Der letzte Abschnitt hat ja schon ein paar Rätsel gelöst. So auch dieser.
Zwölfter Abschnitt: Kaioru
Kaioru Memm zog die weißen Handschuhe an. Fertig war sein Kostüm. Ein Weißhai. Wenn auch ein recht anthropomorpher. Er warf noch einen Blick in den Spiegel und überzeugte sich, dass seine Maske richtig saß. Ja, perfekt.
Viele Leute trugen Masken, weil man sie in der Fischigen Nacht eben trug, weil es Spaß machte, sich zu verkleiden oder weil sie jemandem Angst machen wollten.
Kaioru trug eine Maske, weil er nicht belästigt werden wollte.
Nicht von Suiana, die nur nervös versuchen würde, ein normales Gespräch zu führen. Nicht von Dionea, die die Gelegenheit wahrnehmen und sich an ihn ranmachen würde. Nicht von Aujilei, die ihn bitten würde, sich um ihre Mutter zu kümmern.
Und vor allem nicht von Leuten, die wussten, warum er trotz seiner herausragenden Schulnoten heute nur ein Klempner war.
Kaiorus Haus war eins der kleinsten und wahrscheinlich das am schlichtesten eingerichtete in der ganzen Straße. Nicht, dass die anderen Leute hier alle reich waren, aber sie hatten zu irgendeinem Zeitpunkt das Geld gehabt, um eins der großen Eigenheime im Niansring zu kaufen. Sei es aus eigenem Einkommen, einem Erbe oder einer wirklich schmutzigen Scheidung.
Kaioru hingegen hatte nie eine solche Summe übrig gehabt. Er war in die Gegend gezogen, weil er ein Auge auf etwas haben und von etwas anderem wegkommen wollte. Aber in dieser Nacht kam auch der Rest der Stadt in den Niansring und letzteres wurde schwer. Das Haus nicht zu verlassen kam auch nicht infrage, denn das musste er für ersteres, ganz besonders in dieser Nacht.
Also trug er eine Maske.
Die Maske funktionierte ziemlich gut. Kaioru hatte auf der Straße schon einen alten Bekannten erkannt, der aber ihn nicht.
Jetzt aber wollte er jemanden sehen, der ihn erkennen sollte.
Er blieb an der Tür stehen und klingelte.
Nur Sekunden später öffnete Garibati, der in einem Taucheranzug steckte. Hinter ihm war das Wohnzimmer mit Gebilden aus großen Bausteinen gefüllt und Aylette, noch ohne Kostüm, stand nicht weit von ihrem Mann und trat nun zu ihm.
„Hallo“, grüßte Kaioru und nahm seine Maske ab.
„Papa!“, rief Lekiu und tauchte hinter einer Bausteinwand auf.
Aylette zeigte sich überrascht.
„Kaioru! Ich dachte, du hast heute Abend keine Zeit. Deshalb ist Lekiu ja nicht bei dir.“
„Habe ich auch nicht“, erklärte Kaioru. Er musste auch in dieser Nacht die Augen offen halten und in dieser speziellen Nacht konnte er dabei auf kein Kind aufpassen. „Ich wollte nur kurz mal nach dem Rechten sehen, dann muss ich auch schon wieder los. Hallo Kleiner!“
Kaioru hob seinen Sohn hoch, nachdem ihn der erreichte.
Es war doch vorher schöner gewesen. Als er ihn noch jeden Tag um sich gehabt hatte. Ihn und seine Mutter.
„Wo sind eure Kinder?“, fragte er, als ihm auffiel, dass er außer Lekiu nur noch Leiras Tochter Acida sehen konnte.
„Mista ist oben“, antwortete Garibati. „Die hatte schon ihre Feier im Kindergarten. Urian und Lurian sammeln wahrscheinlich mehr Süßigkeiten als Fischköpfe und Sevian ist auf der Party in der Schule.“
„Und ihr dürft auf Acida aufpassen, weil Leira feiert.“
„Genau“, bestätigte Aylette.
Eigentlich konnte er noch ein bisschen bleiben. Seinen Freunden die Arbeit abnehmen. Zeit mit seinem Sohn verbringen.
Aber was wenn … nein, es ging nicht.
„Ich muss dann auch wieder los.“
Er setzte Lekiu ab.
„Tschüs, Kleiner.“
„Tschüs, Papa!“
Das Südwestviertel des Niansringes war völlig verlassen.
Das überraschte Kaioru nicht, bestand es doch aus einer Reihe von Geschäften, die zwar fischig geschmückt waren, aber geschlossen hatten. Viele von ihnen hatten Wohnungen im ersten Stock, doch die Mieter waren scheinbar allesamt aus oder schliefen schon.
Die meisten waren Lebensmittelläden. Der Fleischer und der Speisetierhändler, der Obst- und Gemüseladen, der Fischhändler, der Getränkemarkt, der Bäcker, der Feinkostladen und schließlich der unspezialisierte Lebensmittelladen, der so ziemlich alles hatte, was noch übrig war, standen direkt nebeneinander.
Die meisten Bewohner der Straße kauften hier ein. Kaioru selbst bevorzugte den günstigeren Supermarkt in der Innenstadt.
Dann gab es noch eine Schneiderei, einen Elektronikfachhandel und natürlich den Juwelier.
Vor dessen Schaufenster blieb Kaioru stehen.
