[Gemeinschaftsprojekt] WBO 2008

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    Weltenbastler-Olympiade 2008


    In diesem Jahr wurden einige Beiträge lediglich als PDF hinterlegt, da es unsinnig wäre die sorgfältig formatierten Dateien langwierig in HTML zu übertragen.
    Die PDFs öffnen sich alle in neuen Fenstern, so dass die eigentliche Übersicht der WBO-Beiträge nicht verloren geht.


    Tierart


    Aufgabenstellung: Dieses Tier ist nachtaktiv und scheu, hinterlässt jedoch überall Zeichen seiner Anwesenheit, die man noch Jahre später sehen kann. Was für eine Tierart ist das und was sind diese Zeichen seiner Anwesenheit?
    Jury: Taipan, Neyasha, Sturmfaenger

    Teilnehmer Beitrag
    Gold Yelaja Die Pisikki osameki
    Silber Ehana Der Gedhal
    Bronze Gomeck Die gelbfüßige Speikrabbe
    weitere Hans Der Gigowic (PDF)
    Ly Der Brückenweber (PDF)
    Zeromaru Der Phinai



    Tracht/Kleidung


    Aufgabenstellung: Die Tracht einer Berufsgruppe hat dazu geführt, dass der Berufsgruppe unberechtigter Weise eine bestimmte Eigenschaft zugeschrieben wurde. Wie sieht die Tracht aus und wie entstand der damit verbundene Irrglaube?
    Jury: Yelaja, Taipan, Zeromaru

    Teilnehmer Beitrag
    Gold Sturmfaenger Die Tracht der Perlenmacher
    Silber Gomeck Die Tracht der Kumae-Hirten



    Regionale Spezialität


    Aufgabenstellung: Diese Speise wurde ursprünglich nur zu feierlichen Anlässen zubereitet, hat inzwischen jedoch ihren Weg in die alltägliche Ernährung einer bestimmten Region gefunden. Obwohl auch außerhalb dieser Region die meisten der größtenteils tierischen Zutaten bekannt sind, ist ihre genaue Zusammensetzung und vor allem eine ganz spezielle Zutat jedoch ein sorgfältig gehütetes Geheimnis.
    Jury: Mara, Neyasha, Moordrache

    Teilnehmer Beitrag
    Gold Ehana Rykischer Bluttopf
    Silber Taipan Cobolsuppe
    Bronze Sturmfaenger Chcica



    Pflanzenart


    Aufgabenstellung: Diese Pflanze (keine Gift- oder Heilpflanze) war ursprünglich weit verbreitet, ist aber mittlerweile nur noch in abgeschiedenen Gegenden anzutreffen. Was für eine Pflanze ist das und warum machen sich immer wieder Leute auf, um nach ihr zu suchen?
    Jury: Taipan, Sturmfaenger, Moordrache

    Teilnehmer Beitrag
    Gold Yelaja Die Brommelbeere
    Silber Neyasha Feuerstern oder "Immerfort"



    Handelsware


    Aufgabenstellung: Aus der genauen Herkunft und/oder Herstellung dieser - meist in körniger oder pulvriger Form gehandelten - Ware machen die Erzeuger ein großes Geheimnis. Obwohl dieses Material bei nüchterner Betrachtung keinen Nutzen zu haben scheint, ist es in bestimmten Personenkreisen heiß begehrt (bei wem und warum?), was die Erzeuger/Händler auszunutzen wissen.
    Jury: Mara, Taipan, mask, Moordrache

    Teilnehmer Beitrag
    Gold Sturmfaenger Tharvellin
    Silber Ehana Ke'ar-than
    Bronze Ly Geisterpulver (PDF)
    weitere Gomeck Das Shamî-Hornpulver



    Gesetz


    Aufgabenstellung: Dieses Gesetz stammt aus alten Zeiten und findet heute kaum noch Anwendung. Findige Rechtssprecher zitieren es aber, wenn es um Grundbesitz geht, auf dem eine bestimmte Pflanzenart wächst, um die aktuelle Gesetzeslage außer Kraft zu setzen.
    Was ist das für ein Gesetz und wie ist es entstanden, und inwiefern kann man damit die aktuelle Rechtsprechung umgehen?
    Jury: Gomeck, Zeromaru, Mara, Ly

    Teilnehmer Beitrag
    Gold Hans Namenloses Gesetz (PDF)
    Silber Ehana Gesetz gegen die Shkalapi-Krankheit
    Bronze Taipan 62-Baum-Gesetz
    weitere Moordrache Altes Tugis-Gesetz



    Nicht-religöser Feiertag


    Aufgabenstellung: Dieser Feiertag verwandelt eine bestimmte Stadt in bestimmten zeitlichen Abständen (allerdings nicht jährlich!) in ein Tollhaus. Erkläre, weshalb eine Gruppe der Bevölkerung daran besonders stark beteiligt ist, und was das mit Festtagstracht und/oder -schmuck zu tun hat.
    Jury: Gomeck, Zeromaru, Sturmfaenger, Ly

    Teilnehmer Beitrag
    Gold Taipan Das Baithfest (PDF)
    Silber Mara Der Schneidereid von Ichera



    Städtisches Wahrzeichen


    Aufgabenstellung: Dieses Wahrzeichen, ein Sakralbau, ist im Vergleich zu anderen Bauwerken dieses Typs falsch gebaut. Obwohl unverschuldet hat dieser Fehler den Architekten und seine Baumeister das Leben gekostet und macht bis heute eine Besonderheit des Gebäudes aus. Um was für einen Fehler handelt es sich, wie kam er zustande und wie sieht das Bauwerk heute aus?
    Jury: Mara, Neyasha, Taipan

    Teilnehmer Beitrag
    Gold Sturmfaenger Das Himmelsauge von Tomeira
    Gold Gomeck Namenloses Bauwerk
    Silber Moordrache Der Aurog-Tempel zu Trûrg



    Religiöse Zeremonie


    Aufgabenstellung: Diese Zeremonie findet für einen jeden einer bestimmten Religion statt, der sich an einem bestimmten Zeitpunkt im fortgeschrittenen Erwachsenenalter befindet. Dies ist für die betroffene Person von großer Bedeutung. Ein Nichterleben dieses Zeitpunkts wird zudem als böses Omen für deren Nachfahren gesehen.
    Jury: Gomeck, Sturmfaenger, Ly

    Teilnehmer Beitrag
    Gold Ehana Das Großelternritual der Nham-Stämme
    Silber Taipan Lers-Agoralener Ornet (PDF)
    Bronze Hans Das Fest des Tolja (PDF)
    weitere Gerrit Die Zeremonie der Brutmeisterschaft



    Lokale Persönlichkeit


    Aufgabenstellung: Diese Person ist ein unglaublich begabter Handwerker (welches Handwerk?), der bei den Besten seiner Zunft gelernt hat. Seine Werke sind wahrlich meisterhaft. Dass er dennoch keine große Bekanntheit erlangt hat, liegt an einem tragischen Ereignis (was für eins?) vor einigen Jahren. Seit diesem hat er kein einziges Handwerksstück mehr fertiggestellt, obwohl ihm durchaus hohe Summe dafür geboten wurden und er körperlich auch weiterhin in der Lage dazu wäre.
    Jury: Taipan, Zeromaru, Gerrit

    Teilnehmer Beitrag
    Gold Sturmfaenger Jonerrh, der Instrumentenmacher
    Silber Moordrache Xyto, der Glitzersteinschleifer
    Bronze Ly Timbre Brunellnuss (PDF)



    Landschaftlich markanter Punkt


    Aufgabenstellung: In einer wenig aufregenden und landschaftlich eher eintönigen Region befindet sich ein riesiges Loch, worin gut mindestens eine Kleinstadt Platz fände.
    Wie ist dieses Loch vor langer Zeit entstanden - und/oder welche Legende(n) rankt/ranken sich um dessen Entstehung und Bedeutung. Noch heute hat dieses Loch oder dessen nächste Umgebung eine relativ wichtige, historische Bedeutung für mindestens ein Volk. Welche? (Kein Krieg)
    Jury: Gomeck, Moordrache, Ly

    Teilnehmer Beitrag
    Gold Taipan Keryodanir Se'an
    Silber Sturmfaenger Nabe von Khsír
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    Die Pisikki osaemki
    © Yelaja


    „Im Süden Nanduns, in den Dschungelgebieten der pestritischen Halbinsel berichten die Eingeborenen von kreisrunden Lichtungen inmitten des dichtesten Waldes, in deren Zentrum nur eine einzelne Pflanze wächst. Bei den Eingeborenen heißt es, dass in diesen Pflanzen böse Geister wohnen würden, die den Boden vergifteten, so dass dort nichts sonst mehr wachsen könne. Die Einheimischen nennen die Pflanze Suhuyakka, Geisterbaum.


    Wenn eine solche Pflanze in der Nähe eines Dorfes wächst, bedeutet dies ein schlechtes Omen für das Dorf, denn der Zorn des bösen Geistes könnte schreckliches Unheil heraufbeschwören. Die Dorfbewohner bringen deshalb jeden Monat, wenn der letzte Tag des Schwarzmondes gekommen ist und der böse Geist in der Pflanze am unruhigsten ist, bei Sonnenuntergang Opfergaben an den Rand der Lichtung um den Geist zu besänftigen. Am folgenden Morgen sind die Gaben verschwunden.


    Manchmal nach einem Jahr oder oft aber erst nach vielen Jahren beschließt der Geist, dass das Dorf genug geopfert hat und verlässt die Pflanze, die daraufhin abstirbt. Binnen einiger Wochen verrotten die krautigen Teile der Pflanze und es bleibt nur das schwarz glänzende Holz zurück, das so hart und widerstandsfähig ist, dass das Gerippe der Geisterpflanze noch über Jahre und Jahrzehnte erhalten bleiben kann. Eine stete Mahnung an die Dörfler, dass der Geist immer wieder zurückkehren könnte, um die Pflanze erneut in Besitz zu nehmen.“
    aus den Reiseberichten von Semialla vom Haus R’haseya


    Die Pflanze, von der in Semiallas Bericht die Rede ist, wurde inzwischen eingehender untersucht um zu ergründen, inwiefern der Glaube der Einheimischen, dass die Pflanze von Geistern besessen sei, zutreffe.
    Die Gilde der Züchter schickte den Gelehrten Osamek zur Untersuchung der Pflanze aus. Er erkannte jedoch bald, dass die Pflanze, genauer gesagt ihr Wurzelwerk, nicht Lebensraum für Geister, sondern für Kolonien winziger Säugetiere war. Das Leben der kleinen Nager und das der Pflanze sind so eng miteinander verstrickt und hängen sogar in dem Maß voneinander ab, dass es nicht möglich ist, dass eine Art isoliert von der anderen überlebt.
    Wo also ein Suhuyakka wächst, befindet sich auch eine Kolonie der Nager. Ebenso kann man unter den schwarzen Überresten eines Suhuyakka mit Sicherheit die verlassenen Tunnelsysteme einer Kolonie der Lacentina pisikki osameki, wie Osamek die neue Art nannte, finden.


    Osamek wählte den Namen, da er an eine Verwandtschaft der Nager mit Lacentina sulei, dem arincandrischen Steppenhamster, glaubte. Heute hat sich der Name Pisikki osameki oder kurz Pisikki durchgesetzt, da man inzwischen weiß, dass Pisikki zu den eierlegenden Säugetieren gehört, während Lacentina sulei lebende Junge gebiert.
    Ein Pisikki ist etwa 2 bis 2,5 cm lang und von gedrungener, mäuseartiger Wuchsform. Anstatt des für Mäuse charakteristischen unbehaarten Schwanzes besitzen die Pisikki jedoch nur einen kleinen Stummelschwanz. Das kurze hellbraune bis ockerfarbene Fell des Pisikki hat sechs dunkelbraune bis schwarze Querstreifen auf dem Rücken sowie eine dunkle Partie, die die Schnauze umgibt und in einem dünnen Streifen auf der Stirn ausläuft.
    Die Pisikki sind hoch soziale Tiere und leben in Staaten mit bis zu 6000 Tieren zusammen. Die Koloniemitglieder gehören verschiedenen Kasten an, denen unterschiedliche Arbeitsbereiche zugeteilt sind. Die Mitlieder der Kasten unterscheiden sich auch in ihrem Körperbau voneinander und sind so optimal an ihren jeweiligen Arbeitsbereich angepasst.


    Ein Großteil der Koloniemitglieder gehört zu einer wenig spezialisierten Arbeiterkaste, die vielfältige Aufgaben in den Bereichen Brutpflege, Hygiene und Nahrungsversorgung übernimmt. Die Angehörigen dieser Kaste sind relativ klein. Ihre Ohren und Augen sind verhältnismäßig groß und ihre Gliedmaßen sind weniger kräftig als die anderer Kasten.
    Eine andere, weniger zahlreich vertretene Kaste ist auf die Verteidigung der Kolonie spezialisiert. Diese Kriegerkaste zeichnet sich durch einen kräftigen Körperbau aus. Die vorderen und hinteren Gliedmaßen sind mit großen, sehr spitzen Krallen besetzt und aus speziellen Analdrüsen kann ein ätzendes Sekret auf Angreifer gespritzt werden.
    Die Mitglieder der Gräberkaste sind ebenfalls stämmig gebaut. Die Mittelhand- und Fingerknochen ihrer vorderen Gliedmaßen sind miteinander verwachsen und bilden so mit den Klauen, die ständig weiter wachsen, effektive Grabwerkzeuge. Auch die Krallen der Hinterbeine sind schaufelartig verbreitert.


    Die Mitglieder der Gründerkaste ähneln den Gräbern vom Aussehen her, aber sie treten nur kurz vor der Samenreife des Suhuyakka in der Pisikki-Kolonie auf und spielen bei der Verbreitung der Suhuyakka-Samen und der Gründung neuer Pisikki-Kolonien eine entscheidende Rolle. Die vorderen Gliedmaßen sind als Grabwerkzeuge entwickelt, wenn auch die Verwachsung der Handknochen fehlt. Die hinteren Extremitäten sind als dagegen eher unspezialisiert und gleichen denen normaler Arbeiter. Im Gegensatz zu den anderen Kasten gehören der Gründerkaste nur weibliche Individuen an.
    Während die Mitglieder aller anderen Kasten steril sind, sind die Mitglieder der Herrscherkaste fruchtbar und somit für die Produktion der Nachkommenschaft der Kolonie verantwortlich. Die Königinnen haben einen vergrößerten Unterleib, in dem die Geschlechtsorgane sitzen. Der Hoden der Könige ist ebenfalls voll entwickelt und im Gegensatz zu den männlichen Individuen anderer Kasten ist er bei ihnen unterhalb des stummeligen Schwanzes deutlich zu erkennen.


    Nahrung und Wohnung der Pisikki-Kolonie:


    Wenn die Abenddämmerung über den Dschungel der pestritischen Halbinsel hereinbricht, erwacht die Pisikki-Kolonie langsam zum Leben.
    Die Arbeiterinnen, die tagsüber nur die nötigsten Aufgaben erledigt haben, beginnen emsig mit ihren Verrichtungen. Viele schwärmen aus dem Nest aus und suchen im Schutz der hereinbrechenden Dunkelheit nach Samen, Früchten und jungen Trieben, die sie einsammeln um sie als Nahrungsvorräte zurück in ihr Nest zu schaffen.
    Dort übergeben die Sammler ihre Beute an andere Arbeiter, die die Nahrung zu den Vorratskammern des Nestes schaffen und sie dort zerkauen. Der Nahrungsbrei wird dann mit dem Saft des Suhuyakka vermischt und in kleinen Erdmulden eingelagert.
    Andere Arbeiterinnen sind damit beschäftigt die Wände des Nestes zu reinigen, indem sie sie mit dem Suhuyakka-Saft benetzen. Der Saft des Suhuyakka wirkt desinfizierend und hilft so beim Schutz der empfindlichen Pisikki so vor Krankheitserregern und bei der Konservierung ihres Nahrungsbreis. Die Pisikki-Arbeiter gewinnen ihn, indem sie vom Suhuyakka gebildete Wurzelknöllchen anknabbern und den austretenden Saft auflecken.


    In einer von den Gräbern frisch ausgehobenen Kammer sind die Arbeiter damit beschäftigt die Wände zu stabilisieren, indem sie die Kammer mit einer Mischung aus Suhuyakka-Saft, Speichel und Erde auskleiden. Aus der gleichen Mischung legen sie auch kleine Mulden für den Nahrungsbrei an. Andere Gräber wühlen sich nur wenige Zentimeter unter der Oberfläche durch den Boden und suchen nach den Wurzeln fremder Pflanzen, um sie abzunagen, damit sie den Wuchs des Suhuyakka nicht behindern und ihm das Licht nicht streitig machen.


    Von Kampf und Verteidigung


    Die Eingänge zum Nest werden von den Kriegern der Pisikki-Kolonie streng bewacht. Eindringlinge, seien es räuberische Hundertfüßler oder diebische Arbeiter einer benachbarten Kolonie, werden mit Krallen, Zähnen und einem Wehrsekret, das in den Analdrüsen der Krieger gebildet wird, bekämpft. In der Nacht erklettern die Krieger den Suhuyakka und suchen nach Schädlingen, die sich an der Pflanze festgesetzt haben.
    Obwohl sich die Pisikki tagsüber in ihr Nest zurückziehen, bleiben einige Krieger auch zwischen Sonnenauf- und -untergang in Bereitschaft. Sie befinden sich in Kammern, die in der Nähe des Suhuyakka-Stamms dicht unter der Oberfläche liegen, und sind stets bereit den Suhuyakka gegen Fressfeinde oder andere Angreifer zu verteidigen.


    Herrscherkaste und Pflege der Brut:


    In der Pisikki-Kolonie leben mehrere Königinnen (meist 3 bis 6) und ein König. Diese Herrscherkaste ist einzig für die Produktion der Nachkommenschaft der Kolonie verantwortlich. Ein Hofstaat aus Arbeitern bringt den Herrschern Futterbrei, putzt sie und schafft die Ausscheidungen der Herrscher in die Kotkammern der Kolonie.
    Die Königinnen besitzen eine Samenblase, die bei der Kopulation mit dem Männchen den Samen aufnimmt. Der Samen einer Verpaarung genügt zur Befruchtung von 100 bis 150 Eiern. Da eine Königin täglich etwa 50 Eier ablegt, genügt es, wenn sich der König jede Königin alle 2 bis 3 Tage begattet. Die von einer Königin gelegten Eier werden von den Arbeitern in die Brutkammern geschafft und dort bebrütet, bis nach etwa sechs Tagen die nackten und noch blinden Pisikki-Jungen schlüpfen. Ammen, die ebenfall der Arbeiterkaste angehören, aber mit einem besonders reichhaltigen Futter versorgt werden, säugen die Jungtiere, bis sie nach weiteren acht Tagen alt genug sind um feste Nahrung zu sich zu nehmen und selbst in den Dienst der Kolonie zu treten.


    Die Eier der Pisikki-Kolonie werden von den Arbeiterinnen regelmäßig mit Suhuyakka-Saft desinfiziert, da sehr empfindlich sind und ohne dies Behandlung schon vor dem Schlupf absterben würden.
    Welcher Kaste ein Pisikki angehört, steht schon zum Zeitpunkt des Schlupfes fest. Vermutlich wird die Entwicklung der Eier durch die Temperatur, bei der sie bebrütet werden, gesteuert. Die Entwicklung neuer Königspaare erfolgt immer im Frühjahr, wenn der Saft des Suhuyakka reich an hormonähnlichen Substanzen ist. Ausgewählten Jungtieren wird der Saft zusätzlich zur Ammenmilch gefüttert, so dass sich ihre Geschlechtsorgane voll entwickeln können.


    Vom Werben und Kämpfen:


    Während die jungen Königinnen im Frühjahr bei ihrer Kolonie verbleiben, ziehen die Männchen aus um dem König einer fremden Pisikki-Kolonie seinen Platz streitig zu machen. Die Männchen wandern nur in der Nacht. Tagsüber verstecken sie sich in kleinen Erdlöchern oder zwischen den Wurzeln eines Baumes um zu schlafen. Wenn die Männchen eine fremde Kolonie gefunden haben, postieren sie sich vor einem der Nesteingänge und machen durch laute Pfeifgeräusche auf sich aufmerksam, um so den amtierenden König herauszufordern.
    Nachdem der König der Kolonie herausgekommen ist, imponieren sich die Rivalen zunächst indem sie sich auf die Hinterbeine stellen und lauf pfeifen. Dieses Imponierverhalten wiederholt sich einige Male und dazwischen umkreisen und beschnuppern sich die Kontrahenten immer wieder. Wenn nach einigen Stunden noch keines der beiden Männchen aufgegeben hat, schlägt das Imponierverhalten plötzlich in einen echten Kampf um und die Tiere greifen sich mit Krallen und Zähnen an. Nach einem kurzen, aber heftigen Schlagabtausch kapituliert der Unterlegene schließlich und das siegreiche Männchen zieht als König in die Pisikki-Kolonie ein.


    Von Reinlichkeit und Körperpflege:


    Die Pisikki verbringen einen nicht unerheblichen Teil ihrer Zeit mit dem Reinigen ihres Körpers. Vor allem tagsüber, wenn sich alle Tiere innerhalb des Nestes aufhalten, sind Schlafen und Fellpflege die Hauptaktivitäten der Pisikki. Die Tiere lecken sich selbst oder andere Koloniemitglieder ab und bestreichen ihr Fell mit dem Sekret ihrer Analdrüsen um es vor dem Befall durch Milben oder andere Parasiten zu schützen.
    Zum Abkoten begeben sich die Pisikki in die sogenannten Kotkammern. Dabei handelt es sich um relativ große Kammern im unteren Bereich der Kolonie. Der Kot der Königspaare und der Jungtiere wird von den Arbeitern dort hingebracht. Auch die Körper gestorbener Nestkameraden werden in die Kotkammern gebracht. Wenn eine Kotkammer voll ist, verschütten die Gräber den Zugang und legen eine neue Kammer an.


