„Inis schenkt uns ihren Funken, doch ihre Flammen brennen einsam. Sie verzehren sich und brennen aus ohne eine Hand, die sie anleitet. Wir sind Bewahrer eines Geschenks von unschätzbarem Wert.“ – Belosh von Kys, Erste Hand der Inis
Das Tal war trostlos. Roter Sand und vertrocknete Grasbüschel breiteten sich unter der heißen Hochlandsonne vor Nomos und seinen Begleitern aus. Entlang eines Bachlaufs rangen einige Akazien und Olivenbäume dem Boden ein dürftiges Dasein ab. Felsen lagen wie achtlos hingeworfen herum – Geröll von den Bergrücken, die den Talkessel formten. Ein flaches Haus stand auf der anderen Seite. Die weiß getünchten Wände leuchteten in der Sonne.
„Wie lauten Eure Befehle?“ fragte der ältere der zwei Soldaten. Nomos ignorierte die Frage und taxierte den Hang vor ihnen. Soweit er das Tal überblicken konnte, war dies der einzige Pfad, der zu dem Haus führte, und er schien nicht oft genutzt zu werden. Es gab keine Anzeichen frischer Spuren. Es hatte zweiundzwanzig Tage gedauert, diesen Ort überhaupt aufzuspüren. Die Familie hatte sich wirklich Mühe gegeben, nicht gefunden zu werden.
Die Sonne stand hoch am Himmel, vor ihnen regte sich nichts. Die Tiere der Berge mieden die Mittagshitze, einzig das Zirpen von Grillen erfüllte die Luft mit einem monotonen Surren. Nomos hatte geplant, den Bauern an seiner Haustür zu überraschen, allerdings bot das Tal keine zuverlässige Deckung, um sich ungesehen weiter zu nähern. „Herr?“ Die Soldaten wurden ungeduldig. „Wir reiten entlang des Wassers“, entschied Nomos und trieb sein Pferd an. Wenn die Familie nicht gewarnt war, konnten sie ebenso das bisschen Schatten nutzen, dass die Bäume boten. Es machte keinen Unterschied.
Sie folgten dem Trampelpfad hinunter zum Bach, einem kümmerlichen Rinnsal, das sich vor der Sonne tief in sein Bett duckte. Der Weg führte quer durch die Talsohle zum Haus auf der anderen Seite. Weiter oben an den Hängen kletterten Ziegen zwischen Felsen umher. Im Schatten des letzten Baums vor dem Haus hob Nomos die Hand zum Stopp und beobachtete die Fenster. „Haltet Abstand und wartet auf meine Befehle“, wies er die Soldaten an. Er saß ab und stieg die letzten Schritte allein hinauf. Unter den Sohlen seiner Sandalen knirschten die Steine.
Bevor er die Tür erreichte, trat ein Mann hinaus in die Sonne und baute sich vor dem Eingang auf. Er überragte Nomos um mehr als einen Kopf, sein dunkles Haar zeigte an den Schläfen und im sorgsam gestutzten Bart erste silberne Strähnen. Er trug ein einfaches Leinenhemd, breite Schultern und kräftige Arme zeugten von einem Leben voll harter Arbeit. Körperlich war er Nomos eindeutig überlegen. Nomos hielt Abstand und gab dem Mann Zeit, die Situation zu erfassen.
Er würde natürlich das kräftige Blau der Armeetunika erkennen, für die Nomos sich entschieden hatte. Vielleicht würde er Nomos wegen der Eskorte aus zwei Soldaten und den kurz rasierten Haaren für einen Offizier halten. Er würde in jedem Fall sehen, dass Nomos unbewaffnet war. Drohkulissen mussten sorgsam inszeniert werden, sonst gerieten die Dinge außer Kontrolle.
Der Mann knetete die Finger. „Was führt Euch hierher?“ fragte er. „Eine gute Frage“, entgegnete Nomos. „Ich bin gekommen, um mit Euch über die Umstände Eurer Anwesenheit in diesem Tal zu sprechen. Darf ich eintreten?“ Unentschlossen wanderte der Blick des Bauern wieder zu den Soldaten. Schließlich machte er einen Schritt zur Seite und deutete ins Haus. „Natürlich.“
Nomos nickte den Soldaten zu. Die Männer saßen ab und führten die Pferde heran. „Die beiden werden hier auf mich warten“, ließ er den Bauern im Vorbeigehen wissen und schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln.
ach der gleißenden Mittagssonne hatten seine Augen Mühe, sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Die Luft war angenehm kühl, es roch nach Knoblauch und frischem Brot. Der Raum war bescheiden eingerichtet: Die Wände waren wie das Äußere des Hauses weiß, ein massiver Holztisch mit zwei einfachen Bänken stand an der linken Wand. In einer Nische waren sechs geschnitzte Figuren sorgsam aufgereiht. Ein Altar für die Ahnen. Einfache Leute hatten einen einfachen Glauben. In die rechte Wand war eine Feuerstelle eingelassen, ein paar abgedeckte Körbe standen herum. Eine niedrige Tür führte gegenüber aus dem Raum heraus. Auf dem Tisch standen eine angefangene Mahlzeit aus Brot und Käse, ein Becher und eine bronzene Karaffe. Niemand sonst war anwesend.
