Universum 2b: Fischige Nacht

  • Also, was ist das hier ...

    "Fischige Nacht" ist eine Geschichte, die ich vor Jahren geschrieben habe. Wenn ich mir die Speicherdaten älterer Versionen so ansehe, könnte es schon zehn Jahre her sein ... vielleicht auch nur neun, ich habe nicht jede Fassung aufgehoben.

    "Fischige Nacht" ist aber auch ein Puzzle - die einzelnen Abschnitte arbeiten auf eine große Enthüllung hin, die man vorhersehen könnte und außerdem gibt es einen Haufen Referenzen (auf meine eigenen Werke und alles andere) zu finden.


    "Fischige Nacht" ist allerdings auch voll mit zweifelhaften sexuellen Verbindungen und Teenagern, die nonchalant über schreckliche Dinge reden, weil sie keine Ahnung haben.

    Und man könnte sich von Namen, Zahlen und unnötigen Details etwas erschlagen fühlen, aber die gehören natürlich zum Puzzle-Aspekt und sei es nur um die wichtigen Details zu verstecken.


    Was mache ich nun damit? Ich poste die Geschichte hier Abschnitt für Abschnitt, wenigstens einen täglich, und lade alle ein zum Referenzen raten und über Plot spekulieren.

    Und ja, das zählt als mein diesjähriges Halloweenprojekt.

  • Prolog


    Dunkelheit herrschte in der Straße, als May ihre Schritte zu den scheinbar frei in der Luft schwebenden Manuskripten lenkte. Während sie nach einem griff, fiel ihr Blick auf den Park, den die lange Straße wie ein Ring umschloss. Dann sah sie hinüber auf die andere Straßenseite, wo Wohnhäuser und Geschäfte ebenso zuhause waren wie die zwei Schulen des kleinen Ortes. Es war ein großer Ring und er und der Park nahmen etwa ein Drittel der Stadt ein. Im Süden, Westen und Norden gingen kurze Straßen mit weiteren Häusern von ihm ab, im Osten dagegen lag hinter den Häusern der See, den hier auf der Schneeebene nur die wenigsten Tiere zum Baden verwenden wollten.

    Das war der Niansring, Nians Straße. Und die schwebenden Manuskripte erzählten seine Geschichte, geschrieben von May selbst und anderen Chronisten, geteilt in viele kleine Kapitel.

    Die Polarfüchsin sah auf das Kapitel in ihrer Pfote. Es war wahllos ausgesucht, nicht mit einem Datum versehen, nicht mit dem Namen eines Chronisten. Und sie las.

  • Fischige Nacht

    Erster Abschnitt: Dionea


    Dionea Kiem ging die Fischige Nacht auf die Nerven. Früher hatte sie sie gemocht. Als Kind. Auch als Jugendliche hatte sie keine Probleme damit gehabt, Fischpartys waren immer gute Gelegenheiten gewesen, Jungs aufzureißen.

    Aber mittlerweile war sie sechsundvierzig Jahre alt.

    Auch wenn es ihr keinen Spaß mehr gemacht hatte, war sie doch immer bereit gewesen ihre Tochter zu begleiten. Hatte unterwegs andere Mütter getroffen, mit ihnen gesprochen.

    Aber ihre Tochter war dieses Jahr achtzehn Jahre alt geworden. Sie brauchte keine Aufsicht. Was eine Frage aufwarf:

    „Warum hast du mich noch einmal mitgeschleppt?“, fragte die aufrecht gehende Spinnenkrabbe mit dem eingetrockneten Fleck auf der Brust den anthropomorphen Drachenfisch neben ihr.

    „Damit du mal rauskommst. Außer dich ab und zu mit deinen Freundinnen zu treffen tust du ja nichts“, antwortete dieser.

    „Wenn es immer so ist, brauche ich es auch nicht.“

    Sie konnte jetzt ein warmes Bad brauchen. In dem Kostüm war es heiß.

    „Wir sind ja schon wieder zuhause“, versuchte sie der Fisch zu beruhigen.

    In der Tat. Die beiden Kreaturen hatten das Haus erreicht.

    Am Rand des Grundstücks stand die typische Laterne, ein ausgesprochen scheußlicher Kugelfisch aus Papier mit einer Kerze darin.

    Im Vorgarten war weitere Dekoration aufgestellt. Eine Krakenpuppe, echte Muschelschalen und auf dem Weg zur Eingangstür das nachgebaute Gebiss eines großen Hais, durch das man, wenn man den Weg nicht verlassen wollte, hindurchgehen musste.

    Selbst, wenn es zugeschnappt hätte, hätte es keinen Schaden angerichtet, denn sowohl die stumpfen Zähne als auch die Kieferknochen bestanden aus leichtem Holz, Papier und Kunststoff.

    Dazu stand vor der Tür eine Schüssel, aus der vorbei kommende Kinder Fischköpfe genommen hatten.

    Dionea nahm die Krabbenmaske ab und offenbarte das rotfellige Gesicht eines Rotfuchses und die eisblauen Augen eines Polarfuchses.

    Die frische Luft im Gesicht tat gut, auch wenn sie kalt war. Niansstadt war selbst im Sommer selten richtig warm und im Herbst, gerade bei Nacht, konnte es schon zu Frost kommen.

    Auch der Drachenfisch nahm das falsche Gesicht ab und zeigte das echte. Weißes Fell, blaue Augen. Man sah Netes an, dass sie mehr Polarfuchs war als ihre Mutter.

    Dionea ging zur Kugelfischlampe herüber.

    „Was hast du vor?“, fragte Netes.

    „Was schon. Ich mache die Laterne aus.“

    „Das macht man aber nicht. Sie muss die ganze Nacht brennen.“

    „Ich lasse doch nicht die ganze Nacht eine Kerze vor dem Haus brennen.“

    „Sie soll die Meeresdämonen fernhalten.“

    „Wir wohnen nicht am Meer.“

    „Der See hat eine unterirdische Verbindung zum Meer.“

    Dionea wandte sich von der Laterne ab und sah ihre Tochter an.

    „Glaubst du wirklich, dass uns irgendwelche Meeresdämonen heimsuchen, wenn ich das Licht ausmache?“

    „Natürlich nicht. Aber man lässt es nun mal über Nacht brennen.“

    „Nun, ich nicht.“

    Dionea wandte sich wieder der Laterne zu und kniete sich hin. Die Krabbenbeine am Kostüm waren dabei etwas lästig, aber es ging. Sie öffnete den Papierfisch an der Seite und blies die Kerze einfach aus.

    Netes seufzte.

    „Ich gehe schlafen“, verkündete sie.

    „Und ich räume die Dekoration weg“, entschied Dionea.

    „Mama! Das kann ich doch morgen machen.“

    „Wirst du aber nicht, das kennen wir doch. Außerdem weiß man ja nie, ob spät abends nicht noch irgendwelche Vandalen unterwegs sind. Und dann können wir die Dekoration nächstes Jahr nicht mehr benutzen.“

    Die beiden erreichten die Tür und Dionea entdeckte etwas in der Fischkopfschüssel.

    „Ich bin müde“, sagte Netes. „Mach was du willst.“

    „Da hat uns jemand einen Beutel mit angebissenen toten Mäusen hingelegt.“

    „Gute Nacht, Mama.“

    Während ihre Tochter ins Haus ging, legte Dionea den Beutel zurück und machte sich daran, die Muscheln einzusammeln.


    Es beobachtete, wie die jüngere Füchsin ins Haus ging und die ältere die Muscheln auf einen Haufen legte. Wie sie sich umsah, dann die Fischlaterne nahm und sie als Behältnis für die Muscheln benutzte.

    Das Haus war ungeschützt. Es zog den Schokoladenskorpion am Stiel – den, in dessen Stachel noch ein Rest Gift steckte – und trat auf den Garten zu.

  • Und in diesem Abschnitt begleiten wir eine Figur, die einige hier schon kennen könnten. Aber so jung hat sie hier wohl noch niemand gesehen.


    Zweiter Abschnitt: Jila


    Einige Stunden zuvor:


    „Wir sind angekommen! Party!“

    Die große Mehrheit der Passagiere erwiderte den Ruf der Busfahrerin.

    „Party!“

    Niansstadt war keine große Stadt, aber es war eine der Städte in denen die Fischige Nacht, eine alte Tradition der Schneeebene, noch richtig gefeiert wurde, vielleicht weil es an diesem dunklen, tiefen Salzwassersee lag.

    Jila mochte so etwas. Die Wildkatze mit den irreführenden Leopardenflecken hatte ausführlich recherchiert bevor sie die Fahrt gebucht hatte. Feuer mit Feuer zu bekämpfen, das war die Idee hinter der Tradition. Oder Fisch mit Fisch. Geister und Dämonen aus dem Meer sollten durch andere, falsche, Seeungeheuer abgeschreckt werden. Bisher hatte es offenbar gut funktioniert. So gut, dass man vielerorts nicht mehr glaubte, dass es nötig war. Und tatsächlich sah es nicht danach aus.

    Jila wusste, dass viel Aberglaube auf realen Bedrohungen basierte. Ganz in der Nähe befand sich eine ganz reale weltliche Hölle – aber deren Dämonen ließen sich nicht durch Laternen und Kostüme abschrecken. Vermutlich waren ein paar hier und feierten mit. Es gab Ungeheuer aus dem Meer. Die wenigsten kamen an Land, noch weniger würden sich in eine Stadt wagen. Es gab Geister. Die meisten waren ungefährlich, klar denkende Ektoplasmakreaturen, nicht anders als andere Leute. Ein paar, gerade die jüngeren, waren wütend, wirr, gefährlich. Sie waren noch an den Ort ihres Todes gebunden und machten ihn zur Falle für alle anderen. Die Polizei hatte Spezialkräfte für so etwas, aber um diese Wesen ging es hier nicht. Sie kamen nicht in fremde Häuser und hielten sich nicht an bestimmte Daten.

    Vermutlich war der Feind, gegen den das Fest helfen sollte, Mitglied des Feenvolkes. Angriff an einem bestimmten Datum, zurückschrecken vor bestimmten Symbolen, das passte zum zwanghaften Verhalten der halbpflanzlichen Feenwesen (zu denen ausgerechnet die Feen selbst gar nicht gehörten, die waren ursprünglich eine Ektoplasmaspezies, also eher verwandt mit Geistern, nur dass sie nicht tot waren sondern so geboren wurden).

    Aber das Zivilisierte Reich hatte einen Vertrag mit dem Feenvolk als Ganzes. Jedes Feenwesen das das Reich betrat war an seine Gesetze gebunden. Und da Feenwesen niemals einen Vertrag brachen, es aus psychologischen Gründen gar nicht konnten, waren sie keine Bedrohung mehr. Die meisten jedenfalls. Ein paar Psychopathen gab es immer, oder solche, die die psychologischen Sperren durch Drogen außer Kraft setzten, aber die waren erstens kein größeres Problem als andere Kriminelle und zweitens wenn sie schon den Vertrag brachen, auch nicht durch ein paar falsche Fische abzuschrecken.

    Das Fest war nur noch ein Fest.

    Alle im Bus waren kostümiert, entweder bereits ganz oder zum Teil. Viele interessierte die Tradition nicht, sie kamen als Alianbestien, Vampire oder historische Bösewichte. Hauptsache furchterregend.

    Jila hingegen hatte sich für ein passendes Kostüm entschieden. Ein glitzerndes blaues Kleid imitierte eine Schwanzflosse. Einzelne Schuppen waren auf das blassrosa Oberteil genäht, das nackter Haut ähnelte. Falsche Kiemenspalten zierten Jilas Hals, eine blauschwarze Perücke verdeckte das blonde Haar. Und noch etwas anderes, eine kleine Überraschung, die zu diesem Kostüm gehörte.

    Eine Gruppe von weiblichen Mauswieseln, die in der Knochensteppe zugestiegen war, schrie besonders laut. Alle fünf Mädchen waren nur etwas älter als Jila, neunzehn oder zwanzig vielleicht, und alles andere als traditionell, nicht einmal unheimlich, verkleidet.

    Jila war während ihrer Recherche zufällig auch auf diese Figuren gestoßen. In den Jahren neunzehn und achtzehn vor Christina, also vor zweiunddreißig bzw. einunddreißig Jahren, hatte es ab und zu angebliche Sichtungen von Polarfuchsmädchen, die in modifizierten Schuluniformen gegen Monster kämpften, gegeben. Entweder weil sie den Namen mal erwähnt hatten oder, wahrscheinlicher, weil die Schuluniformen der hiesigen Schule den Uniformen der Knappen der Ritter von Thaine nachempfunden waren, nannte man sie Squire Soldiers. Ein paar Trickfilmzeichner, die anfangs noch behauptet hatten, ihnen begegnet zu sein, mittlerweile aber zugaben, alles erfunden zu haben, hatten ihnen einzelne Namen gegeben.

    Die Schuluniform für Mädchen der hiesigen Ebtom-Gesamtschule (nach den Nachkommen des Stadtgründers und Ritters von Thaine Ebtomian, die Ebtom als Nachnamen angenommen hatten) bestanden aus einem weißen Hemd mit grauem Kragen und einer langen grauen Knopfleiste und einem kurzen weißen Rock mit grauem Saum (kürzer als ihn die Knappen außerhalb der Schneeebene trugen). Wenn es richtig kalt wurde, kamen oft noch eine Weste und eine Hose in Grau dazu, Tiere die nicht so gut mit der Kälte klar kamen, durften dickere Sachen tragen.

    Diese Wiesel verzichteten darauf. Tatsächlich waren ihre Kostüme sogar besonders freizügig. Außerdem trugen sie natürlich die Merkmale der Squire Soldiers.

    Vier von ihnen saßen sich an einem Viererplatz des Reisebusses gegenüber. Das Mädchen hinten am Fenster trug etwa ein Kostüm mit kräftigem Gelb statt Grau und am Gürtel befestigt eine große Kette aus goldenem Plastik. Squire Coins.

    Das Mädchen links davon, also hinten am Gang, trug Blau statt Grau und einen Rucksack aus dem zwei silberne Kelche ragten, die auch nach Plastik aussahen. Squire Cups.

    Das vorne am Fenster hatte rote Akzente am Kostüm und neben ihm lehnte an dem Sitz ein langer Stab an den Papierflammen geklebt waren. Squire Batons.

    Das Mädchen auf dem Platz vorne am Gang schließlich hatte sich für die Farbe Grün entschieden und eine Scheide mit sicherlich falschem Schwert auf den Rücken geschnallt. Squire Swords.

    Das fünfte Wiesel saß eine Reihe weiter vorne und stand nun auf, als der Bus hielt. Sein Kostüm war das detailreichste. Die grauen Elemente waren hier golden und eingerahmt von dünneren rosa Streifen. Wo die anderen Wiesel praktische Schneestiefel trugen, waren es bei diesem so etwas wie Ballettschuhe. Den Kopf zierte ein goldenes Diadem in dem ein Glasdiamant funkelte und die beiden weiß behandschuhten Hände trugen ein aus Holz geschnitztes und mit Goldfarbe bemaltes Zepter, das in einer Herzform endete.

    Squire Soul.

    Die Türen öffneten sich und die Busfahrerin rief „Alles aussteigen!“, durch die Sprechanlage. „Squire Soul“ hielt das Zepter in mit der linken Hand fest und klopfte damit auf die Handfläche der rechten, wie man es vielleicht als Drohgebärde mit einer Keule getan hätte.

    „Ihr kennt die Regeln“, verkündete sie. „Wer als letzte jemanden abschleppt und zum Treffpunkt einlädt, hat verloren!“

    Damit rannte sie los und die anderen vier bemühten sich, Schritt zu halten.

    Es ging ihnen also um Sex. Das erklärte die Kostüme. Sie würden damit außerdem auch jemanden brauchen, der sie aufwärmte.

    Jila musste zugeben, dass sie sich ebenfalls Sex erhoffte. Aber sie wollte nicht die ganze Nacht darauf verwenden. Es gab schließlich so viel zu sehen. Sie war auch hier, weil es einer der Orte war an denen die Fischige Nacht noch groß und manchmal recht traditionell gefeiert wurde.

    Und sie hatte sich für den Geheimtipp Niansstadt entschieden, weil ihre Aufpasser vom Jugendamt sie sicherlich erst im größeren Nordend suchen würden, wenn sie auf den Gedanken kamen, dass sie aufgrund der Fischigen Nacht abgehauen war.

    Als der Bus langsam leer wurde, stand Jila auf. Sie wollte sich mit dem Kostüm nicht zwischen den anderen Passagieren hindurch drängen, aber jetzt war der Weg frei.

    Als sie an die frische Luft trat, merkte sie, wie kalt es wirklich war.

    Obgleich kein Schnee lag – Niansstadt hatte generell nicht so viel Niederschlag – konnte sie spüren, dass sie sich auf der Schneeebene befand.

  • Der Bus hatte am Busbahnhof neben dem Tempel des Gehörnten gehalten, des riesigen gehörnten Drakon, den die Bergfüchse anbeteten und der tatsächlich einmal hier gewesen war. Falls er noch lebte, hatte er sich allerdings seit Jahrtausenden nicht mehr blicken lassen.

    Das Gebäude war aus einem rötlichen Gestein gebaut, das nicht aus der Gegend kam, und hatte einen viereckigen Grundriss und ein kuppelförmiges Dach. Reliefs dämonischer Fratzen fanden sich überall an der Außenwand. Von den zwei Säulen am Beginn des Grundstücks aus führte eine Treppe zum Eingang, der dem Maul des Gehörnten nachempfunden war.

    Liefere dich aus. Lass dich verschlingen. Werde Eins mit dem Gehörnten.

    Es war nicht so verwunderlich, dass man die Anhänger des Gehörnten lange nur widerwillig oder gar nicht geduldet hatte.

    Aber auch der Tempel feierte die Fischige Nacht. Auf jeder der beiden steinernen Säulen stand eine grüne, böse grinsende Fischlaterne und an den Bäumen links und rechts der Treppe hingen Seesterne und –pferdchen aus bemaltem Ton.

    Auf der anderen Seite der Straße lag der Park, in dem hauptsächlich gefeiert wurde. Aber wenn sie sich jetzt dorthin begab, kam sie natürlich zu nichts mehr.

    Also ging sie in den Tempel.

