Die Hexe und der Stock
Es war einmal eine Hexe, die ging gern im Wald spazieren. Sie liebte das federnde
Moos unter ihren Füßen, den Duft der Kräuter und den Gesang der Vögel. Im Wald
war es meist friedlich. Doch eines Tages, als sie gerade in ihrer heimeligen Hütte
ein wenig Proviant für einen längeren Spaziergang zurecht machte, hörte sie von
draußen das laute Zetern von Krähen. Dann ein Knirschen und Knacken,
schließlich einen dumpfen Aufprall.
Die Hexe nahm ihr Zeug und ging nach draußen, um nachzusehen, was da los
war. Die Krähen waren längst fortgeflogen und auch sonst war niemand zu sehen.
Aber da lag etwas, was da nicht hingehörte. Anscheinend war ein Ast von
einem der Bäume abgebrochen. Es war ein kümmerlicher Ast, ganz ausgetrocknet,
ohne Rinde und ohne jegliche Zweiglein oder Blätter. Nichts weiter als ein
Stock.
Die Hexe wandte sich ab und wollte gerade ihres Weges gehen, da vernahm sie
eine Stimme.
„He da! Warte mal!“
Sie drehte sich um. Da war nach wie vor niemand.
„Was soll das? Wer auch immer du bist, komm raus oder lass mich in Frieden.“
Wieder sprach die Stimme.
„Ich bin hier. Hier unten. Könntest du mich bitte aus meiner misslichen Lage
befreien?“
Wie auch immer das möglich war – dieser schnöde Stock konnte offenbar
sprechen.
„Was willst du? Du bist ein Stock. Äste brechen eben manchmal ab, das ist
der natürliche Lauf der Dinge.“
„Von einer wie dir hätte ich mehr erwartet. Bist du nicht eine Hexe? Seid
ihr nicht so schlau und könnt alles sehen und alles erahnen? Mir scheint, du hast
noch viel zu lernen. Dabei siehst du gar nicht mehr so jung aus.
Wenn du mich mitnimmst, zeige ich dir all die Möglichkeiten, die noch auf
dich warten, und die du ohne mich nicht erreichen kannst!“
Die Hexe maß den Stock mit den Augen und dachte bei sich „Ach, warum
nicht. Mit diesem Stock hätte mein Arm mehr Reichweite. Wenn mal eine Frucht zu
hoch hängt, kann ich sie mir damit angeln. Und ich kann ihn als Wanderstock
benutzen, wenn der Weg mal etwas holpriger ist. Wird mir sein Geplapper zu viel,
kann ich ihn ja wegwerfen oder verbrennen.“
So hob sie den Stock also auf und zog mit ihm los. Der Stock begann sofort
zu prahlen, was er dort oben vom Baum aus alles gesehen und erlebt hatte. So
wie er es formulierte, klang das seltsamerweise so, als sei alles unter seiner
Weisung geschehen.
Die Hexe versuchte zunächst, das zu ignorieren und stattdessen dem
Zwitschern der Vögel zu lauschen. Aber der Stock ließ sich nicht beirren und
setzte sein Selbstgespräch fort.
Hexen sind nicht gerade dafür bekannt, besonders geduldig zu sein, aber bei
dieser Hexe handelte es sich um ein äußerst zähes Exemplar. Jede andere Hexe
hätte diesen Stock sofort entzweigebrochen und zurückgelassen. Diese jedoch
wollte es wissen. Konnte der Stock ihr wirklich helfen, etwas zu erreichen, was
sie sonst nicht erreichen konnte?
Sie hatte schon eine Idee, und so wanderte sie mit ihrem anstrengenden
Begleiter zu einem bestimmten Baum.
„So, guter Stock. Schau mal, an diesem Baum wachsen die leckersten Beeren.
Vor einhundert Jahren war es noch ein kleines Bäumchen, aber nun hängen die Früchte
mir zu hoch. Ich möchte endlich wieder davon kosten!“
Die Hexe hielt den Stock so, dass er aus seinen Astlöchern den Baum
betrachten konnte. Sie reckte und streckte sich, doch selbst mit dem Stock war
sie zu kurz, um die Beeren zu erreichen.
„Du gibst dir einfach nicht genug Mühe. Es liegt einzig und allein an dir,
dass wir dort nicht herankommen“, behauptete der Stock.
