich klar gekommen und seitdem bin ich alleine mit einer erwachsenen Tochter und einem kleinen Jungen.“

    „Brauchen Sie vielleicht eine kleine … Ablenkung?“

    Sie wollte tatsächlich. Dieses Mädchen, sicher keine zwanzig, wollte mit ihr schlafen. Unwillkürlich musste Suiana lachen.

    Schnell fing sie sich wieder und erklärte: „Wissen Sie, Sie sind ungefähr im Alter meiner Tochter.“

    „Oh.“

    „Sie werden verstehen, dass ich Sie da gerade nicht unbedingt … sexuell anziehend finde.“

    „Ja. Tschuldige.“

    „Hier gibt es nur Attraktionen für Kinder. Gehen Sie mal besser in den Park.“

    „Natürlich. Tschüs.“

    „Tschüs.“

    Mit hochroten Ohren ging die Katze in Richtung Straße davon.

    Auch Suiana raffte sich auf.

    „Ich muss mal kurz zur Direktorin!“, rief sie den Eltern zu.

    Schließlich konnte es nicht schaden, die Sache zu melden.

    Durch das alte Hauptgebäude ging Suiana ins Büro der Direktorin. Es war noch immer ein seltsames Gefühl, das sie dabei befiel. Sie war nicht gerade Aunhars Lieblingsschülerin gewesen.

    „Frau Direktorin?“

    Die Schneehäsin sah auf.

    „Frau Guss. Was gibt es denn?“

    „Jemand kam vorbei und hat etwas gemeldet. Einen Schatten im See. Einen wirklich großen Schatten.“

    „Wieder ein Fischschwarm?“

    „Angeblich nicht.“

    „Ich leite es weiter. Soll sich der Wasserschutz drum kümmern.“

    Das war wohl das Beste.

    „Noch etwas?“

    „Nein“, beeilte sich Suiana zu sagen. „Ich gehe dann mal wieder zu den Kindern.“

  • Auf dem Weg nach draußen kam Suiana eine ältere Schneelöwin entgegen, die sie mittlerweile auch recht gut kannte.

    „Hallo, Suiana.“

    „Hallo, Ratis.“

    Und die sie mit dem Vornamen und ohne irgendeinen Zusatz ansprach. Ganz wie damals, als sie nichts weiter gewesen war als die Mutter ihrer besten Freundin.

    „Ich bin nur hier um Aunhar abzuholen.“

    „Ist im Tempel nichts mehr zu tun?“

    „Torgal übernimmt jetzt. War ja eigentlich klar. Jetzt werden die Jugendlichen vorbeikommen. Wobei er da schon was verpasst hat.“

    „Bleibt nur zu hoffen, dass er nicht wieder zu aufdringlich wird. Ich erinnere mich noch an die schlechte Presse nach der er den Laden schon dicht machen wollte.“

    „Das könnte er eh nicht mehr. Ich habe da ja jetzt auch ein Wörtchen mitzureden.“

    „Ich muss wieder runter zu den Kindern.“

    „Einige wurden schon abgeholt, als ich kam.“

    „Ja, es wird langsam spät. Man sieht sich.“

    „Man sieht sich.“

    Zurück auf dem Hof fand Suiana tatsächlich weniger Kinder vor.

    Die Feier ging noch ein Weilchen weiter, aber es wurden immer weniger Gäste und schließlich gingen auch die anderen Betreuer und Suiana blieb mit Sevian zurück.

    „Wir sollten auch mal gehen, oder?“, fragte sie ihn.

    „Ja“, antwortete der Fuchs im Feuerfischkostüm.

    Sie gingen durch das Hauptgebäude und da niemand sonst mehr da war, schloss Suiana hinter sich ab.

    Auf dem Niansring war es nur ein kurzer Fußmarsch zu Aylettes Haus. Unterwegs sah sie die Katze wieder, die sich vor seinem Haus mit Grarr unterhielt und zweifellos auch ihn nicht ins Bett bekommen würde. Außerdem kam ihr Aujilei mit ihrem Freund und ein paar anderen entgegen, aber sie bemerkten sie nicht, und sie sprach sie nicht an. Dass ihre peinliche Mutter sich einmischte, während sie mit ihren Freunden unterwegs war, war sicher das letzte, was sie wollte.

    Schließlich kamen die beiden bei Aylette an und klingelten.

    Niemand öffnete.

    Suiana klingelte erneut und dann wieder.

    „Ist Mama nicht da?“, fragte Sevian.