    Als sie durch das Maul des Drakon trat, gelangte sie sofort in eine Halle, die beleuchtet war durch ein großes Feuer, das in einer runden Grube im Zentrum brannte.

    Dahinter, gekleidet in den roten Umhang der Priester des Gehörnten hockte kein Bergfuchs, wie Jila erwartet hätte. Stattdessen war es eine Katze. Weißes Fell, runde Ohren. Eine Schneelöwin. Nicht mehr jung, eher um die siebzig.

    Sie öffnete die eisblauen Augen, als sie Jila offenbar bemerkte.

    „Hallo Mädchen“, grüßte sie. „Kommst du her, damit ich für dich ein Gebet an den Gehörnten richte?“

    „Ich gehöre nicht zum Tempel des Gehörnten“, gab Jila zu und kam näher.

    „Das musst du auch nicht. Der Gehörnte ist immer bereit zu geben. Er verlangt keine Anbetung dafür. Schreibe einfach deinen Wunsch, dein Problem oder was auch immer auf eine der Holztafeln und wirf sie ins Feuer.“

    Die Löwin wies auf einen Haufen kleiner hölzerner Täfelchen.

    „Kosten zehn Zirei das Stück. Fünf für Mitglieder des Tempels.“

    Natürlich.

    „Normalerweise verkaufen die jungen Tempeldienerinnen die, aber die feiern jetzt natürlich alle, also musst du wohl mit mir vorliebnehmen.“

    „Nein, deshalb … bin ich nicht hier.“

    „Was suchst du, wenn du weder den Beistand des Gehörnten noch ein junges Mädchen suchst? Sag nicht, du kommst wegen des alten Torgal.“

    „Alten Torgal?“

    „Des obersten Priesters hier. Der legt alles flach, was unter dreißig ist und halbwegs gut aussieht. Und das mit sechsundachtzig. Na ja, sein Risiko.“

    „Nein, den kenne ich nicht. Ich suche … Wissen.“

    „Dann frage danach. Aber setz dich, du machst mich nervös.“

    Jila setzte sich auf den warmen Steinboden. Nicht direkt neben die Löwin, auch nicht gegenüber, denn das wäre angesichts der großen Grube doch etwas weit gewesen. In die Nähe.

    „Wie kann ein Tempel des Gehörnten die Fischige Nacht feiern?“

    „Warum sollte er nicht? Sie gehört nicht zu unseren Traditionen, aber sie widerspricht ihnen auch nicht. Sie dient ja nicht der Ehrung eines anderen Gottes, sondern der Abschreckung von Wesen, die auch Anhängern des Gehörnten gefährlich werden könnten.“

    „Glauben Sie an diese Wesen?“

    „Es mag sie geben oder gegeben haben, aber ich glaube nicht, dass so große Gefahr von ihnen ausgeht. Dieser Tempel und auch mein Haus waren so manche Fischige Nacht nicht beschützt und doch ist nichts passiert. Die Fischer an der Küste mochten damals die Fischige Nacht zu Recht gefürchtet haben, aber heute ist das etwas anderes. Außerdem glaube ich daran, dass mich der Gehörnte schützt.“

    „Ich war etwas überrascht, hier eine Schneelöwin anzutreffen. Als Priesterin, meine ich.“

    „Ja, dieser Tempel wird traditionell von Bergfüchsen geführt. Dem alten Torgal zum Beispiel, der erfüllt diese Aufgabe schon sehr lange. Ich kam her um Trost zu suchen, nachdem meine Tochter verschwunden war.“

    „Das tut mir leid.“

    „Sie ist inzwischen zurückgekehrt. Was mich in meiner Überzeugung noch bestärkt hat.“

    „Wie traditionell wird die Fischige Nacht hier noch gefeiert?“

    Jila wollte von den persönlichen Themen wegkommen, ehe die Alte noch ihre ganze Lebensgeschichte erzählte.

    „Wie man es nimmt. Viele feiern einfach eine Party. Es macht ihnen Spaß, sich zu verkleiden. Aber andere nehmen die Nacht ernster. Die Kinder gehen herum und sammeln Fischköpfe, obwohl viele inzwischen auch andere Dinge dazu geben, die Kinder mehr interessieren. Es werfen nicht mehr alle einen Teil der Ausbeute in den See, aber manche tun es.“

    „Aber lockt man mit Fischköpfen im Wasser Seeungeheuer nicht eher an, als sie zu vertreiben?“

    „Natürlich. Sie sollen ja kommen und dein schreckliches Kostüm sehen. Und gleichzeitig werden sie besänftigt. Mit frischen Fischköpfen. Wir sollen für sie schreckliche aber auch gütige Kreaturen sein. Sie sollen uns fürchten aber keinen Groll gegen uns hegen. Und umgekehrt ebenso.“

    Das war logisch aber auch irgendwie bizarr, fand Jila.

    „Und wenn man die Fischköpfe in den See wirft … kommt etwas? Hat jemand schon mal etwas gesehen?“

    „Manche sprechen von einem großen Schatten unter Wasser. Aber das kann auch ein Fischschwarm gewesen sein. Oder eines der höchst realen großen Meeresraubtiere, das den Weg in den See gefunden hat, aber das kommt nicht mehr vor, man hat ja ein Gitter am Zufluss angebracht, durch das so etwas Großes nicht kommt.“

    Das genügte Jila eigentlich schon, also stand sie auf.

    „Danke. Ich gehe dann mal lieber, ehe der alte Torgal noch auftaucht.“

    „Das ist wohl klüger. Einen Fischkopf?“

    „Warum nicht.“

    Die Löwin warf der Wildkatze den rohen, abgetrennten Kopf eines Fisches zu.

    „Möge der Gehörnte mit dir sein.“

    „Ähm … gleichfalls.“

    Jila verließ den Tempel recht eilig und stieß auf der Treppe fast mit einer übergroßen Spinnenkrabbe zusammen.

    „Pass doch auf!“, schimpfte die Krabbe.

    „Tschuldigung“, murmelte Jila und wich der Krabbe und dem folgenden Drachenfisch aus.

    Zurück auf dem Gehweg steckte Jila den Fischkopf in ihre Umhängetasche (das Kostüm hatte natürlich keine Taschen) und holte eine Karte des Ortes hervor.

    Mal sehen. Sie war hier am Westende des Rings. Gegenüber, einmal quer durch den Park, lag die alte Ebtom-Anstalt, eine Nervenklinik, die seit einer Weile stillgelegt war. Dahinter lag außerdem der See, wo die Fischköpfe geopfert wurden. Nördlich der Anstalt lag die Ebtom-Gesamtschule, die womöglich in dieser Nacht auch etwas zu bieten hatte, südlich gab es eine Reihe von großen Wohnhäusern und damit sicher auch die eine oder andere Party. Diese Seite des Rings hingegen hatte hauptsächlich Geschäfte und eine kleine Privatschule. Eher uninteressant.

    Also auf durch den riesigen Park.

  • Auf dem Weg durch den Park hatte sich Jila an einem Stand einen gegrillten Fisch auf Brot geholt und die fünf Wiesel entdeckt, die alles angruben, was sich nicht wehrte (Jila selbst ausgenommen, wohl weil sie sie aus dem Bus kannten und es auf Einheimische abgesehen hatten). Jetzt stand sie vor der geschlossenen Ebtom-Anstalt.

    Das Grundstück war umgeben von einer hohen Mauer, die oben mit Eisenspitzen bewehrt war. Das große Eingangstor war verschlossen. Über die Mauer ließ sich etwas vom eigentlichen Gebäude erkennen. Es war ein hässlicher grauer Klotz mit vergitterten Fenstern – genau das Richtige um gesund zu werden.

    Hier gab es wohl nichts zu sehen. Nach Osten zur Schule oder nach Westen zu den Wohnhäusern? Jila warf eine Münze. Kopf. Schule.

    Hier die Straße entlang? Nein, am Seeufer.

    Über das leere Grundstück neben der geschlossenen Klinik kam Jila an das karge, sandige und steinige Seeufer. Der Wind wehte hier ungehindert und die Katze fror ein wenig in ihrem Kostüm. Das Wasser war dunkel, tief, schlug Wellen. Da die Sonne schon untergegangen war, konnte man nicht allzu weit sehen.

    Keine Lampen waren hier aufgestellt. Offenbar war sie die erste, die ankam.

    Sollte sie ihren Fisch opfern? Warum nicht.

    Jila trat näher ans Wasser, verließ den Rasen und betrat den mit Steinen durchsetzten Sand. Sie trat näher, bis die Wellen fast ihre Füße erreichten.

    Noch näher konnte sie nicht. Das Wasser musste eisig sein.

    Sie holte den Fischkopf hervor und warf ihn in den See.

    Komm, dachte sie, als sie die entstehenden konzentrischen Kreise beobachtete. Komm und sieh, wie furchterregend ich bin.

    Wobei sie im Moment nicht sehr furchterregend aussah.

    Und dann bewegte sich wirklich etwas. Ein Schatten unter der Seeoberfläche, kaum zu erkennen im wenigen Licht des Mondes und der entfernten Straßenlaternen. Das war kein Fischschwarm. Dafür war es zu langsam. Es war auch kein einzelner großer Fisch. Dafür war es zu unförmig.

    Ein riesiger Oktopus vielleicht? Aber es griff nicht mit Tentakeln nach dem Fischkopf, es schwamm ganz an die Stelle und verharrte dort. Verschwand der sinkende Fischkopf in ihm? Schwer zu sagen. Dann sank es hinab. Der dunkle Schatten wurde kleiner und verschwand.

    Gab es hier also doch ein großes Tier? Und konnte es wegen des Gitters nicht zurück ins Meer? Jila würde die Behörden informieren. Und das konnte sie am besten gleich von der Schule aus tun.


    Die Schule bestand aus einer ganzen Reihe von Gebäuden und Plätzen. Sogar ein eigenes Schwimmbad hatte sie. Von hinten kam man als erstes auf den Parkplatz und dann zum hinteren Hof mit dem Spielplatz für die Jüngeren. Hier war niemand, in den Gebäuden weiter vorne brannte aber Licht.

    Zwischen zwei Gebäuden hindurch ging Jila auf einen hell erleuchteten Hof hinter dem schlossartigen Hauptgebäude, das mal ein Fürstensitz gewesen war, auf dem sich mehrere Kinder aufhielten. Fischlaternen beleuchteten alles, ebenso ein Feuer in dem Stockbrote gebacken wurden.

    Wenige Erwachsene waren zu sehen. Eine davon, eine weiß-orange gescheckte Füchsin im Eiskrabbenkostüm schien die Aufsicht zu haben.

    Jila ging direkt auf sie zu.

    „Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie lächelnd aber sichtlich müde. „Gehören Sie zu einem der Kinder? Ein schönes Meerjungfrauenkostüm übrigens.“

    „Danke. Nein, ich bin nur zufällig hier. Ich habe im See etwas gesehen und …“

    „Sie haben einen Fischkopf reingeworfen und einen Schatten gesehen. Ja, kommt öfter vor. Das ist nur ein Fischschwarm, wir haben ein Gitter an der Verbindung zum Meer damit nichts Größeres rein kommt.“

    „Es war eben kein Fischschwarm. Ganz sicher nicht. Kann nicht aus Versehen mit dem Gitter etwas eingeschlossen worden sein?“

    „Der See wurde mit Echolot durchsucht, dort gibt es nichts Großes. Und es hat auch nie Zwischenfälle gegeben.“

    Was immer es war, war also wohl harmlos. Nun, wenn es auf so kleine Beute wie einen einzelnen Fischkopf ansprach, war das naheliegend.

    „Würden Sie es dennoch melden?“

    „Ich sage der Direktorin Bescheid.“

    Jila fiel es nicht schwer, den genervten Unterton herauszuhören und da es ihr eher schwer fiel, Emotionen zu interpretieren, hieß das einiges.

    „Sie mögen die Direktorin wohl nicht.“

    „Ich habe nichts gegen sie. Es ist nur … als ich hier Schülerin war, war sie meine Lehrerin. Und dann hat sie auch noch die Mutter meiner besten Freundin geheiratet. Es ist ein bisschen … peinlich.“

    Das war verständlich.

    „Sie war zu der Zeit verschwunden – meine Freundin, nicht ihre Mutter – aber inzwischen ist sie wieder aufgetaucht und findet es auch echt peinlich, immerhin war die Direktorin auch ihre Lehrerin, aber immerhin arbeitet sie nicht hier.“

    Das wollte Jila eigentlich alles gar nicht wissen. Aber irgendwie hatte dieser leicht jammernde Ton etwas.

    „Das ist jetzt vielleicht etwas direkt, aber … sind Sie … in einer Beziehung?“

    „Nicht mehr. Wir haben uns getrennt seit diesem Unfall mit unserem Sohn.“

    „Oh.“

    „Ihm ist nichts passiert, das war nicht das Problem, aber mein Freund und ich sind seitdem nicht so wirklich klar gekommen und seitdem bin ich alleine mit einer erwachsenen Tochter und einem kleinen Jungen.“

    „Brauchen Sie vielleicht eine kleine … Ablenkung?“

    Die Füchsin musste lachen.

    „Wissen Sie, Sie sind ungefähr im Alter meiner Tochter.“

    „Oh.“

    „Sie werden verstehen, dass ich Sie da gerade nicht unbedingt … sexuell anziehend finde.“

    „Ja. Tschuldige.“

    „Hier gibt es nur Attraktionen für Kinder. Gehen Sie mal besser in den Park.“

    „Natürlich. Tschüs.“

    „Tschüs.“

    Jila ging in Richtung Straße und hoffte, dass man durch ihr Fell nicht sehen konnte, wie rot ihre Haut sein musste. Wie war ihr das denn passiert? Peinlicher ging ja kaum noch.

    Also jetzt in den Park, wo mit Kugelfischtrommeln die Geister verjagt wurden, während es fettiges Essen und alkoholische Getränke gab?

    Nein. Erst ins Wohnviertel.

    Auf der Straße angekommen lief es der Katze kalt den Rücken herunter. Im Licht der Laterne hinter ihr sah sie vor sich einen Schatten, der ihren verschluckte. Einen großen, unförmigen.

    Sie drehte sich um. Nichts.

    Leicht beunruhigt, ging Jila weiter.

  • In vielen Häusern brannte Licht, und ebenso vor ihnen, doch es war still. Hier feierte niemand, hier wartete man nur auf Kinder, die nach Fischköpfen fragten. Irgendjemand musste das ja tun.

    Die Dekoration war aufschlussreich. Einige Motive waren originell – der Seestern, der den Kopf einer Katze aufknackte wie eine Muschel, der Meeresskorpion, dessen Stachel hinab sauste und eine falsche Muschel zerteilte, wenn jemand vorbei kam – woraufhin der Besitzer herauskam und sowohl den Schwanz wieder in Ausgangsposition brachte als auch die Muschel wieder zusammensetzte.

    Aber immer wieder fanden sich auch die klassischen Symbole. Der Seeigel etwa war sehr beliebt – er stand in den Geschichten der Meermenschen für Gefahr, was ja irgendwie naheliegend war. Und natürlich der grüne, böse grinsende Kugelfisch.

    Kugelfische waren weder grün, noch konnten sie so grinsen, aber das Bild fand sich überall, hauptsächlich in der Form von Papierlaternen an den Grundstücksgrenzen oder neben den Haustüren und in den Fenstern. Manche trugen sie auch bei sich.

    In einem Vorgarten stand eine besonders große. Es war praktisch schon ein Zelt in der Form eines großen, grünen, böse grinsenden Kugelfisches, beleuchtet durch einen Gasbrenner im Inneren, der zudem böse fauchte.

    Gerade als Jila das Werk bewunderte öffnete sich die Tür des dazugehörigen Hauses.

    In der Tür stand ein männlicher Eiswolf (wie so viele Bewohner der Schneeebene mit weißem Fell doch anders als die meisten mit rosa Augen). Er trug mit beiden Händen eine Schüssel voll Fischköpfe und um den Hals ein Schild mit der Aufschrift „Jeder nur einen“.

    „Sie wollen wohl nicht den ganzen Abend zuhause bleiben“, vermutete Jila.

    „Ganz recht. Ich bereite das hier vor, dann ziehe ich mein Kostüm an und gehe selbst los. Möchten Sie einen?“

    „Ich habe schon einen geopfert.“

    „Nun, dass man nur einen opfert heißt nicht, dass man nur einen haben kann. Sie schmecken gut. Wenn Sie einen in den See werfen ist das ihr Opfer. Wenn ich Ihnen einen gebe ist es meins.“

    „Inwiefern das?“

    „Weil jeder, der sich in dieser Nacht angemessen verkleidet, zum Avatar des Fischgesichts wird.“

    Na das war doch mal ein neuer Aspekt der ganzen Sache.

    Jila betrat das Grundstück. Der Wolf stellte die Schüssel neben die Tür, nahm sich das Schild ab und stellte es dahinter und setzte sich dann auf die Türschwelle. Jila verstand das als Einladung und setzte sich daneben.

    „Ich bin nicht von hier“, begann sie. „Wer ist dieses Fischgesicht?“

    „Sie fragen ‚wer‘ und nicht ‚was‘. Sie erkennen einen Eigennamen.“

    „Ich leite das aus dem Kontext ab. Aber mehr weiß ich wirklich nicht.“

    „Nun, vor langer Zeit, als das Klima an der Nordküste dieses Kontinents noch milder war, machten Kobolde den Hauptteil der Bevölkerung aus.“

    Davon hatte Jila schon gehört. Und natürlich kannte sie Kobolde. Kleine Humanoide mit Fischgesichtern und Fischhaut, aber ohne Kiemen. Dass dieses Fest auf sie zurückging war naheliegend, auch wenn sie hier in der Gegend heute selten waren, da sie die Kälte nicht gut vertrugen. Man fand sie eher an der Südküste, vor allem im Klippenland, wo sie die große Mehrheit der Bevölkerung stellten.