    Von der Teilung einer Pisikki-Kolonie:


    Da der Suhuyakka nur einmal Samen ansetzt und dann abstirbt, muss sich auch die Pisikki-Kolonie auf das Verlassen ihres alten Nestes vorbereiten, wenn der Suhuyakka im Frühjahr seine Blüten bildet.
    Die Königinnen legen je nach Größe der Kolonie bis zu 10 unbefruchtete Eier, aus denen sich Gründerinnen entwickeln. Die Arbeiter in den Brutkammern beginnen zudem damit, aus einigen ausgewählten Jungtieren neue Herrscher heran zu ziehen. Der Saft des Suhuyakka ist auch zur Blütezeit reich an den Hormonsubstanzen, die die Entwicklung der Geschlechtsorgane der Jungtiere fördern.
    Nachdem die Samen des Suhuyakka reif sind, stirbt die Pflanze ab. Die Gründerinnen der Pisikki-Kolonie verlassen dann das Nest und klettern am Suhuyakka zu seinen Samenständen hinauf. Sie brechen die Samenkapseln auf und verschlucken einen der Samen. Danach kehren sie in die Kolonie zurück.


    Kurz vor dem Aufbruch der Kolonie in der folgenden Nacht fressen die Arbeiterinnen, die Nahrungsvorräte der Kolonie leer, um den Nahrungsbrei in ihren Mägen zu transportieren. Nach Einbruch der Nacht verlässt die Kolonie ihr altes Nest. Die Tiere teilen sich in mehrere Tochterkolonien auf, in der jeweils eine Gründerin und eine Königin vertreten sind. Die jungen Könige verlassen dagegen die Gemeinschaft um sich eine neue Kolonie zu suchen.
    Der alte Suhuyakka bleibt zurück und bildet, nachdem Blätter und Rinde innerhalb weniger Wochen verrottet sind, ein meterhohes, schwarz glänzendes Denkmal für die aufgegebene Pisikki-Kolonie.


    Die jungen Kolonien ziehen nachts umher, um einen geeigneten Standort für ihre Suhuyakka-Pflanze zu finden. Am Tag versteckt sich die Kolonie im Unterholz des Dschungels.


    Wenn die Kolonie einen geeigneten Platz gefunden hat, beginnen die Gräberinnen sofort damit neue Tunnel in den Boden zu graben. Die Arbeiterinnen nagen währenddessen die vorhandene Vegetation ab, um Platz für den Suhuyakka zu schaffen. Inmitten des geschäftigen Treibens beginnt die Gründerin damit sich ebenfalls in die Erde einzugraben. Sie gräbt sich senkrecht nach unten, bis sie eine Tiefe von etwa 10 cm erreicht hat. Nachdem sich der Gang, den sie gegraben hatte, durch nachrieselnde Erde wieder verschlossen hat, rollt sich die Gründerin zusammen und stirbt. Bei ihrem Tod werden Sekrete in ihren Verdauungstrakt abgegeben, die die äußerte Schale des Suhuyakka-Samen auflösen. Erst jetzt kann der Samen keimen und ein neuer Suhuyakka wachsen.


    community.weltenbastler.net/index.php?attachment/7817/

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    Die Gedhal
    © Ehana


    (Die Betonung liegt auf der zweite Silbe. Das dh spricht sich wie ein weiches behauchtes d. Wer das nicht aussprechen kann, kann es gern durch ein normales d ersetzen, das wäre dann Hauptstadtdialekt. ;-))
    Dringt man tiefer in die Bergwälder um Aï Dham vor, stößt man bisweilen auf einen silbrig glänzenden Belag, der sich bodennah in feinen Spuren um die verholzten Teile von Bäumen und Sträuchern windet. Man kann sich dann sicher sein, dass man sich gerade in einem Gebiet aufhält, in dem der Vogel lebt, von dem man sich, obwohl man ihn nur sehr selten zu Gesicht bekommt, aufgrund seines außergewöhnlichen Verhaltens auch fernab seines Lebensraums gleichermaßen fasziniert und ungläubig erzählt – der Gedhal.


    Aussehen


    Der Gedhal gehört zu den größeren Vögeln der Region um Aï Dham. Vom Kopf bis zum Schwanzansatz ist er etwa so lang wie der Unterarm eines Menschen. Dazu kommt jedoch noch sein langes, prächtiges Schwanzgefieder, das beinahe noch einmal so lang ist. Der Körper ist gänzlich mit kurzen Puderdunen besetzt. Anders als bei vielen anderen Vögeln der Region erscheint der Kopf des Gedhal geradezu nackt, weil ihm darauf keine längeren Schmuckfedern wachsen. Das Gefieder ist beim Männchen von einem leuchtenden Rot, auf den Flügeln und am Kopf kommen noch violette Sprenkel hinzu. Das Weibchen ist etwas dunkler, aber ebenfalls rot. Die prächtigen Schwanzfedern sind bei beiden abwechselnd rot und violett, sanft geschwungen und können mit einer unglaublichen Präzision bewegt werden. Mit ihrer rotvioletten Färbung fügen sich die Vögel hervorragend in die Flora der Bergwälder ein, die ebenfalls von Rottönen dominiert wird. Dies ist auch nötig, denn Gedhalen verbringen den Tag schlafend in den Baumwipfeln und werden erst bei Einbruch der Dämmerung aktiv.


    Nahrung


    Der Gedhal ernährt sich ausschließlich von Insekten, und diese fängt er mit einer Methode, wie sie von keinem anderen Vogel bekannt ist. Aus seiner Bürzeldrüse sondert er ein Sekret aus, das er aber nicht wie andere Vögel zur Gefiederpflege verwendet, denn dazu wäre es denkbar ungeeignet – die Substanz ist im feuchten Zustand extrem klebrig. Vielmehr hebt der Vogel mit seiner kräftigen Muskulatur das Schwanzgefieder und verteilt das Sekret auf tief hängenden Stauchzweigen, an Gräsern und auch an der Rinde von Bäumen. Es bildet lange, klebrige Fäden, die dem Gedhal auch den Namen „Spinnervogel“ verliehen haben. Wenn sich bald die ersten Insekten heillos in dem Gespinst verklebt haben, schreitet der Vogel zur Tat und pickt sie mit seinem scharfen Schnabel, der die Fäden leicht durchtrennen kann, heraus und vertilgt sie.
    Im frisch aufgetragenen Zustand ist die Substanz kaum zu erkennen. In der Hitze des Tages trocknet sie und härtet aus. Sie schimmert dann leicht silbrig und wirkt wasserabweisend. Zwischen dünnen Zweigen, Gräsern und Blättern werden die Fäden dennoch durch die häufigen Regenfälle zerstört, einfach weil sie der Wucht der herabprasselnden Tropfen nicht standhalten. In den Furchen von Baumrinde etwa kann sich die Substanz aber über Jahre hinweg halten, vor allem wenn es sich um einen Baum handelt, der gern von den Spinnervögeln zum Nahrungsfang benutzt wird und so immer neue Schichten hinzukommen. Wer aufmerksam durch die Bergwälder um Aï Dham streift, wird also mit Sicherheit früher oder später auf die silbrig glänzenden Anzeichen dafür stoßen, dass dies ein Gebiet ist, in dem Gedhalen leben.


    Lebensweise


    Der Gedhal erwacht in der Abenddämmerung und macht sich dann auf Nahrungssuche. Tagsüber würde die Spinnersubstanz in der Hitze zu schnell austrocknen und hart werden, so dass er große Schwierigkeiten hätte, Nahrung zu fangen. Sofern es nur ein bisschen Licht, etwa von einem der Monde, gibt, kann er ausgezeichnet im Dunkeln sehen. Tagsüber verbirgt er sich mit seinem farbenfrohen Federkleid perfekt in den Kronen von Bäumen mit rötlichen Blättern, von denen es in und um Aï Dham so mancherlei Arten gibt, und verschläft die Hitze. Gedhalen können zwar fliegen, legen für gewöhnlich aber keine großen Strecken zurück. Meist beschränkt sich ihre Flugaktivität darauf, in der Dämmerung von einem Baum herunter- und im Morgengrauen auf den nächsten hinaufzukommen, oder zwischen verschiedenen Bäumen hin- und herzuwechseln. In Bodennähe sind sie meist auf den Beinen unterwegs, wenn es darum geht, die Fangsubstanz zu verteilen.


    In der Balzzeit kann man nachts aus den Wäldern den charakteristischen Balzschrei des Gedhalmännchens hören, wie es Weibchen anzulocken versucht. Es sitzt dabei meist in irgendeiner Baumkrone und ruft von dort aus eine schnelle Abfolge kurzer, schriller Töne in die Nacht hinein. Zuvor hat es aus Zweigen und der Spinnersubstanz zwischen ein paar Astgabeln eine Art Nest für den künftigen Nachwuchs gebaut, für das es nun nach einer passenden Bewohnerin sucht. Zeigt sich ein Weibchen, nähert sich ihm das Männchen vorsichtig und vollführt dabei mit seinem beeindruckenden Schwanzgefieder kreisende Bewegungen, die dem Weibchen seine Gesundheit und Kraft demonstrieren und es in das Nest locken sollen. Entschließt sich die Angelockte zur Paarung, lässt sie sich zunächst symbolisch in dem vom Männchen gebauten Nest nieder, bevor es zur Kopulation kommt. Das Weibchen legt zwischen drei und fünf Eiern. Nach etwa dreißig Tagen schlüpfen die kleinen Gedhale. Das Weibchen bleibt so lange bei den anfangs nackten und blinden Kleinen, bis sie groß genug sind, um das Nest zu verlassen; einstweilen kümmert sich das Männchen um die Beschaffung von Nahrung. Der Überschuss an Spinnersubstanz, der währenddessen im Bürzel des Weibchens entsteht, wird dazu benutzt, um das Nest zu reparieren. Sind die Jungen flügge, trennen sich die Wege der Eltern wieder. Gedhale leben die meiste Zeit des Jahres einzeln und finden sich nur zur Paarung und Aufzucht der Jungen zusammen.


    Der Gedhal und die Menschen


    Mit seinen ungewöhnlichen Verhaltensmustern und dem prächtigen Schwanzgefieder übt der Gedhal seit Jahrhunderten große Faszination auf die Oremh aus, in deren Staatsgebiet sein Lebensraum zum Großteil fällt. Unzählige Versuche gab es, die schönen Vögel einzufangen und als Ziervögel in den herrschaftlichen Stadtvillen der hohen Adelsfamilien zur Schau zu stellen. Kein einziger war von Erfolg gekrönt – der Gedhal verweigert sich in Gefangenschaft konsequent der Nahrungsaufnahme. Allem Anschein nach frisst er nichts, das er nicht mit seiner Sekretmethode selbst gefangen hat. Außerdem wird sein Lebensrhythmus, der ja ausgeprägte Nachtaktivität vorsieht, durch das Halten und Vorführen in Käfigen empfindlich gestört. 3128 n. Dh. sorgte ein Experiment für Aufsehen, das auf Anregung des damaligen Herrschers der Lahar-Dynastie in Aï Dham durchgeführt wurde. Man fing ein Gedhalpärchen ein und setzte es im Innenhof eines Adelsanwesens aus, den man zuvor aufwendig mit einem feinmaschigen Netz überspannt und umzäunt hatte, damit die Vögel nicht davonfliegen konnten. Den Hof selbst hatte man so ausgewählt, dass er eher einem Garten entsprach und sich in ihm viele Bäume, Sträucher und auch ein paar künstliche Gewässer und Felsformationen fanden, wie sie auch im natürlichen Lebensraum des Gedhal vorkommen. Alles nützte nichts – das Männchen versuchte erst gar nicht, sich um Nahrung zu kümmern, und starb bald darauf. Das Weibchen fing irgendwann an, seine Sekretspuren auszulegen, und fing auch ein paar Insekten, zeigte aber nur wenige Tage später genauso lethargisch wie sein Partner und teilte letztlich dessen Schicksal. Seitdem hat es keinen groß angelegten Versuch mehr gegeben, einen Gedhal einzufangen – jedenfalls keinen, der bekannt geworden ist. Die Vögel scheinen genau mitzubekommen, wenn man sie aus ihrem ursprünglichen Gebiet entführt, mag das, in das man sie bringt, ihrem Lebensraum noch so ähneln. Trotz dieser gescheiterten Versuche – oder vielleicht gerade deswegen – ist die Faszination der Oremh für die Gedhalen ungebrochen. Nur wenige haben die schönen Vögel bislang beobachten können, ziehen sie sich doch bei Tage zum Schlafen zurück und suchen sie des Nachts sofort den Schutz der nächsten Baumkrone auf, wenn sich ein größeres Wesen nähert.


    Bei den Siú, den seit jeher sehr naturverbundenen südlichen Nachbarn der Oremh, gilt als besonders von den Göttern gesegnet, wer im Wald eine Gedhal-Schwanzfeder findet, denn dies geschieht selten genug. Auf keinen Fall würde ein Siú seinem Glück auf die Sprünge helfen, denn das derart sinnlose Töten oder Quälen von Tieren gilt als Sakrileg, und wer gewaltsam versuchen würde, an eine Gedhalfeder zu kommen, dem würde diese sicherlich kein Glück bringen, sondern eher das Gegenteil.

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    Die gelbfüßige Speikrabbe
    © Gomeck


    Im äußersten Nordwesten Æýansmottírs, an der Höhlenküste, gibt es ein Phänomen, das schon zahlreiche Seefahrer und Fischer vor Rätsel gestellt hatte. Alle vier Jahre erscheint an der gesamten Küstenlinie oberhalb der Gischtgrenze ein dünnes, rotes Band von ca. 2 Schritt Höhe.


    Lange Zeit rankte sich darum ein Mythos: Am Anbeginn der Zeit gab es einen großen Kampf zwischen dem Gott der Lüfte und dem Gott des Wassers. Vier Jahre lang tobte der Kampf zwischen den beiden, und schließlich, als der Gott des Wassers müde wurde und unachtsam, da gelang es dem Gott der Lüfte, ihm mit seinem gewaltigen Schwert den Kopf abzutrennen, der aus dem Wasser ragte. Der Kopf rollte daraufhin in die Fluten und versank im Meer, der Stumpf seines Halses jedoch wurde zu Stein. Der Gott der Lüfte betrachtete den steinernen Stumpf, und er beschloss, darauf Leben zu erschaffen, und so entstand Æýansmottír und alles Leben darauf. Doch die Wunde verheilte nur sehr sehr langsam, und sie brach alle vier Jahre erneut auf und begann zu bluten - erst jetzt, viele Jahrtausende später, war die Wunde fast verheilt und Æýansmottír, das einst der Hals des Gottes des Wassers war, zeigt nur noch an dieser einen Stelle, was Æýansmottír einst war.


    Diese Sage erzählt man sich heute noch den kleinen Kindern, doch eines Tages wurde das Geheimnis des roten Bandes gelüftet. Der Forscher Sulætým aus der Hauptstadt Ákar-ínam bereiste die nördlichen Regionen und suchte auch die unzulänglichen Steilküsten der Höhlenküste auf - die Klippen der Höhlenküste tragen ihren Namen aufgrund der vielen kleinen und großen Höhlen, geschaffen von Wind und Wasser, und darin hatte sich im Laufe der Zeit eine ganz eigene Flora und Fauna gebildet. Wie bei seinen Forschungsreisen üblicherweise verbrachte Sulætým einige Tage und Nächte in den Höhlen der Küste, wobei er eine interessante Entdeckung machte.
    Tief in den Ritzen und Spalten der Klippen fand Sulætým unter anderem eine Krabbe von auffälliger Färbung. Sie war etwa handtellergroß, der Rückenpanzer war im wesentlichen Graugrün, doch einige leuchtend rote Streifen verliefen vom Kopf bis zum hinteren Teil des Körpers. Die langen, dünnen, spinnenartigen Beine waren dagegen gelb, nur an den Innenseiten der Beine verlief ein blauer Schatten. Die Bauchseite war ebenfals blau.
    "Ich hatte diese Tiere noch nie zuvor gesehen, doch die Höhlen waren voll von ihnen, wenn man einmal wußte, wonach man suchen sollte. Mich wundert inzwischen auch nicht, dass noch niemand zuvor diese Tiere entdeckt hatte: sie verlassen ihre Verstecke nur des Nachts, und auch sonst sind sie sehr scheue Tiere. Ich mußte stundenlang regungslos sitzen, bevor sie sich heraustrauten, und machte ich auch nur eine zu schnelle Bewegung, huschten sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit wieder in ihre Ritzen und Spalten!"


    Sulætým fand noch mehr heraus: die Krabben konnten hervorragend auf dem windzerfressenen Felsen klettern, und sie ernährten sich von Pflanzenmaterial und kleinen Tieren, die die stürmischen Fluten des Nordmeeres gegen die Klippen warfen. Natürliche Feinde hatten die Krabben wenige. Es gab eine seltene Art der Küstenflugtiere, ein kleinerer Raubweýðar, der mittels hoher Schreie sich im Dunklen orientieren kann und so nachts auf Beutejagd geht, ferner lebten drei Arten der Nacht-Túk hier in Küstennähe, Flugbeutler, die mit ihren großen Augen auch noch bei geringstem Licht ihre Umwelt gut wahrnehmen können.
    Das Interessanteste allerdings war, dass sie ausschließlich im Küstenbereich des "Roten Bandes" lebten, weshalb Sulætým genauer nachschaute. Er nahm auch das rote Band in Augenschein, welches schon fast vier Jahre alt und schon stark verwittert war. Es handelte sich um eine dünne, harzige Schicht, in denen unendlich viele kleine runde Vertiefungen zu sehen waren. Zu des Rätsels Lösung verhalf ihm dann doch noch eine kleine Portion Glück - ein paar Wochen später, als er zufällig wieder in Inam-nú an der Nordküste war, erreichte ihn die Nachricht, dass das rote Band wieder frisch und leuchtend die Klippen zierte. Was er vorfand, war eine klebrige Substanz, und darin eingebettet unzählige Eierchen, kugelrund und hellgelb gefärbt.


    "Ich untersuchte einige - man konnte allerdings nichts darin erkennen. So beschloß ich, hier noch einige Zeit auszuharren. Nach ungefähr 5 Tagen konnte man im Innern der Eier Umrisse eines Tieres erkennen, die Eier wuchsen und dehnten sich noch weiter aus, und nach weiteren 15 Tagen schlüpften daraus tatsächlich junge Krabben, gerade so groß wie ein halber Fingernagel. Die rote Schicht war mittlerweile hart geworden, so dass die Krabben darüber hinweg in Richtung Meer gelangen konnten. Sie wurden von den Wellen erfasst und von der Strömung davongetragen. Aufgrund der äußerlichen Ähnlichkeit, die bereits zu erkennen war, bin ich davon überzeugt, dass es sich um die Jungen der Krabbe in den Höhlen handelte. Ohne nähere Untersuchungen kann ich nur spekulieren, doch ich vermute, dass sie ihre erste Lebenszeit im Meer verbringen und erst später wieder hierher an die Küste zurückkommen. Vier Jahre scheint ein Zyklus ihres Lebens zu sein, in denen sie beginnen hier an den Felsen ihre Eier ablegen, hoch genug, dass die Wellen sie nicht erreichen, doch tief genug, dass die Gischt die Eier feucht hält, was vermutlich für die Reifung notwendig ist."


    Anmerkung des Autors:


    Sulætým hat damit tatsächlich recht, doch was er nicht herausfand: wodurch die rote Schicht entsteht. Erst spätere Forschungen, die sich intensiver mit dem Phänomen auseinandersetzten, brachten zu Tage, dass es sich um Sekret der erwachsenen Krabben handelte, welches aus dem Maul ausgeschieden wird. Dies brachte dem Tier den Namen Speikrabbe ein. Alle vier Jahre schwärmen die Tiere zu Tausenden aus den Höhlen, die Weibchen heften die Eier, die sie bereits in sich tragen, an die Felswand, genau oberhalb der Wellengrenze, anschließend kleiden die Männchen die Eier mit dem Sekret ein, welches überaus zäh ist und von der leichten Gischt der Wellen nicht abgewaschen werden kann. Erst im Laufe der Zeit zersetzt die salzhaltige Luft die Schicht nach und nach, bis sie nach vier Jahren wieder aufgefrischt wird. Die jungen Krabben verbringen tatsächlich die ersten Monate ihres Lebens komplett im Wasser - in den ersten Tagen dezimiert sich ihre enorme Anzahl erheblich, ihr Körper ist noch weich und eine willkommene Nahrung für viele Fische und andere Tiere. Nach etwa 2 Wochen hat sich ihr Schalenpanzer allerdings soweit erhärtet, dass sie recht gut geschützt sind. Trotzdem kommt nur ein kleiner Bruchteil der geschlüpften Tiere nach etwa 6 Monaten zurück an die Küste - wie sie genau diesen Ort wieder finden, ist ein Rätsel.


    Sie werden ca. 8 Jahre alt, erleben also zwei Fortpflanzungs-Zyklen. Danach sind die Tiere recht geschwächt und sterben in aller Regel kurz danach.

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    Der Phinai
    © Zeromaru


    Der Phinai ist warmblütig und gehört zu den Hundeartigen. Er lebt hauptsächlich in Gebirgswäldern mit gemäßigtem bis subtropischem Klima. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 10 Jahren.
    Ein Phinai hat eine Kopfrumpflänge von 95-117cm, der Schwanz ist ca. 50cm lang und äußerst kräftig und beweglich, die Schulterhöhe beträgt 60-73cm und sein Gewicht reicht von 34-57kg. Die Männchen sind kleiner und leichter. Die Schulterknochen sind sehr dick und treten hervor, wodurch sind eine kleine Ablage bildet, welche an den Seiten stabilisiert wird. Der Kopf ist sehr kompakt, mit einer kurzen und dicken Schnauze. Die Ohren stehen senkrecht und haben einen breiten Ansatz und eine spitze Form. Die Füße sind circa 30-40cm lang. Die Pfoten sind rundlich und breit, haben 5 Zehen und kurze Krallen. Ihr Fell ist kurz und schützt vor allem gegen Regen und Hitze. Mit Schnee und Kälte kommen sie auch zurecht, bevorzugen es allerdings bei solchem Wetter im Bau zu bleiben, wenn sie nicht mit Jagen beschäftigt sind. Die Farbe reicht von schwarz über grau bis hell braun und ist in der Regel in diesem Spektrum gescheckt. Die Sinne eines Phinai sind ausgezeichnet. Er kann gut riechen, hören und sehen.