    „Sie muss da sein. Sie oder dein Vater.“

    Sie würde schließlich die Kinder nicht allein lassen.

    Suiana klingelte Sturm. Ein Jaulen drang aus der Wohnung, gefolgt von einem Poltern. Auf dieses folgte wiederum ein unverständlicher Fluch.

    Die Tür öffnete sich und dahinter stand Aylettes Tochter Mista.

    „Hallo“, sagte Suiana. „Habe ich dich geweckt?“

    „Ne, aber genervt“, sagte das fünfjährige Mädchen. „Und ich glaub, du hast Acida geweckt.“

    Das Jaulen wurde lauter. Ja, klang nach einem kleinen Mädchen.

    „Ist deine Mutter denn nicht da?“

    „Hab ich auch als erstes nachgesehen. Aber ne. Und als ich dann aufmachen wollte bin ich über das hier gestolpert.“

    Mista wies auf die Bausteine auf dem Boden.

    „Mein KomByn!“, rief Sevian.

    Es lagen einzelne Steine herum, aber vor allem fertig gebaute Elemente. Hier und da standen auch noch Grundmauern. Jemand hatte etwas gebaut und dann wieder zerlegt.

    Acidas Jaulen kam eindeutig aus der Küche. Suiana ging hin und fand sie in einem Laufstall vor. Sie hob sie hoch um sie zu beruhigen und es schien zu funktionieren.

    Dann roch sie das eigentliche Problem.

    „Und ich hatte gehofft, das hätte ich hinter mir.“


    Nachdem Acida versorgt war, sah sich Suiana weiter um. Lekiu war im Gästezimmer und schlief, Aylette war nicht da und Aylettes Kleiderschrank im Schlafzimmer stand genauso weit offen wie die Hintertür.

    Etwas stimmte ganz und gar nicht.

    Versuche, Aylette und Garibati auf ihren Mobiltelefonen zu erreichen, scheiterten daran, dass die besagten Mobiltelefone in der Küche lagen (und Acida erneut weckten). Das war logisch, wer wollte schon so ein Gerät auf einer Party dabei haben?

    Also tat Suiana das folgerichtige und rief bei Leira zuhause an.

    „Hallo“, meldete sich eine männliche Stimme.

    Musik lief im Hintergrund.

    „Hallo, hier ist Suiana.“

    „Hier ist Frerk.“

    „Wieso denn Frerk?“

    „Weil ich so heiße.“

    „Aber das ist die Party bei Leira Breigel?“

    „Klar doch.“

    „Ist Leira zu sprechen?“

    „Ne, die ist mit ‘ner süßen, gefleckten Katze, die das gleiche Kostüm trägt wie sie, im Gästezimmer verschwunden. Glaub nicht, dass sie gestört werden will.“

    „Egal. Eigentlich muss ich mit Garibati Min sprechen.“

    „Kenn ich nicht.“

    „Polarfuchs. Trägt einen Taucheranzug.“

    „So einen seh’ ich hier gerade nicht. Tschüs.“

    „Was, wieso …“

    Frerk, wer immer das war, legte auf.

    Suiana auch.

    „Das hat irgendwie nicht geklappt.“


    Suiana steckte in einer Zwickmühle. Sie musste irgendwie Aylette oder Garibati erreichen. Telefonisch war es aber immer noch nicht gelungen und solange nicht klar war, was Aylette zugestoßen war, konnte sie unmöglich die Kinder allein lassen.

    War das schon Grund, die Polizei zu rufen?

    „Wo ist denn nun Mama?“, wollte Sevian wissen.

    „So genau weiß ich das auch nicht“, gab Suiana zu. „Aber die taucht schon wieder auf.“

    Hoffentlich.

    Plötzlich klingelte das Telefon.

    Suiana nahm ab.

    „Hier bei Min.“

  • Ich brauche jetzt einfach mal Routine, also ist hier der nächste Abschnitt.


    Elfter Abschnitt: Jila (nochmal?)


    Hätte jemand die Landefähre gesehen, dann hätte er sie vielleicht für zwei große Ruderboote gehalten, die man mit den Oberseiten aufeinander geklebt hatte, ohne Tang und Algen von den Unterseiten zu entfernen.

    Die über vierzig Jahre alte rosahaarige Katze an der Steuerkonsole hoffte, dass niemand sie sah, während sie über die Stadt hinweg glitt.

    Auch drinnen war alles aus Holz und beleuchtet von einem kränklichen grünen Licht, an das sie sich mittlerweile gewöhnt hatte.