    „Sie wissen vielleicht, dass die Kobolde keine Götter anbeten. Aber das war nicht immer so. Die Kobolde der Nordküste verehrten einen Beschützer.“

    „Das Fischgesicht.“

    „Das ist die wörtliche Übersetzung, ja. Ich kann den eigentlichen Namen selbst nicht aussprechen.“

    „Und die Fischige Nacht wurde ursprünglich ihm zu Ehren gefeiert?“

    „So ist es. Das Fischgesicht beschützte die Kobolde vor Feinden aus dem Meer – ganz besonders dem Feenvolk, aber auch Untoten und Ektoplasmawesen. Andere übernahmen seine Verehrung um auch geschützt zu sein. Das größte Problem waren damals die Tiefen. Schwer zu sagen, ob das Feenwesen waren, aber ein paar Charakteristika waren da. Sie entführten Kinder und ersetzten sie durch Wesen, die sich der Art anpassten bei der sie aufwuchsen sich aber dann veränderten und wieder ins Meer gingen. Manchmal schlossen sie auch Pakte um Kinder mit Landbewohnern zu zeugen, die ebenfalls irgendwann ins Meer gingen, aber auch an Land leben konnten. Diese Wechselbälger und Halbblute kamen manchmal aus den Wellen und plünderten die Küstendörfer.

    Es scheint sie hier nicht mehr zu geben, vermutlich aus demselben Grund, warum es hier keine Kobolde mehr gibt. Es ist zu kalt geworden. Aber das Fischgesicht ist noch da. Es schützt weiterhin vor Feinden aus dem Meer. Heute ist die Nacht in der der Pakt zwischen ihm und uns erneuert wird – und auch der an dem die Feinde kommen und darauf lauern, dass jemand gegen die Regeln verstößt.“

    „Glauben Sie, dieses Fischgesicht ist real?“

    „Ich weiß es nicht. Aber so manche Gottheit war ein reales Wesen, wie die Gestalter auf der Hellenischen Ebene und zumindest einige der Erheber. Aber Götter bleiben nicht dort, wo sie nicht mehr geehrt werden. Vermutlich ist das Fischgesicht längst fort, wenn es je da war.“

    „Ich habe gehört, die Fischköpfe in den See zu werfen soll die Feinde besänftigen.“

    „Das ist eine andere Theorie, ja. Aber mir erscheint diese naheliegender. Schließlich ist die Verehrung des Fischgesichts bei den hiesigen Kobolden nachgewiesen.“

    „Woher wissen Sie das alles?“

    „Ich habe Geschichte studiert und an archäologischen Ausgrabungen hier teilgenommen. Ich habe alte Aufzeichnungen gelesen, die bis ins Kristallreich zurückreichen. Ich bin Geschichtslehrer, hier an der Ebtom-Gesamtschule.“

    Oh. Das erklärte einiges.

    „Wohin gehen Sie denn dann heute noch? Ans Seeufer, selbst Fischköpfe opfern?“

    „Nein, das ist nicht nötig. Es reicht, wenn Sie einen Fischkopf mitnehmen. Ich ziehe mein Kostüm an, dann gehe ich in den Park. Dort werden die Feinde noch mit der Kugelfischtrommel vertrieben, einen sichereren Ort gibt es in der ganzen Stadt nicht.“

    „Wie passt denn die Trommel da rein?“

    „Wieder zwei Theorien. Entweder ehrt die Trommel das Fischgesicht oder sie imitiert seine Stimme um Feinde zu vertreiben.“

    „Ein Gott mit der Stimme einer Trommel?“

    „Oder die bösen Geister mögen einfach keinen Lärm.“

    Jila musste lachen.

    „Sagen Sie, gehen Sie ganz alleine feiern?“

    „Ja, mein Sohn ist noch zu jung dafür. Er bleibt hier und macht mehr Fischlaternen.“

    „Bei seiner Mutter?“

    „Nein, alleine. Er kommt gut alleine zurecht.“

    Also keine Mutter. Offenbar schon länger.

    Jila lehnte sich an den Wolf.

    „Lust auf eine Begleitung?“, schnurrte sie.

    Er lachte.

    „Nein, wirklich nicht. Und … das hier ist auch nicht die Nacht dafür.“

    Schade.

    „Aber warum interessiert dich das eigentlich so?“

    „Die Fischige Nacht ist der Grund warum ich hier bin. Und … ich mag es, wenn die Dinge vollständig sind.“

    „Das Fest macht erst wirklich Spaß, wenn du alle Hintergründe kennst.“

    „Ja.“

    „Du magst keine fehlenden Teile im Puzzle.“

    „Hmh.“

    „Nun, wenn du dich vorher über das Fest informiert hast, habe ich dir jetzt alles erzählt, was dir noch neu sein könnte. Nach dem aktuellen Forschungsstand. Nimm einen Fischkopf, ich ziehe mich jetzt um.“

    „Eine Sache noch“, fiel Jila plötzlich ein. „Warum die Köpfe?“

    „Als man den Fisch noch nicht so fein aufteilen konnte und ihn nur roh aß, waren die Parasiten im Darm eine große Gefahr. Deshalb aßen die Kobolde und die wilden Füchse und Wölfe nur die Köpfe.“

    Er stand auf, ging ins Haus und schloss die Tür.

    Jila saß noch etwa eine Minute da, dann nahm sie einen Fischkopf und stand auch auf.

  • Das Haus mit der Nummer 22 fiel Jila auf. Auf Hausnummern achtete sie sonst nicht, aber hier war sie kaum zu übersehen, denn sie war groß mit Seeigeln auf die Tür geschrieben.

    Zahlreiche Fischlaternen zierten die Grundstücksgrenze und den Vorgarten, ein paar Meeresstrunze kamen dazu, die sogar nach echten ausgestopften Tieren aussahen. Das Haus war nicht größer als die umgebenden, aber die Vorhänge, durch die in jedem Fenster Licht drang, sahen teuer aus.

    Musik war zu hören, gerade lief Schuppenhand von der Horror-Punk-Band Gajanar.

    Plötzlich spürte Jila es wieder. Derselbe kalte Schauer, wie vor der Schule. Da das hell beleuchtete Haus vor ihr lag, war schwer zu sagen, ob auch der Schatten wieder da war. Dafür schien die Musik mit einem leisen Plätschern unterlegt, das nicht zu diesem Lied gehörte.

    Jila drehte sich langsam um.

    Nichts. Alles in Ordnung. Auch das Plätschern war weg. Vielleicht nur ein Geräuscheffekt irgendeiner Dekoration.

    Jila betrat das Grundstück. Zwischen den Laternen und Strunzen hindurch ging sie zur stachelbewehrten Tür.

    Keine Schüssel. Sie erwarteten, dass man klingelte. Also klingelte Jila.

    Es öffnete niemand, aber Jila wollte nicht noch einmal klingeln. Mehrfaches Klingeln war für sie ein Zeichen von Eile oder Dringlichkeit und weder hatte sie es eilig, noch wollte sie besonders dringend einen Blick ins Haus werfen. Sie würde abwarten und erst klingeln, wenn sie sicher war, dass niemand das erste Klingeln gehört hatte.

    Schließlich schwang die Tür doch noch auf.

    Vor Jila stand eine Bergfüchsin. Bergfüchse aus den Finsterschattenbergen hatten früher die Schneeebene zum Plündern besucht, doch schon vor Jahrhunderten hatten sich auch einige hier niedergelassen. Sie waren traditionell Anbeter des Gehörnten Drakon. Ihr Muster glich dem der Rotfüchse, doch was beim Rotfuchs braun bis orange war, war hier schwarz und was weiß war, blutrot. Diese Bergfüchsin hatte ein glänzendes, jung erscheinendes Fell, doch die goldenen Augen wirkten älter, erfahrener. Sie war etwas klein für ein ausgewachsenes Exemplar und hatte etwas Speck auf den Hüften, aber das stand ihr ganz gut. Und sie trug einen schillernden blauen Schuppenrock und eine schwarzblaue Perücke. Einen blassrosa BH und falsche Kiemen am Hals.

    „Oh“, sagte sie.

    Jila konnte sofort hören, dass sie nicht ganz nüchtern war.

    „Gast oder Sammler?“

    „Gast“, behauptete die gefleckte Katze einfach mal.

    „Und dann tauchst du im gleichen Kostüm auf wie die Gastgeberin?“

    Jila fiel keine gute Antwort ein.

    „Kleiner Scherz, komm … äh, wie alt bist du eigentlich?“

    „Einundzwanzig“, log die Siebzehnjährige dreist.

    „Das ist alt genug, komm rein.“

    Jila trat ein. Auch innen war das Haus teuer eingerichtet und fischig geschmückt. Offenbar war es in einem subrischen Stil gebaut, es gab keinen Eingangsflur, hinter der Tür lag gleich das Wohnzimmer und links führte eine Treppe hinauf in den ersten Stock. Eine Menge Leute standen herum, alle kostümiert, viele mit Champagnergläsern.

    „Wir sind gar nicht so weit auseinander“, behauptete die Füchsin. „Ich bin siebenundzwanzig.“

    Warum sagte sie das?

    Die Partygäste schienen in ausgelassener Stimmung. Einige unterhielten sich über die Musik (inzwischen ein Lied, das Jila nicht kannte) hinweg, andere tanzten dazu und ein Schneehase und ein Eisbär, beide männlich, waren in einer Zimmerecke so eng ineinander verschlungen, dass man ihre Kostüme für ein gemeinsames halten konnte – eine Krakenschildkröte oder so.

    „Ich bin zum dritten Mal verheiratet. Mein erster Mann hat mich rausgeworfen, weil ich ihn betrogen habe. Der zweite auch. Und mit wem hab ich den zweiten betrogen? Mit dem ersten. Den hab ich dann wieder geheiratet.“

    Und sie war wirklich erst siebenundzwanzig?

    „Und wir einigten uns darauf, dass jeder von uns einmal im Jahr seinen Freiraum braucht.“

    Die Schnauze der Füchsin näherte sich Jilas sensiblem Katzenohr.

    „Mein Mann vernascht oben gerade ein süßes kleines Seesternchen. Und mir ist auch nach Sushi.“

    Na bitte. Das wurde ja doch noch was.


    Es war sicherlich nicht das Schlafzimmer der Hausherren, das musste oben im ersten Stock liegen. Es war eindeutig auch kein Kinderzimmer. Es musste ein Gästeschlafzimmer sein.

    Jedenfalls war es hübsch eingerichtet, mit Gemälden, die Gebirgslandschaften zeigten und dunklen Möbeln. Und natürlich dem weiß bezogenen großen Bett, in dem sich Jila an die Füchsin klammerte und das Hochgefühl des Orgasmus festhielt, solange sie konnte.

    „Weißt du, warum ich dich ausgewählt habe?“, fragte die Bergfüchsin.

    „Ich kann es mir denken.“

    „Tatsächlich?“

    „Ihnen ist mein Fell aufgefallen. Und da Sie noch nie eine Katze mit einem solchen Muster gesehen hatten, war Ihnen klar, dass ich nicht aus der Gegend bin und Ihnen peinliche Begegnungen erspart bleiben.“

    „Du bist etwas zu schlau für meinen Geschmack.“

    „Zu spät.“

    „Ich sollte dich wegschicken, ehe du noch meinen Namen herausfindest“, sagte die Hausherrin scherzhaft.

    „Auch zu spät.“

    „Warum?“

    „Weil einige Gäste ihre Einladungen mitgebracht und dann im Haus liegen gelassen haben. Sie sind Leira Breigel, Ihr Mann heißt Lenthel. Aber wenn ich gewollt hätte, hätte ich das auch anhand der Hausnummer herausfinden können.“

    Jila kuschelte sich wieder an, doch Breigel schien genug zu haben und schob sie sanft weg.

    „Ich muss mich meinen Gästen zeigen“, erklärte sie und setzte sich auf.

    „Na gut. Ich stehe wohl besser auch auf, ehe ich noch einschlafe.“

    Beide standen auf und begannen, ihre Kostüme wieder anzuziehen.

    Jila fiel etwas ein.

    „Es gibt nur eine Familie Breigel. Es gibt überhaupt nur eine Bergfuchsfamilie mit Nachnamen. Sie oder Ihr Mann müssen von den alten Häuptlingen abstammen.“

    „Ich. Warum interessiert Sie das?“

    „Mich interessiert einfach Geschichte.“

    „Mich gar nicht. Deshalb kann ich auch nicht viel dazu sagen.“


    Als Jila wieder ins Wohnzimmer kam, fielen ihr zwei Gäste auf, die vorher noch nicht da gewesen waren. Sie waren nicht die einzigen, aber eben die auffälligsten. Denn sie waren Menschen.

    Einer war eine geradezu leichenblasse Frau in einem lila Rochenkostüm, dessen Flügel ein wenig unrealistisch schräg auf dem Rücken angebracht waren, wohl um den Armen mehr Bewegungsfreiheit zu geben. Das höchstens zwanzigjährige Mädchen hatte langes schwarzes Haar, wenn es denn echt war, und weiße Hörner, die leicht Richtung Kopfmitte gekrümmt waren.

    Teufelsrochen. Nicht das originellste Wortspiel, aber immer wieder schön.

    Der zweite Mensch war ebenfalls weiblich und verbarg den größten Teil des Gesichts unter einer Möwenmaske. Dazu passten die großen, weiß gefiederten Flügel auf dem Rücken, für die offenbar echte Federn irgendeines wirklich großen Vogels verwendet worden waren. Die weiße Kleidung und die Vogelfußschuhe passten dazu.

    Obwohl Jila nur wenig Haut sehen konnte, konnte sie erkennen, dass dieses Mädchen zwar hellhäutig aber nicht so blass wie das andere war. Ein leichtes Leuchten schien von ihm auszugehen, aber das war wahrscheinlich eine Täuschung.

    Jila kannte sich mit Menschen nicht so aus, und es war schwierig ohne das Gesicht zu sehen, aber wahrscheinlich waren die beiden ungefähr im selben Alter.

    Sollte sie sie ansprechen? Nein. Sie hatte die Recherche abgeschlossen und Sex gehabt. Es wurde Zeit, zu feiern. Aber nicht hier.

  • „Klar bin ich über sechzehn!“, versicherte Jila dem als Seeratte verkleideten Schneeleoparden, der auf dem runden Platz in der Mitte des Parks Getränke ausschenkte. „Also gib mir endlich den Becher!“

    Der Schneekirschsekt, der hier ausgegeben wurde, war ab sechzehn freigegeben, obwohl seine Wirkung schon enorm war, wie Jila von einer anderen Gelegenheit wusste, als sie ihn mit fünfzehn zusammen mit ihrer ersten Freundin probiert hatte (die sechzehn gewesen war).

    Der Leopard glaubte es endlich und gab der Katze den Pappbecher mit dem süßen alkoholischen Getränk.

    Sie hätte ihn fast fallen lassen, als alles auf einmal kam. Der kalte Schauer, das Plätschern. Der Schatten.

    Blitzschnell drehte sich Jila um und sah … die Spinnenkrabbe. Ohnmächtig sah sie zu, wie die Trägheit vom Schneekirschsekt im Becher Besitz ergriff und eine Welle bis auf das Kostüm der Frau trug.

    „Das kann doch nicht wahr sein!“, schimpfte sie.

    „Tut mir leid“, entschuldigte sich Jila. „Ich habe diesen Schatten gesehen …“

    „Natürlich sind hier Schatten, das ist ein Fest voller Leute! Pass doch auf!“

    „Werde ich. Tut mir echt leid.“

    „Ja ja.“

    Die Krabbe ging.

    „Sie ist etwas schlecht gelaunt“, erklärte der Drachenfisch, der ebenfalls weiblich war. „Sie mag die Fischige Nacht generell nicht so. Oder irgendetwas, was irgendwie gruselig ist.“

    Jila nickte und der Fisch beeilte sich, der Krabbe zu folgen.

    Die Katze lauschte. Nichts zu hören vom Plätschern. Auch die Temperatur war wieder normal, weitestgehend kühl aber heiß in der Nähe der Gasflammen, die den Park beleuchteten.

    Wie spät es wohl schon war? Jila hatte absichtlich auf keine Uhr gesehen, aber so spät konnte es noch nicht sein. Der Bus fuhr erst am nächsten Morgen wieder, war aber die ganze Nacht durch beheizt und stand als Schlafraum zur Verfügung. Jila wollte ihn erst aufsuchen, wenn sie wirklich nicht mehr konnte. Da sie nicht einmal annähernd müde war, war es wahrscheinlich noch nicht mal elf.

    Wo war eigentlich das Fuchsmädchen hin, das hier vorher noch die Kugelfischtrommel geschlagen hatte? Na ja, den Job wollte wohl niemand die ganze Nacht machen.

    „Kugelfischlaterne?“

    Jila sah den Schneelöwen an, der sie angesprochen hatte. Er war jünger als sie, um die dreizehn oder vierzehn Jahre alt vielleicht, und trug eine der grünen, hässlichen Laternen. Verkleidet war er als Tiefseeanglerfisch.

    „Das ist die letzte. Verkaufen sich gut, heute Nacht.“

    „Wenn ich sie kaufe, hast du keine mehr“, fiel Jila auf.

    „Ich brauch keine. Die bösen Meeresgeister haben ewig keinem mehr was getan.“

    Davon ging Jila auch aus.

    „In Ordnung. Wie viel?“


    Nachdem sie die Lampe hatte, vertrieb sich Jila die Zeit mit mehr oder weniger traditionellen Spielen, die an Ständen angeboten wurden. Böse Meeresgeister, eigentlich bemalte Dosen, mit Bällen umwerfen, Muscheln mit Magnetangeln an Land ziehen und so weiter. Sie mied Spiele, bei denen ihr Berechnungen halfen, zu gewinnen, soweit das möglich war, aber eigentlich gab es keins, bei dem ihre mathematischen Fähigkeiten überhaupt nichts brachten. Als sie nach einer Weile einen Stoffkugelfisch, eine Tüte Tintenfischbonbons, einen kleinen, grünen Haischädel aus Plastik, der im Dunkeln leicht leuchtete und einen Schokoladenskorpion am Stiel – eine örtliche Spezialität, bei der man auf keinen Fall den Stachel essen durfte – gewonnen hatte, beschloss sie, etwas aus der Hitze herauszukommen um die Ausbeute in Ruhe zu genießen.

    Sie begab sich auf das Grün und, obwohl es immer kälter und dunkler wurde, zwischen die Kirschbäume.