Der Bauer schloss die Tür hinter sich und deutete auf die Bänke: „Bitte, setzt Euch.“ Hastig durchquerte er den Raum. „Wir haben einen Gast!“ rief er jemandem durch die kleine Tür zu. Nomos tat wie ihm geheißen und setzte sich mit dem Rücken zum Eingang. Sein Gastgeber nahm ihm gegenüber Platz, umständlich schob er die begonnene Mahlzeit zur Seite. „Lasst euch bitte nicht stören“, ermunterte Nomos den Mann, „nur zu.“ Während der Bauer zögerlich wieder nach dem Teller griff, zog Nomos den Kragen seiner Tunika herunter. Der Mann würdigte die tätowierte Hand auf seiner Brust nur eines kurzen Blickes und nahm einen Bissen vom Käse. Enttäuschend.
„Wie ich sehe, wisst Ihr, wer ich bin. Meine Name ist Nomos.“ Der Bauer schluckte seine Bissen herunter. „Ich bin Miko. Ich weiß, was das bedeutet“, er winkte in Richtung von Nomos Brust, „aber ich weiß nicht, warum Ihr hier seid. Wir haben mit dem Geschäft der Hände von Inis nichts zu schaffen.“ Nomos verzog den Mund. „Händler machen Geschäfte“, erwiderte er, „ich pflege meine Anliegen nicht zu verhandeln.“
Eine Frau kam durch die kleinere Tür und unterbrach das Gespräch. Ihr geflochtener Zopf reichte bis zur Taille, einige hölzerne Armreife klapperten an ihrem Handgelenk. „Es ist sehr heiß heute, Ihr seid sicher ausgezehrt von Eurer Reise“, sagte sie leise und servierte Nomos ebenfalls einen Teller mit Brot und Käse, dazu eine Schale mit Oliven und einen Becher, in den sie Wasser aus der Karaffe einschenkte. Der Bauer tauschte eindringliche Blicke mit ihr aus. Sie entschuldigte sich sofort mit einem Nicken und machte kehrt. Vermutlich würde sie jetzt nach einem Versteck für den Jungen suchen.
„Ihr habt eine fürsorgliche Frau“, begann Nomos erneut, als sie wieder allein waren.
„Ich bin ein glücklicher Mann.“
„Es ist einsam hier oben.“
„Wir haben alles, was wir brauchen.“
„In Eurem Dorf hattet Ihr das nicht?“ Nomos ignorierte das Essen.
„Es war an der Zeit zu gehen.“
„Auf mich hat der Ort einen malerischen Eindruck gemacht. Die Landschaft weiter unten ist fruchtbarer und Euer alter Hof war größer als dieses Haus. Meiner Erfahrung nach brauchen Menschen Gesellschaft. Warum habt Ihr das gegen diese Einsamkeit getauscht?“
Der Mann starrte auf seinen Teller. „Ich hatte einen Streit, den ich nicht wollte. Ich habe die Sache hinter mir gelassen und lebe gut damit.“
„Die Sache war es wert, Eure Heimat zu verlassen?“
„Wir stammen nicht aus dem Dorf.“
„Ihr habt trotzdem viel aufgegeben. Warum?“
Der Bauer legte den Käse zur Seite und rieb sich Brotkrumen von den Händen. Er schien seine Strategie zu überdenken. „Es gab einen Unfall“, sagte er schließlich.
„So? Was ist passiert?“
„Ein Mädchen ist gestorben. Sie ist beim Ziegenhüten einen Abhang hinuntergestürzt, mein Sohn war dabei. Er ist zu uns gekommen, um Hilfe zu holen, aber als wir an der Unglücksstelle ankamen, war es schon zu spät. Er war damals noch sehr jung.“
„Der Tod von Kindern ist immer tragisch.“ Nomos registrierte jede Regung des Mannes: das Kneten der Finger, das häufige Blinzeln. Der Bauer blieb erstaunlich ruhig, doch die Ruhe wirkte bemüht.
„Der Vater des Mädchens kam damit nicht zurecht. Er gab meinem Jungen die Schuld an dem Unfall. Dabei war seine Tochter doppelt so alt wie mein Sohn, doch er hörte nicht damit auf. Ich habe mir Sorgen gemacht, dass er meinem Kleinen etwas antun könnte. Also sind wir gegangen. Ich hoffe, er hat seine Trauer inzwischen überwunden.“
Nomos nickte. Der Mann stellte sich nicht schlecht an, seiner Geschichte lag viel Wahrheit zugrunde. Sie klang überzeugend. Auch er änderte seine Strategie und lehnte sich auf die Tischkante. „Erinnert Ihr euch an die Unglücksstelle, Miko?“
Der Bauer sah auf seine Hände und strich sich auf der Suche nach mehr Krümeln wieder über die Finger. „Nicht mehr genau, nein.“
„Nicht mehr genau“, wiederholte Nomos. „Ich schon. Ich war vor zweiundzwanzig Tagen dort. Die Umgebung weist interessante Eigenheiten auf.“
Die rechte Augenbraue des Bauern zuckte.
Zufrieden lehnte sich Nomos zurück. Er hatte den Mann in der Hand. Seine Frau hatte vermutlich ein Versteck für den Jungen gefunden, wenn sie überhaupt eines hatte suchen müssen. An eine Flucht war nicht zu denken. Draußen warteten die Soldaten und das Tal war leicht zu überblicken. Er hatte alle Zeit der Welt. Seelenruhig nahm er eine Olive aus der Schale vor ihm, drehte sie langsam zwischen seinen Fingern und drückte sie prüfend. Unter dem weichen Fruchtfleisch ertastete er den harten Kern.