    „Der See, der Park, das ist Niansstadt“, fiel ihr auf.

    Die Erde wieder zu sehen, ja sogar den Umringten Kontinent, war schon unglaublich. Aber jetzt noch das …

    „Da war ich mal. Welches Datum haben wir?“

    Wenn ich die Übertragungen richtig verstehe, wird gerade ein Fest namens Fischige Nacht gefeiert“, meldete der Schiffsgeist über die Grünraumkommunikationsanlage, die aus irgendeinem Grund einer alten Schiffslaterne glich, in der etwas Dunkelgrünes waberte.

    „Genau zu dem Fest war ich das letzte Mal da. Genau in der Straße, um den Park herum, war ich auf einer Party bei einer heißen Bergfüchsin. Leira, wenn ich mich recht erinnere. Ich weiß sogar noch die Hausnummer, zweiundzwanzig. Stand groß in Seeigeln auf der Tür.“

    Ich habe Ledin im Park aufgespürt.“

    „Gut. Wir landen besser im See, ich glaube nicht, dass man das im Park darf. Dann gehe ich rüber und suche sie.“

    Ledin war allein und nur im Raumanzug in die Grünraumpassage geraten. Zum Glück gehörten Manövrierdüsen und ein Fallschirm zum Anzug, so hatte sie, hoffentlich sicher, auf der Erde landen können.

    Und sogar im Zivilisierten Reich.

    Die Fähre tauchte ins Wasser ein.

    Wir haben übrigens 1992“, meldete der Schiffsgeist.

    „Och nö.“

    Jila hatte gewusst, dass sie die seltsame Ruine nicht nur auf einen fernen Planeten sondern auch in eine andere Zeit befördert hatte, denn nur durch Zeitreise bekam sie rosa Haare, aber dass es ausgerechnet dieses Jahr war …

    „Was ist?“, fragte Ak ak Ak, die vilanische Zweikopfsumpfschlinge.

    „Genau in diesem Jahr war ich hier. In der Fischigen Nacht. Heute.“

    „Und?“

    „Das heißt, wir können auf Leute stoßen, die mich gesehen haben. Wenn sie mich erkennen, könnten Fragen gestellt werden. Etwa warum ich plötzlich über zwanzig Jahre älter bin. Im Zivilisierten Reich darf man nicht einfach durch die Zeit reisen wie man Lust hat, es gibt Gesetze dafür.“

    „Wir basteln dir schnell ein schönes Kostüm“, versprach Sil, die lilahäutige Noranerin.

    Jila ließ die Fähre noch etwas sinken. Als sie sicher war, dass man sie von oben nicht mehr sehen konnte, stabilisierte sie ihre Lage.

    „Haben wir noch etwas von dem Zeug, das meine Fellfarbe komplett verändert? Ginge schneller als alles jetzt zu färben.“

    „Blitzfarbschnecke“, benannte Urn, die riesige Mellar-Kriegerin das gewünschte Produkt mit ihrer Grabesstimme. „Wir sollten noch was in Viils Hexenbeutel haben.“

    „Ist eine orange dabei?“, fragte Sil. „Das würde zum Raumanzug passen.“

    Jila drehte sich endlich um. Sil und Ak hatten offenbar schnell orange Gummistücke zurechtgeschnitten und befestigten sie hinten am Raumanzug um den Eindruck eines orangen Seesterns zu erwecken.

    „Und das fünfte Stück kommt an den Hinterkopf“, entschied Sil.

    „Eine orange Schnecke ist da“, stellte Urn fest und holte das knallorange Weichtier aus dem Lederbeutel, dessen Verschluss aus nadelspitzen Zähnen und gegenüberliegenden Löchern bestand.

    Jila nahm es aus der riesigen, braunfelligen Hand.

    Runter damit.

    Sie schluckte nicht zum ersten Mal so ein Ding und es schmeckte immer gleich scheußlich. Dabei mochte sie eigentlich Nacktschnecken.

    Die Katze konnte zusehen, wie ihr Fell und ihr Haupthaar ein kräftiges Orange annahm.

    Ein Seestern. Da war irgendwas gewesen mit einem Seestern. Es würde ihr noch wieder einfallen.