    Nachdem sie eine Weile gewandert war, hörte sie ein seltsames Jaulen, wahrscheinlich von tobenden Kindern, wenn es die um diese Zeit noch gab. Es kam nicht vom Zentrum des Parks sondern von der anderen Seite des Kirschhains. Lag da nicht der Friedhof? Nun, es gab immer Bekloppte, die Partys zwischen Gräbern veranstalteten.

    Dann wurde es ruhig. Nur in der Ferne waren Feiernde zu hören, und Sirenen, was bei so viel Alkohol wohl unvermeidlich war. Jila ging weiter in Richtung der Geräusche und zog dabei die Plastikhülle vom Schokoskorpion. Nur um ihn fallen zu lassen, als es schon wieder geschah.

    Es wurde plötzlich kälter. Das Plätschern war wieder zu hören. Und sie spürte den Blick von etwas, der auf sie gerichtet war.

    Doch diesmal nicht von hinten. Was immer es war, es war vor ihr in der Dunkelheit. War da nicht eine kleine Gestalt im Schatten der Bäume?

    Das Plätschern wurde lauter.

    Jila hatte genug.

    Sie ließ das Latexgesicht unter ihrer Perücke hervorschnellen, sodass es ihr echtes Gesicht bedeckte.

    Es sah ihr ähnlich, doch anstelle eines Katzenmauls hatte es eine runde Öffnung mit Zähnen überall, aus der eine lange dünne Zunge in einem dunklen Violett hing.

    Jila stellte keine Meerjungfrau dar. Sondern eine Seelen fressende Nixe.

    Das Plätschern verschwand ebenso wie die Kälte. Auch die Gestalt unter dem Baum war nicht mehr zu sehen.

    Jila sah nach unten. Wo war ihr Schokoladenskorpion? Sie konnte ihn im dunklen Gras nicht finden.

    Nun, so viel Gift hatte er ja nicht mehr. Und außerdem konnte er es nicht mehr spritzen, selbst wenn jemand zufällig barfuß darauf treten würde. Nur essen durfte man den Stachel halt nicht. Aber selbst das war natürlich nicht tödlich, nicht wenn der Skorpion vorschriftsmäßig zubereitet war.

    Jila entschied, zum Fest zurückzukehren.

    Die Nacht war noch lange nicht vorbei.

  • Und im nächsten Abschnitt haben wir einen ganz großen Hinweis auf die finale Wendung.


    Dritter Abschnitt: Leira


    Leira überprüfte noch einmal die Kühlboxen. Ja, alles dicht. Hätte gerade noch gefehlt, dass der Geruch der Fischköpfe ihr schönes Haus verpestete.

    Sie rückte ihr Meerjungfrauenkostüm zurecht. Ja. Die Gäste konnten kommen.

    „Alles bereit?“, fragte Lenthel, der die Treppe hinunter kam.

    Leiras Ehemann war wie sie ein Bergfuchs. Er war stämmig gebaut, leicht übergewichtig und sah ansonsten immer noch verdammt gut aus. Es gab schon Gründe, warum sie zu ihm zurückgekehrt war obwohl Hintian genauso reich war.

    Jetzt war er verkleidet als Walross, also im Grunde graubraun gekleidet mit falschem Schnurrbart und falschen Stoßzähnen.

    „Die Fischköpfe sind eingepackt, Essen und Getränke stehen bereit und Acida ist bei Aylette. Und bei dir?“

    „Bargeld, Schmuck und die wertvollsten Bilder sind im Tresor.“

    Lenthel kam unten bei seiner Frau an.

    „Dann ist ja wohl alles bereit.“

    Es klingelte bereits an der Tür

    Lenthel öffnete.

    Draußen stand Leiras alte Freundin Suiana mit einer ganzen Schar von verkleideten Kindern. Die gescheckte Kreuzung aus Polar- und Rotfuchs hatte sich selbst als Eiskrabbe verkleidet.

    Die Kinder schienen Grundschüler zu sein, sicher von der Ebtom-Gesamtschule wo Suiana seit einer Weile arbeitete.

    „Hi, Lenthel, hi, Leira. Ich bin mit den Kleinen unterwegs, du weißt schon, vor der Feier in der Schule, damit sie nicht gleichzeitig mit den Betrunkenen hier rumlaufen.“

    „Na, dann seid ihr hier ja gerade noch rechtzeitig“, erwiderte Leira. „Lange bleiben wir hier nämlich auch nicht mehr nüchtern. Kommst du später noch vorbei?“

    „Wenn die Feier in der Schule vorbei ist, vielleicht. Sind das echte ausgestopfte Meeresstrunze?“

    „Ach die. Hab ich bei der Scheidung von Hintian bekommen und dachte, einmal im Jahr kann ich wenigstens was damit anfangen.“

    „Kriegen wir jetzt Fischköpfe?“, fragte ein Polarfuchsjunge, der nicht älter als zehn sein konnte.

    „Wie bei den letzten Häusern, nur fünf von euch. Es kommen später noch andere Kinder, die wollen auch noch was.“

    „Schatz?“, fragte Lenthel an Leira gewandt.

    Die öffnete bereits die Kühlbox.

    „Fünf Fischköpfe, kommen sofort.“

    Am liebsten wäre sie gleich alle losgeworden.

    Mit einer Serviette in der Hand holte sie fünf Stück heraus und reichte sie an fünf Kinder weiter, die sich tatsächlich ordentlich hintereinander anstellten.

    „Und jetzt weiter! Noch sind nicht alle versorgt!“, rief Suiana. „Tschüs, Leira!“

    „Tschüs!“

    Lenthel schloss die Tür wieder, als Leira noch eine kleine Gestalt auffiel.

    „Warte mal“, sagte sie und Lenthel öffnete wieder.

    Da war noch ein Kind, etwa so groß wie die anderen. Die Spezies war nicht zu bestimmen, denn die grüne Kleidung samt Flossenhandschuhen ließ kein Fell sichtbar, eine grüne Kapuze bedeckte den Hinterkopf und eine Pappmaske des traditionellen, hässlichen, grünen Kugelfischgesichts das Gesicht.

    Seufzend öffnete Leira die Kühlbox noch einmal und gab auch diesem Kind einen Fischkopf.


    Eine Weile später trafen die ersten Gäste ein. Es handelte sich um das Paar, das nebenan wohnte, den Eisbären Hans und den Schneehasen Käse. Die beiden Männer waren jeweils als Schildkröte und als Riesenkrake verkleidet und brachten ihre Einladungen mit, als Beweis, dass sie eingeladen waren. Das war natürlich völlig unnötig, aber Käse war so pedantisch.

    Neben weiteren Gästen kamen natürlich auch Fischkopfsammler, allerdings nur Kinder.

    Leira gab es nicht gerne zu, aber sie hoffte auf etwas anderes.

    In ihrer ersten Ehe war sie Lenthel nicht gerade treu gewesen. Tatsächlich hatte sie sich sogar Callboys ins Haus bestellt. Natürlich war das ganz allein seine Schuld gewesen, schließlich hatte er den ganzen Tag gearbeitet und sie sträflich vernachlässigt. Ihre Ehe war gescheitert, sie hatte ihren zweiten Mann, Hintian, einen reichen Rotfuchs aus dem Süden, geheiratet, aber der war kein Stück besser gewesen. So hatte sie eine Affäre mit Lenthel angefangen und sich schließlich von Hintian scheiden lassen und Lenthel noch einmal geheiratet.

    Diesmal wollten sie es besser machen und meist gelang das auch – seit dem letzten Jahr hatten sie eine Tochter – doch hin und wieder hatte Leira Bedürfnisse, die ihr Mann nicht erfüllen konnte.

    Und da ihm das nach allem was schon passiert war, auch klar war, hatten sie einen Tag im Jahr gewählt, an dem sie es mit der ehelichen Treue nicht so genau nehmen mussten.

    Und der würde in einigen Stunden enden und bisher hatte sie ihn nicht genutzt.

    Die Party war natürlich die ideale Gelegenheit, deshalb hatten sie den Tag ja gewählt, doch von den geladenen Gästen kam keiner infrage. Sie lebten alle hier in der Stadt, größtenteils sogar in dieser Straße. Das wäre unendlich peinlich.

    Aber es gab jedes Jahr einen großen Strom von Besuchern von außerhalb und sie hoffte, dass ein gut aussehender solcher früher oder später an ihrer Tür klingelte. Na ja, zwei. Lenthel hatte seine heutige Freiheit auch noch nicht genutzt.

    Als es wieder einmal klingelte, hoffte Leira erneut, weder geladene Gäste noch Kinder vorzufinden.

    Als sie die Tür öffnete, sah sie drei Gestalten. Sie sahen nicht aus, wie Leute, die sie eingeladen hatte. Sie sahen auch nicht aus wie Kinder. Sie sahen aus wie gar nichts, was sie je gesehen hatte.

    Die vorderste Gestalt war groß, breit und eindeutig humanoid. Sie hatte riesige Füße, größer als die jedes Bigfoots aus den Bergen der Ungeheuer, aber genauso mit braunem Fell bedeckt. Die Form jedoch, mit drei vorderen und einem hinteren Zeh, erinnerte eher an einen ctonischen Saurier oder eine Eisechse. Der Unterleib steckte in einem in grellem gelb und pink gestreiften Rock, in dessen Stoff schwere Ketten eingearbeitet zu sein schienen, der Oberleib wurde von einer schwarzen Rüstung geschützt, die einen bulligen Bau vermuten ließ und zudem nahelegte, dass es sich bei dem Wesen um ein üppig ausgestattetes weibliches Säugetier handelte. An der Seite ragten zwei baumstammdicke Arme aus der Rüstung, die auch von braunem Fell bedeckt waren und in vierfingrigen Pranken endeten.

    Das seltsamste an der Gestalt war aber wohl der Kopf. Ohne sichtbaren Hals ragte aus dem Kragen der Rüstung einfach eine runde Säule, die erst ganz oben in eine Kuppel überging und, natürlich, von braunem Fell bedeckt war. Das Gesicht auf dieser Säule bestand aus zwei kleinen gelben Augen und einem Mund, der aussah, als hätte man einfach ein umgedrehtes Lächeln auf die Haut gemalt und ein paar vergilbte vorstehende Zähne dazu geklebt.

    Das echte Gesicht, das unter dieser Maske steckte, musste ziemlich flach sein.

    Die zweite Gestalt, ein wenig links hinter der ersten, wirkte noch seltsamer. Genaugenommen sah sie aus wie ein Haufen blauer und rosa Tentakel aus dem zwei schwarze Aale ragten. War das ein kostümiertes Haustier? Ein Spielzeug? Ein Dämon? Ein Alien aus Belacka? Immerhin stimmte das Meeresthema.

    Eher rechts hinter dem großen Wesen stand eines, das ziemlich menschenähnlich aussah, aber eine lila Haut und federartiges lila Haar hatte. Vermutlich war es ein geschminkter weiblicher Mensch, aber trotz der extrem knappen Kleidung, die im Grunde nur aus dicker, watteartiger rosa Unterwäsche bestand, schien es nicht zu frieren.

    Leira brauchte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass sie die drei schon mindestens eine Minute lang anstarrte ohne etwas zu sagen.

    „Gäste oder Sammler?“, fragte sie.

    „Ja“, antwortete das vordere Wesen.

    Es war faszinierend. Wenn es den Mund öffnete sank der Bereich unterhalb des Mundes einfach hinab in die Rüstung, als wäre er ein in die Säule eingepasstes separates Stück, wie bei einem Nussknacker. Im Mund war nur Schwärze zu erkennen und die Stimme klang tief aber ein wenig weiblich.

    „Was, ja?“

    „Nein.“

    „Bitte?“

    „Fick dich.“

    Leira war entschlossen, die Tür zu zu knallen, als der mutmaßliche Mensch das Wort ergriff.

    „Entschuldige sie, sie hat … ein kleines Problem. Ähm, ist das hier die Nummer zweiundzwanzig?“

    „Wie auf der Tür deutlich steht, ja.“

    „Und du bist Leier?“

    „Leira. Und wer hat Ihnen erlaubt mich zu duzen?“

    „Das war es schon“, versicherte der Mensch.

    „Ich will noch einen Fischkopf!“, sagte einer der Aale.

    Leira öffnete schnell die Kühlbox, nahm die Serviette und hielt der seltsamen Kreatur einen Fischkopf hin. Ein Tentakel schnappte ihn sich und schob ihn ins Maul des Aals, der nicht gesprochen hatte, wo er verschwand.

    „Vielen Dank!“, sagte der erste Aal.

    Die drei gingen, beziehungsweise krabbelten davon und Leira schloss die Tür wieder.

    „Wer war das?“, fragte Lenthel, dem offenbar aufgefallen war, dass Leira recht lange mit den Leuten vor der Tür gesprochen hatte.

    „Ich habe keine Ahnung“, gab die Füchsin zu.

  • Mehr Gäste trafen ein und Lenthel schaltete die Musik ein. Es lief eine Auswahl von mehr oder weniger zur Nacht passenden Liedern, darunter ein billiger Pop-Song, den Leira vor dem Ende ihrer Karriere selbst gesungen hatte.

    „Hast du das zusammengestellt?“, fragte sie Lenthel.

    „Ja“, gab der zu. „Ich wollte nicht wie letztes Jahr ständig die CD wechseln müssen.“

    Leira entdeckte einen Nachbarn den sie recht gut kannte und ließ Lenthel die Musikauswahl erst mal durchgehen, um zu diesem hinüber zu schlendern.

    Unterwegs nahm sie sich ein Glas Sekt, wie auch er eins hatte.

    „Hallo, Garibati“, grüßte sie den Polarfuchs, dessen Gesicht der Taucheranzug, den er als Kostüm trug, natürlich frei ließ.

    „Hallo, Leira.“

    Lenthel hatte ihn reingelassen, daher hatten sie sich noch nicht begrüßt.

    „Kommt Aylette auch noch?“

    „Vorerst nicht. Sie passt ja auf die Kinder auf. Mista muss um diese Zeit langsam mal ins Bett und später kommen die Jungs zurück. Außerdem hat sie doch auch dein kleines Mädchen. Und auf Lekiu passt sie auch auf.“

    „Ja, aber sie kann ja trotzdem mal vorbeikommen.“

    „Nicht jeder hat Personal, das mal auf die Kinder aufpassen kann. Aber sie kommt noch, wenn ich sie ablöse.“

    Gut zu wissen.

    Leira hörte die Türklingel läuten und trank ihr Glas in einem Zug aus. Sie wollte locker sein, wenn der richtige kam. Schnell ging sie zur Tür und öffnete.

    Schade. Wieder nur Kinder.

    Ein paar davon kannte sie. Aujilei, der man nur an den gelben Augen ansah, dass sie nicht nur Polarfuchs sondern auch zum Teil Rotfuchs war, war mit ihren neunzehn Jahren eigentlich kein Kind mehr. Sie trug nicht direkt ein Kostüm sondern die schuppige Uniform der Trommelschlägerin, hatte allerdings die Kugelfischtrommel auf den Rücken geschnallt.

    Man konnte auch nicht erwarten, dass jemand das die ganze Nacht lang durchhielt.

    Die Seeschlange neben ihr war zweifellos ihr derzeitiger Freund, Kell.

    Die übrigen drei Teenager, die die beiden begleiteten, waren jünger.

    „Entschuldigen Sie“, sagte ein vielleicht vierzehnjähriges Kaninchenmädchen, das mit wundervoll bemalten Flügeln und niedlichen Fühlern als Großer Seefalter verkleidet war. „Wir sammeln Kugelfischlaternen für ein Projekt, haben Sie vielleicht eine übrig?“

    Erst jetzt fiel Leira auf, dass sie einen Bollerwagen mit Laternen hinter sich her zogen.

    „Klar, nehmt eine. Wir brauchen eigentlich bloß eine, der Rest der Dekoration macht eh mehr her.“

    Bei den vielen Laternen an der Grundstücksgrenze kam es auf die eine wirklich nicht mehr an.

    „Vielen Dank.“

    „Möchtet ihr auch Fischköpfe?“

    Hoffentlich. Das letzte was Leira brauchen konnte, war, dass welche übrig blieben. Sie hatte nämlich nicht die Absicht, die Dinger selbst zu essen.

    „Ja, gerne.“

    Leira reichte fünf Köpfe. Immerhin, es wurden langsam weniger.

    „Danke“, sagte Aujilei und alle fünf drehten sich um und gingen zurück in Richtung Straße.

    Leira sah ihnen nach. Aujilei war so niedlich wie ihre Mutter, aber deutlich eleganter. Sexy.

    Sie schüttelte sich. So dachte man nicht über die Tochter der besten Freundin.


    Leira hatte schon ein paar Gläser mehr (Pfirsichsekt, Schneekirschsekt und Klippenland-Champagner) intus, als endlich jemand klingelte, der für sie infrage kam. Die Katze trug orange Kleidung, die ein bisschen an einen der modernen und gar nicht mehr klobigen belackanischen Raumanzüge erinnerte (auch wenn die himmelblau waren) und hatte ebenfalls orange Gummistücke auf den Rücken und an Hinterkopf, Arme und Beine geschnallt, sodass sie insgesamt einen Seestern darstellte. Ihr Fell und auch das Haupthaar, das für eine Katze schon ungewöhnlich war, waren ebenfalls orange gefärbt, sodass die grünen Augen besonders hervorstachen.

    Sie war süß.

    „Gast oder Sammler?“, fragte Leira.

    „Gast“, sagte die Katze. Leira hatte sie ganz sicher noch nie gesehen und auch nicht eingeladen und es war unzweifelhaft, dass sie das wusste und trotzdem ihr Glück versuchte und das auch nicht wirklich verheimlichte.

    Richtig so.

    „Wie alt bist du denn?“

    „Dreißig.“

    Das konnte hinkommen. Die Katze war nicht groß, wie Leira selbst. Obwohl die Füchsin als Kind recht groß gewesen war, sie hatte dann nur irgendwie aufgehört zu wachsen und alle hatten sie überholt.

    „Das ist alt genug, komm rein.“

    Das Seesternchen trat ein und steuerte auf den Tisch mit den Getränken zu. Leira schloss erst die Tür, dann sich an.

    „Wir sind gar nicht so weit auseinander. Ich bin siebenundzwanzig“, log die Sechsundvierzigjährige dreist.

    „Hmh.“

    Die Katze schien Leira gar nicht mehr zu beachten, sondern hatte ihre Augen auf Lenthel gerichtet.

