#132 Wochen-Speedbasteln, 29.11.2024 - 08.12.2024

#132 Wochen-Speedbasteln, 29.11.2024 – 08.12.2024

Die Stadt der Steinernen Rohre

Farbschlangen sind eines der vielen Völker, die den größten Kontinent unseres Planeten bewohnen (für den es viele verschiedene Namen gibt). Sie sind dick wie Boas aber sehr viel kürzer und treten in den verschiedensten Farben auf. Es gibt Varianten wie geflügelte Farbschlangen, Klapperfarbschlangen und Kobrafarbschlangen, die sich alle ohne weiteres miteinander kreuzen lassen. Jede Farbschlange gehört nur einer Variante an, aber Merkmale der Varianten können mehrere Generationen überspringen.

Eine Variante, die lange als ausgestorben galt sind die Edelsteinfarbschlangen. Ihre durchsichtigen Schuppen bilden an der Luft Kristalle, die ihren ganzen Körper bedecken und ihnen ihren einzigartigen Schimmer verleihen. Während die meisten Farbschlangen ihre Farbe als Namen tragen werden Edelsteinfarbschlangen benannt nach den Edelsteinen, denen sie ähneln.

Die meisten von ihnen lebten in der sagenumwobenen Stadt der Steinernen Rohre, irgendwo in den Kreidebergen.

Ein klassischer Mumienfluch, geweckt durch die Störung des Grabes der Hohepriesterin Blue Sapphire, zwang die Edelsteinfarbschlangen die Stadt zu verlassen. Sie vermischten sich mit anderen Farbschlangen und es gab noch einige Generationen lang immer wieder Edelsteinfarbschlangen in den verschiedensten Farbschlangensiedlungen, doch irgendwann ging das Merkmal der kristallinen Schuppen dann doch verloren.

Erst 1997 wurde entdeckt, dass einundzwanzig Edelsteinfarbschlangen noch lebten und eine weitere untot war. Das sind die zweiundzwanzig Priesterinnen des Chamäleons, die als solche besonders langlebig sind, wobei die Untote niemand anderes ist als Blue Sapphire selbst, lange nur bekannt als Snake Mummy. Als diese zweiundzwanzig wieder zusammenfanden, enthüllten sie auch die Lage der Stadt der Steinernen Rohre, deren Fluch längst vergangen war.

Tatsächlich hatte man die Stadt bisher nicht gefunden, weil sie größtenteils unterirdisch liegt. Aus Stein gemeißelte Röhren verbinden sich zu einem unterirdischen Labyrinth, das die großen Wohnkammern miteinander und der Oberfläche verbindet. Abgelegte Edelsteinfarbschlangenhaut über poliertem Metall bildet Spiegel, die Tageslicht durch die Rohre in die Kammern leiten, ein unterirdischer Fluss treibt eine Pumpe für die Belüftung an.

Die Rohre dienen natürlich zur Verteidigung. Niemand, der breiter ist als eine Farbschlange, kommt hinein und wer sich nicht auskennt, wird sich unweigerlich verirren. Und selbst wenn Feinde in passender Größe den Weg finden, kann immer nur einer gleichzeitig in eine Wohnkammer gelangen.

Gleichzeitig ist es für außenstehende fast unmöglich zu erkennen, welche Rohre welchem Zweck dienen. Wer sich nicht auskennt kann versehentlich in der Luftpumpe, der Wasserversorgung oder sogar dem Abwassersystem landen und sich irgendwo im unterirdischen Fluss wiederfinden.

Die überirdischen Eingänge des Labyrinths sind natürlich getarnt. Die Rohre, die aus dem Boden ragen sind mit Kreide ummantelt, damit sie aus der Entfernung wie natürliche Erhebungen der Kreideberge aussehen.

Ja, das Belüftungssystem verteilt Kreidestaub im ganzen Labyrinth. Aber den hat man in den Kreidebergen an der Oberfläche auch.