    „Ich nehme eine Algenkapsel an die Oberfläche und finde Ledin“, erklärte Jila, während sie in den modifizierten orangen Raumanzug schlüpfte. „Ihr wartet hier unten.“

    „Warum müssen wir hier warten?“, fragte Sil. „Ich meine, was sollen wir schon anstellen, die Vergangenheit ändern?“

    Laut Quantensignatur ist das hier genau die Zeitlinie aus der Jila kommt“, meldete der Schiffsgeist. „Änderungen sind nicht möglich.“

    Schade. Nach allem was Jila wusste, war in dieser Nacht einiges passiert, das geändert werden sollte. Ganz zu schweigen von den folgenden Jahren.

    „Ihr seid unbekannte Arten“, warf Jila ein.

    „Dieser Planet ist voll von Arten“, meinte Ak. „Fallen wir da wirklich so auf?“

    „Oh ja.“

    „Ist das nicht ein Kostümfest?“, fragte Urn. „Wir sollten als verkleidet durchgehen.“

    „Na ja … vielleicht … aber ihr sprecht nicht mal die Sprache und niemand hier hat einen Pilz im Ohr.“

    In der Gegend in der Jila seit einer Weile unterwegs war, trug so ziemlich jeder einen Pilz im Ohr, der alles, was er hörte, in seine Sprache übersetzte. Sie selbst hatte inzwischen natürlich auch einen.

    „Ich kann die Sprache. Du weißt, wie schnell ich so etwas lerne“, widersprach Ak.

    „Ich habe den noranischen Übersetzerchip. Der lässt mich jede Sprache sprechen, die er gespeichert hat, und deine kennt er von dir“, erklärte Sil.

    Damit blieb Urn.

    „Ich kann ‚ja‘, ‚nein‘ und ‚fick dich‘. Das wird reichen.“

    „Das gefällt mir nicht. Aber wenn ihr unbedingt rausgehen wollt, kann ich es euch nicht verbieten.“

    „Ja!“, rief Sil. „Party!“

    Wann war Jila eigentlich die einzig vernünftige in einer Gruppe geworden?

    „Aber kein Sex“, bestand sie. „Wenn ihr die Leute so nahe ran lasst, merken sie garantiert was.“

    „Menno.“

    Sil klang etwas pampig. Das hielt allerdings nicht lange.

    „Ich hätte gerne mal Sex mit einem Kater. Er würde mit seiner rauen Zunge meine Jstiks ablecken, seine Krallen leidenschaftlich in mein Kadn schlagen und meine Nduil mit seinem mit Widerhaken versehenen –“

    „Sil!“, unterbrach Jila die menschenähnliche Frau.

    „Was?“, fragte die.

    Jila seufzte.

    „Macht nicht zu viel kaputt“, sagte sie noch, dann stieg sie in den Ball aus Algen, der sie ans Ufer bringen würde.

    Sie warf einen Blick zurück auf die drei Weltraumvagabunden.

    Würde schon schief gehen.

    Der Ball schloss sich und wurde hinaus geschossen. Im Wasser verlor er seine Kugelgestalt und nahm eine unregelmäßigere Form an, die Wellen schlug, um sich fortzubewegen. Das mehr oder weniger lebende Gewebe fand seinen Weg an eine sichere Stelle und wurde an der Oberfläche wieder ein Ball.

    Eine Öffnung erschien und Jila stieg ans kühle Seeufer.

    Na, im Raumanzug würde sie wohl kaum frieren. Höchstens am Kopf, so ohne Helm.

    Die Algenkapsel schloss sich und kehrte zur Fähre zurück. Sie besaß eine gewisse Eigenständigkeit und ein Gedächtnis. Wenn der Schiffsgeist sie wieder losschickte, würde sie diese Stelle wiederfinden.

    „Was war das?“, fragte eine Stimme.

    Sie gehörte einer jungen Polarfüchsin, die nichts weiter als schwarze Unterwäsche und eine Handtasche trug. Sie hatte ihr Rückenfell schwarz gefärbt und Beine und Schnauze orange.

    „Das … das war nur …“

    „Es sah aus wie … eine Pflanze oder so.“

    Jila seufzte und griff in ihre Tasche. Irgendwo hier musste doch noch … ja, da.

    Sie holte ein paar blaue Münzen hervor.

    „Hier“, sagte sie und drückte sie der Füchsin in die Pfote. „Die sind hier zwar nicht als Währung anerkannt, aber die Legierung ist recht wertvoll. Sie haben nichts gesehen, klar?“

    „Was sollte ich schon gesehen haben? Ich gehe dann auch mal. In … in die Schule. Genau. Warum nicht.“

    Sie verschwand auf das nahe Schulgelände.