    Sie griff sich ein Champagnerglas und näherte sich ihm.

    „Und mit wem habe ich jetzt das Vergnügen?“, fragte sie ihn eindeutig.

    Na super. Und Leira durfte weiter warten.


    Es dauerte gar nicht lange, bis es wieder klingelte. Leira musste sich von einem langweiligen Gespräch mit einer ihr praktisch unbekannten Nachbarin vom anderen Ende der Wohnhausreihe, einem Hermelin im weißen Winterpelz, das ganz untraditionell als Scharfrichter verkleidet war, lösen, ehe sie öffnen konnte.

    Vor der Tür stand erneut eine Katze. Und sie trug das gleiche Kostüm wie Leira.

    Und es stand ihr gut.

    „Gast oder Sammler?“

    „Gast.“

    Dieser Ton. Etwas unsicher aber … nicht unerfahren. Das war kein unschuldiges Mädchen.

    „Und dann tauchst du im gleichen Kostüm auf wie die Gastgeberin?“, scherzte Leira.

    Das Fleckenmuster hatte etwas von einem Leoparden oder so, aber sie war keiner. Das Gesicht war das einer Wildkatze, wie sie im Süden des Reiches vorkamen.

    „Kleiner Scherz, komm … äh, wie alt bist du eigentlich?“

    „Einundzwanzig.“

    Einundzwanzig? Vielleicht. Aber eher ein bisschen jünger.

    In jedem Fall alt genug.

    Diese Augen kamen Leira ein bisschen bekannt vor. Aber nein, an das Muster hätte sie sich erinnert.

    „Das ist alt genug, komm rein.“

    Na, das würde doch noch ein schöner Abend werden.


    Die Fremde enttäuschte Leira nicht. Sie hatte definitiv Erfahrung. Jede Menge.

    Hinterher bewies sie allerdings ein Maß an Neugier und Kombinationsgabe, das der Hausherrin ein wenig auf die Nerven ging.

    Sie zog ihr Kostüm schnell wieder an – die Unterschiede waren schon noch so groß, dass sich die Kostüme nicht verwechseln ließen – und verschwand in Richtung Wohnzimmer.

    Als Leira nach einer Weile folgte, war die Katze nicht mehr zu sehen. Besser so. Leira erwartete nicht, dass sie jetzt damit angab, die Gastgeberin flachgelegt zu haben, aber falls sie es doch tat, dann wenigstens nicht auf der Party ebendieser Gastgeberin.

    Dafür fielen Leira ein paar neue Gesichter auf. Speziell natürlich Lenthel, der wieder unten war und nachdem er die Küchentür nicht öffnen konnte mit den Schultern zuckte und zum Buffet ging, aber auch ein paar neue Gäste, die wohl er hereingelassen hatte.

    Der Seestern war nicht da, dafür ein gehörnter Rochen und eine Möwe, die eigentlich zwei junge menschliche Frauen waren.

    Schon drei Menschen heute, wenn die eine Frau wirklich ein Mensch gewesen war. Ungewöhnlich viele. In der ganzen Stadt und der Umgebung wohnte nämlich kein einziger und in den letzten Jahren hatte Leira auch keine unter den Besuchern gesehen.

    Die beiden schienen sich selbst auch etwas fehl am Platz zu fühlen, denn sie standen abseits der anderen und sprachen nur miteinander.

    Als gute Gastgeberin trat Leira zu ihnen.

    „Ich sehe, Sie haben noch nichts zu trinken. Einen Champagner?“

    „Ich trinke niemals … Champagner“, erklärte das Rochenmädchen. Seine blasse Haut stand in starkem Kontrast zu dem rabenschwarzen Haar.

    „Wir haben auch andere Getränke.“

    „Nein danke“, sagte die blonde Möwe weitaus freundlicher als ihre Begleiterin. „Mich nährt die Liebe des Höchsten Wesens.“

    Was war das denn für eine Spinnerin?

    „Durst hätte ich ja schon …“, zischte der Rochen.

    Die Möwe seufzte.

    „Später, Schatz. Nicht hier auf der Party.“

    „Ich weiß.“

    Vertrug das Mädchen vielleicht nichts und wollte sich nicht blamieren? Nun, da wollte sich Leira nicht einmischen.

    „Haben Sie schon die Krabben im Teigmantel probiert? Die hat Eroka gebacken, die beste Köchin in der Gegend.“

    Die Rochenfrau leckte sich die Lippen.

    „Krabben sind … jetzt nicht das richtige.“

    Sie wandte sich dem anderen Menschen zu.

    „Müssen wir wirklich weiter Theater spielen? Das soll doch eine aufgeklärte Gegend sein.“

    „Sicher ist sicher.“

    Leira war ernsthaft verwirrt. Gehörten die beiden irgendeiner Sekte des Höchsten Wesens mit seltsamen Ernährungsregeln an?

    „Hier stimmt etwas nicht“, sagte der Rochen plötzlich. „Es liegt etwas in der Luft. Ich kann es riechen.“

    Oje. War etwa eine der Kühlboxen undicht? Verdammte Fischköpfe.

    „Ich spüre auch etwas“, sagte die Möwe. „Aber ich kann es nicht einordnen.“

    Ah ja. Beim Gehörnten, wie bekloppt waren die denn?

  • Leira war gleich an der Tür, als es wieder klingelte. Zum ersten Mal in dieser Nacht musste sie hinab sehen, obwohl es kein Kind war, das vor der Tür stand.

    Es war ein Mauswiesel um die zwanzig. Und verkleidet als Squire Batons.

    Auffällig freizügig verkleidet als Squire Batons.

    „Gast oder Sammler?“

    „Sammler.“

    Gut, sie wurde doch noch Köpfe los.

    Leira öffnete die angebrochene Kühlbox.

    „Aber ich sammle keine Fischköpfe.“

    Ohne den Deckel wieder zu schließen, wandte sich Leira dem Mädchen zu.

    „Und was dann?“

    „Sie haben nicht zufällig einen gutaussehenden starken Mann da? Eine Frau ginge notfalls auch, aber dann müssen wir auf Hilfsmittel zurückgreifen.“

    „Bitte?“

    „Es geht um eine Wette. Um zu gewinnen muss ich den besten anschleppen.“

    Leira grinste innerlich. Direkter ging wohl kaum.

    „Es sind einige hier. Komm rein und such dir einen raus.“

    Das Wiesel trat ein und Leira musste sich zurückhalten nicht zu kichern, als es betont verführerisch nach einer Krabbe griff und den Blick über die übrigen Gäste schweifen ließ.

    Dann stieg ihr ein unangenehmer Geruch in die Nase. Waren die Fischköpfe etwa schon schlecht?

    Die Füchsin beugte sich hinunter und schob den nur lose aufgelegten Deckel von der Kühlbox. Es war immer noch die erste Box, aber es waren kaum noch Köpfe übrig. Auf der zweiten würde sie dennoch sitzen bleiben. Verdammte Fischköpfe.

    Sie sahen noch ganz frisch aus, aber der Geruch war zweifellos da. Mit der erneut durch die Serviette geschützten Pfote griff Leira in die Box und drehte ein paar Köpfe um. Nein, alles in Ordnung. Sie nahm noch einen Kopf um ihn genauer zu betrachten und erstarrte als ein plötzlicher Schmerz durch ihre Hand fuhr.

    „Aua!“

    Sie stand auf und riss gleichzeitig den Arm hoch. Der Fischkopf blieb an ihrer Hand. Er hatte sich in ihren Finger verbissen.

    „Wegwegwegwegweg!“, schrie sie und schüttelte die Hand. Dann besann sie sich und griff mit der anderen Hand nach dem Kopf um ihn zu lösen.

    „Aua!“

    Ein zweiter Fischkopf hing an der anderen Hand. Wo kam der denn plötzlich her?

    Als könne er Gedanken lesen, sprang ein dritter Kopf aus der Kühlbox und schlug seine kleinen, scharfen Zähne in Leiras Nase.

    „Aaahh!!!“

    „Schatz!“, rief Lenthel und eilte in die Richtung seiner Frau. Doch irgendwie schien er nicht anzukommen. Leira sah nur kurz zu den Gästen im Wohnzimmer, aber alle schienen sich in Zeitlupe zu bewegen.

    Ganz anders die Fischköpfe. Zu zweit und dritt sprangen sie mittlerweile aus beiden Boxen und bissen die Füchsin in Arme, Beine und Schweif. Und sogar durch das Kostüm in den Bauch. Panisch riss sie sie von ihrem Körper ohne noch Rücksicht auf die Hautfetzen zu nehmen, die sich mit ihnen lösten. Doch wohin und wie fest sie sie auch warf, die Köpfe kamen zurück. Immer mehr kamen aus der zweiten Box, verbissen sich überall in ihren Körper. Schließlich setzte sie sich erschöpft hin.

    Als sie glaubte, dass es nicht mehr schlimmer kommen könne, sah sie einen weiteren Kopf auf sich zu kommen. Sehr nahe. Direkt auf ihr rechtes Auge.


    Leira blinzelte.

    Sie sah sich um und als ihre Sicht von „durch den Boden eines Glases“ zu „normal“ wechselte, stellte sie fest, dass sie auf ihrem Sofa lag.

    „Wie geht es dir?“, fragte Lenthel.

    Er stand vor dem Sofa und blickte seine Frau besorgt an.

    „Geht so. Was … was ist da passiert?“

    „Haben wir auch nicht ganz verstanden. Irgendwie hingen plötzlich die Fischköpfe an dir und dann fielen sie wieder ab und du warst bewusstlos.“

    „Die meisten hielten es für irgendeinen Trick, aber wir haben alle weggeschickt“, hörte Leira Garibatis Stimme.

    Sie drehte den Kopf und sah den Polarfuchs hinter dem Sofa stehen.

    „Habe ich …“

    „Ein paar Bissspuren“, bestätigte Lenthel. „Ich habe sie schon desinfiziert. Die Fischköpfe habe ich raus geschafft, die soll sich später jemand genau ansehen.“

    Leira setzte sich auf und spürte augenblicklich leichte Kopfschmerzen.

    „Langsam“, riet ihr Mann.

    „Geht schon.“

    Leira stand auf. Nach dem ersten unsicheren Schritt ging es schon wieder ganz gut. Mit dem deutlichen Wunsch nach Eis machte sie sich auf in die Küche, wo noch drei Kühlboxen samt Kühlelementen liegen sollten.

    Die beiden Männer folgten dichtauf, stets bereit sie aufzufangen.

    „Es könnte etwas chaotisch sein“, warnte Lenthel. „Jemand hat sich irgendwann hier eingeschlossen und man kann sich ja denken, was die dann angestellt haben.“

    Was Leira als erstes auffiel war das Fehlen der Decke des Küchentisches. Wenn sie es auf dem Tisch getrieben hatten, war ihr das auch ganz recht. Zudem fehlte eine Kühlbox, was weniger logisch war. Immerhin waren die anderen beiden noch da.

    Sie öffnete eine und fiel beinahe wieder in Ohnmacht.

    Das weiße Winterfell und die Haut fehlten ebenso wie das Scharfrichterkostüm, doch der Kopf der oben auf dem Stapel von Körperteilen lag (von denen so einige fehlen mussten, wie Leira trotz des Schocks auffiel) blickte sie eindeutig mit den Augen der unbekannten Hermelinnachbarin an.

    Leira schrie. Und dieses Mal ließ es sich unmöglich in Buchstaben wiedergeben.

  • Ja, der letzte Abschnitt hat eine wichtige Frage gestellt: Wer läuft bitte rum und zieht Leuten das Fell ab?

    Dieser stellt wieder eine schöne Frage.


    Vierter Abschnitt: Kaspen


    Kaspen stieß gelangweilt eine Kugelfischlaterne von einer Mauer und trampelte darauf herum. Der ganze Abend lief schon so mies. Im Park war alles voller Kinder und für die Partys war er angeblich noch zu jung. Nichts zu tun für einen dreizehnjährigen Eisbären.

    Dazu kam, dass die meisten Leute noch da waren. Sie hatten noch keine Fischköpfe (oder besser noch Süßigkeiten) vor die Tür gestellt, sodass er sich eine Menge nehmen konnte, die einem Bären genügte. Und gegeben wurde ja immer nur eine Sache. Manchmal bekam er sogar gar nichts, weil er angeblich kein Kostüm trug. Dabei war er verkleidet. Als wilder Eisbär. Die lebten am Meer, oder? Gut, sie trugen keine Hosen, aber das konnte er den Leuten ja nicht antun.

    Hier hatte er es noch nicht probiert, aber die Laterne zertrampelte er schon aus Prinzip. Schließlich wohnte hier sein Geschichtslehrer. Leider hatte der Typ noch eine zweite, riesige, mit einer Gaslaterne darin. Die ließ sich nicht zertrampeln.

    Aber er konnte ja versuchsweise mal klingeln.

    Als er das tat, öffnete niemand, also klingelte er Sturm, bis die Tür endlich aufging. Vor ihm stand ein kleiner Eiswolf mit einer Kugelfischmaske, die mit dem Ausschnitt für die Wolfsschnauze total doof aussah.

    „Haste was zu futtern?“, fragte Kaspen.

    „Du trägst kein Kostüm“, sagte der kleine Junge nur.

    „Doch. Ich bin als wilder Eisbär verkleidet.“

    „Wer kein Kostüm trägt, den holen die Tiefen.“

    „Klappe.“

    „Die kommen aus dem Meer und holen dich.“

    „Hast du jetzt was oder nich?“

    „Wer kein Kostüm trägt, kriegt nix.“

    „Hör mal, du kleiner Hosenscheißer, wenn ich hier nichts kriege, dann mache ich Kleinholz aus eurer tollen Riesenlaterne!“

    „Da is gar kein Holz drin.“

    Und damit knallte das Kind die Tür einfach zu.

    „Was fällt dir ein!“, brüllte Kaspen.

    „Lass ihn doch. Er ist bloß ein Kind.“

    Kaspen drehte sich um und sah seine Klassenkameraden Urian und Lurian, die Zwillinge. Die beiden Polarfüchse waren verkleidet als Seeleopard und als Schwertwal, aber Kaspen konnte nicht sagen, welcher welcher war.

    „Kinder nerven“, sagte er nur.

    „Da sagst du was“, bestätigte der Wal.

    „Solange die noch rumlaufen macht es nicht wirklich Spaß“, bestätigte der Seeleopard.

    „Wir sollten was richtig Lustiges machen. Irgendwelchen Blödsinn anstellen“, schlug Kaspen vor.

    „Aber nicht hier“, widersprach der Seeleopard. „Unsere Mutter und ihre Freundinnen wohnen in dieser Ecke.“

    „Und wo sonst?“

    „Wir könnten schräg durch den Park gehen und an der Nummer eins anfangen, oder sogar noch davor. Alles jenseits von der Dreizehn interessiert keinen.“

    „Was ist denn mit der Dreizehn?“, fragte Kaspen.

    „Da wohnt Eroka, das ist eine Freundin unserer Mutter“, erklärte der Schwertwal.

    „Okay. Gehen wir durch den Park.“


    Der Park war blöd. Überall lärmende Knirpse in albernen Kostümen. Kaspen entriss einem von ihnen den Beutebeutel und ging weiter, ohne sich um den folgenden Protest zu kümmern. Immerhin dafür waren sie gut.

    Auch das noch, vor dem Fischstand hatte sich eine Schlange angesammelt, die quer über den Platz ging. Kaspen schubste eine Spinnenkrabbe zur Seite, die im Weg stand, und quetschte sich durch.

    „Tschuldigung“, sagte Urian oder Lurian als die beiden ihm durch die Lücke folgten.

    „Verdammte Kinder!“, schimpfte die Spinnenkrabbe.

  • Mit der Adresse Niansring 1 begann die Wohnsiedlung des Niansringes. Natürlich wohnten auch woanders noch Leute im Niansring, in den Blocks in denen unten die Geschäfte und oben die Wohnungen waren, aber hier gab es mehr zu holen.

    Zwölf Häuser bis zu dieser Eroka. Immerhin.

    Kaspen ging zur Grundstücksgrenze der 1 und trat auf die dort aufgestellte Laterne.

    „Und was machen wir jetzt lustiges?“

    „Keine Ahnung“, gab Schwertwal zu.

    „Wir könnten erst mal fragen, ob es was gibt“, schlug Seeleopard vor. „Und wenn nicht … dann malen wir die Tür mit irgendwas aus deiner geklauten Tüte an.“

    Kaspen stopfte sich noch ein paar Fischköpfe ins Maul und sah in die Tüte.

    „Wir können das Kirschgelee nehmen, das ist zuckerfrei.“

    „Prima. Dann los.“

    Die drei gingen zur Tür und Seeleopard klingelte.

    Ein weibliches Hermelin mit einer Henkerskapuze öffnete.

    „Fischköpfe oder wir beißen selbst!“, drohte Kaspen sofort.

    „Du trägst kein Kostüm“, bemerkte das Hermelin.

    „Tu ich wohl. Ich bin ein wilder Eisbär. Das hat mehr mit dem Meer zu tun als dein Kostüm.“

    „Das muss ich mir nicht gefallen lassen“, entschied das Hermelin und schlug die Tür zu.

    „Das hast du mit Absicht gemacht“, sagte Schwertwal anklagend.

    „Ist doch egal. Ich mal’ jetzt was auf die Tür.“

    „Was denn?“, fragte Seeleopard.

    „‘nen Schwanz mit Eiern.“

    „Fällt dir nichts Lustigeres ein?“

    „‘nen dicken Schwanz mit Eiern.“

    „Na meinetwegen.“


    Letztlich waren sie doch zu Häusern nach der Dreizehn gegangen. Da waren die Zwillinge aber echte Spaßbremsen gewesen, hatten sich nichts getraut, weil sie ja jeder kannte, und so hatten sie dann doch aufgehört. Jetzt saßen sie auf der anderen Straßenseite am Parkrand und betrachteten ihre Ausbeute.

    „Das ist praktisch nichts“, befand Seeleopard. „Alles deine Schuld!“

    „Wieso denn meine?“, wehrte sich Kaspen.

