#119 Wochen-Speedbasteln, 19.04.2024 - 28.04.2024
Das Thema: Gesetz // Chaos, gedankenlose, Honig, Nudelsuppe, Spirale, Winden
Welt: Weltenlinie U29/U5
Inspiration: "Die offensichtliche Idee ist langweilig, ich brauch was besseres!"
Exakt auf der Mitte der Linie U29/U5 liegt eine kleine Wartungsplattform neben den Schienen. Es gibt keine Haltestelle und auch sonst nichts in der Gegend. Die Wartungsplattform ist ca. 70cm breit und 1,20m lang und hat ein dünnes Gitter zur Begrenzung an zwei Seiten. An der dritten, der langen Seite, ist die Plattform zu den Zügen hin offen, so dass man theoretisch aus der Bahn dorthin aussteigen kann. Auf der vierten, der kurzen Seite geht eine Treppe hinab. Zunächst sieht man diese Treppe kaum, denn es ist eine sehr steile, völlig schmucklose Wendeltreppe, deren kalte Metallstufen sich spiralförmig unter der Plattform nach unten winden. Vor der Treppe hängt eine Metallkette mit einem Schild: "Zutritt verboten".
Dieser Teil der Strecke verläuft unterirdisch und unbeleuchtet, nach oben, unten, links und rechts sieht man nur Dunkelheit. Nicht mal die Wände kann man erkennen. Überhaupt sieht man nur deswegen etwas, weil eine winzige, schwache Neonröhre an der Plattform befestigt ist - sonst würde man auch die nicht sehen. Die Natur der Wartungsplattform und die Umgebung sagen sehr deutlich aus, dass dies ein selten genutzter, zweckmäßiger Ort für Angestellte der Bahn oder der Administration ist, und dass Fahrgäste dort nichts verloren haben. Da die Bahn dort nicht anhält, steigt auch nie jemand aus.
Wie es aber so ist, gibt es eben doch Individuen, auf die ein solcher Ort irgendeine Faszination ausübt. In unregelmäßigen und üblicherweise recht weit auseinanderliegenden Zeiträumen kommt es vor, dass jemand neugierig wird. Was ist das für eine Plattform? Warum steht sie dort im Nichts? Wofür ist sie da? Und wohin führt die Wendeltreppe? Manchmal staut sich die Faszination an, die fragenden Gedanken werden mit jeder Fahrt lauter, der Sog der Treppe stärker. Manchmal ist es aber auch ein unerwarteter Schlag, wie ein Blitz, ein lauter Ruf: WOHIN FÜHRT DIESE TREPPE? In diesen Fällen kommt es vor, dass Fahrgäste versuchen, auf die Plattform zu gelangen. Ziehen sie die Notbremse, werden sie keinen Erfolg haben. Andere Fahrgäste mit klarem Verstand werden sie vom Verlassen der Bahn abhalten, Sicherheitspersonal wird dazwischen gehen, oder die Türen werden einfach blockiert. Einige wenige aber schaffen es tatsächlich. Sie schleichen sich aufs Dach der Züge oder erwischen einen der wenigen Wagons mit Fenstern, die sich öffnen lassen und aus denen sie herausspringen können. Meist sind es Leute, von denen man so etwas nicht erwarten würde - gepflegte Menschen mittleren Alters, die einen gesetzten und vernünftigen Eindruck machen. Leute, die mit beiden Beinen fest im Leben stehen. Es sind jedoch nie mehrere Personen gleichzeitig, jede wagt den Sprung allein.
Hat man es auf die Plattform geschafft, steht man nun vor dem Schild mit der Aufschrift "Zutritt verboten". Dieses Schild ist an sich nichts besonderes - einfach ein leicht verbogenes, offensichtlich recht altes Metallschild - aber die Aussage ist eindeutig. Es braucht keine langen Paragraphen oder Erklärungen für dieses Schild. Das Schild ist Gesetz. Wer es auf die Plattform geschafft hat, hat das Gesetz bereits hinter sich gelassen und lässt daher nach einem leichtem Schaudern und dem Gefühl, dass es kein Zurück mehr gibt, auch das Schild hinter sich.
Die Wendeltreppe verändert sich nicht, wenn man einmal den Fuß auf die erste Stufe gesetzt hat. Sie bleibt kalt, metallisch, zweckmäßig. Sie trägt einen hinunter ins Dunkle, immer weiter hinab, ohne selbst mehr zu sein als ein Mittel zum Zweck. Stufe um Stufe geht man weiter hinab, bis die Schienen irgendwann zunächst aus dem Sichtfeld verschwinden, dann aus den Gedanken und schließlich aus der Erinnerung. Niemand hat je das Ende erreicht.