    So weit so gut. Jetzt auf zum Park.

  • Jila hatte ganz vergessen, dass sie um diese Zeit schon im Park war. Schnell verschwand sie durch eine Baumreihe in einen anderen Bereich, als sie sich selbst kommen sah.

    Dabei lief sie gegen eine Spinnenkrabbe.

    „Schon wieder?“, fragte die, nachdem sie sich gefangen hatte.

    Auch Jila kam die Situation irgendwie bekannt vor.

    Die Krabbe nahm ihre Maske ab und entpuppte sich als Füchsin, die zwar die strahlend blauen Augen einer Polarfüchsin aber ziemlich viel rotes Fell im Gesicht hatte.

    Sie sah Jila erstaunt an.

    „Habe ich Sie nicht kürzlich erst gesehen?“

    „Nicht dass ich wüsste. Tut mir übrigens leid.“

    „Ach, ist ja auch egal.“

    Nicht besonders gut gelaunt setzte die Frau ihre Maske wieder auf.

    „Jetzt stell dich doch nicht so an“, bat der kleinere Drachenfisch, der sie begleitete.

    Das war knapp gewesen. Jila erinnerte sich. Die beiden waren ihr damals schon begegnet.

    Und dann sah sie Ledin.

    Die dunkelhäutige Primerin, die sich äußerlich nicht und innerlich kaum von einem irdischen Menschen unterschied, unterhielt sich gerade mit zwei vermutlich tatsächlich menschlichen Frauen, die als Möwe und Rochen verkleidet waren. Schnell kam sie näher.

    „Du sprichst einen seltsamen Dialekt“, fand die Möwe gerade.

    „Das liegt daran, dass ich nicht von eurer Welt bin. Ich komme von einem Planeten namens Pr –“

    „Ledin! Da bist du ja!“, unterbrach sie Jila.

    Die beiden anderen Frauen drehten sich um und Jila erschrak. Keine Menschen. Und das eine Gesicht hätte sie überall erkannt, auch wenn es heute noch blasser war als zu der Zeit, als sie es das letzte Mal gesehen hatte.

    „Vladia“, zischte sie, ehe sie sich zurückhalten konnte.

    „Kennen wir uns?“, fragte die Vampirin.

    „Nein. Nicht persönlich“, versuchte Jila zu retten was zu retten war. „Ledin, komm mit, sobald die anderen zurück sind müssen wir los.“

    „Warum? Ich mache keine Probleme. Ich sehe aus wie jeder Mensch.“

    „Aber je länger wir hier sind, desto mehr Probleme machen die anderen. Die hatten nämlich keine Lust, zu warten.“

    „Oh. Ich verstehe. Nozee, Freunde!“

    Jila ging los und zum Glück ging Ledin einfach mit.

    Vladia und Anglia. Hier. Und sie waren als Rochen und Möwe verkleidet.

    „Das sind keine Freunde.“

    Aber Jila hatte sie hier schon getroffen. Auf Leiras Party. Sie hatte sie nur später nicht wiedererkannt.

    Moment, da war das mit dem Seestern gewesen. Das Seesternchen. Dieser Typ, Leiras Mann, den sie gar nicht gesehen hatte. Und jetzt war sie … oh nicht doch.

    „Verfolgt uns da was?“, fragte Ledin.

    Sie hatten gerade den Rand des Parks erreicht. Jila drehte sich um. Da war tatsächlich jemand. Ein … Kind mit Kugelfischmaske?

    Sie versuchte, es zu ignorieren, doch es verfolgte sie wirklich. Selbst am Seeufer sah sie es noch. Und ihr war dazu seltsam kalt. Fast wie damals, als …

    Moment, Seeufer?

    „Ich komme hier gleich vorbei. Also, mein jüngeres Ich.“

    „Was?“

    „Wir sind in die … nein, ich bin in die Vergangenheit gereist. Vielleicht auch wir alle. Oder beides. Egal.“

    „Und du willst dir nicht begegnen.“

    „Ich kann nicht. Weil ich mir damals nicht begegnet bin.“

    Jila stellte mit dem kleinen Messinguhrwerk an ihrem Kragen den Kontakt zum Schiff her.

    „Schiffsgeist, schick die Kapsel los. Schnell.“

    Wenig später war die Kapsel da und Jila und Ledin stiegen ein.

    „Was hat es denn nun mit den beiden auf sich?“, fragte Ledin.