    Phinai sind reine Fleischfresser und jagen Nachts aus der Deckung des Unterholzes heraus. Ihr Beute sind hauptsächlich kleinere Tiere sowie Jungtiere von größeren Arten. Dabei töten sie die Beute jedoch nicht sofort, sondern schleifen sie zu ihrem Bau um sie dort zu verzehren. Aufgrund ihres Rückens können sie kleinere Beutetiere quasi mit ihrem Schwanz festschnallen und so transportieren. Sie verzehren 14-22% ihres Eigengewichts an Nahrung. Dabei lassen sie nur sauber abgenagte Knochen zurück. Die Überreste deponieren sie außerhalb ihres Kernreviers, damit verhindern sie das Maden schwer zugänglichen Stellen wie dem Schädel befallen und dann ihren Bau befallen. Aas wird von ihnen nur angerührt wenn keine andere Beute in Witterungsreichweite ist oder es keinen Verteidiger gibt. Dabei achten sie drauf das das Tier nicht schon zulange am verwesen ist.


    Ein Phinai-Weibchen beansprucht nur ein kleines Kernrevier, indem sich ihr Bau befindet und eine langsam fließende Wasserquelle. Als Bau bevorzugen sie leicht erhöhte Höhlen, da diese nicht mit Wasser voll laufen. Daneben jagen sie aber in einem weiträumigen Gebiet. Die Gebietsmarkierung erfolgt durch Urin, welcher die besondere Eigenschaft hat, bei Kontakt mit Borke zu leuchten. Bei der chemischen Reaktion wird fast nur Borke umgewandelt, daher kann sich so eine Markierung bis zu 10 Jahre hinweg halten, vor allem wenn sie zwischenzeitlich erneuert wird. Der damit verbundene Geruch verfliegt jedoch recht schnell wieder. Dadurch wird anderen Weibchen angezeigt, dass dieser Platz sicher ist und bei Abwesenheit der Geruchsnote können andere Weibchen dieses Revier in Beschlag nehmen. Die Männchen haben kein festgelegtes Revier und streifen durch die Wälder.


    Artgenossen gehen sich grundsätzlich aus dem Weg. Dabei dulden Weibchen innerhalb ihres Kernreviers allerdings keine Artgenossen. Artgenossen werden mit Jaulen und Knurren vertrieben, wobei gegen Weibchen weniger rabiat vorgegangen wird als gegen Männchen. Die Geschlechtsreife tritt nach 2 Jahren ein. Während der Paarungszeit im Frühling sind Weibchen besonders aggressiv anderen Weibchen gegenüber, erlauben Männchen jedoch kurzfristig die Betretung ihres Reviers. Dabei gilt der Grundsatz dass das erste Männchen auch den Nachwuchs zeugt. Der Vater wandert dann weiter. Die Trächtigkeit erstreckt sich über 90 Tage.Der Wurf umfasst 3-5 Welpen. Nach der Geburt ist der Nachwuchs blind und taub und damit absolut von der Mutter abhängig. Der Nachwuchs verbleibt bis zum erreichen der Geschlechtsreife bei der Mutter und hilft bei der Aufzucht des folgenden Wurfs. Bei erreichen der Geschlechtsreife ziehen die Weibchen dann los um sich ein eigenes Revier zu suchen und die Männchen beginnen ihre Wanderschaft.


    Phinai sind extrem scheu und und lassen sich nur bei extremer Nahrungsknappheit in der Nähe von Ansiedlungen antreffen. Selbst leichte Beute wie Kälber verschmähen sie wenn es die Situation es nicht unbedingt erfordert.

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    Die Tracht der Perlenmacher
    © Sturmfaenger


    Vor einigen Jahren war es, da kam ein Fremder in unser Dorf.


    Er führte ein bepacktes Luhr hinter sich her, sah aber nicht aus wie einer der anderen Händler die uns sonst besuchen. Wäre er auf einem Pferd angekommen, man hätte ihn für einen reichen Mann gehalten. Er war im besten Alter, von angenehmer Gestalt, und seine Augen blickten freundlich auf uns neugierige Bauern, die ihm vom Wegesrand aus unsere Grüße entboten. Herausgeputzt war er, dieser Fremde, wie wir es noch nie gesehen hatten.
    Auf seinem Kopf saß ein kegelförmiger Hut, der schon von ferne in der Sonne blitzte und schimmerte. Als er näher kam, konnten wir sehen, daß es sich um einen Filzhut handelte, der über und über mit winzigen Glimmersteinchen besetzt war. Er hatte keine Krempe, stattdessen hingen lange Fransen vom Rand herab, auf die wiederum die verschiedensten Steinperlen aufgefädelt waren. Zu beiden Seiten seines Gesichts waren sie zu einer Art Zöpfe zusammengebunden, wohl, damit sie ihm nicht die Sicht behinderten. In seinen Bart waren ebenfalls Perlen eingeflochten. Es klickte und klimperte leise sobald er den Kopf bewegte. Er trug einen knielangen, lindgrünen Kapuzenmantel, der vorne von einer Brosche zusammengehalten wurde, in deren schimmernden Schmuckstein das Zeichen Khem’raels eingeschnitten war.
    Als wir ihn später in der Dorfschenke wiedersahen hatte er seinen Mantel abgenommen. Unter ihm trug er eine schlicht geschnittene dunkelgraue Tunika, auf deren Vorderseite sich allerdings ein wahrer Sternenhimmel aus kleinen elfenbeinfarbenen Perlen erstreckte. Die Tunika trat aber vor dem prächtigen Halskragen und dem buntbesetzten Gürtel in den Hintergrund, die beide mit denselben von Glimmer durchsetzten Steinkügelchen bestickt waren.


    Der Fremde war recht gesprächig. Er erzählte uns, er sei ein Mitglied der neu gegründeten Zunft der Perlenmacher und auf der Durchreise nach Hamosh’huna, um den dortigen Karawanen Proben der eigenen Handwerkskunst anzubieten.


    Als einer von vielen sei er ausgesandt worden, um die Zunft im Lande bekannt zu machen, neue Rohstoffquellen zu erschließen und recht viel Werbung zu betreiben. Dabei zwinkerte er uns zu, nippte an seinem Becher mit Wein und verschenkte einige Steinperlen unter uns Zuhörern. So erzählten wir ihm von den Felsen und den Steinen die wir in den Hügeln bei unseren Feldern finden, und er besah interessiert was wir ihm brachten, und steckte ein paar Proben ein.


    Er gab auch bereitwillig Auskunft auf unsere vielen Fragen. Über sein Gewerbe, über die Art der Steine aus denen die Perlen bestanden und was sie kosteten, ob er sie alle selbst geschnitzt habe, und wie sich die neue Zunft aus den bisher getrennten Berufsgruppen wie Perlenschnitzern, Siegel-, Gemmen- und Kameenmachern zusammensetzte. An diesem Abend schenkte er der Tochter des Dorfvorstehers ein Armband, und verließ unser Dorf am frühen Morgen des kommenden Tages.


    Die Jahreszeiten wandelten sich, und eines Tages näherte sich wieder ein Mann dem Dorf. An der Farbe seines Umhangs erkannten wir, daß es der Perlenmacher war.
    Aber wo war seine blitzender glitzernder Kegelhut?


    Fort war er, bekannte der nun barhäuptige Fremde freimütig über einem Becher verdünnten Weines, und erzählte, wie die Erste Konkubine des Lordfürsten an dessen Form und Aussehen Gefallen gefunden hatte. Nun hatte die neugeschaffene Zunft die exklusiven Zulieferrechte und verdiente gut an der neuen Hutmode, welche sich rasch ausbreitete. Allerdings war es den Perlenmachern von nun an verboten sich als einfache Handwerker mit derselben Art von Kopfbedeckung zu schmücken wie die hochgestellten Frauen des Reiches.


    Der Fremde trug es mit Humor, und freute sich über die Bestellungen, welche die Mädchen und Frauen des Dorfes bei ihm aufgaben. Der Tochter des Dorfvorstehers schenkte er ein weiteres Armband. Es war aus den Steinen gemacht, die er bei uns im Dorf erhalten hatte, und wir staunten über die Schönheit die in unseren Hügeln steckte. Wir gaben ihm mehr davon mit, und diesmal bezahlte er gar dafür. Wir winkten ihm nach, als er von dannen zog.
    Als wir den Perlenmacher das nächste Mal sahen, trug er auf dem Kopf eine Art Kranz aus einer in sich gedrehten Filzschnur, in die bunte - allerdings nicht glitzernde - Perlen eingeflochten waren. Dieser Filzkranz diente dazu, den bunt gestreiften Schal auf seinem Kopf zu halten, der als Schutz vor der Sonne diente.


    Aber wie staunten wir als wir sahen daß sein glitzernder Halskragen fehlte! Stattdessen trug er nun eine Anzahl von Ketten unterschiedlicher Länge. Einige von ihnen hingen ihm bis fast an den Gürtel hinunter.
    Er ließ sich von uns einen Krug Most spendieren und zeigte uns sodann die Narben an seiner Kehle, die er bei einem Überfall erhalten habe. Man habe den Halskragen für wertvoller gehalten als er sei, und in den letzten Jahren ihn und auch andere seiner Zunft mehrfach hinterrücks überfallen. Er sei mit dem Leben davongekommen, aber einigen anderen sei es nicht so gut ergangen. Daraufhin hatte die Zunft beschlossen, den Halskragen abzuschaffen. Halsketten waren leichter abzunehmen und demonstrierten die Kunst der Perlenschleifer ebenso gut.


    Nachdem er abgereist war sahen wir, daß die Tochter des Dorfvorstehers eine neue Halskette trug.


    Im Jahr darauf reiste der Perlenmacher wieder durch, doch statt des bisherigen Mantels trug er einen neuen aus dunkler Wolle. Diesmal schnalzten wir nur verständnisvoll mit der Zunge – wer hatte auch ahnen können, daß die Aufständischen, die seit Monaten das Land unsicher machten, ausgerechnet lindgrüne Mäntel als Erkennungszeichen gewählt hatten!
    Diesmal durfte der Fremde im Haus des Dorfvorstehers übernachten, und bekam von unserem besten Sirdalschnaps vorgesetzt, und am nächsten Morgen entblößte die Tochter des Dorfvorstehers ihre perlweißen Zähne in einem strahlenden Lächeln.


    Er ging wieder fort, der Fremde, der doch inzwischen für uns längst kein Fremder mehr war. Und als er diesmal wiederkam, mit mehr als einem Luhr, mit mehr als nur einem Teil seines Werkzeugs, da wußten wir, daß er bleiben würde. Und so war es auch.


    Seither wohnt er nun mit seiner Familie hier im Dorf, stellt Perlen aus unseren Steinen her und hat sich vor zwei Jahren gar einen unserer Burschen als Lehrjungen genommen. Für die tägliche Arbeit trägt er seinen Schurz aus ungefärbtem Leder, sein Haar und seine Haut sind grau vom Steinstaub, aber seine Augen leuchten jedesmal, wenn er seine Frau betrachtet. Er ist nicht besser oder schlechter als ein jeder von uns, und zieht seine Tracht nur an wenn er Besuch von jenen erhält, die seine Perlen kaufen.


    Und wenn nun, selbst nach all den Jahren, Fremde durchs Dorf kommen und Witze reißen über die Perlenmacher, die ganz furchtbar flatterhaft und eitel sind und ihre Tracht öfter ändern als selbst die modebewußtesten Weiber, so schütteln wir nur den Kopf. Denn wir wissen es besser.

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    Die Tracht der Kumae-Hirten
    © Gomeck


    Die Alben im Landesinnern und im Süden haben neben dem großgewachsenen Stræpn auch noch andere Haustiere, unter anderem das Kumæ, ein kleiner grassfressender Hornträger, der zu den Schmuckhornskuænga zählt. Diese Tiere reichen den Alben gerade einmal bis zur Hüfte, doch sie haben neben einem langen, dichten Fell, welches für die Textilgewinnung genutzt wird, und wohlschmeckendem Fleisch noch einen weiteren delikaten Vorteil: sie geben eine Milch, die nicht nur unter den Alben als äußerst schmackhaft gilt.
    Alben halten die Kumæ in mittelgroßen Herden von bis zu 50 Tieren, und für ihre Pflege und Haltung gibt es eigens hierfür ausgebildete Hirten. Sie kümmern sich um die Aufzucht der Jungtiere und sind Tierarzt, Züchter, Melker und Schlachter zugleich.


    Dass es hierfür einen eigenen Hirtenberuf gibt, kommt nicht von ungefähr. Der Umgang mit den launischen Tieren erfordert viel Fingerspitzengefühl, denn die Kumæ sind äußerst sprunghaft, und man sagt ihnen sogar eine ausgeprägte Boshaftigkeit nach.


    Aus diesem Grund tragen die Kumæ-Hirten stets Beinschoner an Ober- und Unterschenkel und zum Schutz des Unterleibs hat sich eine halbierte Schale einer ca. 20cm durchmessenden Nuss etabliert, die um den Körper gebunden wird, denn die gebogenen, dicken Hörner der Kumæ werden selbst den Hirten gegenüber teilweise mit großer Wucht eingesetzt, wenn den Tieren irgendetwas nicht gefällt.


    Nun ist es ja so, dass die Alben nicht sehr fruchtbar sind. Nur sehr selten führt ein Geschlechtsakt zur Befruchtung. Wen nimmt es Wunder, dass es eine Menge Mittelchen und Tinkturen, Kräuter und anderes gibt, von dem man nachsagt, die Potenz zu steigern. Was jedoch ebenfalls gemunkelt wird, ist, dass die Hirten der Kumæ besonders potent seien. Ob das durch die Vortäuschung eines übergroßen Geschlechtsteiles durch den Unterleibsschutz herrührt oder dadurch, dass es quasi durch die Angriffe der Kumæ-Hörner zwar malträtiert, aber durch den guten Schutz dadurch möglicherweise gestärkt wird, das weiß man heute nicht mehr.

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    Rykischer Bluttopf
    © Ehana


    In Rykis, dem nördlichsten Landesteil des alten Okro, stößt man bisweilen auf Einheimische, die auf dem offenen Feuer ein Gericht zubereiten, das eine ungewöhnlich dunkle Färbung aufweist und überaus kräftig riecht, so dass man noch zwei Häuser weiter mitbekommt, dass hier gerade der sogenannte rykische Bluttopf zubereitet wird. Dieser dickflüssige Eintopf besteht zum Großteil aus Fleisch und Innereien, und die Rykier verspeisen ihn mit Stolz, denn seine Entstehungsgeschichte mit der Geschichte von Rykis selbst untrennbar verbunden.


    Entstehung
    Der rykische Bluttopf entstand zur Zeit der gewalttätigen Auseinandersetzungen, die wenige Wochen nach der Gründung des okroischen Großreichs an der ehemaligen Grenze zwischen Okro und Rykis ausbrachen. Die Oberen beider Gebiete hatten beschlossen, sich wegen vieler gemeinsamer Interessen zu einem Staat zusammenzuschließen, eine Idee, die im Volk auf großen Widerstand gestoßen war. Vor allem die Rykier waren gegen die Reichsgründung gewesen, hatten sie davon doch weniger Vorteile als die Okroer, für die das Vorhaben in erster Linie Zugriff auf die gewaltigen rykischen Eisenerzvorkommen bedeutete. Kein Wunder also, dass kurz nach der offiziellen Ausrufung des „Großreichs Okro und Rykis“ Unruhen ausbrachen, die unter der Bezeichnung „Nachgründungskriege“ in die Geschichte beider Länder eingehen sollten.


    Wenige Wochen, nachdem erstmals auf rykischem Gebiet eine kleinere Gruppe okroischer Soldaten von der aufgebrachten Bevölkerung angegriffen und vertrieben worden war, deutete alles darauf hin, dass es bald eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Streitkräften beider Gebiete geben würde. Den Rykiern wurde rasch klar, dass es schwierig werden würde, gegen das okroische Aufgebot zu bestehen. Erstere waren ihren südlichen Nachbarn, was die Waffentechnik anbelangt, zwar deutlich voraus, dafür aber waren die Okroern ihnen zahlenmäßig weit überlegen.


    Ein Teil des rykischen Aufgebots sammelte sich in der Nähe der Stadt Ryn, der ehemaligen Hauptstadt, unter dem Kommando ihres obersten Heerführers, eines Mannes namens Garid Kadene. Letzterer sah, wie so manche seiner Landsleute, für die Zukunft von Rykis schwarz – zu bewusst war ihm, dass die Okroer die Rykier allein wegen ihrer schieren Anzahl überrennen würden. Dennoch hatte er sich in den Kopf gesetzt, die Moral seiner Truppen aufrechtzuerhalten. Als für ihn absehbar war, dass etwa noch eine Woche Zeit vergehen würde, bis die Okroer Ryn erreicht hätten, beschloss er, auf dem Marktplatz der Stadt ein großes Fest abhalten zu lassen, bevor seine Truppen gegen die Okroer ins Feld zögen.


    Einen geschlagenen Tag lang überlegte er, wie er das am besten bewerkstelligen könnte. Ein herkömmliches Fest wäre kontraproduktiv, da in Strömen fließender Alkohol der Kampfkraft seiner Truppen nicht gerade zuträglich sein würde. Schließlich hatte er eine Idee. Er ließ per Eilboten in allen innerhalb einer Tagesreise liegenden Ortschaften darum bitten, zur Kräftigung des Heeres so viel schlachtfähiges Vieh, wie man nicht unbedingt fürs eigene Überleben benötigte, für die Truppen zu stiften und nach Ryn zu schicken. Im Laufe seiner Grübeleien war ihm nämlich gekommen, dass seine Soldaten auf keine andere Weise besser Kraft und Entschlossenheit für das Kommende sammeln konnten, als wenn man ihnen vor dem Kampf noch einmal die Gelegenheit bot, sich richtig mit Fleisch vollzuessen. Fleisch war etwas, das es in Rykis seltener gab als in Okro, denn ersteres hatte einen deutlich geringeren Anteil an den fruchtbaren Ebenen des Nham-Tals, die sich hervorragend für die Viehzucht eigneten. In beiden Völkern aber galt der Genuss von Fleisch als mächtige Energiequelle, was in ihrer gemeinsamen Religion und Weltanschauung begründet liegt. Dieser zufolge können Seelenträger – also intelligente, kulturschaffende Wesen wie Menschen –, wenn sie einen Nicht-Seelenträger, also Tiere, verspeisen, deren Lebensenergie in sich aufnehmen und werden so körperlich und geistig in gesteigertem Maße leistungsfähiger, als wenn sie nur pflanzliche Nahrung zu sich nehmen würden. Die okroische Armee hatte den Rykiern also nicht nur zahlenmäßig einiges voraus, sondern konnte es sich auch leisten, ihre Soldaten häufiger mit Fleisch zu versorgen. Wenn den rykischen Soldaten das schon nicht regelmäßig vergönnt sein sollte, dann wenigstens vor dieser Schlacht. Und so kam es dazu, dass besagtes Fest als Schlachtfest ausgerufen wurde.


    Garid Kadene ließ den Marktplatz von Ryn räumen und alle Schlachter und Fleischer der Stadt sowie jeden, der ein großes Messer anbrachte und aussah, als hätte er schon einmal ein Tier getötet und ausgenommen, einen riesigen Schlachtplatz aufbauen. In der Mitte des Marktplatzes ließ er eine Reihe großer Kessel und Bratpfannen aufstellen, in denen das Fleisch zubereitet werden sollte, und auf dessen anderer Seite sollten die etwa dreitausend Soldaten, aus denen der in Ryn lagernde Teil des Heeres bestand, Platz finden. Zwei Tage vor dem Zeitpunkt, an dem man die Ankunft der Okroer erwartete, ließ er die von der Bevölkerung gestifteten Tiere auf den Platz treiben, und unter den neugierigen Blicken der Ryner begann das Spektakel.


    Den Leuten an den Kesseln und Pfannen hatte Kadene im Voraus erklärt, dass sie ein Gericht zubereiten sollten, das den Rykiern bislang nur am alljährlichen Neun-Götter-Fest zu essen vergönnt war, nämlich Ghan, einen kultischen Eintopf. Seine Wahl fiel deshalb auf dieses Gericht, da es das einzige war, das ihm einfiel, das aus einer Vielzahl von Fleischsorten bestand und einfach in großen Mengen zuzubereiten war. Dieser Eintopf bestand etwa zu drei Vierteln aus Fleisch und zu einem Viertel aus der Rugha, einer weißen, leicht faserigen, unterirdisch wachsenden Knolle. Den Ryner, der in einer großen Metallschale die Gewürzmischung für die vielen Kessel anrühren sollte, hatte er allerdings separat beiseitegenommen. Die Gewürze sollten dem Gericht nicht nur in einem etwas anderen Mischungsverhältnis zugefügt werden, als man es sonst beim X tat – schließlich wollte er nicht den Zorn der Götter auf sich ziehen, indem er ihre Kultspeise für so etwas Profanes wie eine Soldatenspeisung hernahm –, sondern er wies den Würzer auch an, eimerweise Samen der Fidhere-Pflanze beizumischen. Es handelte sich dabei um ein Kraut, das man in Rykis gern kranken Kindern verabreichte, damit sie schneller zu Kräften kamen. Die getrockneten Samen wurden dabei zerrieben und mit etwas Wasser geschluckt. Sie hatten einen grässlich intensiven Geschmack, an den sich jeder Rykier mit Schaudern erinnerte, wenn er den Namen der Pflanze nur hörte, und deshalb war Kadene bewusst, dass er seine Soldaten niemals freiwillig dazu bewegen könnte, die Samen zu essen, wenn es keine wirkliche Notwendigkeit dafür gab. Kadene hatte auch keine Ahnung, wie sich die Samen geschmacklich im Essen auswirken würden, ließ es aber einfach darauf ankommen, denn in dieser Situation war ihm alles recht, was die Kampfeskraft der Soldaten zu steigern vermochte. So geschah es. Der Würzer gab die Gewürze in einem anderen als dem normalen Mischverhältnis in den Trog, und gab, wie von Kadene beauftragt, die Fidhere-Samen hinzu. In den Pfannen hatte man indessen das Fleisch der frisch geschlachteten Tiere angebraten – alles bunt durcheinander, Muskelfleisch und Innereien, von Säugetieren und Vögeln, nichts sollte verkommen. In diesem Punkt stimmte das Rezept noch mit dem des Z überein, denn für die Zubereitung des kultischen Gerichts bedurfte es ebenfalls des Fleisches und der Innereien von neun verschiedenen Tierarten, um die neun Hauptgötter zu ehren. Das Fleisch kam in die Kessel, darauf Wasser und die geschälten und kleingeschnittenen Rugha-Knollen. Das Ganze ließ man eine Zeitlang kochen. Anschließend verfügte Kadene, abweichend vom kultischen Rezept mehrere große Schöpfer Blut in jeden der Kessel zu geben, denn wie auch Fleisch galt Blut als Quelle der Lebenskraft, und während des andauernden Schlachtens fiel ständig jede Menge davon an und versah den Boden des Marktplatzes mit einer zunehmend dunkler werdenden Färbung. Und das, obwohl auch ständig nebenher Blutwurst hergestellt wurde. Nach dem Blut kam in die Kessel noch ein großer Löffel von Kadenes Würzmischung, und das Ganze wurde noch einmal ausgiebig auf dem Feuer gelassen, damit es schön einkochen konnte. Als Kadene nach einiger Zeit von dem Eintopf probierte, war er von seiner dunkelbraunen Farbe und dem kräftigen Geschmack überrascht. Er wusste genau, wie der Ghan schmecken sollte, und davon war dieser Eintopf doch deutlich entfernt. Er wusste nicht, ob es an der veränderten Grundwürzung, der Blutzugabe oder den Fidhere-Samen lag, aber er befand das Gericht für äußerst wohlschmeckend und erklärte die Soldatenspeisung für eröffnet.


