Saat des Zweifels
"Meine kleine Schwester kann das viel besser als du."
Sie fängt den Zweifel behutsam mit beiden Händen ein und lässt ihn zu den anderen in den nimmervollen Beutel gleiten. Aus dem Beutel dringt ein Wispern.
Die gesammelten erinnerten Zweifel schweigen nie. Doch sie zieht den Beutel zu und es wird still. Die Hexe steckt den schweren Beutel in ihre geräumige Tasche, die sie an ihr
Gewand genäht hat. Dort raschelt er zwischen den leeren Nussschalen, Knöchelchen und getrockneten Beeren, die sich im Laufe der Zeit in der Tasche angesammelt haben.
In aller Ruhe erhebt sie sich und geht auf ihren knorrigen Stock gestützt in den Garten. Draußen wird es schon dunkel. Die Vögel zwitschern einander leise in den Schlaf.
Kruitruna findet sich ohne Probleme im Dämmerlicht zurecht. Sie hat hier so lange gelebt, sie kennt jede Wurzel, jeden Stein und jede Dornenranke.
Hinten im Garten hat sie einen Ring aus Steinen gelegt. Im Inneren des Rings wachsen duftende Kräuter. Jedes hat seinen Platz.
Die Hexe nimmt ihren Stock und bohrt innerhalb des Steinrings wo noch Platz ist, einige Löcher in die bereits gelockerte Erdschicht.
Den Stock rammt sie neben sich in den Boden und holt nun den Beutel wieder hervor.
Vorsichtig greift sie in den kaum geöffneten Beutel und zieht etwas heraus. Sie hockt sich nieder und drückt den Zweifel in eins der Löcher.
Eh der Zweifel entfleuchen kann, füllt Kruitruna das Loch mit Erde auf. Wieder und wieder findet ein Zweifel einen neuen Platz, bis alle Löcher gefüllt und verschlossen sind. Den nun federleichten Beutel steckt sie wieder in die Tasche.
Kruitruna erhebt sich, nimmt den Stock und geht gemächlich zurück zu ihrem Häuschen, um den nächsten Gegenstand zu holen, den sie für die Aussaat benötigt. Die Kanne.
Die ist nicht mit gewöhnlichem Wasser gefüllt, sondern mit Tränen, die Kruitruna über die Jahre genauso angesammelt hat, wie die Zweifel.
Wieder steht Kruitruna vor dem Ring aus Steinen. Sie vergießt über jeden der kleinen Erdhäufchen einige Tränen.
"Wollen sehen, was der Morgen bringt."
Langsam schlurft Kruitruna zurück zum Haus. Dort glimmt eine Kerze. Geduldig wartet sie auf die Rückkehr der alten Hexe.
Die nimmt sich genau soviel Zeit, wie sie braucht, und so endet der Tag. Kruitruna schläft, so tief, friedlich und fest, wie nur eine Hexe schlafen kann, die ihre Zweifel begraben hat.
Am nächsten Morgen erwacht Kruitruna nicht mit den ersten Sonnenstrahlen. Sie dreht sich noch einmal um, um auch wirklich jeden Moment auszukosten, den sie noch ruhen kann.
Dann wird es Zeit. Noch vor dem Morgenmahl spaziert sie wieder mit ihrem Stock zum Steinring.
Wie sie erwartet hatte, beginnen die Zweifel bereits zu sprießen. Jeder von ihnen hat eine unterschiedliche Anmutung. Einer hat schwarzrote, glänzende Blätter, eine andere bildet
schon die ersten Dornen. Wieder ein anderer verströmt einen beißenden Geruch, und um die Pflanze herum liegen einige verendete Käfer.
Kruitruna begutachtet ihr Werk und nickt zufrieden.