Der Hüter des Vergessens

In den kühlen Hallen des zwergischen Museums der Oberstadt arbeitet er: der selbsternannte „Hüter der Tradition“, dessen Name hier nicht genannt werden muss – denn sein Ruf ist längst bekannt. Es ist seine Aufgabe, die Bräuche und Sitten der Vergangenheit zu bewahren und ein Vermächtnis für kommende Generationen zu schaffen. Doch wie so vieles in dieser Stadt, trägt auch sein Werk den bitteren Nachgeschmack der Ungerechtigkeit.

Die Geschichte unserer Stadt ist alt. Sie wurde nicht nur von den Zwergen geschrieben, sondern auch von den vielen anderen Völkern, die sich in diesen eisigen Landen niedergelassen haben. Ihre Geschichten, ihre Bräuche und ihre Sitten sind tief in die Wurzeln unserer Gemeinschaft eingebettet. Doch wer durch die Hallen des Museums wandert - ja, ich war wirklich dort -, wird schnell merken, dass ein Großteil dieser Vergangenheit systematisch zum Schweigen gebracht wird. Die Artefakte, die ausgestellt sind, sprechen nur eine Sprache: die der Zwerge. Und alles, was nicht in diese glorreiche Erzählung passt, wird ignoriert oder, schlimmer noch, verzerrt dargestellt.

Besonders auffällig ist dies bei den wenigen Relikten, die es aus dem Armenviertel ins Museum geschafft haben. Alte Werkzeuge der Menschen, wunderschön geschnitzte Figuren der Elfen, oder die farbenfrohen Decken der Orkfrauen – all das wird abgetan als „kuriose Volkskunst“ oder „Randnotizen der Geschichte“. Ein Zwergenhammer hingegen, auch wenn er nur von einem einfachen Arbeiter benutzt wurde, wird mit Ehrfurcht präsentiert, als wäre er ein heiliges Relikt.

Die Ungerechtigkeit hört hier nicht auf. Bräuche, die einst die Stadt vereinten, werden durch die Feder dieses Hüters zu rein zwergischen Errungenschaften umgeschrieben. Ein Beispiel: das „Fest der ersten Flamme“, das jedes Jahr gefeiert wird, um den Schutz vor den kalten Winternächten zu ehren. Ursprünglich war dies ein Ritual, bei dem alle Völker der Stadt gemeinsam eine große Feuerstelle errichteten und ihre Gaben darbrachten – ein Zeichen des Zusammenhalts in einer Welt, die nur durch Gemeinschaft überlebensfähig ist. Heute aber? Die offizielle Darstellung des Museums erzählt, es sei ein alter Brauch der Zwerge, bei dem andere Rassen nur Gäste seien, nichts weiter.

Wie kam es zu dieser geschichtlichen Verzerrung? Es ist kein Zufall. Der „Hüter des Vergessens“ folgt einem klaren Ziel: die Macht der Zwerge nicht nur über die Gegenwart, sondern auch über die Vergangenheit zu festigen. In einer Stadt, in der die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Zwerg und Nicht-Zwerg immer größer wird, ist die Kontrolle über die Erzählung ein Werkzeug der Unterdrückung. Wenn die Vergangenheit suggeriert, dass die Zwerge schon immer die „natürlichen“ Herrscher waren, wird es umso schwieriger, diese Herrschaft in Frage zu stellen.

Für die Bewohner der Unterstadt bleibt nichts als der bittere Geschmack dieser Ungerechtigkeit. Unsere Bräuche und Sitten, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, verschwinden langsam aus der offiziellen Geschichte. Unsere Kinder werden eines Tages nicht mehr wissen, dass auch ihre Vorfahren Teil dieses Ortes waren, dass sie nicht nur unter den Zwergen lebten, sondern mit ihnen. Und die einzigen, die diesen Verlust bedauern, sind wir – die Stimmen, die nicht gehört werden.

Vielleicht wird eines Tages ein wahrer Hüter der Tradition auftauchen, jemand, der versteht, dass Geschichte mehr ist als ein Werkzeug der Mächtigen. Bis dahin bleibt uns nichts als der Schatten dieses Hüters, der die Vergangenheit begräbt, um die Herrschaft der Gegenwart zu stützen.

~ Eine Bewohnerin der 4. Ebene von Eisschmiede