Inspiriert von @Gwen ihrem Fantasy-Thread (der mir in den meisten Punkten zu konkret ist, um die DIskussion darüber sonderlich spannend zu finden), möchte ich gerne eine allgemeinere Diskussion über Realismus anstoßen. Realismus ist in der Fiktion oft ein implizites Bastelziel und nach meinem Eindruck wird oft gar nicht hinterfragt, warum Realismus an einer bestimmten Stelle überhaupt etwas bringt/dem was da grade gebastelt wird, zuträglich ist. Gerade in Fiktion in einer anderen Welt werden ja Teile des Realismus fast immer gebrochen werden (durch Magie, FutureTech, wasauchimmer)
Ganz kurz liste ich mal die Realismuskategorien auf, die mir einfallen. Das mache ich nur um später Beispiele zu haben:
-Statistischer Realismus (plausible Bevölkerungszahlen, keine zu unwahrscheinlichen Zufälle, Häufigkeit bestimmter Eriegnisse,...)
-Biologischer Realismus (Evolution von Kreaturen, Beachtung von Nahrungskreisläufen, Vegetation,...)
-Physikalischer Realismus (Naturgesetze werden eingahalten, Umlaufbahn und Klima von Planeten,...)
-Psychologischer Realismus (Sapiente verhalten sich ähnlich wie Menschen, nachvollziehbare Charaktermotive und -Entwicklung,...)
-Gesellschaftlicher Realismus (Rollen Gesellschftlicher Gruppen aufeinander abgestimmt, Machthierarchien wirken sich aus,...)
-Linguistischer Realismus (Sprachen kommen über plausible natürliche Sprachentwicklung zustande, ...)
Dass in verschiedenen Welten unterschiedliche Realismuskategorien unterschiedlich wichtig sein könnnen, sollte glaube ich jedem klar sein. Auf Zr'ton ist mir statistischer Realismus sehr wichtig, biologischer eher weniger. In der Schlaufe spielt der psychologische Realismus eine wichtige Rolle, der physikalische überhaupt nicht. Und natürlich bedingen die Realismen ein Stück weit einander: Wenn ich auf Rhingon all irdischen Naturgesetze aus dem Fenster werfe, brauche ich mich auch nicht groß um Biologie und Evolution Gedanken zu machen.
Aber jetzt der spannende Teil: Was will ich erreichen, wenn ich entscheide, einen bestimmten Bereich meiner Welt "realistisch" zu gestalten?
1. Ästhtetik:
Das grobe Motiv: Ich finde es ästhtetisch wertvoll, wie etwas auf unserer Welt abläuft, das möchte ich in meiner Welt haben. Für mich das ganz klar wichtigste. Das können kokrete Dinge wie bestimmte Tiere sein oder abstrakte Dinge wie die Art wie sich auf irdischen Karten Städte verteilen oder Flüsse fließen. Letzteres ist für mich beispielsweise auf Zr'ton das Motiv, die Weltkarte möglichst realitätsnah zu gestalten
2. Immersion
Ich habe ein Publikum (das kann ich auch selbst sein) und ich möchte, dass dieses Publikum sich diese Welt gut bildlich vorstellen kann und das geht besser, wenn ich auf Motive zurückgreife, die schon bekannt sind, also in unserer Welt vorkommen. In diesem Sinne sind auch bekannte, aber nicht real existierende Entitäten wie Drachen "realistisch". Ich denke in den meisten Welten - auch bei mir - kommt hier der psychologische Realismus ins Spiel denn eine Welt nur über eine dem Menschen komplett fremde Perspektive zu erfahren, stelle ich mir sehr, sehr schwierig vor.
3. Faulheit
Das ist jetzt hart formuliert, aber wir machen das ja alle. Wenn wir über ein Thema nicht gut Bescheid wissen, es aber trotzdem ale Element in unserer Welt haben wollen, ist es das Naheliegendste, mal anzunehmen, dass es so funktioniert wie bei uns. Die Gestaltung der Züge der U78 im Weltennetz fällt mir als erstes Beispiel bei mir ein.
4. Auseinadersetzung
Ich möchte mich in meiner Welt mit einem Thema auseinander setzen, dass auf unserer Welt existiert, vielleicht um persönliche Erfahrungen zu verarbeiten oder um einen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Diskussion zu leisten. Um das überaupt tun zu können, muss ich gewisse Aspekte unserer Welt übernehmen um eine Diskussionsgrundlage zu platzieren. In der Folge werde ich möglicherweise Dinge subvertieren oder auf unserer Welt nicht betretene Pfade einbiegen. Auf meinen Welten sind der Trch'zon-Trch'zun-Konflikt oder auch die Schnittstellengeschichten in der Schlaufe ein Beispiel für dieses Motiv (wobei bei zweiterem die Ästhetik auch eine seeehr große Rolle spielt).
5. Genreerwartung
Den Punkt finde ich am Interessantesten. Es wird von Fantasywelten oft erwartet, einen gesellschaftlichen Realismus des europäischen Mittelalters abzubilden, von Science-Fiction-Welten, dass sie die physikalische Realität des Weltalls korrekt darstellen. Am witzigsten fand ich mal das Beispiel (hab ich glaub ich auch schon in einem anderen Thread erwähnt), als bemämgelt wurde, dass Kartoffeln auf dem Hauptkonitnent einer Fantasywelt total unrealistisch wären, weil Amerika im Mittelalter ja noch nicht entdeckt war.
Ich bin sehr zwiegespalten, ob es als Bastler erstrebenswert ist, diesen Punkt zu betrachten. Wenn man kommerziell erfolgreich sein will, vielleicht, aber ansonsten? Ich sehe eher die Gefahr, dass über Annahmen und Tatsachen in unserer Welt (gerade aus der Vergangenheit) gesellschaftliche Probleme ohne Not in die Fiktion weitergetragen werden. Also konkret: Wenn ich die rassistische und sexistische Geschichte unserer Welt unreflektiert in meine Welt übertrage ("weil es so realistischer ist"), nehme ich die Probleme unserer Welt mit in eine andere, die sie a priori nicht haben müsste. Wenn das nur aus "Realismus"-Gründen gemacht wird, finde ich es eigentlich überflüssig. Wohlgemerkt, solche Sachen können im konkreten Fall auch unter Ästhteik, Immersion oder Auseinandersetzung fallen, aber das kann eins sich dann auch bewusst machen und in der Begründung offenlegen, statt sich hinter dem Realismus-Schutzschild zu verstecken, um nicht zweifelhafte Motive unterstellt zu bekommen.
Ganz persönlich möchte ich zum psychologischen Realismus noch sagen, dass ich in den meisten Büchern und Filmen(nicht nur auf anderen Welten), die von sich behaupten, realistische Charaktere zu haben, überhaupt nicht die Menschlichkeit wiedergefunden habe, wie ich sie in meinen 26einhalb Jahren erlebt habe. Das kann gut daran liegen, dass ich Menschen aufgrund autistischer Tendenzen (oder anderer Neurodivergenz, ich hab keine Ahnung) anders wahrnehme als die meisten Autor_Innen. Aber in diesem Sinne wird, selbst wenn eins sich bemüht, seine Charaktere realistisch zu gestalten, nur eine Teilmenge der Konsumentenschaft diesen Realismus auch so empfinden.
So, jetzt für euch: Findet ihr euch in dieser Aufstellung wieder? Welche Motive gibt es noch, "realistisch" zu basteln? Möchte jemand den Realismus um seiner selbst willen verteidigen ?