    Im Folgenden erlebte Ryn das wohl größte Gelage seiner Geschichte. Das Heer schlug sich mit dem Fleischeintopf, der Blutwurst und den in der Gegend so verbreiteten Brotfladen voll, und als keiner der Soldaten auch nur einen Löffel voll mehr hinunterbrachte, durfte auch die übrige Bevölkerung mitessen. Man erzählte sich, dass viele der Soldaten wenige Stunden nach dem Essen und auch noch an den darauffolgenden Tagen begeistert davon erzählten, wie gut sie sich seit dem Genuss des Eintopfs fühlten. Ob das jetzt wirklich von dem Essen selbst oder lediglich von der Wirkung der ermutigenden Worte des Feldherrn kam, wusste keiner so recht. Aber es war auch egal – Kadenes Ziel, die Motivation der Truppen zu steigern, war erreicht, und als er sie am darauffolgenden Tag gegen die Okroer in den Kampf ziehen sah, war ihm, als wären sie mit weit größerem Einsatz als sonst bei der Sache. Dem Ryner Heer gelang es zwar nicht, die Okroer zu besiegen – wie jeder weiß, endeten die Nachgründungskriege mit großen Verlusten auf beiden Seiten und der Beibehaltung des politischen Status quo, also des Großreichs Okro-Rykis –, aber Kadenes Eintopfrezept gelang es, sich nachhaltig in das Bewusstsein der Rykier einzuprägen. Man sagt, dass der Boden des Marktplatzes von Ryn noch Jahre nach dem Spektakel leicht dunkler gefärbt war von all dem Blut, das während der Aktion geflossen war, und es gibt auch Geschichten von Städtern, die gar fortan ihr eigenes Schlachtblut dort entsorgt haben, um die Färbung zu bewahren.


    Das Rezept
    Aus der Entstehungsgeschichte mag man dem Eindruck erliegen, dass die Herstellung des Eintopfs ein Leichtes ist, schließlich wurde er ja in ungeheuren Mengen für eine Kompanie Soldaten zubereitet. In Wahrheit bedarf es dafür jedoch weitaus mehr als nur des Zusammenwerfens von möglichst viel Fleisch mit ein paar Knollen und einer Handvoll verschiedener Gewürze. Vor allem die Würzmischung war es, die den Rykiern, die den Eintopf später nachkochen wollten, große Probleme bereitete. Sie war allein Kadene und dem damaligen Würzer bekannt, und während ersterer das Geheimnis des Eintopfs eisern für sich behielt, war letzterer nach dem okroischen Angriff aus der Stadt geflohen. Nach Kriegsende gab es einige Versuche, das Gericht, das die halbe Stadt als so unglaublich wohlschmeckend und kräftigend in Erinnerung hatte, nachzukochen, doch so recht wollte es nicht gelingen. Man wusste zwar, dass die Würzung anders war als bei Z, aber es schmeckte trotzdem nicht nach dem, was der Feldherr auf dem Marktplatz hatte auftischen lassen. Und an den verwendeten Fleischsorten schien es nicht zu liegen, so dass es nichts anderes sein konnte als das Mischverhältnis der Gewürze.


    Jahre später, als es mit der Gesundheit von Feldherr Kadene bergab ging und er glaubte, das nächste Jahr nicht mehr zu überleben, verriet er, weil er das Geheimnis des Eintopfs nicht mit seiner Seele ans andere Ende der Welt entschwinden lassen, ihn vielmehr gern noch einmal genießen wollte, seiner Tochter das Mischverhältnis der Gewürze. Sie bereitete den Eintopf den Anweisungen ihres Vaters gemäß zu, aber es schmeckte immer noch nicht nach dem Essen vom Marktplatz. Schließlich sah er ein, dass der besondere Geschmack nur von den Fidhere-Samen kommen konnte, und er nahm sich seine Tochter zur Brust, schärfte ihr ein, dass er ihr nun das wahre Geheimnis des Eintopfs anvertrauen würde, sie es aber nur „aufrechten Rykiern“ anvertrauen dürfe, damit kein Feind es jemals gegen das rykische Volk würde einsetzen können. Sie schwor, dem gerecht zu werden, und der alte Feldherr erklärte ihr, dass er damals größere Mengen an Fidhere-Samen hinzugefügt hatte. Sie hieß ihn zunächst für verrückt, da kein Rykier freiwillig Fidhere-Samen zu sich nahm, gab seinem Drängen jedoch schließlich nach und kochte erneut einen Kessel des Eintopfs, diesmal mit reichlich Fidhere-Samen darin. Als Kadene von dem Eintopf probierte, trat ein breites Lächeln auf sein Gesicht, und er hatte den Beweis, dass es in der Tat die Samen des Krauts waren, die den Geschmack des Eintopfs maßgeblich bestimmten.


    Dem Wunsch ihres Vaters gemäß verbreitete Kadenes Tochter das Rezept unter einigen vertrauenswürdigen Ryner Familien. Sie teilte die Befürchtungen ihres Vaters nicht, da das Fidhere-Kraut auch bei den Okroern als äußerst übel schmeckend galt und sie es nicht einmal zu Heilzwecken nutzten, respektierte aber seinen Wunsch. Die Generationen nach ihr taten es ihr gleich, und noch heute, in einer Zeit, in der sich Rykier und Okroer längst miteinander versöhnt haben, wird das Rezept ausschließlich in der alten rykischen Schrift und nur innerhalb von Familien weitergegeben, die bereits seit jeher in diesem Gebiet leben.
    Während die kultische Variante des Eintopfs weiterhin nur an religiösen Feiertagen aufgetragen – und von den Rykiern nun, da sie das Geheimnis der Fidhere-Samen kennen, nur widerwillig gegessen wird –, hat Kadenes Abwandlung trotz des Zubereitungsaufwands Einzug in die Küche auch der einfachen Leute gehalten, zunächst nur in Ryn, dann zunehmend auch in den umliegenden rykischen Orten. Oft tun sich mehrere Familien zusammen, legen ihre Schlachtungen auf den gleichen Tag und sprechen sich bezüglich der Fleischarten ab, um anschließend gemeinsam den Eintopf zuzubereiten und zu essen. Den unbestrittenen Aufwand machen der köstliche Geschmack und die Tatsache wett, dass das Gericht durch seine Entstehungsgeschichte wie kein zweites für den rykischen Nationalstolz steht, und auf diesen legen die Rykier auch mehr als siebenhundert Jahren der Zugehörigkeit zum okroischen Großreich großen Wert.


    Rykischer Bluttopf


    nach Garid Kadene


    3 Teile Fleisch von neun Tierarten (Muskelfleisch und Innereien, diesbezügliches Mischungsverhältnis gleichgültig)


    1 Teil Rugha-Knollen


    Wasser (sollte Fleisch und Knollen bedecken, dann nochmals etwa halb so viel nachgießen)


    Frisches Blut eines beliebigen Tiers (etwa 1/2 der Wassermenge)


    Drei Handvoll Fidhere-Samen


    [… es folgt eine Auflistung von neun verschiedenen Gewürzen samt Mengenangaben …]


    Das Fleisch kurz anbraten, mit Bratensaft in einen Kessel geben. Rugha-Knollen schälen und hinzufügen. So viel Wasser zugeben, dass die festen Bestandteile gerade bedeckt sind, dann noch etwa die Hälfte der Wassermenge hinzugeben. Den Kessel abdecken und alles kochen lassen, bis Fleisch und Knollen gut durchgegart sind. Langsam und vorsichtig das Blut unter ständigem Rühren hinzugeben – nicht zu schnell, sonst gerinnt es. Erst jetzt die genannten Gewürze hinzugeben. Die Fidhere-Samen nicht wie bei der Verwendung als Medizin zerstoßen, sondern ganz lassen. So lange kochen, bis der Eintopf eine dickliche Konsistenz angenommen hat. Mit Brot und Blutwurst servieren.


    Im Gegensatz zu Kadenes Version beinhaltet das Kultgericht Ghan kein Blut und natürlich auch keine Fidhere-Samen. Ein absolutes Muss ist dabei allerdings, dass das Fleisch von neun Tierarten kommt und auch jeweils zu 1/9 von jeder Art stammt. Bei dem Schlachtspektakel auf dem Marktplatz von Ryn hingegen hat man das Mengenverhältnis der einzelnen Sorten untereinander nicht abgestimmt, sondern einfach genommen, was gerade da war. Hauptverantwortlich für den Geschmack sind ohnehin die Fidhere-Samen.

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    Cobolsuppe
    © Taipan


    Fragt man als Fremder in Haagest einen Auir, Tanibeder oder Garuda nach einer traditionellen Speise der Grobor, so wird man mit Sicherheit Cobolsuppe als Antwort bekommen. Und jeder, der diese Suppe kostet, wird verwundert feststellen, dass dabei vielerlei Fleisch bzw. Fisch verwendet wird, nur nicht wie man vom Namen erwaten würde das Fleisch der Cobol oder anderer Pferderassen. Trotzdem waren und sind die kleinen Pferde der Grobor seit jeher eng mit der Suppe verbunden.


    Cobolsuppe ist nicht gleich Cobolsuppe, sondern unterscheidet sich je nach Region, in der sie zubereitet wird. So wird für die Gayaner Cobolsuppe Fisch verwendet, für die Jhegarer Ziegenfleisch und für die Betu Cobolsuppe Muscheln mit Seetang, nur um einige der vielen lokalen Variationen zu nennen, wobei die Gayaner Cobolsuppe die bekannteste ist. Pferdefleisch wird auf alle Fälle nicht verwendet, gilt doch bei den Grobor der Verzehr von Pferdefleisch bei religiösen Feierlichkeiten – und für solche wurde sie ursprünglich gekocht – als Tabu. Einige Zutaten sind aber bei jeder dieser Suppe gleich, nämlich Parret, ein sehr würziger Ziegenkäse aus den Buckeln und die Cobolpaste, deren Zusammensetzung nur den Markors, den Priestern des Korogaismus bekannt ist und auch nur von jenen zubereitet wird. Weitere wichtige Zutaten sind Curnammehl, Sahne, Robaten – eine schmackhafte Knolle – und anderes Gemüse.


    Coboltanz und Cobolsuppe – Historischer Hintergrund
    Ursprünglich war die Cobolsuppe ausschließlich für feierliche Anlässe bestimmt, bei denen fast immer mindestens ein Coboltanz aufgeführt wurde und wird. Was zuerst da war – Tanz oder Suppe – können heute nicht einmal die Markors sagen, die seit jeher über das Zeremoniell gewacht haben. Beide gehören auf alle Fälle zu einer religiösen Zeremonie, deren tiefere Bedeutung allerdings im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen ist, wie vieles im Korogaismus. Ein Coboltanz findet stets in der Nacht statt, nicht selten sogar in geschlossenen, für den Zweitpunkt des Tanzes unbeleuchteten Räumen. Hier wird ein speziell abgerichteter Cobol zu wilder Musik von einem Grobor geritten oder besser gesagt zum Tanzen gebracht. Der Reiter hält bei dem Spektakel Fackeln in den Händen, kann diese natürlich auch werden, solange das Feuer nicht erlischt. Normalerweise werden auch am Cobol selbst kleine Spiegelchen oder gar Sonnensteine befestig, vor allem an den Hufen, den Beinen, dem Kopf und in Mähne und Schweif, die das unruhige Fackellicht widerspiegeln und/oder selbst leuchten. Die wilde Musik, das Fackellicht, die unberechenbaren Spiegelungen und die exstatischen Bewegungen von Reiter und Cobol lassen dabei eine angenehm gespenstische Stimmung entstehen. Während des Tanzes – oft sind es mehrere Tänze von mehreren Pferd-Reiter-Paaren hintereinander – gehen einige große Töpfe mit Cobolsuppe durch die Runde, von denen jeder Grobor mit einem eigenen großen Schöpflöffel so viel nimmt, wie er will oder wie viel in den Schöpflöffel passt, bevor er den Topf an den nächsten weiterreicht. Die Zuseher haben keine eigenen Schüsseln und müssen, wenn sie mehr wollen, auf die nächste Runde warten. Dass in der Dunkelheit dabei der ein oder andere Unfall passiert, ist normal und einen Coboltanz mit Flecken zu verlassen, ist keine Schande. Gefürchtet werden nur schwerere Verbrühung, die auch vorkommen, wenn auch zum Glück selten.


    Als der tiefgläubige Eparch Vartion von Porell 1148 n. MF den Coboltanz verbieten ließ – er war der Ansicht, bei den schaurigen Ereignis würden Dämonen oder heidnische Götzen angerufen werden – waren die Grobor dazu gezwungen, entweder auf ihre geliebte Suppe zu verzichten oder diese auch ohne des Tanzes zuzubereiten. Entgegen ihrer vorsichtigen Art entschiedenen sie sich für letzteres und um ein Zeichen des Protestes zu setzen, wenn auch ein sehr vorsichtiges, kam die einst seltene Suppe immer häufiger auf die Tische der Grobor, anfangs zwar hauptsächlich auf denen der Wohlhabenden von ihnen, aber mit der Zeit auch bei immer mehr Grobor der Mittelschicht. Natürlich verzichtete man in den eigenen vier Wänden auf das halbblinde herumreichen des Suppentopfes. Als Vartions Pferde liebender Nachfolger Arnan von Enkil-Moril als eine seiner wenigen Amthandlungen das Tanzverbot wieder aufhob – es wurde danach noch dreimal verhängt und wieder aufgehoben – war die Cobolsuppe aus der Alltagsküche der Grobor nicht mehr wegzudenken, wurde und wird aber auch weiterhin traditionell während des Coboltanzes gegessen, auf die traditionelle Art.


    Heute ist die Cobolsuppe das Groborgericht schlechthin, obwohl nur wenige Nichtgrobor in den Genuss kommen, eine richtige Cobolsuppe zu essen. Denn nach wie vor hüten die Markors das Geheimnis der Cobolpaste und verdienen ein kleines Vermögen bei der Herstellung und dem Verkauf der roten Paste, sie müssen dafür nicht einmal hohe Preise verlangen. Versuche an das Rezept zu kommen hat es genug gegeben, bisher ohne Erfolg. Sicher ist man sich bis jetzt nur, dass mindestens neun Kräuter verwendet werden – die neun, die bekannt sind – und dass für die rote Farbe eindeutig kein Cobolblut verantwortlich ist, wie man früher angenommen hat. Tatsächlich kommt die rote Farbe nämlich von der Rinde der Putrat, einem häufigen Strauch im Osten von Haagest.


    Gayaner Cobolsuppe (Rezept)


    Zutaten


    500 g Fisch (Zarrezzi, Horkar und Fächerbarsch)


    1 l Wasser


    ¼ Glannwein (aus Algen zubereitetes alkoholisches Getränke)


    1 Zwiebel


    5 getrocknete Nesselkapseln


    10 schwarze Pfefferkörner


    400 g Curnammehl


    400 g Butter


    500 g Robaten


    250 g Karotten


    100 g Parret


    ¼ l Sahne


    1 Würfel Cobolpaste


    Salz, Neggrelkraut


    Fisch ausnehmen, entgräten und in 3 cm große Stückchen schneiden. Zwiebel würfelig schneiden. Wasser, Glannwein, Zwiebel Nesselkapseln und Pfeffer in einen Topf geben und fünf Minuten kochen. Fischstücke hinzufügen etwa 10 Minuten kochen lassen, bis sie gar sind, dann herausnehmen. Robaten und Karotten würfelig schneiden. Aus Butter und Mehl eine Einbrenne anrühren, nach und nach mit der Suppe aufgießen, Robaten und Karotten hinzufügen und die Suppe solange kochen, bis Robaten und Karotten bissfest sind. Käse und Cobolpastenwürfel fein reiben und mit der Sahne vermengen; die Mischung vorsichtig in die Suppe einrühren. Die Cobolsuppe so lange weitergaren, bis der Käse und die Cobolpaste geschmolzen sind. Mit Salz abschmecken. Die Fischstücke in die Suppe geben und sie noch einmal kurz erhitzen, aber nicht zum Kochen bringen. Neggrelkrautblättchen darüber streuen und servieren.

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    Chcíca
    © Sturmfaenger


    Die Clans vom Stamm der N'hakchr halten seit Jahrhunderten das Gebiet des Roten Waldes im Tal von Larrchril, das direkt an das Narbengebirge grenzt und auf dessen Regenschattenseite die Wüste Naszh und die Gebiete der Chon’naclans beginnen.
    Das bekannteste Gericht der Region wird Chcíca genannt.


    Ursprünglich wurde es nur bei besonderen Anlässen wie Bruderfesten, Zweitgeburtsfeiern und Ahnentagen gegessen.


    Ein wichtiger Bestandteil dieser Delikatesse ist der Rogen einer der seltenen Fischarten die sich in solcher Nähe zur Wüste behaupten konnten.


    Es handelt sich dabei um Dácck, die sogenannten Schlangenfische. Sie leben in von Quellen gespeisten Tümpeln, unterirdischen Wasserlöchern und brackigen Seen, die während der niederschlagsarmen Monate beinahe austrocknen. Die Knappheit des Wassers begrenzte früher die Anzahl an Schlangenfischen, die in der freien Natur gefangen oder in Becken herangezogen werden konnten.


    Seit die von menschlichen Sklaven gebauten unterirdischen Kanäle die Region besser mit Wasser versorgen, ist die Züchtung von Dácck-Schlangenfischen in größeren Becken möglich, und damit hat Chcíca als Gericht Einzug in den alltäglichen Speiseplan gehalten.


    Bei der Zubereitung wird der Dácckrogen zunächst zu einer Paste zerstampft, in diese Paste knetet man frisch gehackte Kräuter hinein. Der starke Eigengeschmack des Rogens macht die Zugabe weiterer Gewürze unnötig.
    Entwässerter Quark aus Rhúhmilch, der je nach verbliebenem Wassergehalt bröckelig oder cremig ist, wird mit mit dem salzhaltigen Ausscheidungssekret der pflanzenaussaugenden Salzlaus gewürzt, und bildet die zweite wichtige Komponente des Gerichts.


    Rogenpaste und Quarkmasse werden nun ausgerollt und in mehreren dünnen Schichten übereinandergelegt. Wenn man diesen „Kuchen“ durchschneidet ist der Schichtenwechsel als optisch ansprechendes Streifenmuster zu sehen. Tatsächlich schneidet man nicht nur einmal, sondern so oft, bis man viele würfelförmige Stückchen in der gewünschten Dicke hat.


    Wie groß die Stücke sind hängt vom persönlichen Geschmack desjenigen ab, der das Chcíca zubereitet. Kleine Würfelchen garen schneller durch und schmecken ein wenig anders als solche, die nur oberflächlich angebraten, innen aber noch roh sind. Der einzige Unterschied ist die schnellere Verderblichkeit von größeren Chcícawürfelchen.


    Jedes einzelne wird nun mit einer klebrigen Paste aus verquirrlten Chvrí-Eiern bepinselt und mit grobem Mehl aus getrockneten und anschließend zermahlenen Hollqmaden paniert. Erst dann kommt es in eine weite Pfanne, wo es mit jeder Menge Fett, kleingehäckseltem Ckkurhfleisch und getrockneten H’tnablüten zu einem schmackhaften Pfannengericht angebraten wird.


    Die Tatsache, daß es sich bei den hackfleischähnlichen Ckkurhbestandteilen des Chcíca um Plazentastückchen handelt ist nicht allgemein bekannt, da die verschiedenen Stämme hierzu voneinander abweichende religiöse Ansichten haben.


    Die N'hakchr haben beobachtet, daß die Tiere, selbst wenn es normalerweise Vegetarier sind, die Nachgeburt stets fressen. Sie sind der Ansicht, es handle sich bei dieser Fleischgabe um ein segensreiches Geschenk der Göttinmutter, eine Belohnung für die vollbrachte Leistung der Geburt. Darum halten sie es mit den Nachgeburten mancher ihrer Nutztiere genauso. Sie essen sie, um etwas von dem Segen abzubekommen.
    Die Nachgeburten ihrer eigenen Frauen werden der Göttin zum Dank für die erfolgreiche Geburt als Opfergabe dargebracht.


    Die anderen Clans, allen voran die mächtigen Chon’na, vertreten eine andere Einstellung:


    Während einer Schwangerschaft ist ein Säugling ständig in Gefahr, von bösen Geistern besessen zu werden. Die Mütter verhindern dies indem sie diesen Geistern eine Falle stellen: sie erzeugen mit der Plazenta ein ‚falsches Kind’, die bösen Geister fallen darauf herein, setzen sich darin fest und können dem echten Baby nichts mehr antun.


    Nach der Geburt der Säuglings wird die Plazenta von den Müttern abgestoßen und von den Geburtshelfern rituell zerstört. Den Nutztieren wird erlaubt, die Nachgeburt aufzufressen, da dies ihre Art der rituellen Zerstörung ist.
    Da es zwischen den Chon’na und den N'hakchr in der Vergangenheit schon mehrfach zu Fehden und Kriegen gekommen ist welche die N'hakchr am Ende immer verloren haben, wird die Anstoß erregende Zutat geheimgehalten. Man weiß offiziell nur, daß es sich bei dem fleischigen Bestandteil von Chcíca um Ckkurhfleisch handelt, und soweit es die N'hakchr betrifft, wird dies auch immer so bleiben.