    „Vladia und Anglia. Ein Vampir und ein Engel. Ich bin ihnen nicht oft begegnet, aber es lief nie besonders gut. Außerdem haben die beiden … werden die beiden durch ein idiotisches Experiment fast den Weltuntergang herbeiführen und die Tochter einer Freundin und meine Mutter und … ist jetzt auch egal.“

    Plötzlich hielt die Kapsel an und stieg wieder auf.

    „Was ist denn jetzt los?“

    „Die Kapsel hat einen ins Wasser fallenden Fischkopf registriert“, meldete der Schiffsgeist. „Da sie hungrig ist, steigt sie nun auf und saugt ihn ein. Jetzt ist sie fertig.“

    Die Kapsel sank wieder tiefer.

    Hoffentlich hatte sie niemand gesehen.


    Jila atmete tief durch. Sie hatte das Seesternchen damals nicht gesehen. Also würde sie sich selbst nicht sehen. Sie würde es zum richtigen Zeitpunkt zur Party der Breigels schaffen.

    „Was ist denn?“, fragte Ledin.

    „Ach, es ist nur … Vladia hat ein Rochenkostüm getragen. Und genau in dem Rochenkostüm habe ich sie damals auch gesehen. Ich habe sie nicht erkannt, auch später nicht wiedererkannt, aber sie muss es gewesen sein. Und Anglia als Möwe war auch dabei, glaube ich. Jedenfalls eine Möwe.“

    „Na ja, sie sind ja hier. Kein Wunder, dass du sie gesehen hast.“

    „Aber um sie geht es gar nicht. Das war nämlich auf der Party, mit Leira, und die hat gesagt, ihr Mann habe gerade Sex mit einem Seesternchen.“

    Ledin verstand.

    „Du meinst, das warst du.“

    „Kann gut sein, oder? Ich werde auf jeden Fall mal … ach, ich will gar nicht mit dem Kerl schlafen.“

    Sie hatte so ziemlich alles ausprobiert. Jetzt wollte sie ein paar Jahre Ruhe. Nur noch gelegentlich mal Sex und zwar mit Leuten, die sie kannte.

    „Dann lass es. Wenn du nicht hingehst, wird jemand anderes das Seesternchen sein.“

    „Aber ich habe das Gefühl ich sollte hingehen.“

    „Was ist eigentlich mit den anderen? Wolltest du mich nicht möglichst schnell wieder hier haben, damit du sie zurückpfeifen kannst?“

    Jila schlug sich mit der Pfote vor die Stirn.

    „Die hab ich ja ganz vergessen. Schiffsgeist, stell Kontakt zu Urn her.“

    Hier Urn“, meldete sich Urns Stimme, die fast die Fähre zum Zittern brachte.

    „Ich bin mit Ledin wieder in der Fähre. Wir können jederzeit zurück zum Schiff.“

    Das ist vielleicht keine schlechte Idee. Ak ist schon schlecht geworden.“

    „Wo steckt ihr denn?“

    Wir haben Fischköpfe gesammelt, aber jetzt sind wir umgekehrt und suchen den Weg zwischen den Häusern durch, den Ak gesehen haben will.“

    Ich habe hier einen gesehen!“, rief Aks Stimme. „Seht ihr? Da ist er.“

    Und Sil flirtet aus der Distanz mit Kindern.“

    „Sil!“

    Gönn ihnen doch den Spaß, mehr kriegen sie eh nicht“, erklang Sils Stimme.

    „Lass den Blödsinn!“, bestand Jila.

    Du musst einem aber auch jeden Spaß verderben.“

    Wir sind jedenfalls gleich da. Urn Ende.“

    Nun, das hätte schlechter laufen können.


    Jila hatte den Weg genommen, den Ak entdeckt hatte. So weit die Straße abwärts war sie damals nämlich nicht gegangen, wenn sie sich richtig erinnerte.

    Bald erreichte sie die unübersehbare 22. Mittlerweile hatte sie genug Erfahrung mit den Biestern um die Strunze im Garten sicher als echt zu erkennen.

    Jila klingelte.

    Es war Leira, die öffnete. Und sie sah großartig aus.

    „Gast oder Sammler?“, fragte sie.

    „Gast“, antwortete Jila.

    Das hatte damals schließlich auch funktioniert.

    „Wie alt bist du denn?“

    „Dreißig.“

    Das stimmte natürlich nicht. Auch wenn man die Zeitreisen nicht mitrechnete war Jila über vierzig. Mit Zeitreisen vielleicht schon fünfzig. Aber sie sah jünger aus.