    „Weil du bloß Laternen zertrampeln, Türen beschmieren und Briefkästen mit ausgerissenem Gras füllen wolltest.“

    „Und weil du an der Tür mit der Schüssel gleich alles runter geschlungen hast, ohne dass wir uns was nehmen konnten“, ergänzte Schwertwal.

    „Ist doch nicht meine Schuld, wenn ihr lahmarschig seid.“

    „He, guckt mal!“

    Seeleopard wies auf die Leute, die eben vorbei kamen und im Weg zwischen 17 und 18 verschwanden, der zum See, beziehungsweise, wenn man nicht nach links abbog, zum Wald am Seeufer führte. Die beiden Menschenweibchen trugen große Kostüme, ein Rochen und ein Vogel, aber die schwarzweiße Füchsin nichts als Unterwäsche.

    „Wow“, staunte Kaspen.

    Schwertwal sah den drei mit heraushängender Zunge hinterher.

    „Sowas sieht man auch nicht alle Tage“, fand er.

    „Sag das nicht. Da kommt noch so eine.“

    Die Straße hinauf, aus derselben Richtung aus der auch Kaspen und die Zwillinge gekommen waren, kamen drei äußerst seltsame Gestalten. Zwei waren eher uninteressant, ein braunfelliger Schrank in schwarzer Rüstung und ein Haufen Tentakel (eine verkleidete Eiskrabbe oder ein ähnlich kleines Haustier?). Die dritte aber war eine junge Menschenfrau, die außer lila Schminke und ner komischen Perücke auch nur Unterwäsche trug.

    Da die Füchsin eh nach rechts (also Richtung Wald) verschwunden war, betrachtete Kaspen nun sie eingehend. Obwohl sie sich angeregt mit ihren Begleitern in einer ihm unbekannten Sprache unterhielt, schien sie das zu bemerken, drehte den Kopf und zwinkerte ihm zu.

    Oder vielleicht auch allen drei Teenagern.

    „Was hat sie damit gemeint?“, fragte einer der Zwillinge, Kaspen sah nicht hin und konnte daher nicht sagen, welcher. „Meint ihr sie ist scharf auf uns?“

    „Quatsch. Wir sind dreizehn und die ist garantiert volljährig. Das ist strafbar.“

    „Sie ist nicht von hier. Sie weiß das vielleicht nicht. Muss ja auch keiner was von der Sache erfahren.“

    „Sie hat bemerkt, dass wir sie anglotzen und wollte bloß nett sein.“

    „Hast ja recht. Trotzdem, fürs Erste Mal wär’ die genau richtig.“

    „Ob die sich mit den anderen drei treffen? Ich meine, drei Menschen, das ist doch kein Zufalle, die gehören sicher zusammen.“

    „Ne, sie gehen nach links, zum See. Die anderen sind nach rechts gegangen.“

    „Vielleicht kennen sie sich bloß nicht aus.“

    „Na den See kann man doch wohl nicht übersehen.“

    „He, seht mal wer da kommt. Die müssen die ganze Zeit ein Stück hinter uns gewesen sein.“

    Auch Kaspen bemerkte die kleine Gruppe mit dem Bollerwagen, jetzt wo er das Menschenweibchen nicht mehr sehen konnte. Die beiden älteren kannte er nicht, aber die übrigen drei waren auch in seiner Klasse. Kemmer, Metla und die Blechfresse, deren Name ihm nicht einfiel.

    „Na“, meinte Schwertwal, „sieht Metla als Schmetterling nicht zum Anbeißen aus?“

    „Lass das!“, sagte Seeleopard sichtlich pikiert.

    „Der steht auf das Kaninchen?“, fragte Kaspen ungläubig.

    „Tu ich nicht“, widersprach Seeleopard.

    „Total“, beharrte Schwertwal. „Uri fängt jedes Mal an zu hecheln, wenn sie diese verächtliche Handbewegung macht, mit der sie uns in der Pause immer stehen lässt.“

    „Gar nicht wahr.“

    Die Gruppe ließ die dunkle Siebzehn links liegen und klingelte bei der Achtzehn.

    „Die mit der Trommel find ich scharf“, bemerkte Kaspen. „Die könnte gerne mal meine Trommel … äh … mit meinem Trommelstock … ach irgendsone Metapher halt.“

    „Aujilei?“, fragte Seeleopard, also Urian. „Ne, also … mit Aujilei kann ich mir gar nichts vorstellen. Sie war mal unsere Babysitterin.“

    „Und dein Kaninchen ist ne arrogante Schnepfe. Die dürfte mir höchstens einen lutschen. Und auch nur, wenn sie schluckt.“

    „He!“

    „Aha! Du stehst doch auf sie!“

    Die Tür der Achtzehn schloss sich und die Gruppe zog weiter.

    „Die haben uns wohl nicht bemerkt“, urteilte Schwertwal, Lurian.

    „Oder nicht beachtet“, ergänzte sein Bruder. „Mama hat uns jedenfalls nicht gesehen.“

    „Ist das euer Haus?“, fragte Kaspen.

    „Wir haben doch gesagt, wir wohnen in der Gegend.“

    „Ich hab ne Idee“, meinte Lurian. „Jetzt sind weniger Kinder unterwegs. Gehen wir die Häuser nochmal ab.“

    „Wieso sollte es diesmal besser laufen?“, fragte Urian.

    „Weil wir diesmal keinen fetten Idioten dabei haben.“

    „He!“, rief Kaspen.

    Seine Pfoten ballten sich zu Fäusten.

    „Nicht so laut. Aujilei muss sich nur umdrehen um uns zu bemerken. Und unsere Mutter wohnt gleich da.“

    „Ach macht doch was ihr wollt!“


    Nachdem er eine Weile Kreise im Park gezogen hatte ohne sich wirklich von der Straße zu entfernen, hatte sich Kaspen zum See begeben, in der Hoffnung, das Menschenweibchen in Lila wiederzufinden. Natürlich war es nicht da.

    Vielleicht sollte er in den Wald gehen und die Füchsin suchen.

    Plötzlich fiel dem Eisbären etwas im See auf. Schwamm da jemand? Ja, und jetzt näherte er sich dem Ufer. Diese blaue Haut – was war das?

    Wer kein Kostüm trägt, den holen die Tiefen. Die kommen aus dem Meer und holen dich.

    Unsinn.

    Das war auch kein Tiefer, was immer das sein mochte. Das war eine Art Alianbestie, nein, bloß jemand im Alianbestienkostüm.

    Und er stieg nun ganz aus dem Wasser und kam auf ihn zu. Ohne Angst ging Kaspen ihm entgegen. Sicher, eine echte Alianbestie war gefährlich. Die Kreaturen mit dem skeletthaften Körper eines Raubsauriers, dem länglichen Kopf und der Knochenklinge am Schwanz waren Raubtiere und Kaspen wurde schon etwas nervös, wenn sie im Zoo nahe ans Gitter kamen. Aber das hier war nur lächerlich.

    „He, wer bist du denn?“

    „Hmmmh!“

    „Was?“

    „Mhmhm!“

    „Sprich mal deutlich!“

    Die falsche Alianbestie stand jetzt direkt vor dem Eisbären – und schlug ihm die Krallen in den ungeschützten Bauch.

    „Aua!“, rief der, blutend aber nicht schwer verletzt.

    Was fiel dem denn ein?

    „Hmhmmh!“

    „Ich geb dir gleich hm hm hm!“

    Kaspen ließ sich einfach nach vorn fallen und riss die Alianbestie mit, die dann hilflos unter ihm lag. Mit beiden Händen packte er den Kopf, um die Maske herunterzureißen.

    Dann schnellte unmöglicherweise das innere Maul vor und versenkte seine Zähne in Kaspens Kehle.

  • Schon zwei rätselhafte Todesfälle. Mal sehen, wie es um nächsten Abschnitt läuft.


    Oh. Oh, heute kommt dieser Abschnitt. Wie passend für Halloween.


    Fünfter Abschnitt: Aujilei


    „Hast du auch alles?“

    Aujileis Mutter war schon weg, schließlich hatte sie zu arbeiten. Dennoch konnte die Füchsin die Frage noch hören.

    Ihre Mutter neigte dazu, in der Hinsicht sicher zu gehen. Wohl weil sie selber immer alles vergaß. So wie jetzt ihre Taschenlampe, die immer noch auf dem Küchentisch lag. Nun, musste sie die Kinder eben im Laternenlicht an den Strand führen.

    Aujilei dagegen hatte für gewöhnlich wirklich alles. Auch diesmal konnte sie nicht sehen was fehlte. Taschenlampe für den Notfall in der Tasche, geschuppte Uniform an, Kugelfischtrommel umgehängt, Trommelstöcke in der linken Hand und in der anderen Tasche das Geld.

    Fehlte nur noch Kell.

    Die Türklingel läutete schrill. Das musste er sein.

    Aujilei öffnete die Tür und fand tatsächlich ihren Freund vor. Der Polarfuchs, wie sie selbst neunzehn Jahre alt, war verkleidet als weißblau geschuppte Seeschlange, wobei sein gesamtes Gesicht im Maul des Kostüms steckte.

    „Sieht gefährlich aus“, sagte sie, ohne zuvor zu grüßen.

    „Du traust dich also nicht, die Schnauze rein zu stecken?“

    „Oh doch.“

    Aujilei gab Kell einen Kuss aufs Maul.

    „Wir haben noch etwas Zeit“, meinte er anschließend.

    „Nicht so viel. Ich will nicht zu spät kommen.“

    „Na dann. Trommel bereit?“

    „Trommel bereit. Im Gleichschritt – Marsch!“

    Von Gleichschritt konnte dann allerdings keine Rede sein.


    Im Park waren noch die jüngeren Besucher unterwegs und belegten alle Spielbuden. Überall Kinder. Kaum war Aujilei eingetroffen, richteten sich alle Augen auf sie. Und sie begann.

    Sie hatte den Rhythmus geübt. Er war nicht schwierig, aber etwas Übung gehörte schon dazu. Aujilei spürte wie die Kraft jedes Schlages auf die Haut des falschen Kugelfisches überging, sich zu dem Ton formte. Im selben Rhythmus bewegten sich nun ihre Beine.

    Die Macht, einen Rhythmus vorzugeben, besonders wenn es der einzige Rhythmus war, war nicht zu unterschätzen. Man konnte damit Leute beeinflussen, manipulieren, hypnotisieren.

    Und angeblich böse Geister abwehren.

    Kell war eindeutig kein böser Geist, denn er war noch da.

    Es gab einen Kurs durch den Park, an den sich der Trommler halten musste. Und Aujilei folgte ihm. Nach einer Weile ging es automatisch, sie musste sich nicht mehr auf Trommel oder Weg konzentrieren und sah sich um.

    Sie war umgeben von Meerestieren. Fische, Krabben, Meeranthros, Wale und Robben waren die häufigsten. Meeresreptilien, Muscheln, Schnecken und Stachelhäuter waren seltener aber auch vorhanden. Maritim aussehende Geister und Piraten konnte man auch noch gelten lassen. Aber es gab auch Verkleidungen, die wenig mit dem Meer zu tun hatten. Wie etwa der orange Raumanzug einer dunkelhäutigen Menschenfrau oder die Squire-Soldiers-Kostüme einer Gruppe von Mauswieseln. Auf der anderen Seite gab es Kostüme, die perfekt passten. Ein Kind war tatsächlich verkleidet als der fies grinsende, grüne Kugelfisch, der in dieser Nacht allgegenwärtig war.

    Und weiter ging es.


    Nach einer Weile machte Aujilei eine Pause. An einem Stand trank sie eine Limonade und aß einen gegrillten Fisch auf einem gerösteten Brötchen. Kell sprach ein Stück entfernt mit einem der Wiesel. Die Gestik des Mädchens war recht eindeutig, also kam Aujilei näher um mehr von dem Gespräch zu hören.

    „Und du wärst definitiv qualifiziert.“

    Es war nicht zu erkennen, was sie meinte, aber der Tonfall verriet, worum es ging.

    Aujilei räusperte sich.

    „Willst du etwas Bestimmtes von meinem Freund?“, fragte sie.

    „Ach, geh die Kugelfischtrommel schlagen!“

    „Sie will etwas Bestimmtes“, bestätigte Kell. „Aber sie kriegt es nicht.“

    Schmollend ging das Wiesel zu den anderen vier.

    „Und was machen wir nun?“, fragte Kell.

    „Eigentlich mache ich nur eine Pause. Andererseits bin ich den Park schon mehrmals abgegangen und niemand hat gesagt, dass ich die ganze Nacht trommeln muss.“

    „Komm doch mit uns. Wir planen etwas … Interessantes.“

    Die ebenso kalte wie herausfordernde Stimme konnte nur einer Person gehören.

    Das Kaninchen Metla war jünger als Aujilei, vierzehn, wenn die sich recht erinnerte, und daher einige Klassen unter ihr. Sie gehörte allerdings zu denen, die ihre gleichaltrigen Klassenkameraden auf dem Schulhof links liegen ließen und sich den älteren Schülern anschlossen. Und sie war die einzige, die von den älteren Schülern meist akzeptiert wurde.

    Sie war mit Papierflügeln und Fühlern, die zweifellos auf einem Drahtgerüst basierten, als Großer Seefalter verkleidet.

    Ihre beiden Begleiter, ein männlicher Polarfuchs im Piratenkostüm und ein weibliches Hermelin, das seine riesige Zahnspange unter der Maske eines skelettierten Meeressauriers zu verstecken versuchte, schienen in ihrem Alter zu sein, aber abgesehen von zufälligen Sichtungen auf dem Schulhof kannte Aujilei sie nicht.

    Der Fuchs zog einen Bollerwagen hinter sich her, in dem sich zwei Kugelfischlaternen befanden.

    Was plant ihr?“, hakte Aujilei nach.

    Das Kaninchen sah nach links und rechts, dann flüsterte es: „Wir sehen uns in der alten Anstalt um.“

    Das hatte Aujilei nun nicht erwartet. Das war … albern. Kindisch. Unvernünftig. Es war nur ein altes Gebäude, was erwartete einen da schon, außer vielleicht einsturzgefährdeten Treppen? Nicht einmal Geister gab es, das hatte man gleich nach der Schließung sichergestellt.

    „Ich bin dabei“, sagte Aujilei. „Aber wozu die Laternen?“

    „Um die Opfer des Aufstandes zu ehren“, flüsterte der Fuchs.

    Das hatte doch was. Keinen Sinn, aber irgendwas.

    „Hi. Auji!“

    Aujilei drehte sich um. Sie hätte den Drachenfisch nicht erkannt, wäre da nicht die Stimme gewesen.

    „Hi, Netes. Für heute schon was geplant?“

    „Ich passe auf meine Mutter auf.“

    Das ein Jahr jüngere Mädchen wies auf die Spinnenkrabbe, die an einem Fischbrötchen knabberte und dabei natürlich ihr Fuchsgesicht offenbarte.

    „Die schleicht sich sonst wieder nach Hause.“

    „Kannst du sie nicht auf Leiras Party parken?“

    „Lieber nicht. Leira ist noch sauer auf sie.“

    „Ach, wegen der Sache.“

    „Ja.“

    „Na gut. Dann sehen wir uns vielleicht später wieder hier, wir wollten noch was unternehmen.“

    „Tschüs Auji. Tschüs Kell.“

  • „Wir hätten doch Herrn Grarr fragen sollen“, fand das Saurierskelett mit Zahnspange.

    „Erstens hätte der uns sicher keine seiner kostbaren Laternen gegeben, zweitens hätte er wissen wollen, was wir vorhaben und drittens war er gerade in ein Gespräch mit diesem Mädchen vertieft“, erklärte Metla.

    „Können wir nachher noch mal zu Frau Breigel zurück?“, fragte der Pirat.

    „Da lassen sie dich eh nicht rein“, wies Kell ihn zurecht.

    „Ich will ja nur noch mal von außen rein gucken.“

    Aujilei rollte mit den Augen. Ein bisschen dezenter konnte er sich schon ausdrücken. So war überdeutlich, dass er nur noch mal Leira im Meerjungfrauenkostüm sehen wollte.

    Statt etwas dazu zu sagen, stellte Aujilei eine wichtige Frage:

    „Wie kommen wir da rein?“

    Die fünf standen vor der eher an ein Gefängnis erinnernden Mauer, die das Grundstück umgab. Das Tor war wie immer verschlossen.

    „Hier entlang!“, gebot Metla.

    Sie führte die anderen zu einem Gebüsch auf der Rückseite hinter dem sich tatsächlich ein Loch befand.

    „Wo kommt das denn her?“, wunderte sich Aujilei.

    „Keine Ahnung. Vermutlich wollte schon mal jemand unbedingt da rein. Jemand mit den nötigen Werkzeugen.“

    Metla schaltete ihre Taschenlampe ein. Aujilei folgte dem Beispiel.

    „Welcher Irre bricht denn in eine geschlossene Irrenanstalt ein?“, fragte der Pirat.

    Die anderen sahen ihn an.

    „Ich meine, wer betreibt dafür solchen Aufwand?“

    „Es haben ja damals einige das Feuer überlebt. Sie wurden dann in Anstalten in anderen Städten verlegt“, verriet Metla.

    Von dem Feuer hatte Aujilei gehört. Während des Patientenaufstandes war es ausgebrochen und hatte viele Patienten getötet. Aber ob es Brandstiftung oder ein Unfall gewesen war, was ja bei einem Aufstand geistig Verwirrter beides leicht vorkommen konnte, konnte niemand mit Sicherheit sagen. Letztlich hatte das Feuer vielen Bediensteten das Leben gerettet, denn der Rauch hatte Polizei und Feuerwehr alarmiert.

    „Vielleicht ist einer inzwischen frei und wollte etwas holen, das er vergessen hatte.“

    Metla bückte sich und trat durch das Loch.

    „Jetzt kommt schon!“

    Die beiden Kinder folgten Metla, wobei sie den Bollerwagen gemeinsam anhoben, dann schloss sich auch Kell an. Aujilei sah noch einmal zurück um sicherzustellen, dass sie niemand sah.