Na wunderbar, dachte sich die Hexe. Wenn du nicht zum Beeren-Angeln
taugst, dann doch hoffentlich wenigstens als Spazierstock für unwegsames
Gelände!
In der Nähe gluckste ein Bach. Er wartete gleich hinter dem nächsten Hügel –
sie musste nur eine steile Böschung hinabsteigen, um zu seinem Ufer zu
gelangen. Die Hexe war vom Wandern durstig und das kam ihr gerade recht.
Sie stieg die Böschung hinab und stützte sich dabei auf den Stock, um ihre
alten Knie zu schonen. Doch der Stock knirschte und knackste wie ein spröder Knochen.
„Lass das sein, du bist ja viel zu schwer für mich! Du hast wohl zu viel
Kuchen in dich hineingestopft, du gierige alte Hexe!“
Die Hexe grummelte in sich hinein und schaffte die letzten Schritte wie
gewohnt aus eigener Kraft. Nachdem sie ein paar Schlucke getrunken hatte,
setzte sie sich auf einen Stein am Ufer, um nachzudenken.
„Was sitzt du da herum? Wir haben keine Zeit, zu trödeln. Es gibt noch
so viel zu tun! Na los!“
Der Stock ließ nicht locker, die Hexe anzustacheln, die einfach nur ihre Ruhe wollte. Aber eine dritte Chance wollte die Hexe ihm
noch geben, wie es sich gehört.
„Ja, was denn überhaupt? Vielleicht weihst du mich endlich mal in deine
großartigen Pläne ein?“
„Na, was wohl? Du bist eine Hexe. Was läufst du hier auf deinen krummen
Beinen den ganzen Tag durch den Wald? Wenn du fliegen würdest, wärst du viel
schneller da. Lass uns fliegen.“
Darum ging es ihm also. Als ob mir wichtig wäre, schnellstmöglich
irgendwo hinzukommen. Zugegeben … ich bin noch nie geflogen, interessant wäre
das schon. Und so käme ich auch an die Beeren. Warum hat er das nicht gleich
gesagt?
Die Hexe kannte keine anderen Hexen, aber sie hatte mal gehört, dass Flughexen
auf Besen ritten. Also brauchte sie einen Besen. Vielleicht war der blöde Stock
also doch zu etwas nutze.
Sie erhob sich und kletterte die Böschung wieder hinauf. Dann spazierte sie zwischen
den Bäumen umher und sammelte einen ganzen Arm voll Reisig. Aus einer ihrer
vielen Taschen zog sie ihren Geduldsfaden. Damit umwickelte sie die trockenen
Zweige und band sie fest an den Stock. Fertig!
Die Hexe hob den Stock in Kniehöhe, setzte sich rittlings darauf und hielt
sich erwartungsvoll fest.
„Ja, und nun? Ich will hoch hinaus!“
Der Stock erwiderte nichts, aber die Hexe spürte eine ungewohnte
Leichtigkeit. Ihre Füße lösten sich vom Boden und sie begann, zu schweben.
Immer höher hob sich der Besen, und die Hexe sah zum ersten Mal ihren Wald aus
einem ganz anderen Blickwinkel. Wie die Vögel, deren Gesang sie so liebte.
Als sei es schon immer ihre Natur gewesen, steuerte sie auf den Baum mit den
köstlichen Beeren zu. Sie konnte sogar in der Luft ihre Position halten und so
ganz in Ruhe ihre Taschen mit so vielen Beeren füllen, wie sie wollte.
Anschließend flog sie zurück nach Hause. Doch anders als der Stock ihr das hatte
einreden wollen, flog sie nicht schnell, sondern genoss jeden Augenblick. Immer
mal wieder schaute sie sich um und schmiedete Pläne, wo sie am nächsten Tag
hinfliegen und was sie ausprobieren wollte.
Der Stock war erstaunlich still, seit sie sich in die Luft erhoben hatte.
Kein Wort hatte er mehr von sich gegeben, seit die Hexe einen Besen aus ihm
gemacht hatte.
Die Hexe war zufrieden. Sie landete vor ihrer Hütte, und weil ihr spontan danach
war, fegte sie mit ihrem neuen Besen zum ersten Mal in ihrem langen
Leben den extrem schmutzigen Boden.
Ende