    „Das ist alt genug, komm rein.“

    Jila trat ein und sah sich um. Der Tisch mit den Getränken. Von da aus hatte sie einen guten Blick auf das ganze Wohnzimmer.

    Als sie dort ankam entdeckte sie tatsächlich was sie suchte – ein Hochzeitsbild durch das sie erfuhr, wie Leiras Mann aussah.

    „Wir sind gar nicht so weit auseinander. Ich bin siebenundzwanzig“, behauptete die Jila folgende Leira.

    Siebenundzwanzig. Niemals. Ah, da war er ja. Älter als auf dem Bild und als Walross verkleidet, aber gut zu erkennen.

    „Hmh.“

    Er sah ganz gut aus. Augen zu und durch.

    Jila nahm ein Champagnerglas und trat auf den Bergfuchs zu.

    „Und mit wem habe ich jetzt das Vergnügen?“, fragte sie ihn und hoffte, dass es verführerisch genug klang. Sie war etwas aus der Übung.

    „Lenthel. Ich bin der Hausherr.“

    „Oh.“

    Sie spielte die Enttäuschung.

    „Dann sind Sie verheiratet.“

    „Eigentlich schon. Aber meine Frau und ich haben eine Abmachung.“

    „Ach ja?“

    „Heute zählen die Regeln nicht.“

    „Oh. Ich mag … Regellosigkeit.“

    Lenthel nahm Jilas Arm, sanft, und führte sie die Treppe hoch und weiter in ein Schlafzimmer in dem ein breites Ehebett stand. Hinter sich schloss er die große, zweiflügelige Tür und drehte einen altmodischen, glänzenden Schlüssel im Schloss um.

    Sie legte sich auf das Bett.

    Er setzte sich neben sie.

    „Ich muss Ihnen leider gestehen, dass ich Sie ein wenig ausnutze.“

    Nanu?

    „Inwiefern?“

    „Meine Frau und ich haben diese Abmachung für sie getroffen. Sie braucht diese Abwechslung ab und zu. Das Abenteuer.“

    „Aber Sie nicht“, verstand Jila.

    „Genau. Und jetzt stellen Sie sich vor, wie peinlich es für sie wäre, wenn sie das wüsste.“

    Autsch. Ja.

    „Und deshalb sind wir hier und … spielen Theater für sie“, vermutete Jila.

    „So kann man es wohl ausdrücken. Ich habe ein Schachbrett hier. Spielen Sie?“

    „Normalerweise nicht. Aber ich beherrsche es.“

    Er stand auf und ging zu einem Regal, das ein Stück des Raums abtrennte.

    „Auf den Einladungen, die ich unten gesehen habe, stand der Name Breigel. Wer von Ihnen stammt von den alten Häuptlingen ab?“

    „Meine Frau. Von mütterlicher Seite. Ihr Großvater wollte immer, dass sie bei ihm im Tempel arbeitet, stattdessen hat sie sich in die Welt des kurzlebigen Starruhms gestürzt. Gute Sängerin, großartiges Model, mittelmäßige Schauspielerin. Und ich war ihr Agent.“

    Er hatte das Brett gefunden. Ein großes Schachbrett aus Stein.

    „Spielen wir.“

  • Jila und Lenthel saßen sich auf dem Bett gegenüber, das Schachbrett lag zwischen ihnen. Lenthel streckte die Hand nach dem weißen König, seinem König, aus. Dann schnippte er ihn um.

    „Ich gebe auf. Da komme ich nicht mehr raus. Du spielst verdammt gut, dafür dass du angeblich nicht oft spielst.“

    „Ich spiele nicht oft, weil ich so gut spiele“, gab Jila zu.

    Es war das dritte von drei Spielen, das sie an diesem Abend gewann. Es gab keine echte Herausforderung.

    „Ich glaube, mittlerweile sollte meine Frau auch keinen Verdacht schöpfen, wenn wir langsam fertig werden.“

    Wohl wahr. Wahrscheinlich … wahrscheinlich lag sie schon mit ihrem jüngeren Ich im Gästebett. Ein seltsam anregender Gedanke.

    „Stimmt. Ich sollte auch langsam gehen. Es gibt schließlich eine ganze Stadt zu erkunden.“

    „Eine schöne Nacht noch.“

    „Dir auch.“

    Jila schloss das Schlafzimmer selbst auf und ging hinaus. Auf dem Weg nach unten konnte sie von der Treppe aus das Wohnzimmer ganz gut überblicken. Es lief ein Lied, das ihr bekannt vorkam, das sie aber nicht zuordnen konnte, sie selbst war ebenso wenig zu sehen wie Vladia und Anglia und aus irgendeinem Grund benutzte ein junger Schneeleopard das Festnetztelefon.