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    Die Brommelbeere
    © Yelaja


    Bei der Brommelbeere handelt es sich um ein recht genügsames Gewächs, das in Böschungen und an lichteren Waldstellen ideale Wuchsbedingungen findet. Die langen Zweige der Pflanze winden sich über den Boden und ranken sich an Bäumen und Sträuchern empor um ihren saftig grünen, nierenförmigen Blättern mehr Licht zu verschaffen.


    Die mehrjährige Pflanze, die in der knollig verdickten Wurzel Nährstoffe speichert, treibt im zeitigen Frühjahr aus und bildet nach den ersten Blättern auch rasch kleine Blüten, die in Trauben zusammengefasst sind. Der verwachsene Kelch umfasst die Ansätze der fünf Kronblätter, die leuchtend violett und nur am Blattgrund kräftig gelb gefärbt sind. Er bildet eine Röhre, die sowohl die zahlreichen Staubfäden als auch den Fruchtknoten umschließt. Nur die vom Pollen rot gefärbten, spiralig gewundenen Enden der Staubfäden und der Griffel mit der sternförmigen Narbe ragen darüber hinaus.


    Im Spätsommer fallen von den befruchteten Blüten Kronblätter, Staubfäden und Griffel ab und es entwickeln sich kleine noch grüne Beeren, die vorerst vom Kelch umschlossen bleiben. Während die Früchte wachsen und reifen, platzt die Kelchröhre schließlich auf und gibt den Blick auf die schwach orange gefärbten Beeren frei. Die Beeren sind im Durchmesser etwa einen halben Zentimeter groß und enthalten fünf kleine Samen. Die Stelle, an der der Griffel am Fruchtknoten saß, ist durch eine bauchnabelförmige Einstülpung gekennzeichnet. Tiere, wie der braune Baumteufel oder der kurzschwänzige Blauhaubensänger, fressen die leicht süßlichen Beeren gerne und verbreiten die unverdaulichen Samen mit ihren Ausscheidungen.


    Die Brommelbeere war ursprünglich auf ganz Nandún verbreitet. Sie kam vor allem in gemäßigtem Klima vor, konnte aber auch in den kälteren Regionen der Nordwälder und den subtropischen Gebieten der arincandrischen Ostküste gefunden werden.


    Die Blätter der Brommelbeere enthalten ätherische Öle, die sie für Insekten und deren Larven ungenießbar machen und sie auch anderen Pflanzenfressern wenig schmackhaft erscheinen lassen. Getrocknet und als Tee zubereitet lässt sich jedoch ein erfrischendes Getränk von würzig-scharfem Geschmack herstellen.


    Seit durch den intensiven Handel zwischen den Nationen Nandúns und Earhúns das rote Zirbeläuglein, eine Schmetterlingsart, nach Nandún eingeschleppt wurde, ging der Brommelbeerenbestand in den wärmeren bis gemäßigten Gebieten kontinuierlich zurück.


    Das rote Zirbeläuglein legt seine Eier im Herbst auf allerlei Pflanzen, bevorzugt aber auf der Brommelbeere, ab. Nach der Überwinterung im Ei schlüpfen im Frühjahr die Raupen. Die ätherischen Öle, die die Brommelbeere vor anderen Fressfeinden schützen, versagen bei der Raupe des roten Zirbeläugleins und so weiden die gefräßigen 1,5 cm langen Larven die Brommelbeerpflanzen ab, bis einzig die holzigen Zweige übrig sind. Falls es den geschwächten Pflanzen überhaupt gelingt erneut auszutreiben, bleiben die Blätter kümmerlich und die Blüte bleibt ganz aus. Meist bedeutet der Befall durch das rote Zirbeläuglein schon nach einer Saison den Tod der befallenen Brommelbeerpflanze. Heute findet man die Brommelbeere nur noch vereinzelt in kühlen Gebirgsregionen nahe der Baumgrenze und in den nördlicheren Wäldern Nandúns, wo das Klima für das rote Zirbeläuglein zu rau ist.
    Die Brommelbeeren wurden früher zum Färben von Wolle verwendet. Dazu wurden die Brommelbeeren mit Färbersalz vermengt und gestampft. Nachdem der Brei mit einer Mischung aus 3 Teilen Wasser und 2 Teilen Urin vermengt wurde, wurde die gereinigte Wolle in den Ansatz gegeben und zum Sieden erhitzt. Nach 5 Stunden kontinuierlichen Köchelns wurde die Wolle herausgenommen, zuerst in heißen und dann in kaltem Wasser gewaschen und schließlich zum Trocknen und Ausfärben aufgehängt. Die Wolle, die nach der Behandlung noch ihre natürliche Farbe aufwies, nahm während der Trocknung eine kräftig Orange Farbe an.


    Obwohl sich das intensive und lange haltbare Brommelbeerorange großer Beliebtheit erfreute, wird heute kaum noch mit Brommelbeeren gefärbt. Wenn sich ein junger Mann aufmacht um an einer entlegenen Stelle einen der seltenen Brommelbeerzweige zu pflücken, hat es einen anderen Grund:


    Eine alte Legende erzählt vom jungen Prinzen Deronin. Obwohl seit seiner Geburt ein verwachsenes Auge und eine krumme Nase sein Gesicht verunstalteten und er klein und schwächlich gewachsen war, war er ein fröhlicher und lebenslustiger Geselle. Mit seinem herzlichen und offenen Wesen und seinem wachen Geist gewann er viele Menschen für sich, die sich zunächst durch sein Äußeres abgestoßen gefühlt hatten. So erregte er alsbald das Gefallen der Götter. Und als die Zeit kam, da Deronin sich einer Gottheit weihen sollte, wählte er die Götterzwillinge K’heliwo und K’hesanja, die die Gotteinheit des Lebens sind. Fortan schmückte er sich mit einer Krone aus geflochtenen Brommelbeerzweigen, denn die blühende Brommelbeere war K’hesanjas Lieblingsblume. K’heliwo und K’hesanja sahen dies mit großem Wohlwollen und gewährten ihm eine Gunst und Deronin, dessen einnehmendes Wesen ihm viele Herzen geöffnet hatte, aber noch niemals das einer schönen jungen Frau, wünschte sich, dass er der Frau, deren Gunst er sich erhoffte, gefallen möge. So schenkten ihm K’heliwo und K’hesanja nicht nur eine schöne Gestalt, indem sie die Makel aus seinem Gesicht tilgten, seinen Rücken aufrichteten und ihn stark machten, sondern legten auf seine Brommelbeerkrone auch einen Zauber, so dass er, solange er die Krone trug, von keiner Frau, um die er werben würde, eine Zurückweisung zu befürchten hätte.


    Die Legende erzählt weiter, dass ein wenig von der Macht des Zaubers, der auf Deronins Brommelbeerkrone lag, auch auf alle anderen Brommelbeerzweige übergegangen sei. So ziehen Jünglinge, deren Werben um eine Frau zurückgewiesen wurde, bisweilen aus um den Zweig einer Brommelbeere zu pflücken und so doch noch das Herz ihrer Angebeteten zu gewinnen.



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    Feuerstern oder "Immerfort"
    © Neyasha


    Der Feuerstern gehört zu den seltensten und gleichzeitig begehrtesten Pflanzen in Ahron. Einst weit verbreitet, findet man ihn nun nur noch in einigen wenigen Gebieten. Das liegt daran, dass der Feuerstern ungewohnte Standorte bevorzugt: Er wächst nur auf vulkanischer Erde; selbst auf erstarrter Lava finden sich immer wieder einzelne Feuersterne.


    Vorkommen
    Früher, als die Faranberge und die Windigen Höhen noch vulkanisch aktiv waren, wuchsen überall rings um sie Feuersterne, doch als die Vulkane jahrhundertelang schlummerten, wurden auch die Feuersterne immer weniger. Heute wachsen sie nur noch im Norden von Ahron, in den Nimrabergen und in den südlichen Genarbergen. Allerdings werden sie auch hier immer weniger, da der fruchtbare vulkanische Boden mehr und mehr für Weinanbau und Getreidefelder genutzt wird. Die empfindlichen Feuersterne wurden dadurch beinahe ausgerottet. Heute ist es sehr schwer sie zu finden, da diese Blumen nur noch vereinzelt auftreten. Lediglich auf der unzugänglichen Feuerebene in den Nimrabergen wachsen sie noch in rauen Mengen.


    Auch die nördlichen Genarberge und die vulkanischen Gebiete von Lidáne bieten den Feuersternen noch eine Heimat, während es ihnen weiter südlich in den Vulkanen des Cumeischen Reiches zu heiß ist.


    Aussehen
    Der Feuerstern ist eine krautige Pflanze, der eine Höhe bis zu einem Fuß erreichen kann. Die Blätter sind klein, herzförmig und sehr dick. Auffällig sind aber vor allem die großen Hochblätter, die in allen Abstufungen von Gelb und Orange gefärbt sind. Die Skonländer halten diese fälschlicherweise für die Blüten, doch die eigentlichen Blüten sitzen klein und unscheinbar in der Mitte der Hochblätter. Sie blühen vom Nebelmond bis zum Hitzemond, während die Hochblätter bis in den Winter hinein erhalten bleiben. Schon im späten Eismond erscheinen sie wieder, weshalb der Feuerstern im Volksmund auch „Immerfort“ genannt wird.


    Verwendung
    Obwohl der Feuerstern keine Heilkräfte besitzt, machen sich immer wieder viele Skonländer auf, um diese Blume zu suchen. Grund dafür ist eine Legende: Jorda, die erste Hohepriesterin von Guda dem Einen, hatte lange um ihren Geliebten Wafir gekämpft, bis Guda sie endlich freigab und ihr gestattete, Wafir zu heiraten. Als sie an diesem Abend in ihre Hütte eintraten, ließ Guda unter ihren Füßen Blumen wachsen, und so gingen sie durch ein Meer von Blüten zu ihrem Bett. Die ganzjährig blühenden Feuersterne waren von da an als Zeichen ihrer unvergänglichen Liebe beinahe überall in Ahron zu finden.


    Auch heute noch ist es Brauch, Feuersternblüten (also eigentlich die Hochblätter) auf die Türschwelle zu streuen, bevor ein frisch vermähltes Paar das Schlafzimmer betritt. Da die Blumen mittlerweile aber so selten geworden sind, streuen viele Skonländer andere Blüten auf den Boden. Dennoch gibt es immer noch zahlreiche Skonländer, die sich vor einer Hochzeit auf den Weg machen, um wenigstens ein paar Feuersterne zu suchen.
    Vor allem im südlichen Ahron ist dies aber beinahe ein unmögliches Unterfangen, da die wenigen Feuersterne zu weit weg sind und auf dem Rückweg verwelken würden. Im Norden, in der Nähe der Nimra- und der Genarberge, und auf den Dorschinseln, wo manche Abenteurer mit dem Boot nach Lidáne aufbrechen, um dort die begehrten Blumen zu suchen, hat sich der alte Brauch aber noch immer gehalten.


    Für die Hochzeit der traditionsbewussten Königin Bergund mit Farn Lendech, dem Sohn des Fürsten von Südland, wurden nicht weniger als zwanzig Soldaten der Stadtwache in die Nimraberge geschickt, um von dort einen großen Sack voller Feuersterne zu holen. Für den Rückweg hatten sie ein königliches Schreiben, das es ihnen erlaubte, die Pferdewechselstellen der Kurierreiter zu nutzen, damit die Blüten in gutem Zustand in der Hauptstadt Koron ankamen.


    Spitze Zungen meinen, dass es der Königin damit gelungen ist, nun auch in den Nimrabergen die Feuersterne endgültig auszurotten.


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    Tharvellin


    © Sturmfaenger
    Zum jährlichen Seelentanz in den Heiligtümern des Totengottes Cobah-Lur versammeln sich die Gläubigen auf den Rängen des Zeremonienplatzes. Sie alle sind dunkel gekleidet und still, verschmelzen beinahe mit der hereinbrechenden Nacht.


    Während die Farben des Tages weichen, heben sich die weißen Linien im Mosaikmuster der Tanzfläche im Restlicht besonders hervor. Die Tänzer befinden sich bereits in Position, liegen nackt ausgestreckt da, das Gesicht zur Mitte gewandt.


    Mit dem ersten Trommelschlag beginnt ihr Tanz, langsam.


    Ihre Schritte fließen ineinander, folgen der Vorgabe des Bodenmusters, das durch sie lebendig zu werden scheint. Allmählich wird der Pulsschlag der Trommeln schneller, wilder, die ersten Tänzer brechen aus dem Reigen aus. Bald folgt keiner mehr dem vorgegebenen Muster. Alle erzählen nun mit ihren Körpern vom wilden Todeskampf, von Verzweiflung und schließlich erschöpfter Fügung. Scheinbar leblos sinken sie nieder, nur begleitet von der reinen hohen Stimme eines Knaben, der mit seiner wortlosen Melodie ein namenloses Sehnen auf den Platz herabruft. Andere Stimmen fallen ein, flehen um Erbarmen, um Hilfe im Dunkel des Nachlebens.
    Noch während der Anrufung beginnen die Körper der Tänzer sanft zu schimmern, erst matt, dann immer heller. Nach und nach erfasst es sie, bis jeder Körper in einen überirdischen bläulichweißen Schein gehüllt ist. Sie beginnen sich nun erneut zu regen, leuchtende Schemen inmitten der Schwärze.


    Ein weiterer Tänzer, der Cobah-Lur selbst verkörpert, erscheint nun wie aus dem Nichts in der Mitte des Platzes - wirft den schwarzen Umhang ab, in den gehüllt er sich auf seine Position begeben hat. Die glühende Bemalung seines Körpers spiegelt die Linien des Lebens auf dem Zeremonienplatz wieder. Er umtanzt die anderen Seelen, geleitet sie nach und nach zu ihren Positionen, auf denen sie niedersinken und symbolisch wieder eins mit dem Kreis des Lebens werden.


    Niemand der diesen Tanz gesehen hat kann wahrhaft behaupten, es habe ihn nicht beeindruckt. Doch die wenigsten wissen, daß der Seelentanz ohne ein unscheinbares graues Pulver sehr viel unspektakulärer wäre.
    Tharvellin heißt es, auch Mondesleuchten genannt, nach der Ähnlichkeit des bläulichweißen Lichtschimmers mit dem Licht eines der drei Monde.
    Traditionell wird es beim Kauf mit reinem Silber aufgewogen – der Aufwand zur Gewinnung der Substanz rechtfertigt diesen hohen Preis zwar nicht, aber das wissen nur diejenigen die Tharvellin herstellen. Auch die meisten Zwischenhändler wissen nicht mehr, denn man macht daraus ein großes Geheimnis.


    Nicht zu unrecht, denn die Hersteller des Tharvellin sind die Ji’rallak, auch das ‚Versteckte Volk’ genannt. Sie legen keinen Wert darauf, in das Großreich Morkandor einverleibt zu werden. Die hohen Preise für das seltene Pulver bedeuten für sie einen willkommenen Zusatzverdienst, es ist eine der wenigen Handelswaren die den Weg nach Morkandor finden. Mit dem Gewinn werden seinerseits wieder seltene medizinische oder sonstige Güter gekauft, die über viele Umwege den Weg in ihre Hände finden.


    Der Ursprung des Tharvellin sind winzig kleine Bakterien. Sie kommen endemisch in „Andhurs Träne“, einem unzugänglichen Salzwassersee im Carad’Narangebirge vor.
    Die Tharvellinbakterien leben frei im Wasser, setzen sich aber wenn die Salzkonzentration des Seewassers durch sommerliche Verdunstung steigt, auch als schleimige Schicht auf Steinen ab. Die Biolumineszenz scheint ein Bestandteil ihres Fortpflanzungszyklus zu sein, sie leuchten nur wenige Wochen im Jahr.


    Während dieser Zeit statten einige Ji’rallak dem Tränensee einen Besuch ab. Sie ernten die leuchtende Schleimschicht von den Uferfelsen. Die Masse wird in der Sonne ausgebreitet. In der Sommerhitze verdunstet das Wasser schnell.


    Die trockene Masse wird zu Pulver zerstampft, in kleine Barren gepresst und für den Transport so luftdicht wie möglich verpackt. Die Bakterien des Tharvellin sind jedoch nicht tot, sie befinden sich nur in einer Art Trockenstarre. Sobald sie wieder mit Salzwasser in Kontakt kommen – sei es der steigende Wasserpegel im Herbst oder der salzige Schweiß menschlicher Haut – dauert es nur wenige Minuten bis sie wieder zu leuchten beginnen.
    Das Pulver ist für religiöse Zeremonien wie den Seelentanz sehr begehrt, scheint es doch die – mit magischen Sinnen übrigens nicht erfassbare – Antwort eines Gottes selbst wiederzuspiegeln.
    Nach der Zeremonie läßt sich die mit Pulver vermischte Salbe, mit dem die Körper der Tänzer eingerieben wurden übrigens problemlos abschrubben, dies muss auch sein, da die Ausscheidungsprodukte der Bakterien für Menschen auf Dauer ungesund sind. Kopfschmerzen, Ausschlag und gelegentlich auch Übelkeit sind die Folge, wenn man sich hinterher nicht gründlich genug schrubbt - ein „Zeichen“ des Wunsches der Götter, das Mondesleuchten nur während bedeutsamer, zeitlich begrenzter Zeremonien einzusetzen.


    Tharvellin hält sich in Gebieten mit höher Luftfeuchtigkeit und außerhalb seines normalen Umfelds nicht lange, es wird von anderen Bakterien zersetzt. Dies bedeutet eine stetige Nachfrage, und dieses wiederum eine stabile Einnahmequelle für das Versteckte Volk.

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    Ke'ar-than oder "stinkendes Pulver"
    © Ehana


    Selbst das trockene, heiße Herz von Ataiyon, dem Südkontinent, kennt Zivilisation – seit Tausenden von Jahren verstehen es verschiedenste Völker, den extremen Temperaturen und der Trockenheit zu trotzen. Während über die meisten nur wenig bekannt ist, weil sich kaum jemand in deren unwirtlichen Lebensraum vorwagt, gibt es in den Randgebieten der Wüstengegend Völker, die regelmäßig in Kontakt mit den Bewohnern der „grünen Welt“ um sie herum treten und sogar mit ihnen Handel treiben. Zu diesen gehören etwa die Sisa, die westlichsten Bewohner der wüstenhaften, mit Staub und Geröll übersäten Neeran-Ebene, die einen kleinen Teil der Ostgrenze des Landes Nayod bildet.


    Als Volk, das mit äußerst widrigen Umweltbedingungen fertig zu werden hat, ist das gesamte Leben der Sisa stark darauf ausgerichtet, im Einklang mit der Natur und insbesondere den Elementen zu leben. Feuer wird als heilig verehrt, weil es für Wärme in den kalten Nächten sorgt, Wasser ist ohnehin knapp, die Erde ist größtenteils hart und nicht für den Anbau von Nahrung zu gebrauchen, so dass fruchtbarer Boden ebenfalls einen großen Segen darstellt. Als feindlich angesehen wird lediglich der Wind, der Staubstürme bringt. Und nach dem, was die Sisa glauben, kommen mit ihm auch die Windgeister, die Ke’arn. Schon seit Kindesbeinen hat jeder Sisa größten Respekt vor diesen Wesenheiten – kein Wunder, denn die Erwachsenen nehmen den Namen ständig in den Mund, wenn das Wetter schlechter zu werden beginnt und Staubstürme aufzuziehen drohen. Kein Sisa vermag die Ke’arn zu beschreiben, sie gelten als körperlos und unsichtbar, ihre Präsenz äußert sich nur darin, dass wieder einmal etwas Schlimmes passiert ist. Vielerlei schlimme Ereignisse werden auf die Ke’arn zurückgeführt, vor allem plötzlicher Kindstod und Krankheiten aller Art. Aber genauso lange wie die Sisa schon von den Ke’arn erzählen, so lange gibt es auch schon die kuriosesten Mittel, die die Windgeister angeblich zu vertreiben vermögen. Unstreitig am besten geeignet ist Feuer, allerdings ist dessen Einsatz für größere Flächen schwierig. Daneben ist man sich einig, dass starke Gerüche aller Art auch sehr effektiv sein sollen. In früheren Zeiten experimentierte man gerne mit Tierdung und auch menschlichen Hinterlassenschaften, was den Sisa aber auf Dauer im wahrsten Sinne des Wortes stank und außerdem ungeliebtes Getier anzog. Etwas Geeigneteres wollte sich in der kargen Berglandschaft, die die Neeran-Ebene im Norden und Süden begrenzt und zu deren Füßen die Sisa leben, nicht finden lassen.


    Seit einigen hundert Jahren verlassen die Sisa jedoch bisweilen ihre Einöde, um mit den nayodischen Siedlern, die im Lauf der Zeit bis zum Rand der Ebene vorgestoßen waren, Handel zu treiben. Mit zunehmender Intensivierung der Kontakte zwischen den beiden Völkern lernten auch einige Sisa etwas Nayodin, und irgendwann erfuhren die Nayodi von dem Ke’arn-Problem der Sisa. Sie schüttelten die Köpfe über einen derart archaisch wirkenden Glauben, ja, Aberglauben. Denn daran, dass der Wind Unheil bringe, glaubten doch höchstens kleine Kinder, wenn sie zu viele Schauergeschichten gehört hatten, befanden sie. Ein besonders findiger der nayodischen Händler in den Dörfern, die die Sisa gerne zum Handeln aufsuchten, kam jedoch auf den Gedanken, aus der Weltsicht der Wüstenbewohner Profit zu schlagen. Als er nämlich erfahren hatte, dass die Sisa eine stinkende Substanz zur Abwehr der Ke’arn suchen, fiel ihm sofort die Rikeira ein, ein bei den Nayodi wohlbekanntes und verhasstes Kraut, das vor dem Heumachen mühsam von den Feldern entfernt werden muss. Der Grund dafür war ebenso bekannt wie die Pflanze selbst, aber auf diesen Gedanken schien außer ihm zu diesem Zeitpunkt keiner der anderen, die mit den Sisa Geschäfte machten, gekommen zu sein.