    Da war ein Kind mit einer wirklich guten Maske des fies grinsenden Kugelfisches, vielleicht das aus dem Park, aber es schien sie nicht zu beachten. Und da war jemand in einem guten Meeresalianbestienkostüm. Das skeletthafte, saurierartige Wesen mit dem länglichen Kopf und der Knochenklinge am Schwanzende ging zu aufrecht und ließ den Schwanz zu sehr schleifen um echt zu sein. Davon abgesehen gab es zwar Alianbestien im Zivilisierten Reiche, aber Meeresalianbestien waren nur ein Mythos. Auch wenn das Blut an den Krallen und am Maul richtig echt aussah. Auch dieser Kostümierte schien sie nicht zu beachten. Aujilei stieg durch das Loch.

    Drinnen stand sie auf einem größeren Platz vor dem grauen, eckigen Gebäude, dessen Fenstergitter während des Aufstandes sicher einige Leben gekostet hatten.

    „Das hier ist der Hof“, erklärte Metla. „Da, seht ihr die Mauer vom Gebäude zur Außenmauer? Auf der anderen Seite ist auch so eine. Sie trennt den Hof von der Einfahrt auf der Vorderseite.“

  • Interessanter fand Aujilei die Eingänge in das Hauptgebäude. Ein Tor, eine hölzerne Tür mit einer zerbrochenen Milchglasscheibe und eine kleine Metalltür, die ein Stück tiefer lag als der Hof und durch eine Treppe zu erreichen war.

    „Hauptflur, Bereitschaftsraum der Sicherheitsleute, Keller“, erklärte Metla und zeigte auf die Türen in der Reihenfolge in der sie auch Aujilei aufgefallen waren.

    „Woher weißt du das?“, wollte Kell wissen. „Warst du schon mal hier?“

    „Blödsinn. Ich habe die Baupläne gesehen. Kann man sich im Stadtarchiv jederzeit anschauen.“

    „Sind die denn offen?“, erkundigte sich Aujilei.

    „Sollten sie sein“, antwortete Metla. „Wir wollen in den Aufenthaltstraum.“

    „Hat es da gebrannt?“, fragte der Pirat.

    „Nein, gebrannt hat es nur oben. Aber im Aufenthaltsraum hat es begonnen. Da sind die ersten Pfleger und Patienten gestorben. Vielleicht auch Sicherheitsleute.“

    Metla ging zum Tor und öffnete es mühelos. Dahinter lag ein großer Flur in dem zwei geschwungene Treppen in den nächsten Stock führten. Sie blieb dort aber nicht stehen, sondern öffnete eine zweite Tür.

    Die anderen folgten.

    Die großen Marmorplatten des Bodens waren staubig, außer Metlas aktuellen gab es keine Spuren. Sie war wohl wirklich nicht hier gewesen. Nicht in letzter Zeit.

    „Habe ich mich doch richtig erinnert. Gleich hier ist der Aufenthaltsraum.“

    Die große leere Halle war düster. Zwar reichte sie an der linken Seite bis an die Außenwand, wo große Fenster theoretisch Licht herein ließen, doch erstens lagen sie im Schatten der Südmauer, zweitens waren sie völlig verstaubt und drittens lag die Straßenbeleuchtung natürlich vor dem Vordereingang. Nur wenig gedämpftes Mondlicht drang ein.

    Metlas und Aujileis Taschenlampen halfen ein wenig, doch die Ecken blieben in Schatten gehüllt.

    „Hier hat es begonnen. Ihr wisst, wer den Aufstand damals angeführt hat?“

    Aujilei wusste es, aber die anderen schüttelten den Kopf.

    Metla nahm die erste Laterne. Mit einem Feuerzeug entzündete sie sie. Im Licht der Laterne erschien ihr grinsendes Gesicht als Schatten an der Wand.

    „Diese Laterne ist für Bëat Ebtom. Als er Direktor der Anstalt wurde, ahnte noch niemand etwas von seinen Geheimnissen. Als Kind war er von seinen Eltern missbraucht worden und nun missbrauchte er gemeinsam mit seiner Frau seine eigene Tochter.“

    „Armes Mädchen“, fand das Hermelin.

    „Tss“, zischte Metla. „Wenn mein Vater was von mir wollte, würde ich mich mit den Händen an der Wand abstützen und die Zähne zusammenbeißen und ihn da unten machen lassen was er will. Solange ich es nicht sehe, kann es nicht schlimmer sein als ne gründliche Untersuchung.“

    Alle starrten sie an.

    „Was? Das ist rein hypothetisch. Würde sich mein Vater doch nie trauen.“

    Das Mädchen war definitiv seltsam.

    „Jedenfalls war er Direktor der Anstalt, bis seine Frau und seine Tochter von einem Einbrecher ermordet wurden. Einer Einbrecherin um genau zu sein. Da schnappte er endgültig über und landete letztlich selbst als Patient hier. Doch er war nicht dumm. Er suchte sich Verbündete, knüpfte Netzwerke. Und dann, eines Tages gab er das Signal. Man sagt, hier sei eine Schallplatte gelaufen. Immer dieselbe. Und es war nur ein Lied darauf: ‚Das Glück der Kalil‘. Gleichzeitig kitschig und gewollt fröhlich. Sicher nicht gesundheitsfördernd. Jedenfalls hielt Ebtom die Musik an. Und dann ging es los. Patienten griffen sich, was sie konnten, oder hatten schon Waffen wie Messer aus der Küche dabei, und gingen auf Pfleger und Sicherheitsleute los. Sie töteten viele davon, andere griffen ein. Auch einige Patienten griffen zugunsten des Personals ein und mehrere von beiden Seiten starben. Letztendlich waren aber Ebtoms Leute in der Überzahl und hatten den Sicherheitsleuten Waffen abgenommen. Die übrigen flohen in alle Richtungen, aber kamen nicht aus dem Gebäude, da der Sicherheitschef die Zentralverriegelung aktiviert hatte. Er wollte natürlich auch die Polizei rufen, aber Ebtoms Leute hatten die Telefonleitung längst durchtrennt. Ebtom und seine Verbündeten durchsuchten die Anstalt. Wen sie fanden, der wurde getötet. Es ist unklar, wer das Feuer gelegt hat und warum, aber Bëat Ebtom starb in dem Brand, ehe die Feuerwehr eintraf.“

    Metla stellte die Laterne ab.

    Sie nahm eine zweite und entzündete auch diese.

    „Diese Laterne ist für Kikes. Einen Schneehasen. Man nannte ihn auch Feuersalamander, denn er war ein Brandstifter. Er hatte seine Schule, ich weiß nicht in welcher Stadt, in Flammen aufgehen sehen. Ein Unfall, er war erst dazugekommen, als er die Feuerwehr gehört hatte. Es war niemand im Gebäude. Aber er hatte die Schule gehasst. Und das Bild der brennenden Schule gefiel ihm. Von da an zündete er Dinge an, die er nicht mochte. Und dann Tiere. Angeblich irgendwann auch Personen, aber das konnte man ihm nie nachweisen.

    Manchmal zündelte er aus Rache. Manchmal wurde er auch dafür bezahlt. Aber immer hatte er Spaß daran und deshalb landete er hier. Er stand auf Bëats Seite, aber … die verhasste Anstalt abzubrennen würde genau in sein Profil passen. Und seine Leiche wurde nie gefunden … Oder jedenfalls nicht identifiziert.“

    Metla nahm eine dritte Laterne, die etwas angekokelt aussah. Als sie sie anzündete geriet sie kurz aus dem Takt.

    „Da ist irgendeine blaue Scheiße drin und alles ist voll Ruß. Aber die Kerze ragt noch raus.“

    Schnell fing sie sich wieder.

    „Diese Laterne ist für Marum, den Sicherheitschef. Der Wolf war einer von Ebtoms engsten Vertrauten. Manche sagen, er wusste Dinge, die den Direktor schon vor dem Tod seiner Familie hätten zu Fall bringen können. Doch als Patienten behandelte er ihn nicht besser als die anderen. Ebtom soll ihn dafür persönlich niedergestochen haben.“

    Es folgte eine vierte.

    „Diese Laterne ist für Siktka. Kaskit, eine Polarfüchsin und Schülerin im letzten Jahr hatte die Leichen ihrer besten Freunde gefunden und die Täterin beschrieben, als Siktka identifiziert. Doch dieses Mädchen gab es nicht … nicht im herkömmlichen Sinne. Siktka war eine Persönlichkeit Kaskits. Und aus diesem Grund war sie hier. Siktka war mit Ebtom verbündet und für mehr Tode verantwortlich als irgendjemand sonst, vom Brandstifter vielleicht abgesehen. Kaskit hingegen hatte Angst und wollte nur raus.

    Das gelang auch. Sie wurde von der Feuerwehr gerettet. Sie wurde in eine andere Anstalt in einer anderen Stadt verlegt und behauptete, Siktka sei im Feuer umgekommen. Tatsächlich hat sich Siktka nie wieder gezeigt. Als habe sie sich tatsächlich von Kaskit gelöst und sei als eigenständiges Wesen im Feuer verschwunden. Doch wie immer es war, Siktka ist damals gestorben.“

    Aujilei fragte sich, wie viel von diesen Geschichten Metla erfunden hatte.

    „Diese Laterne ist für den Unbekannten, den man nur als die Panzerbestie kannte. Seine Haut war ungewöhnlich hart, selbst für eine Eidechse, und seine Ausbildung militärisch. Sein ctonischer Akzent legte seine Herkunft nahe, aber die Behörden Ctonias behaupten heute noch, er sei nirgends gemeldet und schon gar keiner ihrer Soldaten. Er war ein professioneller Verbrecher und unter anderem ein Mörder. Er konnte auch nach Heilung seiner psychotischen Tendenzen keine Freiheit erwarten, also war es nur logisch, dass er sich Ebtom anschloss und zu fliehen versuchte. Seine Flucht aber misslang. Er wurde von einem anderen Patienten verprügelt, entkam nur knapp dem Feuer und wurde, als er versuchte aus dem Gebäude zu entkommen, von einem Sicherheitsmann mit sieben Kugeln erschossen.“

    Die fünfte Laterne.

    „Diese Laterne ist für den Polarfuchs, der als der weiße Handschuh bekannt ist. Ein simpler Einbrecher, hauptsächlich Juwelendieb. Seine Behauptung, sich an viele seiner Taten nicht zu erinnern, brachte ihn zur Prüfung her. Man hat seinen Namen ermittelt, heißt es, doch in den Akten ist er nicht vermerkt. Er war der erste, der sich gegen Ebtom stellte. Er war auch der, der die Panzerbestie besiegte. Man kann sagen, er ist der Held dieser Geschichte. Und als Held starb er, als er Patienten und Mitarbeiter rettete, die vom Feuer eingeschlossen waren, bis er selbst, benommen durch Rauch und Hitze, nicht mehr heraus fand.“

    Die sechste.

    „Diese Laterne ist für Kulbi. Die Wölfin war eine Hexe, so hieß es. Studierte die Dämonen der nahen Hölle und schloss Pakte mit ihnen, um anderen Schaden zuzufügen. Angeblich in vager Erinnerung an frühere Pakte mit anderen Mächten, die sich nicht mehr wiederholen ließen. Diese wirren Geschichten sind auch der Grund, warum sie hier war. Nachdem das Feuer gelöscht war, fand man sie in ihrem Zimmer. Mit dem Blut eines Pflegers – den fand man dort tot, mit schön aufgeschnittener Kehle – hatte sie einen Beschwörungskreis auf den Boden gezeichnet. Sie saß darin, tot, aber ohne sichtbare Verletzung. Andere Zeichen der Beschwörung waren vorhanden, aber fehlerhaft. Es war ihr nicht gelungen, einen Dämon herbeizurufen.“

    Die siebte.

    „Wir haben nicht genug Laternen für alle. Und so ist diese für jene Patienten, die hier waren, manche Verbrecher, andere harmlose Spinner, die hier unter dem System litten, auf der einen oder anderen Seite kämpften oder sich versteckten und den Kämpfen oder dem Feuer zum Opfer fielen.“

    Die achte.

    „Ebenso ist diese Laterne für die Ärzte, Pfleger und Sicherheitsleute. Viele wollten helfen. Andere zusehen, wie die Patienten litten. Die meisten verdienten einfach ihren Lebensunterhalt. Viele starben an diesem Abend, in dieser Nacht. In der Fischigen Nacht.“

  • Die neunte.

    „Denn in dieser Nacht war es. Vor genau dreißig Jahren. Die Patienten durften feiern, sich ein wenig verkleiden, aber nur so, dass man sie noch gut erkennen konnte. Nicht alle taten es. Und dann schlug Ebtom zu. Und die erste Person, die er selbst tötete, eine neue Patientin, die womöglich die Auslöserin für das alles war, war die, die er, vielleicht zu Recht, für die Mörderin seiner Familie hielt. Ihr Name war Lesther Breigel und für sie ist diese letzte Laterne.“

    Metla stellte die Laterne auf den Boden.

    Die Besucher standen nun inmitten des Raumes, der durch den sie umgebenden Kreis aus neun Kugelfischlaternen erhellt wurde.

    Immer noch waren die Ecken dunkel.

    „Tja“, meinte Metla. „Das war es eigentlich. Oder will sich jemand noch genauer umsehen?“

    Niemand sagte ein Wort. Dann zerriss ein Kratzen die Stille, dem Musik folgte. Und Gesang.

    „Sie war ein schönes Mädchen, fröhlich, klug und elegant, ihr Name war Kalil.“

    „Das hast du doch vorbereitet“, behauptete Aujilei.

    „Mehr als diese Gaben noch, freute sie ihr Freund Eloch; das war das Glück der Kalil.“

    „Nein“, sagte Metla zitternd. „Hab ich nicht.“

    Und im Flur waren keine Spuren im Staub gewesen.

    „Wo immer sie auch ging –“

    Mit einem Knirschen endete das Lied.

    Das war das Signal.

    Alle wichen zurück, als eine Feuersäule aus einer Laterne – der für Kikes, den Feuersalamander – emporschoss. Sie hielt nur kurz, aber dann brannte das Papier.

    „Was ist das?“, fragte Kell. „WAS IST DAS?“

    „Im Kreis sind wir sicher“, behauptete Metla mit zittriger Stimme. „Bestimmt.“

    „Aber wenn die Laterne da abgebrannt ist, ist es kein Kreis mehr“, wandte der Polarfuchs im Piratenkostüm ein und ging auf das brennende Papiergebilde zu. „Wir müssen da was … Aaahh!!!“

    Eine unsichtbare Macht schien den Jungen aus dem Kreis zu ziehen. Ein scheußliches Schmatzen ertönte aus dem Halbdunkel und Blut spritzte in den Kreis. Der Schemen des Piraten fiel zu Boden und blieb liegen.

    „Kemmer?“, schrie Saurierskelett. „KEMMER!“

    Sie rannte auf den Kreis zu, doch Metla hielt sie fest.

    „Nicht dorthin. Du hast doch gesehen, was da passiert.“

    Sie bemühte sich, ruhig zu sprechen, doch ihre Stimme zitterte.

    Schritte waren zu hören. Die Schritte vieler. Neue Schatten erschienen an den Wänden, verdeckten die glühenden Augen und Münder der Laternen.

    Aujilei war mittlerweile völlig starr. Das konnte nicht passieren. Es gab hier keine Geister. Man hatte das Gebäude doch untersucht.

    Eine Laterne bewegte sich. Weiße Handschuhe griffen aus dem Dunkel nach ihr und zogen daran.

    „Mir reicht’s!“, rief Kell. „Auji, wir gehen!“

    „Nicht aus dem Kreis“, bestand Metla.

    Kell zögerte.

    Dann rissen die weißen Handschuhe den grinsenden Fisch aus dem Kreis. Ein lautes Rascheln erhob sich und in den Kreis trat … Kemmer, mit aufgeschnittener Kehle und blutbeflecktem Kostüm.

    Aujilei und Kell wichen zurück, traten fast auf der anderen Seite aus dem Kreis, taumelten und fielen. Aujileis Blick fiel auf die Tür. Der Anblick des Kindes mit der Kugelfischmaske, das darin stand, ließ sie erneut zurückschrecken.

    „Buh“, sagte Kemmer.

    Flackernd ging das Deckenlicht an.

    Von Leinen, die kreuz und quer durch den Raum gespannt waren, hingen Laken, die grob in humanoide Formen geschnitten waren. Weitere Schnüre verbanden sie und erlaubten, sie auf den Leinen hin und her zu ziehen.

    Nur schwer zu erkennen war zwischen ihnen in einer Ecke ein alter Plattenspieler. An der Wand, am Lichtschalter, stand ein schwarz gefärbter Wolf in gänzlich schwarzer Kleidung, mit Ausnahme der weißen Handschuhe.

    „Ihr seid wirklich drauf reingefallen“, urteilte Metla.

    „Was … wie …“

    „Es brauchte etwas Übung damit es aussieht als würde ich gezogen, aber sah echt aus, oder?“, fragte Kemmer. „Dann musste ich nur noch die Tüte mit dem Kunstblut zum Platzen bringen und umkippen.“

    „Dann hab ich an den Schnüren gezogen und die Laken über die Leine laufen lassen“, erklärte der Wolf. „Hat eine Weile gedauert, bis wir raus hatten, wie der ganze Kram auch mit Lichtkreis im Dunkeln bleibt. Den Plattenspieler und das Band mit den Geräuschen hab ich auch bedient.“

    „Ich konnte hinter den Laken unbemerkt aufstehen und mir das umbinden.“

    Kemmer löste das Stück Fell mit dem Schnitt von der Kehle.

    „Ich habe die Lampe mit Feuerwerkskörpern präpariert“, erklärte das Hermelin im Skelettkostüm. „Das ist meine Spezialität.“

    „Das war die einzige Laterne, die wir schon dabei hatten als wir losgegangen sind. Ich musste sie nur erkennen und zum richtigen Zeitpunkt nehmen“, brüstete sich Metla.

    „Und als ich ganz in schwarz auf dem Boden heran kroch habt ihr nur die weißen Handschuhe am Kürbis gesehen“, verriet der Wolf.

    Seine Augen waren rosa, sein Fell war also wohl in Wirklichkeit weiß.

    „Und all die Mühe nur um uns Angst einzujagen?“, fragte Kell verärgert.

    „Natürlich nicht“, meinte Metla. „Wieso denn bei euch aufhören? Da draußen gibt es noch viel mehr Opfer …“

    „Komm, wir gehen“, schlug Aujilei Kell vor.

    Die beiden traten aus dem Kreis und gingen in Richtung Ausgang. Die vier jüngeren folgten.