    Sie wollte sich nicht zu lange hier aufhalten, also ging sie schnell durch die Feiernden und zur Tür. Kaum hatte sie diese geöffnet, erkannte sie, wer gerade das Grundstück betreten hatte. Die großen geflügelten Kostüme, die zweifellos die echten Flügel tarnen sollten, waren nicht zu verwechseln.

    Nichts wie weiter.

    „Hallo“, grüßte Anglia, als Jilas Weg den des seltsamen Paares kreuzte. „So sieht man sich wieder.“

    „Tut mir leid. Ich habe es wieder eilig“, wimmelte die Katze sie ab.

    Schon hatte sie das Grundstück hinter sich gelassen.

    Sie atmete die kühle Nachtluft ein.

    Das Zivilisierte Reich … sie hatte es vermisst, da draußen.

    Zu schade, dass sie nicht bleiben konnte. Aber in einer Vergangenheit, in der sie keinen ihrer Freunde kontaktieren konnte, weil das damals nicht passiert war … nein, das war nur quälend.

    Trotzdem musste sie sich ja nicht beeilen, zurück zur Fähre zu kommen.

    Sie aktivierte das Uhrwerk.

    „Jila an Fähre. Die Mission ist erledigt. Ich werde trotzdem ein bisschen Zeit brauchen, bis ich wieder da bin.“

    Und wir dürfen so lange warten?“, klagte Ak.

    „Jila Ende.“


    Jila stieg aus der Kapsel ins grün beleuchtete Innere der Fähre.

    „Damit sind wir komplett“, stellte sie fest. „Wir können aufbrechen.“

    „Müssen wir wirklich?“, fragte Sil. „Wir können doch keinen Schaden anrichten.“

    „Aber ihr könnt euch in Schwierigkeiten bringen. Ich habe es damals auch noch nicht bemerkt, aber ich habe später erfahren, dass hier wirklich beunruhigende Dinge passiert sind.“

    „Och.“

    Ich denke auch, dass ihr nicht in diesem See bleiben solltet. Aus irgendeinem Grund treibt der ausgeweidete Leichnam eines Eingeborenen wenig über euch. Man könnte ihn suchen und die Fähre finden“, meldete der Schiffsgeist.

    Eine ausgeweidete Leiche … eines der vielen Opfer dieser Nacht.

    Um sich abzulenken wandte sich Jila wieder an Sil.

    „Übrigens haben die zivilisierten Kater hier gar keine Widerhaken, nur die wilden Tiere. Wenn du intelligente Kater mit Widerhaken willst, musst du rüber auf den Subrischen Kontinent“, erklärte sie ihr.

    „Gibt es da auch ein Kostümfest?“, fragte Sil hoffnungsvoll.

    „Ja, die Maskennacht. Aber die ist dieses Jahr schon gewesen.“

    „Och.“

    „Willst du wirklich weg?“, fragte Ledin. „Nicht aus dem See meine ich. Zurück in den Grünraum. Wenn ich meinen Heimatplaneten wiederfinden würde – auch in der Vergangenheit – dann würde ich bleiben wollen.“

    Auch Ledin kam nicht aus der Gegend in der das Schiff üblicherweise kreuzte. Sie war durch eine Grünraumpassage dorthin gekommen.

    „Es geht nicht“, erklärte Jila. „Ich würde zu gerne bleiben, aber … ich könnte nichts ändern. Ich könnte nicht die retten, die heute Nacht sterben werden oder 2012 beim Untergang. Ich könnte meine Freunde nicht treffen. Ich könnte meine Arbeit nicht machen. Ich wäre nicht wirklich wieder zu Hause.“

    „Und was willst du tun?“, fragte Urn.

    „Nun, diese Grünraumpassage führt schon fast ans Ziel. Das gibt uns die nötigen Ausgangsdaten. Ich denke, zusammen kriegen wir die Berechnungen hin um eine zu finden, die auch hierher führt, aber weiter in der Zukunft. Und wenn wir den Punkt meiner Abreise überschritten haben, kann ich euch meinen alten Freunden vorstellen.“

    Und hoffentlich war dann auch ihr Haar wieder blond. Das Rosa war echt nervig.

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