    In den ersten Jahren, nachdem sie sich zum Siedeln in dieser Gegend niedergelassen hatten, war den Nayodi, wenn sie Heu verbrannten, immer ein beißend-intensiver Gestank aufgefallen, der von dem Brennmaterial ausging. Es dauerte seine Zeit, bis sie herausbekamen, dass eine Pflanze daran schuld war, die reichlich auf den Trockenwiesen in diesem Gebiet wuchs und die sie deshalb Rikeira, „stinkendes Kraut“, nannten. Fortan mussten sie mühsam ihre Wiesen per Hand von den Rikeira-Pflanzen befreien, bevor sie mit der Sense anrückten. Schließlich wusste man nie, wofür das eingebrachte Heu später verwendet werden sollte. Man ließ es sich dennoch nicht nehmen, die Pflanze näher zu untersuchen, um die genaue Ursache für den Gestank herauszufinden. Bei der Rikeira handelt sich um ein etwa kniehoch wachsendes Kraut mit kräftigen, an den Rändern gewellten Blättern, die sich um einen langen Stiel gruppieren. An jeder Pflanze finden sich etliche Dutzend Samen, klein, rund und von dunkelbrauner, fast schwarzer Farbe. Sie wachsen in langen Rispen heran, die das obere Ende des Stengels durch ihr Gewicht etwas herabhängen lassen. Es stellte sich heraus, dass diese Samen in getrocknetem Zustand, der sie etwas im Durchmesser schrumpfen und zu harten Körnern werden lässt, hervorragend brennen – ungetrocknet sind sie dafür zu feucht – und dabei diesen unsäglichen Gestank von sich geben.


    Diese Geschichte im Hinterkopf, bat besagter Händler kurzum einen seiner Verwandten, der einen Bauernhof besaß, ihm bei der nächsten Gelegenheit einen Haufen der Pflanzen mitzubringen. Letzterer verstand überhaupt nicht, was sein Vetter mit dem nutzlosen Kraut wollte, entsprach aber seiner Bitte. Der Händler experimentierte etwas mit den Samen herum. Zwar sahen sie in getrockneter Form dem, was an den Stengeln der Rikeira wuchs, kaum mehr ähnlich. Dennoch wollte er testen, ob die Substanz auch in weiter bearbeitetem Zustand ihren üblen Geruch behielt. Das Geschäft mit dem Sisa schwebte ihm derart lukrativ vor, dass er kein Risiko eingehen wollte – sie sollten nicht erkennen können, woraus die Substanz besteht, und sie so bei ihren Besuchen in den nayodischen Dörfern nicht selbst sammeln können. Er fand heraus, dass die Körner in pulverisierter Form noch genauso gut brennen und stinken, das Mahlen allerdings die Haltbarkeit herabsetzt. Er füllte das Pulver in kleine Säckchen ab und nannte es „Kanithran“, gebildet aus den Nayodin-Worten „rika“ und „nithran“ für „stinkendes Pulver“.
    Als das nächste Mal Sisa das kleine Dorf aufsuchten, pries der Händler ihnen das Pulver als ultimatives Mittel an, um die Ke’arn zu vertreiben. Die Sisa waren skeptisch, dass die Nayodi auf einmal eine angeblich so mächtige Substanz besaßen, von der sie noch nie zuvor etwas gehört hatten. Sie baten den Händler um eine Demonstration. Er ließ sich dazu überreden, mit ihnen ein paar Meilen vor das Dorf zu gehen, um dort eine kleine Menge des Pulvers abzubrennen. So geschah es. Der Gestank, der sich alsbald ausbreitete, entlockte den in der Nähe arbeitenden Bauern wüste Schimpftiraden, aber die Sisa beeindruckte er derart, dass sie gleich mehrere Säckchen der zermahlenen Rikeira-Samen mitnahmen.
    Anders als die Nayodi schienen sie den Geruch zwar stark, aber nicht unerträglich unangenehm zu finden. Bei ihrem nächsten Besuch kauften sie den gesamten Vorrat des Händlers auf, und als er ihnen nichts mehr von den Samen in pulverisierter Form mitgeben konnte, ließ er sich dazu überreden, ihnen auch seinen gesamten Rest an ungemahlenen Rikeira-Samenkörnern mitzugeben. Die Geschäfte entgingen den anderen Nayodi im Dorf natürlich nicht lange, und bald entstand zwischen den Dorfbewohnern und den Sisa reger Handel mit der Substanz in gemahlener sowie körniger Form.
    Die ursprüngliche Bezeichnung wurde bald durch den Sisa-Namen „Ke’ar-than“ (Sisari für „Ke’arn-verbannende Substanz“) ersetzt, da diese sich, zu Hause angekommen, wegen ihrer schlechten Nayodin-Kenntnisse nicht mehr an den genauen ursprünglichen Namen der Ware erinnern konnten und nur noch wussten, dass es so ähnlich geklungen hatte wie besagte Worte in ihrer Muttersprache. Während die Sisa das gekörnte Ke’ar-than bevorzugen, weil es länger haltbar ist, ist den Nayodi der Handel mit dem Pulver lieber, denn so lässt sich die Herkunft der Substanz besser verschleiern. Bis heute haben die Sisa nicht herausbekommen, woraus das Ke’ar-than genau besteht – es scheint ihnen auch gleichgültig zu sein, denn überhaupt halten sie sich nie länger als unbedingt für den Handel notwendig in den nayodischen Siedlungen auf. Seit das Ke’ar-than bei den Sisa bekannt geworden ist, kann man mit schöner Regelmäßigkeit, wenn Staubstürme aufzukommen drohen, Schwaden des dunklen Rauchs, der beim Verbrennen von Ke’ar-than entsteht, durch die Wüstensiedlungen ziehen sehen. Und wie die seltenen auswärtigen Besucher bei den Wüstenvölkern berichten, ist der stinkende Geruch der Substanz ist geradezu charakteristisch für die Ansiedlungen in der Neeran-Ebene geworden.

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    Das Shamî-Hornpulver
    © Gomeck


    Es ist seit jeher im Kaiserreich Kym* üblich, daß die Angehörigen des Adels im Alter von 8-9 Jahren zwei Jahre in der kaiserlichen Armee dienen. Der Großteil der Armee wird jedoch von Vertretern der Bürgerschicht gebildet, so dass die jungen Adligen in der Armee eine Sonderstellung einnehmen, so ist nur ihnen der Aufstieg in der Hierarchie möglich, sofern sie sich für weitere Zeit der Armee verpflichten.


    Unter den adligen Keniau* der Armee kursiert ein Getränk, dem man nachsagt, dass es die Kraft erheblich steigern kann, was es natürlich sehr begehrt macht. Es wird aus einem Pulver hergestellt, welches sehr teuer ist, so dass es sich auch nur die wohlhabenderen Adligen leisten können. Außerdem ist es nicht legal und nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Es handelt sich um die pulverisierten Hörner der Shamî-Katze, die weit im Süden in den Dschungeln Kîshunas* lebt. Die Shamî-Katze ist ein gefürchteter Räuber, wird ebenso groß wie erwachsene Keniau und verfügt über große Kraft, scharfe Zähne und auf der Stirn zwei scharf gezackte Hörner, mit denen die Shamî selbst größere Beutetiere so schwer verletzen kann, dass diese ihren Wunden erliegen. Im Norden des Ostkontinents kommt dieses Raubtier nicht vor, und seine Existenz ist den Keniau dort nur bekannt, weil vereinzelt Exemplare für Schaukampfspiele importiert werden. Viele haben sich schon auf den weiten Weg in den Süden gemacht, um selbst ein solches Tier zu erlegen, doch das Klima und die Gefahren des Dschungels lässt die meisten nicht einmal zurückkehren, und selbst jene, die keinen Raubtieren oder Krankheiten zum Opfer gefallen sind, haben bisher noch nie eine dieser Katzen tatsächlich zu Gesicht bekommen. Die dort lebenden Keniau hüten sich selbstverständlich davor, den Abenteurern bei ihrer Suche zu helfen, denn sie profitieren natürlich sehr davon, das Wissen für sich zu behalten, wo in den Weiten des Dschungels diese Katzen zu finden sind und wie man sie erlegt.


    Insider-Informationen (offworld): Die tatsächliche Wirkung des Pulvers ist nicht offiziell bestätigt, man kann lediglich eine Pulssteigerung und ein Anstieg der Körpertemperatur feststellen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Keniau, die ein bis zwei Becher aufgelöstes Pulver zu sich nehmen, im Kampf eine höhere Leistung bringen, jedoch rührt die erhöhte Kraft kaum durch das Getränk selbst her, lediglich die Hemmschwelle wird gesenkt, die Kraftreserven des Körpers voll einzusetzen, wodurch der Trugschluß über die Wirkung des Pulvers herrührt. Natürlich gibt es viele Gelehrten auf dem Ostkontinent, die genau das Gegenteil behaupten, und die Soldaten sind geneigt, eher diesen zu glauben ;)


    Tatsächlich ist es mittlerweile sogar so, dass die Händler des Shamî-Hornpulvers im Geheimen auf andere, völlig wirkungslose Pulver umgestiegen sind, die wesentlich leichter zu beschaffen sind, und die mit Essenzen einer Pflanze vermengt werden, die eine sehr ähnliche Wirkung auf den Körper haben wie das ursprüngliche Shamî-Hornpulver. Dies wird jedoch aus verständlichen Gründen noch viel geheimer gehalten als eventuelle Verbreitungsgebiete der Shamî-Katze! Um die hohen Preise weiterhin stabil zu halten, wird die Menge des angebotenen Pulvers jedoch künstlich knapp gehalten.


    *Kaiserreich Kym: Expandierendes Reich im Norden des Ostkontinents, umfasst die Inseln Shu-Kym und Sai-Kym und Teile des Festlandes von Aikatun


    *Keniau: das sind quasi tigergroße Katzen-Zentauren


    *Kîshuna: große Halbinsel im Süden des Ostkontinents. Der Süden ist von großen Dschungeln bedeckt.

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    Gesetz gegen die Shkalapi-Krankheit
    © Ehana


    Das aberranische Eilgesetz zur Eindämmung der Shkalapi-Krankheit aus dem Jahre 412 n. Rgr.


    Im Jahr 412 n. Rgr. fielen in der okroischen Hauptstadt Aberra immer wieder Leute auf, die von seltsamen bräunlichen, faustgroßen, gegenüber der restlichen Haut leicht erhobenen Flecken berichteten, die sich auf der Innenseite ihrer Unterarme gebildet hatten, also etwa dort, wo man sich bei der informellen Begrüßung gegenseitig anfasst. Die Flecken juckten, und wenn man sich daran kratzte, bekam man bisweilen ähnliche Flecken auch an den Fingern. Anhand dieser Symptome kam schnell auf, dass es sich hierbei um die sogenannte Shkalapi-Krankheit handelt, von deren Auftreten sonst nur in der Provinz Tapal im Südosten des Landes bekannt war – also musste sie jemand von dort eingeschleppt haben. Aus Büchern über diese Gegend kam schnell ans Licht, dass die Krankheit glücklicherweise nur bei wenigen – vor allem Kindern und alten Leuten – zum Ausbruch kam, man aber nicht so schnell erkennen konnte, wer sie sich eingefangen hatte, da die Flecken erst nach wenigen Tagen auftraten. Als Gegenmittel schwor man in der Region auf eine Salbe aus dem Schwarzen Schlangenpilz, einem, wie der Name schon sagt, dunkel gefärbten Pilz, der sich ausschließlich auf den Stämmen der Kitunë genannten Bäume findet, sich um deren Stamm windet und mit ihnen in enger Symbiose lebt. Und diese Bäume wachsen ebenfalls nur in und um Tapal, das mehrere Wochen entfernt liegt.


    Nun war guter Rat teuer. Die Regierung sah sich vor dem Problem, die weitere Ausbreitung der Krankheit, die nach allem, was man darüber wusste, zwar nicht sonderlich schmerzhaft oder schlimm zu sein schien, die man aber auch nicht unterschätzen wollte, so schnell wie möglich einzudämmen. Die ganze Stadt unter Quarantäne zu stellen, stellte keine Option dar, da so ein Großteil der Haupthandelsströme im Land abgeschnitten worden wäre. Irgendwann suchte ein Mann den Rat zu sprechen, der berichtete, dass im Hof seines Nachbarn seit Jahrzehnten ein aus Tapal importiertes, imposantes Exemplar eines Kitunë-Baums wuchs, auf dem er bereits ein schwarzes Geschlängel gesehen habe. Und dass es sicher noch mehr Leute gäbe, die sich solche Exoten als Zierbäume hielten.


    Der Ratssprecher fackelte nicht lange und berief eine Notsitzung ein. Er schlug vor, eine Anordnung zu erlassen, sämtliche Exemplare dieser Pilze, die in Aberra und Umgebung wuchsen, von den Bäumen entfernen und zur Ratsresidenz bringen zu lassen, wo zentral das Gegenmittel zubereitet werden und jeder Infizierte es sich kostenlos verabreichen lassen konnte. Eines der anderen Ratsmitglieder wandte ein, dass die kostenlose Abgabe der Pilze an die Regierung womöglich die Besitzer solcher Bäume veranlassen könnte, die Pilze zu ernten und zurückzuhalten oder gar die Bäume zu fällen, um das Angebot künstlich noch mehr zu verknappen und das Gegenmittel heimlich zu irrsinnig hohen Preisen verkaufen zu können. Das gab den anderen zu denken. Und so fand man noch am selben Tag folgende Verlautbarung in gewaltigen Buchstaben an das Eingangstor zur Ratsresidenz gehängt:


    EILGESETZ des Rates des Großreichs Okro und Rykis


    Mit sofortiger Wirkung haben wir beschlossen:


    (I) Alle im Bezirk Zentral-Okro befindlichen Exemplare des Schwarzen Schlangenpilzes, zu finden ausschließlich auf den Kitunë-Bäumen, sind so schnell wie möglich an der eigens eingerichteten Sammelstelle in der Ratsresidenz zu Aberra abzugeben.


    (II) Wer entgegen dieser Bestimmung ein Exemplar des Schwarzen Schlangenpilzes mutwillig länger als eine Woche zurückbehält oder vernichtet, ist mit einer Geldstrafe nicht unter 5.000 Velin zu bestrafen.
    (III) Das Beschädigen oder Fällen von Kitunë-Bäumen ist verboten. Jedes Zuwiderhandeln ist mit Geldstrafe nicht unter 30.000 Velin zu bestrafen.
    (IV) Dieses Gesetz ist in seiner Geltungsdauer nicht beschränkt und verliert seine Geltung nur durch explizite Aufhebung.
    Gezeichnet zu Aberra am 50. Etrel 412 n. Rgr.
    - Auflistung der Namen der derzeitigen 6 Ratsmitglieder –


    Rat des Großreichs Okro und Rykis


    Infolge dieses Gesetzes wurden tatsächlich in den nächsten Tagen mehrere Dutzend Exemplare des Schwarzen Schlangenpilzes bei der Ratsresidenz abgegeben – das angedrohte Strafmaß bei Zuwiderhandlung war höher als jeder Schwarzmarktgewinn, den man möglicherweise hätte erzielen können. Mit dem Gegenmittel aus den Pilzen konnte die Ausbreitung der Krankheit in den nächsten Wochen eingedämmt werden. Dennoch ließ sich der Rat noch länger genauestens Bericht erstatten, ob nicht doch noch irgendwo jemand mit den Symptomen der Krankheit herumlief, und auch das Gesetz hob er nicht auf. Pilze hatten die Aberraner jedoch nur bis etwa eineinhalb Wochen nach dem Aushang zur Residenz gebracht – danach waren entweder alle abgegeben worden oder diejenigen, die noch welche auf ihren Bäumen hatten, wagten es nicht, sie auszuhändigen, aus Furcht, sie würden des mutwilligen Zurückhaltens bezichtigt werden – man wusste es nicht. Im Laufe der Zeit rückte die Krankheit aus der öffentlichen Diskussion, da keine neuen Fälle mehr auftraten. Und das Gesetz bestand weiterhin und geriet schnell in Vergessenheit. So überdauerte es viele Ratsperioden und mehrere Herrscherhäuser.


    Im Jahr 701 n. Rgr. beschäftigte sich das Aberraner Stadtplanungsbüro mit dem geplanten Ausbau mehrerer Regierungsgebäude, was sich wie immer äußerst problematisch gestaltete. Schon seit langem verfolgte man die Strategie, die Hauptstadt niemals so zugestopft werden zu lassen wie das chaotische und unkontrolliert wachsende Ryn, die größte Stadt des Landes. Standen Erweiterungen im Regierungsviertel an, hatte man daher immer Gebäude, die dem Plan „im Weg“ standen, abreißen lassen und, wenn Wohnhäuser oder Geschäfte weichen mussten, den Betroffenen wenigstens einen Ort zur Neuansiedlung vorgeschlagen. Die Bevölkerung war von dieser Vorgehensweise natürlich alles andere als begeistert. Der Ausbau im Jahr 701 n. Rgr. sah unter anderem vor, fünf Wohnhäuser im Süden des Regierungsviertels zu beseitigen. Allerdings hatten die Stadtplaner die Rechnung ohne den Historiker und Rechtsgelehrten Edris Keltanas gemacht, der in einem der „störenden“ Häuser wohnte – und in dessen Ziergarten, der seit Generationen das Grundstück schmückte, eine Kitunë wuchs. Er hatte als Kind von seinem Großvater erzählt bekommen, wie einst eine furchtbare Krankheit aus fernen Landen die Stadt heimgesucht hatte, die nur mit dem sonderbar aussehenden schwarzen Pilz, wie einer im Garten wuchs, hatte bekämpft werden können. Und dass man die Pilze einem uralten Gesetz zufolge eigentlich gar nicht besitzen dürfe, woran sich heute aber keiner mehr halte.


    Als Keltanas sich an diese Geschichte erinnerte, eilte er sofort in die aberranische Staatsbibliothek, um nach inem Dokument zu suchen, in dem es um diese Bäume und Pilze ging. Nach drei Tagen der Recherche fand er schließlich in einer alten Mappe mit Ratserlassen eine Abschrift des Eilgesetzes aus dem Jahre 412. Prompt marschierte er ins Stadtplanungsbüro und knallte dem Verantwortlichen das Gesetz auf den Tisch und trug vor, dass sein Haus nicht dem neuen Regierungsbau weichen könne, weil dafür die Kitunë gefällt werden müsste. Der Beamte machte große Augen und tat das Ganze mit dem Argument ab, das Gesetz sei zwischenzeitlich doch sicher längst aufgehoben worden. Mehrere Wochen der Recherche vergingen – doch das Gegenteil beweisen konnte er nicht. Im Rat brach die Diskussion darüber aus, warum man das Gesetz nicht einfach mit sofortiger Wirkung abschaffe, doch die Stadtbewohner, der Abrissaktionen leid, hatten sich längst auf die Seite von Keltanas geschlagen und zu verstehen gegeben, dass sie sich bei der nächsten Ratswahl entsprechend „bedanken“ würden, beseitige der Rat einfach ein bestehendes Gesetz, das er jahrhundertelang übersehen habe, jetzt allein aus dem Grund, weil es ihm politisch nicht in den Kram passe.


    Die ganze Geschichte verursachte einen derartigen Aufruhr in der Stadt, dass sich der Rat schließlich geschlagen gab, das Gesetz nicht aufhob und sich für eine Variation des Ausbauplans entschied, die keine Abrisse vorsah. Und das Gesetz ist heute, im Jahr 734 n. Rgr., noch immer in Kraft, denn fortan wagte keiner mehr im Rat, seine Aufhebung anzusprechen, denn das, was im Jahr 701 geschah, liegt noch nicht weit genug zurück, als dass sich keiner mehr daran erinnern und den Aufruhr von damals wiederaufleben lassen würde. Dafür aber ist es in den Straßenzügen, die an das Regierungsviertel angrenzen, in Mode gekommen, sich Kitunë-Bäume in den Garten zu holen.

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    62-Baum-Gesetz
    © Taipan


    Erben war schon immer eine recht komplizierte Angelegenheit in Haagest. Was wurde vererbt, zu welcher Gesellschaftsschicht, Volksgruppe und Geschlecht gehörten Verstorbener und Erbe. Ja sogar in welchem Jahr ein Testament verfasst wurde, galten doch Verträge, die zum Beispiel während eines Pestjahres verfasst wurden, nur bedingt als rechtsgültig. Da war das 62-Baum-Gesetz nur eines von jenen zahlreichen rechtlichen Besonderheiten, die vor allem den Erben von großem Grundbesitz das Leben schwer machen können. Die meisten rechtlichen Besonderheiten, die wie das 62-Baum-Gesetz noch aus der Gründerzeit stammten, wurden im Laufe der Geschichte ausgemerzt. Wahrscheinlich hat der schlechte Ruf der Karnells, eines der wichtigsten Adelshäuser von Haagest, dafür gesorgt, dass es niemals ernsthaften Bestrebungen gegeben hat, das Gesetz abzuschaffen. Heute ist es praktisch unbekannt, wird aber zuweilen von findigen Rechtsgelehrten ausgegraben, wenn es bei Erbschaftsstretigkeiten um größeren Grundbesitz geht.


    Zu viele Bäume – das Gesetz


    Das 62-Baum-Gesetz verbietet es Grundbesitz an eine einzelne Person zu vererben, auf dem sich insgesamt 62 Karnellbäume oder mehr befinden. Sollte dies zutreffen, wird das gesamte Erbe an Grundbesitz in zwei flächen-, nicht wertgleiche Hälften geteilt, von denen der eigentliche Erbe eine Hälfte enthält, die zweite fällt auf den nächsten Erbberechtigten, der bei der Erbschaft leer ausgegangen wäre. Sollten sich auf einem der Hälften wieder 62 Karnellbäume befinden, wird wieder geteilt, bis die Anzahl der Bäume unter 62 sinkt. Gibt es keine Erbberechtigten mehr, fiel der Grundbesitz zur Gründerzeit dem Auir-Handelshaus zu, zur Königszeit der Königin bzw. dem König und heute geht es in den staatlichen Besitz über. Wie die Grundstücke aufgeteilt werden, entscheidet der Richter. Als Karnellbäume gelten nur jene, die mindestens zwei Meter hoch sind, um nächtliche Umsetzaktionen zu erschweren.