Es waren falsche Seesterne von innen angeklebt und zwischen dem ausgestellten Schmuck brannte eine elektrische Kugelfischlaterne. Natürlich sah man das alles nur aus der Nähe. Das herunter gelassene Schutzgitter behinderte die Sicht schon ein bisschen.
Früher hatte dieser Laden Ratis gehört, aber als sie die Arbeit im Tempel angenommen hatte, hatte sie ihn verkauft. Kaioru kannte den aktuellen Besitzer besser, als ihm lieb war, aber sie hatten sich geeinigt. Kaioru hatte ihm einen Käufer für ein besonders exotisches Stück verschafft (und dabei gleich einem Bekannten geholfen, seine Geldnot vor seiner Frau zu verbergen) und er hielt dafür dicht und sich von ihm fern.
Neben den Läden gab es an diesem Straßenabschnitt noch ein anderes Geschäftsgebäude. Die Kroisos-Bank, benannt nach dem in Ctonia lebenden Gründer und Leiter, einer Marsente. Eine kleine Seitenstraße führte zum Parkplatz hinter dem Gebäude.
Und genau von dort erklang ein Alarm.
Ohne nachzudenken lief Kaioru die Seitenstraße entlang und erreichte den Parkplatz. Er war voll mit Automobilen, deren Besitzer vermutlich wegen des Festes im Park da waren und ignorierten, dass der Platz nur für Bankkunden gedacht war. Eines, am gegenüberliegenden Rand, hatte eine offene Vordertür. Davor standen zwei Gestalten.
Die eine war verkleidet als knallrotes Seepferdchen und darunter zweifellos tatsächlich ein Pferd. Anthropomorphe Pferde waren im Zivilisierten Reich selten (an der Südspitze fand man mehr) und auf der Schneeebene sogar extrem selten, aber sie kamen vor. Die andere war kostümiert als Seeotter und das richtig gut. Trotzdem konnte man erkennen, dass sie ein Polarfuchs war.
Vom offenen Wagen kam der Alarm und das Pferd holte gerade eine große dunkle Handtasche heraus.
„He! Was geht da vor?“, fragte Kaioru laut.
„Verdammt!“, rief der Fuchs. „Lauf!“
Die beiden liefen los. Kaioru hinterher, zwischen den parkenden Autos hindurch.
Die Stimme kannte er. Das war Nelken, Erokas Sohn.
Die beiden liefen von hinten zwischen dem Juwelier und dem Bäcker hindurch zur Straße. Kaioru folgte ihnen mühelos und holte dabei auf.
„Das hat keinen Sinn, Nelken!“, rief er. „Ich weiß, wo du wohnst!“
Sie überquerten den Niansring.
„Ich bin nicht Nelken!“
Er war es ganz eindeutig.
„Doch, das bist du!“
Der Junge war fünfzehn, wurde dieses Jahr noch sechzehn. Er konnte sich damit echt in Schwierigkeiten bringen. Also musste vor allem die Beute wieder her.
Auf dem nassen Rasen dieser recht leeren Seite des Parks, unweit des Friedhofes, holte Kaioru die beiden ein und warf sich auf das Pferd, das mit ihm zu Boden ging.
Wie erhofft, ließ es die Handtasche los.
Nelken kehrte sofort um.
„Ist was passiert?“
„Ne“, antwortete das Pferd, ohne jeden Zweifel ein Hengst.
Kaioru rollte sich ab und nahm die Tasche an sich.
„Wie doof seid ihr eigentlich?“, fragte er, während er wieder aufstand. „Wisst ihr, wie leicht man erwischt wird, wenn man den Alarm auslöst? Die Bank hat einen Nachtwächter und eure Kostüme sind ziemlich einzigartig. Deines hat deine Mutter gemacht, oder?“
„Kaioru?“, fragte Nelken erstaunt und half dem Pferd auf.
„Allerdings. Diese Handtasche hier ist eine Sitian. Nun stellt euch mal vor, die Besitzerin will sie unbedingt wiederhaben, der Nachtwächter hat euch gesehen und es werden Phantombilder aufgehängt. Eroka erkennt das Kostüm, das sie gemacht hat, doch sofort.“
„Oh Scheiße.“
„Ich hoffe, ihr habt das Auto nicht beschädigt.“
„Ne“, meinte der Hengst. „Mit nem Igelknick geöffnet.“
„Gut. Ich bringe die Tasche zurück. Warum stehlt ihr überhaupt eine Handtasche? Nelken, du hast doch nun wirklich keine Geldprobleme.“
„Na ja, ich nicht, aber Ci … er ist ein bisschen knapp bei Kasse …“
„Für ‚ein bisschen knapp bei Kasse‘ geht man aber kein solches Risiko ein.“
„Es war auch mehr so ne verrückte Idee“, gab „Ci“ zu. „Wir wollten das gar nicht so wirklich durchziehen, aber dann lag da diese Tasche …“
„Wisst ihr, wo man so eine Tasche verkauft? Oder habt ihr eine Ahnung was drin ist?“
„Nein“, gab Nelken zu.
„Na also. Geht feiern. Ich bringe das Ding zurück.“
Die beiden Jungen trauten sich nicht, noch etwas zu sagen, als Kaioru ging.
Die Bank hatte gar keinen Nachtwächter. Ihr Sicherheitssystem war vollautomatisch. Und auf den Parkplatz war auch keine Kamera gerichtet. Aber das mussten die beiden ja nicht wissen.