    „He, ihr müsst doch zugeben, dass das eine reife Leistung war“, behauptete Metla. „Immerhin seid ihr viel älter als wir. Und habt euch fast in die Hosen gemacht.“

    „Ich habe etwas Angst gekriegt, aber so viel nun doch nicht“, widersprach Aujilei.

    Immerhin war Metla dann wohl doch nicht so verrückt, wie sie schon befürchtet hatte.

    Dennoch …

    „Was du da erzählt hast, die Sache mit deinem Vater, würdest du wirklich …“

    „Du meine Güte, nein. Ich würde machen, dass ich wegkomme. Aber ehrlich, die Gefahr besteht gar nicht, mein Vater ist ja nicht pervers.“

    Dann war es ja gut. Aber …

    „Moment mal, wieso gab es im Flur keine Spuren? Habt ihr neuen Staub verteilt oder sowas?“

    „Ach was. Wir sind durch den Bereitschaftsraum der Sicherheitsleute reingekommen.“

    Oh. Klar.

    Kell blickte noch einmal zurück.

    „Wieso habt ihr denn den Kreis wieder vervollständigt?“, fragte er. „Ihr müsst ihn für die nächsten Opfer doch eh wieder abbauen.“

  • Alle blieben stehen und drehten sich um.

    Der Kreis war tatsächlich wieder vollständig. Die Laterne des weißen Handschuhs wieder an ihrem Platz, die des Feuersalamanders gelöscht, bis auf die Kerze im Inneren.

    Niemand antwortete.

    „Was ist?“, fragte Metla. „Jemand muss es doch gewesen sein?“

    „Ich nicht“, sagte der Wolf in schwarz.

    „Ich auch nicht“, erklärte der Fuchspirat.

    „Seht mich nicht so an. Ich fass doch keine brennende Laterne voller Schießpulver an“, verteidigte sich das Hermelinsaurierskelett.

    „Was ist mit dem in der Kugelfischmaske?“, fragte Aujilei.

    „Wem?“, fragte Metla zurück.

    „Gehört der nicht zu euch?“

    „Wir sind nur zu viert.“

    „Was ist das denn?“, fragte der Wolf.

    Es war nicht zu übersehen, was er meinte. Der Boden im Inneren des Kreises flimmerte wie eine Fata Morgana.

    Ein plötzlicher Windstoß schlug das Tor der Halle zu. Zwei große eiserne Riegel schoben sich aus der Wand davor.

    „Die Zentralverriegelung?“, fragte Metla. „Aber wer …“

    „– folgten Blicke ihr zuhauf, ihr Name war Kalil.“

    Aujilei hatte kaum Zeit sich zu wundern, dass das Lied wieder lief, ehe der Plattenspieler auch schon explodierte und es so wieder beendete.

    Die anderen liefen zur kleinen Tür an der Südseite, die sich aber nicht öffnen ließ. Aujilei stand nur wie erstarrt da.

    „Ich hasse dieses Lied“, zischelte eine tiefe Stimme.

    Sie betonte die Silben seltsam. War das etwa ein ctonischer Akzent?

    „Ich hasse dieses Gebäude!“, schrie eine andere fauchend.

    „Und ich hasse kleine Mädchen, die ihren Vater nicht respektieren.“

    Vor Aujileis Augen materialisierte sich eine weißfellige Hand, so groß wie eine Mülltonne, und schwebte auf Kell und die Kinder zu, die weiterhin versuchten die Tür zu öffnen. Sie packte Metla und zerrte sie, Gegenwehr und Schreie ignorierend, in Richtung des Kreises.

    „Wer seid ihr?“, fragte das Hermelinmädchen. „Was wollt ihr?“

    Das konnten keine Geister sein. Es gab hier keine Geister.

    „Ich mag Kinder generell nicht“, fauchte die zweite Stimme.

    „Aua. Au. Au, au, au, heiß!“

    Das Hermelin griff nach seiner Zahnspange, ließ sie erschrocken los, griff wieder danach und riss daran. Es zischte und Dampf stieg aus seinem Maul auf.

    „Ich auch nicht!“, stimmte die dritte Stimme zu.

    „Lass mich los!“, rief Metla.

    „Warum? Du wolltest doch die Zähne zusammenbeißen“, meinte die dritte Stimme.

    „Das war nur ein Scherz, lass mich los!“

    „Ach so. Dann bringe ich dich eben gleich um.“

    „Nein! NEIN!“

    Die Hand zerrte Metla weiter und in den Kreis hinein, wo sie schreiend in die unsichtbare Tiefe stürzte.

    „Und wisst ihr, was ich nicht mag?“, fragte die erste, zischende Stimme. „Zeugen.“

    Ein riesiges Reptiliengebiss und zwei darüber schwebende rot leuchtende Augen materialisierten sich und schossen auf Aujilei zu.

    Hilflos schloss sie die Augen und hoffte, dass es schnell vorbei war.

    „He, das geht nicht.“

    Sie öffnete die Augen wieder.

    Das Gebiss schwebte direkt vor ihr, sie spürte einen eisigen Atem im Gesicht, aber sonst geschah nichts.

    „Etwas schützt dich. Sei froh darüber. Sonst erginge es dir so.“

    Das Gebiss schoss hinüber zu den anderen, packte Kells Kopf und riss ihn mühelos herunter.

    Kemmer schrie, als er mit Blut bespritzt wurde, aber mehr noch, als sich in seinem Hals plötzlich eine Wunde öffnete, ein Schnitt genau dort, wo der falsche gewesen war.

    Das Hermelinmädchen konnte nicht mehr schreien und lag nur noch da, die Hände an der mittlerweile rotglühenden Zahnspange. Eine blass flackernde, fast unsichtbare Flammengestalt legte eine weitere Hand auf das Metall.

    Aujilei fragte sich, was sie schützte, doch sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Nur zufällig brachte sie der Anblick der Kugelfischlaternen auf die Idee.

    Die Trommel.

    Sie drehte das Instrument von ihrem Rücken wieder nach vorn, griff in ihre Tasche, fand die Trommelstöcke und schlug mit einem zu.

    Die Geistergestalten zuckten zusammen.

    Aujileis Starre löste sich weiter und sie begann mit beiden Händen zu trommeln, instinktiv den simplen Rhythmus wieder findend, den sie schon so oft geübt hatte.

    Tatsächlich verschwanden erst die Geistergestalten, dann auch das Flimmern.

    Da Kell und Kemmer wohl nicht mehr zu helfen war, lief Aujilei zu dem Hermelinmädchen, das reglos da lag. Der Saurierschädel lag neben ihm auf dem Boden. Ebenso die Hände, die immer noch die Drähte festhielten, an denen sie die Zahnspange gepackt hatten, nur dass sie nun weiß glühten.

    Der Rest der Spange war mit dem Gesicht verschmolzen.

  • Ja, der gestrige Abschnitt war besonders fies.

    Und vielleicht der mit den meisten erkennbaren Anspielungen? Hm.


    Sechster Abschnitt: Eroka


    „Und du willst ihn sicher nehmen? Ich könnte ihn auch zu Aylette bringen, auf ein Kind mehr kommt es ihr sicher nicht an“, bot Kasta an.

    „Nein. Ich schätze Leira als Freundin, aber wie haben doch einen völlig unterschiedlichen Geschmack, was Partys betrifft. Ich bleibe heute Nacht zuhause.“

    „Na gut. Dann bis später, Mama.“

    Die als Schwarzhai verkleidete achtzehnjährige Polarfüchsin verließ das Haus und schloss die Tür hinter sich.

    Ihre Mutter atmete durch und warf dann einen Blick auf den zurückgelassenen Jungen.

    Eigentlich, fand Eroka, war sie zu jung um Großmutter zu sein. Speziell, da der entsprechende Enkel bereits zwei Jahre alt und der Sohn ihrer achtzehnjährigen Tochter war. Und der Vater sich aus dem Staub gemacht hatte, kaum dass er volljährig geworden war.

    Die für ihre Spezies recht große Polarfüchsin, die allerdings irgendwo auch etwas Rotfuchsblut haben musste, schließlich war sie eine Ebtom, hatte eigentlich vorgehabt, den Abend allein zu verbringen. Ihr Ehemann war tot, ihr fünfzehnjähriger Sohn irgendwo da draußen unterwegs und ihre Tochter auf dem Weg zu einer Party. Sie hätte schreiben können, ein paar Sachen nähen, die es dringend nötig hatten, oder ein kleines Frühstücksmenü für morgen zubereiten, drei bis fünf Gänge.

    Aber natürlich musste sich jemand um den kleinen Kellen kümmern, und wenn sie ihre Freundin Aylette entlasten konnte, dann tat sie das. Schließlich war ihr Enkel ja auch ihre Verantwortung. Und auch er war ein Ebtom.

    Als Zweijähriger konnte der kleine Polarfuchs ohne Weiteres aufrecht gehen und auch sprechen. Treppen steigen durfte er aber noch nicht, und auch nicht mit Nadeln, Messern oder dem Herd hantieren.

    Was hatte Eroka denn damals mit ihren Kindern gemacht?


    „Und welcher Stein passt da dran?“

    „Der da!“, behauptete Kellen und zeigte auf einen seiner Dominosteine.

    Es war ein Bilderdomino mit Figuren aus irgendeiner Zeichentrickserie, die Eroka selbst nie gesehen hatte. Sie hatte es unter den Sachen gefunden, die Kasta für ihren Jungen hier gelassen hatte. Das alte Farbendomino musste noch auf dem Dachboden liegen, aber Eroka hatte keine Lust, es zu suchen.

    „Richtig. Die gelbe Ente passt an die gelbe Ente. Jetzt haben wir einen Eisbären. Hast du einen Eisbären?“

    Die Türklingel unterbrach das Spiel. Nicht zum ersten Mal, denn viele Kinder sammelten natürlich Fischköpfe. Schon den ganzen Abend waren sie vorbeigekommen, schon bevor Kasta aufgebrochen war. Suiana war ja auch schon mit ihren Schützlingen da gewesen.

    Eroka öffnete die Tür.

    Die Leute, die davor standen, sahen nicht wie Kinder aus. Auch nicht wie die Erwachsenen, die sie gewohnt war.

    Sie wusste natürlich, dass Dämonen und Teufel mittlerweile als zivilisierte Arten anerkannt waren und durchaus nach Niansstadt kommen und Fischköpfe sammeln durften. Sie wusste auch, dass es eine ganze Menge Marsianer unterschiedlichster Art drüben in Belacka gab.

    Aber gewohnt war sie so etwas deshalb nicht.

    Zugegeben, es konnten auch kostümierte Anthros (oder Menschen, zumindest das lila Wesen war, wenn kein Alien oder Dämon, sicher ein verkleideter Mensch) sein, aber dann waren ihre Masken sehr realistisch und der eine, der wie ein Haufen aus Tentakeln und zwei Aalen aussah, sehr klein.

    „Können wir Fischköpfe haben?“, fragte ein Aal sofort.

    „Ähm. Sicher. Einer für jeden.“

    „Einer genügt!“, beeilte sich die lila Frau zu sagen.

    „Ich nehme auch gerne drei“, widersprach der Aal.

    „Du frisst dich schon den ganzen Abend damit voll.“

    „Die schmecken eben.“

    „Du hast dich heute schon überfressen.“

    „Quatsch. Ich hab diesen süßen Riegel nicht vertragen.“

    Eroka reichte einen Fischkopf hinüber, den sich das Wesen mit einem Tentakel griff um ihn ins Maul des nicht sprechenden Aals zu stopfen.

    „Vielen Dank.“

    „Das reicht jetzt auch. Wir gehen zurück zur Fähre.“

    Fähre. In Niansstadt fuhr keine Fähre. Auf der anderen Seite des Sees war ja auch nichts.

    Die drei entfernten sich. Das große Wesen mit dem komisch geformten Kopf hatte gar nichts gesagt. Bei dem komischen Mund auch kein Wunder.

    Ein Klirren lenkte Erokas Aufmerksamkeit wieder auf ihre Wohnung. Sie schloss die Tür hinter sich und sah sich um.

    Kellen stand vor dem Kamin.

    „Katze putt“, sagte er.


    Auf Erokas Kaminsims standen gewöhnlich fünf Dinge. Zwei auf einer Seite, zwei auf der anderen, eins im Zentrum.

    Ganz links ein Bild von ihr und ihrem Mann, Kalind. Entsprechend rechts ein Bild ihrer gemeinsamen Kinder, Kasta und Nelken. Nummer zwei auf jeder Seite war eine Porzellanfigur. Links ein Huhn, rechts eine Katze. Im Zentrum befand sich Kalinds linkes Auge. Es war eine Prothese, nicht funktionsfähig, vergoldet und mit Aquamarin verziert. Er hatte es dort selbst platziert bevor er sich getötet hatte.

    Nun lag die Katzenfigur in Scherben auf dem Boden.

    „Komm da weg, du schneidest dich noch!“

    Eroka führte ihren Enkel von der Gefahrenquelle weg, dann holte sie Kehrblech und Besen und fegte sie auf. Provisorisch gab sie die Scherben in eine Schale, die auf dem Küchentisch stand. Sie würde später versuchen, die Katze wieder zusammenzufügen.

    Nachdem sie die Aufräumutensilien wieder weggeräumt hatte, betrachtete sie rätselnd die restlichen ausgestellten Stücke.

    Nichts war umgefallen. Nur die Katze. Kellen kam da nicht ran.

    „Wie ist das passiert?“, fragte sie ihn dennoch.

    Der kleine Fuchs zuckte mit den Schultern. Das konnte er schon gut.

    „Na dann, spielen wir weiter. Du brauchst einen Eisbären.“


    Schon wenig später, Eroka brauchte gerade eine braun gefiederte weibliche Ente, klingelte es erneut.

    Eroka öffnete und fand Suianas Tochter Aujilei, deren Freund Kell und drei Kinder mit einem Bollerwagen mit ein paar Kugelfischlaternen.

    Das als Seefalter verkleidete Kaninchenmädchen war echt niedlich.

    „Guten Abend, Eroka“, grüßte Aujilei. „Wir sammeln Kugelfischlaternen für ein kleines Projekt.“

    So sah das auch aus.

    „Bei den Häusern hausnummernabwärts findet man erstaunlich wenige“, ergänzte Kell. „Irgendein Depp hat eine Menge davon zertrampelt.“

    Eroka hatte drei im Garten, um der Tradition Genüge zu tun. Auf eine konnte sie wohl verzichten.

    „Sucht euch eine aus.“

    Das Kaninchen trat vor und betrachtete die Laternen. Schließlich nahm es eine.

    „Trägst du eigentlich kein Kostüm?“, fragte Aujilei.

    Eroka lächelte. Und schloss die Augen.

    „Oh. Wer hat das gemacht?“

    „Ich selbst. Am Spiegel. Natürlich nur ein Augenlid auf einmal.“

    Eroka öffnete die Augen wieder.

    „Ein deutlicheres Kostüm würde Kellen vielleicht erschrecken. Außerdem will ich es nicht übertreiben. Ich glaube nicht, dass die Laternen und die Kostümierungen uns wirklich beschützen. Ich mache nur aus Tradition mit.“

    Sie sah, dass Aujilei auf ihre Kugelfischtrommel blickte.

    „Aber ich will euch nicht den Spaß verderben. Macht mal weiter mit eurem kleinen Projekt.“

    „Danke.“

    „Fischköpfe? Ich habe sie mit Oliven-Mandel-Paste gefüllt und in Sojasauce eingelegt.“

    „Gerne.“

    Auch die übrigen waren interessiert, mit Ausnahme des Kaninchens, also verteilte Eroka vier Köpfe.

    „Wir müssen dann auch weiter“, sagte das Kaninchen. „Einen schönen Abend noch, Frau Ebtom.“

    „Einen schönen Abend.“

    „Von mir auch!“, verabschiedete sich Aujilei, dann gingen die fünf los.

    Und da klirrte es schon wieder.


    Eroka stand vor einem Rätsel. Diesmal war Kellen nicht einmal in der Nähe gewesen und doch war das Huhn heruntergefallen. Es war weniger beschädigt als die Katze, nur in drei große Stücke zerbrochen, die die Füchsin auf jeden Fall würde kleben können. Aber wie war das nur passiert?

    Ihr Blick fiel auf das kostbare Auge ihres Mannes. Nein, das konnte nicht sein.

    Sie wusste ungefähr, wie das mit den Geistern von Toten funktionierte. Es kam vor, dass sich eine Seele weigerte, sich vom Tod abholen zu lassen oder nicht abgeholt werden konnte. Sie war dann gebunden an ein Objekt, oft den eigenen Leichnam, das sie im Diesseits festhielt, und an einen Ort, manchmal den ihres Todes, manchmal den an dem sich das Objekt befand. Kam in der Nähe Ektoplasma aus der Geisterwelt in diese, dann konnte sich die Seele damit anreichern und anfangen zu spuken. Ein solcher Spuk war nicht bei klarem Verstand, getrieben von einfachen aber starken Emotionen und höchst gefährlich.

    Zerstörte man nun den Gegenstand, der die Seele ans Diesseits band, dann war sie frei. Manche Seelen wurden dann doch noch abgeholt, doch die meisten hatten sich aus dem Ektoplasma schon einen voll funktionsfähigen Körper geschaffen und waren damit keine Seelen von Toten mehr sondern neue Lebewesen.

    Sie zog es in die Geisterwelt, wo sie sich weiterentwickelten und wieder zu klar denkenden Personen wurden. Diese Phantome wurden vom Gesetz des Zivilisierten Reiches als intelligente Lebewesen anerkannt. In Belacka hatte kürzlich eines ein lebendes Pferd geheiratet.

    Kalind war gestorben beim Versuch, einen Selbstmordversuch vorzutäuschen. Ein bizarrer, tragischer und einfach ganz und gar absurder Unfall. Es wäre eine gute Hintergrundgeschichte für einen Spuk und das Auge ein guter Anker. Aber warum jetzt? Warum nicht schon vor zwei Jahren? So lange dauerte es nicht, Ektoplasma anzusammeln.

    Nein, Kalind spukte hier nicht. Und auch sonst niemand.

    Aber was war es dann?

    Eroka war noch keine gute Antwort eingefallen, als Kellen weiterspielen wollte.

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