    Karnellbaum und Ycive-Verschwörung – Historischer Hintergrund


    Die Wurzeln des 62-Baum-Gesetzes gehen weit zurück, nämlich bis zum Jahr 602 n. MF, und tatsächlich spielt der Karnellbaum – damals noch unter dem Namen Stinkleede bekannt – eine wichtige Rolle. Zu dieser Zeit war der an und für sich unscheinbare Baum noch sehr häufig und prägte vor allem die Vegetation entlang des Ycive. Doch aus dem Bast können findige Alchemisten ein praktisch geschmackloses Gift – Isterawasser genannt – herstellen, das nur in Verbindung mit Alkohol seine tödliche Wirkung entfaltet und auch das erst mehrere Stunden nach der Einnahme. Das Wissen um das Gift war in der Gründerzeit praktisch nur den Bindin bekannt, und die gaben es schließlich an Mitglieder des Adelshauses Karnell weiter, das vor allem am Oberlauf des Ycive großen Landbesitz hatte und dort auch heute noch die bedeutendste Adelsfamilie ist.


    Als ein ehrgeiziges Haus, deren Angehörige Intrigen wie Muttermilch eingeflößt bekommen – so der Volksmund – nütze Raete von Karnell den Senaikrieg (586-601 n. MF) aus, den das Handelshaus Auir und dessen Verbündete zwar gewonnen hatten, allerdings unter schweren Verlusten. Doch die Karnells erklärten den Auir 602 n. MF nicht einfach den Krieg, sondern wollten zuerst einen großen Teil des mächtigen Handelshauses nachhaltiger auslöschen, und zwar der Legende nach mit 62 Fässern des besten Weins ihrer Weingüter, die sie Norkarele von Auir zum Geschenk machten und die zu deren Geburtsagfeierlichkeiten auch ausgeschenkt werden sollten. Der Wein war natürlich mit Isterawasser versetzt, was man wegen der verzögerten Wirkung aber viel zu spät bemerkte. Mindestens 20 hochrangige Mitglieder des Auir-Handelshauses fielen dem Anschlag zum Opfer, aber auch viele deren Verbündeten und auch einige Verbündete der Karnell, die das Pech hatten, eingeladen worden zu sein. Dass einige Teile dieser Legende nicht ganz der Wahrheit entsprechen können, zum Beispiel hatten die Karnell damals noch nachweislich keinen Weinbau betrieben – doch der Ausgang des später als Ycive-Verschwörung bekannten Anschlags ist historisch belegt. Das Auir-Handelshaus war praktisch dazu gezwungen den Karnells den Ersten Ycive Krieg (602-624 n. MF) zu erklären, den sie nach 22 Jahren auch gewannen, nicht zuletzt deshalb, weil einige Verbündete der Karnells entsetz von dem Anschlag zu den Auir überwechselten. Nur knapp entgingen die Karnells ihrer Vernichtung und durften sogar ihre Besitztümer behalten – das war eine Bedingung für die Kapitulation.


    Um die Karnells trotzdem zu bestrafen und vor allem zu schwächen – und im Gedenken an die 62 Fässer mit dem vergifteten Wein – wurde das 62-Baum-Gesetz beschlossen. Zuerst traf dieses die Karnells hart, war doch der Karnellbaum einer der häufigsten Bäume auf ihren Ländereien. Sie wurden gezwungen ihren Besitz – nicht nur Waldbesitz – in winzige Teile aufzustückeln und nicht nur die entferntesten Verwandten als Erben einzusetzen, sondern auch ganz normale Bürger, ja sogar treue Dienstboten. Zwar versuchten die Karnells ihren Besetz wieder zurück zu kaufen – dies war schließlich nicht verboten – doch das trieb die Familie immer mehr in den finanziellen Ruin. Bevor das Haus gänzlich verarmte begannen einige Karnells ihre Grundstücke systematisch nach Karnellbäumen abzusuchen und jeden gefundenen umgehend zu fällen und meist gleich vor Ort zu verbrennen, egal wie abgelegen und unzugänglich das betreffende Gebiet auch sein mochte. Bereits 30 Jahre später war der Karnellbaum entlang des Ycive praktisch ausgerottet und die Karnells planten bereits ihren Rachefeldzug gegen die Auir.


    Das 62-Baum-Gesetz heute


    Kaum jemand ist seither auf den Gedanken gekommen, dieses doch recht sonderbare Gesetz abzuschaffen. Es findet sich nämlich sogar im Codex Aletare wieder, der praktisch hundert Jahre später verfasst wurde und noch heute die Grundlage der Haagester Rechtsprechung bildet. Dies ist auch der Grund, warum es über den meisten anderen Erbgesetzen steht, denn alle (noch existierenden) Gesetze des Codes Aletare stehen über jedes später entstandene Gesetz. Nicht einmal die Karnells änderten es, als ihnen 830 bis 847 n. MF. die Krone von Haagest in die Hände fiel, was aber wohl daran lag, dass sie damals mit einigen Aufständen und einem drohenden Bürgerkrieg genug beschäftigt waren. Das 62-Baum-Gesetz hat übrigens neben dem Karnellbaum auch andere Opfer gefordert. So verfügen das Alte Haus Harasalan und die Neuen Häuser Buuren, Despin und Hokbel wegen diesem heute über praktisch keinen Grundbesitz mehr.


    Heute gibt es so gut wie keine Erbbegehungen mehr – die letzte fand 1428 n. MF statt, also vor acht Jahren und endete nach einem monatelangen Streit, bei dem ein ganzes Heer von Botaniker von beiden Seiten beschäftig wurde, damit, dass das Testament für nichtig erklärt wurde und beide Streitparteien leer ausgingen – doch schon allein die Androhung kann ausrechen, dass man sich bei Erbstreitigkeiten schnell einig wird, aber selbst das kommt sehr selten vor. Der Vorfall vor acht Jahren hat aber dafür gesorgt, dass das Gesetzt wieder in das Bewusstsein der Rechtgelehrten gerückt ist und langsam scheint es sich abzuzeichnen, dass es doch noch mit der nächsten Gesetzesreform fallen könnte.

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    Das alte "Tugis-Gesetz"
    © Moordrache


    Es folgt ein – verkürzter – Auszug aus den umfangreichen Reiseberichten eines Kaufmanns und Abenteurers, dessen Name nicht genau überliefert ist, der aber weit in der Welt herumgekommen war. Darin befasste er sich oft sprunghaft und ausschweifend mit Themen, welche die Herrscher seiner Heimat als eher belanglos einstufen würden; allerdings hat er seine Berichte auch nie offiziell in deren Auftrag verfasst. Heute – fast einhundert Jahre nach dem tragischen Tod des Autors während seiner Rückkehr in die Heimat – sind die Berichte in der Bibliothek seiner Heimatstadt Ims öffentlich einsehbar. Cyum befindet sich übrigens weit südlich des Äquators, Ims dagegen etwa genauso weit nördlich von ihm auf einem anderen Kontinent.


    Weit, weit im Süden, nicht fern des südlichsten Endes aller bekannten Kontinente, am Fluss Rûve liegt die Stadt Cyum: Nie war es mir vergönnt, eine größere, prächtigere und umtriebigere Stadt zu erblicken! [...] Cyum ist die Hauptstadt des stolzen Cyumischen Reiches, das seit schon weit über zweitausend Jahren beinahe unverändert existiert – von einigen Grenzveränderungen meist positiver wie – seltener – auch negativer Art und anderen variablen Kleinigkeiten während dieser langen Zeit einmal abgesehen. Annähernd genauso alt wie das Cyumische Reich ist das ausgeklügelte Staats- und Rechtswesen Cyums, was sich darin zeigt, dass manche Gesetze aus jener Anfangszeit vor fast zweitausend Jahren noch heute Gültigkeit haben oder nur wenig geändert wurden. Einige Gesetze sollen sogar noch älteren Ursprungs sein und stammen aus einer einige hundert Jahre währenden Zeit, als die Herrschenden von Cyum sich noch Könige nannten und nicht fürchten mussten, vom Ältestenrat oder gar vom Volke selbst abgewählt zu werden, wie es heute möglich ist. Ja, geschätzter Leser, Eure Sinne täuschen Euch nicht, es ist wahr, in Cyum gibt es seit bald zweitausend Jahren keine Könige mehr! Auch wenn dies manchen Leser verwundern mag, aber diese Methode scheint zu funktionieren, wie die lange Geschichte des Cyumischen Reiches beweist. Allerdings liegt das sicher auch in nicht unerheblichem Maße an den Cyumern selbst, und diese Art der Volksbeteiligung an der Regierung lässt sich daher wahrscheinlich niemals auf andere Völker anwenden. Auch mussten alle meine Gesprächspartner zugeben, dass ein Herrscherwechsel dennoch seltener stattfindet als wir es uns vielleicht zunächst vorstellen können; außerdem sind – wohl in weiser Voraussicht – die meisten Cyumer der niederen Schichten gar nicht berechtigt, an den Wahlen teilzunehmen.


    Doch die Herrscher und Ältesten sowie deren (Ab)Wahl werde ich in einem der nächsten Kapitel näher betrachten, möchte ich doch als erstes auch einige kuriose Auswüchse des Rechtswesens ansprechen.
    Zunächst aber, bevor ich dies Kapitel jenen Gesetzen widmen kann, muss ich noch ein wenig weiter ausholen. Der Zusammenhang wird sich dem geneigten Leser alsbald erschließen, er möge sich daher bitte noch ein wenig gedulden; ich verspreche, meine Ausführungen so kurz als möglich zu halten. Ein besseres Verständnis für die Situation in Cyum wird die erfreuliche Folge dieses thematischen Nebenschauplatzes sein, dessen Fortführung hier nun erfolgt:


    Schon seit der Zeit der Könige sind zwei weitere wichtige Merkmale des heutigen Cyumischen Reiches bekannt und wichtig und waren seither eher geringen Wandlungen unterworfen: Die Sklavenhaltung – wobei die Sklaven heutzutage deutlich mehr Rechte und Schutz genießen als noch vor zweitausend oder auch nur tausend Jahren, wie mir mehrfach versichert wurde – sowie der Cyumische Glaube, der sich im wesentlichen auf sechs Haupt- und unzählige Nebengötter stützt [...].


    Zu jedem Frühjahrsbeginn findet ein großes Fest zu Ehren jeweils einer dieser sechs Haupt-Gottheiten statt, so dass also jeder der Sechs einmal alle sechs Jahre in den Genuss dieser besonderen Ehrung kommt. Die Tradition der Cyumer kennt dabei ganz unterschiedliche Vorschriften und Riten, die sich nach den Vorlieben des betreffenden Gottes richten, so dass keines dieser Feste innerhalb von sechs Jahren einem anderen gleicht.
    Obgleich es kaum Verbindungen zwischen Sklaverei einerseits und dem Glauben andererseits gibt, berühren sich beide doch hin und wieder auf eigenartige Weise. Einer dieser Berührungspunkte ist eines der vorgenannten sechsjährlichen Feste, nämlich das zu Ehren des Gottes Tugis. Er wird vor allem seiner Weisheit, seiner Güte und Gerechtigkeit, aber auch seiner Kampfkraft und Zorneswut wegen verehrt und stellt den wichtigsten Gott Cyums dar (auf die Götter der Cyumer und einige ihrer offensichtlichen Widersprüche werde ich in einem späteren Kapitel ebenfalls noch näher eingehen). Es erscheint daher verständlich, dass die Cyumer es sich mit ihm nur äußerst ungern verscherzen wollen. So verwundert es vielleicht auch wenig, dass es – entgegen der sonstigen Angewohnheit der Cyumer, die Riten und Götter betreffenden Gebote den Tempeln und Priestern zu überlassen – sogar eigens einige Gesetze gab und noch immer gibt, die ausschließlich zu vermeiden suchen, den Zorn des Tugis zu erregen.


    Schon zur Zeit der Könige war es Tradition jedes Adligen und Reichen, zum Tugis-Fest – also alle sechs Jahre – einigen Sklaven die Freiheit zu schenken, was ihn nach Glauben der Cyumer besonders erfreuen soll. Damals hatten Sklaven noch den Status billigster Massenarbeitskräfte inne und genossen nur wenige Rechte und kaum Schutz. Der Verlust eines oder einiger weniger Sklaven fiel im Geldbeutel der Adligen und Reichen also kaum ins Gewicht.
    Heute sieht dies allerdings anders aus. Sklaven sind seltener geworden, müssen von ihren Herren pfleglicher behandelt werden – ja, sie dürfen üblicherweise nichtmal geschlagen werden – und sind vor allem deutlich teurer geworden, jedoch immernoch billiger als gut ausgebildete Diener und Arbeiter aus der Bürgerschicht, einmal ganz davon abgesehen, dass ohne die Sklaven gar nicht genug Arbeitskräfte zur Verfügung stünden, um alle anfälligen und teils auch unangenehmen Arbeiten in Cyum zu erledigen.


    Da sich die Adligen und Reichen – zwischen deren Stände es in Cyum kaum rechtliche Unterschiede gibt – in den vergangenen Jahrzehnten immer häufiger dagegen gesträubt haben, ihren Beitrag zum Freilassen der Sklaven zu leisten, wurde vom Ältestenrat der Stadt eigens ein Gesetz erlassen, das alle Großgrundbesitzer dazu verpflichtet, mindestens einem Sklaven zum Tugis-Fest die Freiheit zu schenken. Der Begriff "Großgrundbesitzer" wiederum ist in einem anderen Gesetz genauestens festgelegt und erfasst viel eher den Wert des Landbesitzes als dessen tatsächliche Größe; und Reichtum wird in Cyum fast ausschließlich am Land- und Gebäudebesitz festgemacht.
    Dieses Gesetz erfuhr bereits wenige Jahre später einige Erweiterungen, da findige Adlige und Reiche oftmals nur alte, gebrechliche, kranke oder ohnehin kurz vor ihrer Freilassung stehende Sklaven für diesen Zweck verwendet haben, oder besonders billige – weil ungelernte und dumme – Sklaven nur hierfür gekauft haben. Insbesondere die Herrscher fürchteten wohl den unberechenbaren Zorn des Tugis, wenn ihm zu Ehren nur unnütze Sklaven freigelassen würden.


    So muss seit diesen Gesetzesänderungen ein Sklave, der zum Tugis-Fest freigelassen wird, mindestens seit acht Jahren im Dienste seines Herren gestanden haben, aber darf höchstens drei Tugis-Feste während seines Dienstes unter diesem Herren miterlebt haben, was also achtzehn bis dreiundzwanzig Jahren entspricht. Da Sklaven – sofern sie nicht straffällig geworden sind – meist erst nach dreißig Dienstjahren freigelassen werden, sind die Tugis-Sklaven gewöhnlich noch weit von ihrer Nutzlosigkeit wegen zu hohen Alters entfernt. Zudem sind sie nach acht Dienstjahren so gut angelernt, dass ihre Herren kaum noch auf sie verzichten können und sie einen gewissen Wert darstellen. Auch der Austausch von Sklaven unter den verschiedenen Reichen oder Adligen, um überhaupt keine Sklaven zu haben, die in diesen zeitlichen Rahmen fallen (denn es zählen immer nur die Dienstjahre unter ein und demselben Herren), schadet mehr als er hilft, denn auch beim Tauschen oder bei Schenkungen fällt in Cyum die Sklavensteuer an, und die ist nicht niedrig. Wechselt kein Geld oder offensichtlich zu wenig Geld den Besitzer, schätzen die Beamten den Wert des betreffenden Sklaven – und gehen dabei stets sehr großzügig mit den Zahlen um. Außerdem fürchten manche wohl auch, dass die Sklaven das eine oder andere Geheimnis seines alten Herrn an den neuen Herrn weitergeben könnten.


    Angesichts dessen, dass sich, außer den reichsten unter den Reichen, die meisten (nach dem Gesetz) Großgrundbesitzer nur drei bis sechs Sklaven leisten können – jene mit nur einem oder zwei Sklaven sind per Gesetz von der Pflicht zur Freilassung befreit, gelten aber ohnehin meist nicht als Großgrundbesitzer – stellt der erzwungene Verlust eines Sklaven alle sechs Jahre auch einen herben finanziellen Verlust dar, da der fehlende Sklave ja durch einen annähernd gleichwertigen ersetzt werden muss. Doch die Obrigkeit – die kurioserweise von den Adligen und Reichen ja selbst gewählt wird – ist da unerbittlich.
    Die meisten Betroffenen haben sich inzwischen in ihr Schicksal gefügt und folgen zähneknirschend dem besagten Gesetz.


    Aber einige findige Rechtsbeistände – oh ja, diesen Beruf gibt es in Cyum tatsächlich, was mir angesichts der vielen cyumischen Gesetze auch sinnvoll erscheint; und die Fähigsten unter ihnen gelten selbst als reich – haben ein uraltes Gesetz entdeckt, das noch aus dem Ende der Königs-Zeit stammt, also beinahe zweitausend Jahre alt ist. Dies Gesetz wurde niemals abgeschafft oder im für diesen Fall wesentlichen Punkt geändert. Und hier beginnt das eigentliche Kuriose der cyumischen Gesetze. Denn auch dieses Gesetz – das ich mangels besserer Kenntnis hier einmal als "altes Tugis-Gesetz" bezeichne – behandelt die Opfergabe und Freilassung der Sklaven zu Ehren des Tugis. Doch damals war es offensichtlich eher noch notwendig, die Zahl der freigelassenen Sklaven einzuschränken. Offenbar fürchteten die Könige damals eine unkontrollierbare Schwemme von Freigelassenen alle sechs Jahre. Außerdem führte die Freilassung von Sklaven einiger bestimmter Adliger zu einem großen Unglück, dem letztendlich auch das Ende der Königs-Zeit einige Jahrzehnte später zugeschrieben wird. Angeblich soll Tugis über jene Freigelassenen besonders erzürnt gewesen sein, denn sie trugen ein – freilich damals noch unerkanntes – Makel an sich.


    Leider wurden mir dazu mehrere verschiedene Berichte gegeben, die dem Wesen und der Bedeutung eines Berichts kaum gerecht werden, doch ich versuche, aus alle dem die mir am wahrscheinlichsten erscheinende und glaubhafteste Version zusammenzufassen:


    Schon seit der Gründung der Stadt Cyum glauben ihre Bewohner, dass eine bestimmte Pflanze schweres Unglück über die Stadt, das Reich und – vor allem – den Besitzer des Grundes, auf dem sie wächst, bringt. Diese Pflanze zeigt nach meist zweijährigem Wachstum schwarze, kelchförmige Blüten und bildet später ebenso schwarze Früchte, die den Beschreibungen nach, die mir gegeben wurden, wohl in etwa kleinen Kirschen ähneln. Sie wird in Cyum frei übersetzt "Pestbote" oder auch "Todesbote" genannt. Dummerweise gibt es eine zweite Pflanze, die von jener schwarzblühenden vor der Blüte nicht zu unterscheiden ist. Deren Blüten sind jedoch meist blau oder violett, und sie gilt als heilige Blume einer der anderen Gottheiten, weshalb sie nicht gerodet werden darf, und damit, der Ähnlichkeit und Verwechselbarkeit wegen, auch nicht der "Todesbote". Diese Unglücksblume kann erst entfernt werden, wenn die schwarze Blüte zu sehen und so eine Unterscheidung möglich ist.


    Nun trug es sich zum vorhin erwähnten Tugis-Fest noch zur Zeit der Könige zu, dass in einigen Gärten und auf einem Acker mancher Adliger dieser "Pestbote" unentdeckt blieb oder vielleicht auch nur ignoriert wurde, obwohl sich die Blüten üblicherweise wenige Tage vor dem Tugis-Fest öffnen. Bezeichnenderweise wurden, so wurde mir versichert, ausnahmslos alle freigelassenen Sklaven genau dieser Adligen wenige Tage nach dem Tugis-Fest schwer krank und starben schließlich einen qualvollen Tod. Und so wurde das Tugis-Fest und das Opfer – die Freigelassenen – natürlich entweiht. Schon mit dem Tod der ersten Kranken soll die Erde nahe Cyums schwer gebebt haben, was als sicheres Zeichen des göttlichen Zorns gedeutet wurde.


    Auch die betroffenen Adligen wurden von schweren Unglücken heimgesucht, doch verliefen diese noch vergleichsweise glimpflich ab; es gab keine Todesopfer oder schlimmeres zu beklagen. Man mutmaßte den Grund dafür damals darin, dass die "Todesboten" inzwischen entfernt worden waren. Mir selbst erscheint das unsinnig. Warum sollten die Sklaven, die jene Todesboten seit Tagen nicht mehr gesehen haben, sterben, und jene Sklaven, die sie zweifellos beseitigt haben, zwar erkranken, aber wieder gesunden? Aber erklärt dies einmal einem Cyumer – oder besser: versucht es nicht, wenn Ihr keine Tracht Prügel und übelste Beschimpfungen ernten wollt!
    Wie dem auch sei: In Cyum hatte man die Schuldigen gefunden. Da schon damals rasch der Verdacht aufgekommen war, dass einige der Adligen die "Todesboten" wider besseren Wissens zunächst nur ignoriert statt ausgerottet haben, wurde ein Gesetz erlassen, das einerseits die Entfernung der "Todesboten" vorschreibt und andererseits den Adligen, bei denen diese kurz vor dem Tugis-Fest ihre Blüten geöffnet haben, die Freilassung von Sklaven zu jenem Fest streng verbietet. Damit sollte wohl verhindert werden, dass wegen dieser Unglücksblume todgeweihte Sklaven den Gott erneut erzürnen können.


    Wie schon erwähnt, endete bald darauf auch die Zeit der Könige, nachdem deren Heere empfindliche Niederlagen hinnehmen mussten und das Reich erheblichen Landbesitz verloren hatte. Dies alles wurde auf den Zorn Tugis ob der verseuchten Sklaven zurückgeführt. Natürlich mochte man ein ähnlich schreckliches Schicksal dem neuen – und noch heute gültigen – Staatswesen, das nach einigen Jahren des führungslosen Daseins folgte, vermeiden, weshalb das vorgenannte "alte Tugis-Gesetz" nie abgeschafft wurde.


    Heute inzwischen sind die Cyumer weit weniger abergläubisch – behaupten sie jedenfalls – als damals, und das alte Gesetz kennt heute kaum noch jemand, selbst im Ältestenrat soll es viele geben, denen es unbekannt ist (was wohl auch eine Erklärung dafür sein könnte, dass es nicht abgeschafft wird; und natürlich die Tatsache, dass im Ältestenrat auch jene vertreten sind, die sich nun auf dieses alte Gesetz berufen, um keine Sklaven freilassen zu müssen). Auch wird um jene Adlige und Reiche, die sich auf das alte Gesetz berufen, seitens der zuständigen Beamten kein großes Aufhebens gemacht; vermutlich, damit sich die Existenz dieses Gesetzes nicht zu weit herumspricht und womöglich bald überhaupt keine Sklaven mehr freigelassen werden. Ein wenig Aberglaube scheint also – insbesondere im Kreise der Herrschenden und der Beamten – immer noch vorhanden zu sein, trotz aller gegenteiligen Behauptungen.


    Eigenartig ist nur, dass immer nur vor dem Tugis-Fest in manchen Gärten, Höfen und auf anderen Ländereien von Großgrundbesitzern solche "Todesboten" entdeckt werden – so gut wie nie aber in den anderen Jahren oder auf den Äckern von Cyumern, die nicht als Großgrundbesitzer gelten; zumindest soweit ich das aus den Erzählungen herausgehört habe. Es war ohnehin schon schwer genug, von den Cyumern überhaupt etwas über diese eigenartigen Gesetze zu erfahren.


    Und obgleich ich den Verdacht hege – den ich aber gegenüber meinen cyumischen Gastgebern nie offen auszusprechen wagte –, dass die "Todesboten" speziell zu diesem Zwecke irgendwo im Verborgenen ausgesät und dann rechtzeitig in die gewünschten Gärten gepflanzt werden – sicherlich für den einen oder anderen ein guter Nebenverdienst, und für die Adligen dennoch günstiger, als den Sklaven zu verlieren –, scheint ihr regelmäßiges, "geheimnisvolles" Auftauchen kein nennenswertes Unglück mehr zu bringen.


    Mir selbst war leider nicht vergönnt, solch eine Pflanze mit eigenen Augen zu sehen – es mag daran liegen, dass ich nicht während eines Tugis-Festes in Cyum weilte. So kann ich nicht sagen, ob die Blüten tatsächlich völlig schwarz sind, was ich mir kaum vorstellen kann. Einer meiner späteren Gastgeber in Cyum behauptete, die "Todesboten" seien bereits innerhalb der ersten paar Jahrhunderte nach dem Ende der Königs-Zeit vollständig ausgerottet worden. Offensichtlich wusste er nichts von jenem alten Gesetz und dessen Nutzen für einige der heutigen – und ganz sicher auch der zukünftigen – Adligen und Reichen. Oder wollte er das nur nicht zugeben?
    Ebenso war es mir leider nicht vergönnt, jene Gesetze mit eigenen Augen zu lesen – ganz davon abgesehen, dass ich die Cyumische Schrift nur unzureichend kenne –, aber die Cyumer halten alle Gesetze, die nur sie selbst betreffen, gegenüber Fremden unter strengem Verschluss. Der Grund dafür ist mir schleierhaft.


    [... an dieser Stelle folgt im Original-Bericht ein weiteres, hierfür unwichtiges Beispiel eigenwilliger Gesetzgebung in Cyum ...]
    Der werte Leser mag nun besser verstehen, wie ein derart altes, vom gemeinen Volk mitgestaltetes Rechtswesen – so bewährt es auch in vielen Bereichen sein mag – auch seine Schattenseiten haben kann. Wir sollten daher nicht in Versuchung geraten, das Cyumische Staats- und Gesetzwesen zu kopieren. Es kann nur schiefgehen. [...]

  • << WBO 2008
    Der Schneidereid von Ichera
    © Mara


    In Ichera sind Städte wie Fremde an Paraden gewöhnt. Jedes Jahr marschieren die Gardetruppen des Herrschers von ihrer Kaserne zum Hafen und begrüßen dort das Schiff ihres Lehnsherren, der symbolisch mit dem Fluss verheiratet wird, dem er seinen Namen verdankt. Wann immer ein Herrscher stirbt und ein neuer antritt, so können gleich alle Arten von Vasallen sich auf den Marsch durch die Stadt der Stufen machen.
    Eine der vielen berühmten Paraden und Festivitäten sticht jedoch gleich auf mehrere Art und Weise aus der Masse solcher Veranstaltungen hervor. Zunächst sind es keine Militärs, keine Leibwächter und auch ansonsten keine Leute, die man als direkte Vasallen des Herrschers sehen würde – und doch werden ihnen alle Rechte des Militärs zugestanden. Die Straßen und Rampen werden gesperrt, ihnen ziehen Musiker voran und alle Verandaglocken entlang des Weges werden am Windspielklöppel mit leuchtend bunten Wimpeln verziert. Der Rest der Stadt legt die Arbeit nieder und säumt schreiend und jubelnd den Weg und die Marschierenden verbringen auch nach Parade und Audienz beim Herrscher die ganze Nacht bei Feierlichkeiten im Palast, die jedoch ansteckend bis in die anderen Stufen und Terrassen überfließen und überall Lesungen, Theater und Lichterfeste nach sich ziehen.
    Aber es sind keine kräftigen jungen Soldaten, die da vom untersten Viertel bis hin zum Palast marschieren. Viele von ihnen sind sogar schon ausgesprochen alt und werden von Familienmitgliedern die vielen Rampen und Treppen hinauf begleitet. Und sie tragen keine Waffen, sondern ein jedes Familienoberhaupt hat einen strahlend klar gefärbten und kunstvoll bestickten altmodischen Militärmantel über den Armen drapiert.
    Alle fünf Jahre – zuweilen auch in kürzeren Abständen – marschieren die Schneider Icheras mit Mänteln zum Herrscher und er ist verpflichtet, jeden davon zu kaufen.


    Der Mantel als Herrschaftssymbol


    Der Mantel hat als Wolat, Merkwort für den Buchstaben W, seinen Weg in das Alphabet amaTheras gefunden, und das zurecht. Schließlich ist seit Theranischer Zeit der rechteckige bestickte Schultermantel mit Scheibenfibel ein Zeichen herrschaftlicher Würde in den südselwe'schen Flusseinzugsgebieten. Im Rückgriff auf theranische Zeit hat sich der moderne Herrscher seither auch diesen Mantel als Symbol seiner Position und Macht zu eigen gemacht. Dass sich das bis heute gehalten hat, ist vermutlich auch mit ein Verdienst der Schneider und der Tradition, alle fünf Jahre die schönsten Exemplare eben dieser Mäntel zum Palast zu bringen.
    So bietet der Herrscher auch heute ebenso eine anachronistische Erscheinung wie auch seine Leibgarde und ist regelrecht verpflichtet, die antike Tracht weiterhin in der Öffentlichkeit zu zeigen. Speziell am derzeitigen Herrscher, Akuiren III, wirkt dies jedoch noch etwas verwirrend, da er mit gerade mal zwölf Jahren zu klein für die ererbten Mäntel seines Vater ist und noch die Fünfjahresfrist für die Überreichung der nächsten Mäntel ist seither noch nicht verstrichen und tatsächlich hat sich ein Herrscher zu hüten, einen Mantel außerhalb der seltsam anmutenden Zeremonie zu erstehen.


    Der Treueeid der Schneider


    Die Tradition des Marsches basiert auf einem historischen Ereignis aus dem Jahr Hadraan Ossoonin (1245 Jahre vor dem heutigen Jahr Akuiren III Yinmacsath). Das amaTheranische Reich hatte sich zwei Jahre vorher östliche Provinzen von Arracii abgebissen und seither existierten beide Machtblöcke in einem missliebigen Waffenstillstand, doch die Absichten Hadraans, mit der Zeit weitere Stücke des Konkurrenten abzusprengen und einzugliedern, waren nur zu offensichtlich.


    Agenten Arraciis bekamen den Auftrag, den unliebsamen Herrscher zu ermorden und damit den Weg für den geistig wenig starken Sohn Harapuul zu machen, den man leichter unter Kontrolle zu bekommen hoffte. Als günstiger Moment wurde einer ausgesucht, an dem der amaTheranische Herrscher von möglichst wenig Wachen und ansonsten nur ungeübten Zivilisten an einem ohnehin schlecht bewachten Ort befand.
    Beste Gelegenheit boten daher die Zunftbesuche des Herrschers, der bei allen großen Vereinigungen seiner Hauptstadt regelmäßig einen Besuch pflegte, bei dem nicht nur die symbolischen Gegenstände der Herrschaft erstand – nicht nur Mäntel, sondern auch die gewürzten Brote der rituellen Speisen, Weine, Speereisen und Glocken – sondern seine Verbundenheit mit den Handwerkern zu zeigen versuchte. Die Schmiede und Glockengießer wurden als zu wehrhaft eingestuft und selbst Arraciihe haben zuviel Respekt vor den Göttern, um rituelle Speisen zu entweihen. Schneider jedoch wurden als harmlos eingestuft und so wurde das Attentat auf den Besuch bei der Zunft der Schneider gelegt, bei dem Hadraan die herrschaftlichen Mäntel erstehen würde.


    Womit die Attentäter aus Arracii nicht rechneten, war, dass ausgerechnet die überstolzen Schneider – die ja immerhin DAS Symbol für ihren Herrscher herstellten – sich mit allem, was sie hatten, für das Leben Hadraans einsetzen würden. Die eingeschlichenen Mörder, allesamt mit den zu der Zeit modischen schmalen Stoßdolchen ihrer Profession bewaffnet, sahen sich mit dem ersten Griff zur Waffe und dem ersten Schritt auf den Herrscher zu einer Menge empörter Schneider gegenüber, die jedoch mit nichts anderem bewaffnet waren als Mäntel.


    Durch die erst verwirrten, dann verärgerten sieben Attentäter starben eine ganze Reihe Schneidermeister oder wurden zumindestens verletzt, denn sie schlugen nicht nur Alarm, sondern warfen sich regelrecht auf die Mörder und warfen die unendlich kostbaren bestickten Stoffbahnen der Mäntel auf die Angreifer, um sie aufzuhalten.


    Hadraan entkam und in Folge gewährte er den Schneidern Icheras auf ewig ein besonderes Recht in seinem Staat: Sie leisten einen Treueeid auf den Herrscher amaTheras wie die Leibwache, immer für ihn einzustehen und sein Leben zu schützen – und alle fünf Jahre, wenn sie den Vorsteher der Zunft neu wählen (oder wenn einer vorzeitig verstarb und so neue Wahlen nötig sind), wird dieser Eid in einer prunkvollen Parade und Zeremonie erneuert. Bedingung war, dass ab nun die Überreichung der Mäntel in einem sicheren Rahmen im Palast stattzufinden hatte, aber dafür wurde das Privileg auf eine Parade mit allen Ehren vergeben. Und: ein jedes Schneiderstudio bringt einen Mantel, an dem teilweise die ganzen fünf Jahren zwischendrin gearbeitet wurde. Oft mit Perlen, Metallfaden und Applikationen regelrecht überkrustet hat der Herrscher die PFLICHT sie zu kaufen und der Schneider selber bestimmt dafür ohne Handeln, ohne Einwände den Preis.


    Tatsächlich ist es jedoch für die Schneider eine derart hohe Ehre, dieser Aufgabe nachzukommen, dass sie gerade zu lächerlich niedrige Preise verlangen. Sie präsentieren ihre Arbeit mit tiefer Verneigung, nennen den Preis, werden bezahlt und wenn sie es geschafft haben, ein prächtigeres Stück als der Nachbar abzuliefern oder den Preis eines anderen zu unterbieten, gesellen sich strahlend vor Stolz wieder unter den Rest der Schneider. Für den Rest des Tages sind sie Gast ihres Herrschers, in einem von Glocken gesäumten Saal, der von Wachen mit geweihten Speeren bewacht wird und wo die traditionellen Tiseth-Brote und Weine gereicht werden. Und wissen genau, dass die Herrsteller all dieser Waren nicht in Parade und persönlicher Audienz ihre Werke überreichen.


    Ihnen ist es zu verdanken, dass der Herrscher für einen Fremden im prachtvollen Mantel eine nahezu gottgleiche Gestalt abgibt – den wohl wehrhaftesten Schneidern des Reiches oder zumindestens den Nachkommen derselben.

  • << WBO 2008
    Das Himmelsauge von Tomeira
    © Sturmfaenger


    SELTSAME ZEICHEN


    Wer heute im gebirgigen Westen der Provinz Ostakin unterwegs ist wird vor allem im Sommer an vielen Hauswänden ein mit blauer Farbe gemaltes Zeichen sehen, oft verblasst und mit abblätternden Gold- und Silberverzierungen.


    Nach dessen Bedeutung befragt, werden einen die Einwohner erklären, daß es das das Himmels- oder Shoransauge ist, und die in den Bergen gefürchteten Unwetter fernhalten soll. Einmal aufgemalt wird es so lange nicht erneuert bis es von Wind und Wetter abgewaschen wurde.


    Die Leute werden einen dann fragen ob man denn schon einmal in Tomeira war. Dort in der Provinzhauptstadt findet sich nämlich die Antwort auf die Bedeutung des Symbols:
    Es handelt sich dabei um den stilisierten Grundriss des dortigen Shorantempels, den Stolz der Stadt.


    DIE NORM


    Die Tempel des Himmels- und Wettergottes sind normalerweise ein einziger Gebäudekomplex. Dieser ist oft von einem Platz oder baumlosen Park umgeben. Der Tempelgebäudekomplex hat vier Kuppeln: drei kleine, welche die drei Monde symbolisieren und eine große Hauptkuppel. Diese überspannt den eigentlichen Tempelraum und ist oft außen mit glänzendem Metall überzogen, während sie innen mit Wolkenmotiven oder Sternbildern und –konstellationen bemalt ist.


    DIE ABWEICHUNG


    Der Shorantempel von Tomeira ist anders.


    Der Gebäudekomplex hat keine drei Flügel sondern nur zwei. Es gibt nur zwei kleine Kuppeln auf jeweils einem dieser Tempelflügel, die große Kuppel in der Mitte fehlt zur Gänze. Eine dritte kleine Kuppel erhebt sich über dem freistehenden Torhaus des Tempelgeländes. Dort wo die Hauptkuppel sein sollte befindet sich kein Dach, sondern ein offener Innenhof, der zugleich der Tempelhauptraum ist.
    In der Mitte des Tempelhauptraums erhebt sich eine hohe Säule aus bläulichgeschecktem Wolkenmarmor. Die Säulenspitze befindet sich ungefähr dort wo bei einem regulären Tempel der höchste Punkt der Hauptkuppel wäre.
    Auf dieser Säule ruht eine kleine Plattform. Auf der Säulenplattform selbst steht eine mit Silber und Gold überzogene Shoranstatue, die beide Arme ausstreckt, als wolle sie den Himmel umfassen
    Der Rand zur der Säulenplattform dient zur Befestigung vieler langer blauer Stoffbänder dient, welche speichenförmig von ihr ausgehen und mit dem Dachrand des Tempels verbunden sind, sie bilden ein symbolisches Dach über den Tempelhauptraum.


    DANKBARE URSPRÜNGE


    Vor etwa siebzig Jahren unternahm der Provinzverweser Gacjôb Entaren eine Rundreise durch die Bergdörfer. Bei einem der dort üblicherweise heftigen Gewitter entging er nur knapp dem Tod durch einen Blitzschlag. Dies löste bei ihm den dringenden Wunsch aus, sich für sein Überleben bei Shoran zu bedanken. Statt einer Geldspende oder einer Pilgerreise machte er beim örtlichen Kriegsherren Hyessth all seinen Einfluss geltend um die Genehmigung für den schon lange ersehnten Neubau des Shorantempels zu erhalten.


    Zum Bauplatz wurde eine sanft ansteigende Fläche am Hang einer Bergflanke im Nordosten der Stadt bestimmt. Die Tempelrückseite würde sich dicht an die abfallende Flanke eines Berges schmiegen. Vom Tempeldach, welches von Anfang an begehbar geplant war, würde man allerdings über die Kuppe der Bergflanke hinabblicken und so einen relativ freien Ausblick nicht nur auf Tomeira sondern auch auf das Nachbartal haben.


    BAUBEGINN


    Der angesehene Architekt Pircan Orugno und drei weitere Baumeister wurden verpflichtet, einen typischen Shorantempel zu bauen. Dessen einzige Abweichung von der üblichen Norm sollte ein Aussichtssteg auf dem Tempeldach sein. Zwei Jahre nach der Genehmigung lagen alle Baupläne vor, und Bauplatz und Baumaterialen waren ausreichend vorbereitet.
    Wenige Monate nach Baubeginn begannen die Schwierigkeiten, die sich über die gesamte Bauzeit hinziehen sollten. Baumaterial, welches vor über einem Jahr bestellt worden war wurde nicht geliefert. Andere Ladungen wurden gestohlen oder waren fehlerhaft. Das gut abgelagerte Bauholz wurde von Schädlingen befallen und zu guter Letzt brachte ein leichtes Erdbeben eine gerade errichtete Wand zum Einsturz und begrub einen von Pircan Orugnos drei Baumeistern unter sich. Daraufhin hatten sie alle Mühe die Arbeiter zu halten, welche munkelten, das Bauprojekt stehe unter keinem guten Stern. Dank des redegewandten Shoranpriesters Iemko Sadneke und dessen Segnungen blieben sie dann doch. Sadnekes Charisma reichte jedoch nicht aus, um den Provinzverweser Gacjôb Entaren davon abzuhalten, ständig mit seinen Wünschen und Forderungen die Bauarbeiten zu stören. Da er derjenige war der das Ohr des Kriegsherren hatte mußten Pircan Orugno und seine beiden verbliebenen Baumeister ihm das Mitspracherecht einräumen, und er wollte für ‚seinen’ Tempel nur das Beste an Materialien und Wandverkleidungen.
    Monate vergingen. Dann wurde Kriegsherr Hyessth von Kriegsherr Tacsleq überfallen und der Geldhahn wurde übergangslos zugedreht. Alle verfügbaren Mittel flossen nun in das Hickhack zwischen den Kriegsfürsten. Dem fielen auch die eingesammelten und noch nicht ausgegebenen Spendengelder für den Tempel zum Opfer, die kurzerhand konfisziert wurden.


    NEUE PLÄNE


    Zu diesem Zeitpunkt standen die Grundmauern des Tempelhauptraums und die beiden Seitenflügel. Es war abzusehen daß der Bau nicht so weitergeführt werden konnte wie geplant. Eine Krisensitzung zwischen allen Beteiligten und die anschließende Prüfung weiterer Finanzierungsmöglichkeiten ließ den Reichsverweser ernüchtert zurück.
    Man beschloss auf den dritten Flügel zu verzichten. Die nötigen Materialien für die beiden kleinen Kuppeln welche die große flankieren sollten waren jedoch schon vor Ort, deshalb baute man zunächst diese weiter. Nach einiger Zeit waren beide Seitenflügel samt Kuppeln und der Unterbau des Tempelhauptraums fertig, jedoch hatte dieser immer noch keine Kuppel. Statt eines dritten Flügels mit Kuppel wollte man ein Torhaus bauen, auf dem die dritte kleine Kuppel thronen sollte.


    Die Versorgungslage der Provinzhauptstadt verschlechterte sich aber zusehends, und Pircan Orugno gingen die Steine aus. Da erinnerte man sich an die während der Invasion der Hornanden geschleifte Ruine der Festung Onerdum aus den alten Zeiten des Reiches, deren Steine man vielleicht als Ersatz verwenden könnte. Orugno reiste mit einem seiner Baumeister dorthin um ihre Eignung zu prüfen. Auf dem Weg dorthin wurde ihre Reisegruppe überfallen, Orugno selbst wurde tödlich verletzt und starb noch an Ort und Stelle, der Baumeister den er mitgenommen hatte erlitt einen Streifschuss und starb zwei Wochen später an Wundbrand.
    Nun war nur noch ein Baumeister übrig, Chetello Aniren war sein Name.


    Aniren war der jüngste und unerfahrenste der gesamten Truppe gewesen, und in Tomeira geblieben um den Bau der Tempelmauer zu beaufsichtigen. Er nahm nun notgedrungen die Zügel in die Hand und benutzte die aus der Festungsruine noch brauchbaren Steine um die Tempelmauer fertigzustellen. Als Kriegsherr Hyessth ein halbes Jahr später nach Tomeira zurückkehrte und hörte, daß ohne seine Erlaubnis die Steine einer Festung verwendet worden, die seine Vorfahren vor Jahrhunderten erobert hatten, ließ er Aniren gefangennehmen und nach der Ruine von Onerdum schaffen. Dort richtete er ihn eigenhändig für seine Anmaßung hin.


    FERTIGSTELLUNG


    Der Bau ruhte mehrere Jahre lang, bis Gacjôb Entaren und der Shoranpriester es wieder wagten, auch nur an seine Fertigstellung zu denken. Unter einem neuen Baumeister nahm der Tempel dann seine heutige Form an. Das Zentrum des Heiligtums in einem offenen Innenhof ohne Kuppel zu errichten war sehr unorthodox, für den Wettergott empfanden sie es jedoch als passende und zudem kostengünstigere Variante. In späteren Zeiten wurden dann die Säule samt Statue und das symbolische „Dach“ aus Stoffstreifen hinzugefügt. Bis zum heutigen Tage finden die Gottesdienste hier statt, es sei denn das Wetter ist wirklich sehr schlecht, dann weicht man in eine der Seitenkuppeln aus.


    Vom überkuppelten Torhaus zum Hauptgebäude führen zwei über den leicht ansteigenden Innenhof führende Treppen, welche in einem an Blitzmuster erinnernden leichten Zickzackmuster gebaut sind.
    Da die Hauptkuppel nie hinzugefügt wurde, und die Säule mit den Bändern an eine Pupille mit einer Iris erinnert die in den Himmel starrt, wurde der Tempel als Himmelsauge von Tomeira bekannt.
    Für hohe Feiern stellen sich Priester auf das begehbare Dach, und durch das Sternenfest, bei dem die Lichter in ganz Tomeira aus sind und nur an bestimmten Stellen Fackelschalen auf Dächern entzündet werden um die Sternbilder auf die Erde zu holen, ist Tomeiras Tempel seither weithin bekannt, und zieht viele Pilger an. Das hat der Stadt trotz des schlechten Starts wirtschaftlich einen Aufschwung verschafft, und bemerkenswerterweise wurde die Stadt seither auch von großen Unwettern verschont. Um von diesen Segen etwas abzubekommen haben die umliegenden Bewohner angefangen sich das Symbol des Tempels auf die Hauswände zu malen. Der Brauch ist mittlerweile weit verbreitet.


    community.weltenbastler.net/index.php?attachment/7822/

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