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Rykischer Bluttopf
© Ehana
In Rykis, dem nördlichsten Landesteil des alten Okro, stößt man bisweilen auf Einheimische, die auf dem offenen Feuer ein Gericht zubereiten, das eine ungewöhnlich dunkle Färbung aufweist und überaus kräftig riecht, so dass man noch zwei Häuser weiter mitbekommt, dass hier gerade der sogenannte rykische Bluttopf zubereitet wird. Dieser dickflüssige Eintopf besteht zum Großteil aus Fleisch und Innereien, und die Rykier verspeisen ihn mit Stolz, denn seine Entstehungsgeschichte mit der Geschichte von Rykis selbst untrennbar verbunden.
Entstehung
Der rykische Bluttopf entstand zur Zeit der gewalttätigen Auseinandersetzungen, die wenige Wochen nach der Gründung des okroischen Großreichs an der ehemaligen Grenze zwischen Okro und Rykis ausbrachen. Die Oberen beider Gebiete hatten beschlossen, sich wegen vieler gemeinsamer Interessen zu einem Staat zusammenzuschließen, eine Idee, die im Volk auf großen Widerstand gestoßen war. Vor allem die Rykier waren gegen die Reichsgründung gewesen, hatten sie davon doch weniger Vorteile als die Okroer, für die das Vorhaben in erster Linie Zugriff auf die gewaltigen rykischen Eisenerzvorkommen bedeutete. Kein Wunder also, dass kurz nach der offiziellen Ausrufung des „Großreichs Okro und Rykis“ Unruhen ausbrachen, die unter der Bezeichnung „Nachgründungskriege“ in die Geschichte beider Länder eingehen sollten.
Wenige Wochen, nachdem erstmals auf rykischem Gebiet eine kleinere Gruppe okroischer Soldaten von der aufgebrachten Bevölkerung angegriffen und vertrieben worden war, deutete alles darauf hin, dass es bald eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Streitkräften beider Gebiete geben würde. Den Rykiern wurde rasch klar, dass es schwierig werden würde, gegen das okroische Aufgebot zu bestehen. Erstere waren ihren südlichen Nachbarn, was die Waffentechnik anbelangt, zwar deutlich voraus, dafür aber waren die Okroern ihnen zahlenmäßig weit überlegen.
Ein Teil des rykischen Aufgebots sammelte sich in der Nähe der Stadt Ryn, der ehemaligen Hauptstadt, unter dem Kommando ihres obersten Heerführers, eines Mannes namens Garid Kadene. Letzterer sah, wie so manche seiner Landsleute, für die Zukunft von Rykis schwarz – zu bewusst war ihm, dass die Okroer die Rykier allein wegen ihrer schieren Anzahl überrennen würden. Dennoch hatte er sich in den Kopf gesetzt, die Moral seiner Truppen aufrechtzuerhalten. Als für ihn absehbar war, dass etwa noch eine Woche Zeit vergehen würde, bis die Okroer Ryn erreicht hätten, beschloss er, auf dem Marktplatz der Stadt ein großes Fest abhalten zu lassen, bevor seine Truppen gegen die Okroer ins Feld zögen.
Einen geschlagenen Tag lang überlegte er, wie er das am besten bewerkstelligen könnte. Ein herkömmliches Fest wäre kontraproduktiv, da in Strömen fließender Alkohol der Kampfkraft seiner Truppen nicht gerade zuträglich sein würde. Schließlich hatte er eine Idee. Er ließ per Eilboten in allen innerhalb einer Tagesreise liegenden Ortschaften darum bitten, zur Kräftigung des Heeres so viel schlachtfähiges Vieh, wie man nicht unbedingt fürs eigene Überleben benötigte, für die Truppen zu stiften und nach Ryn zu schicken. Im Laufe seiner Grübeleien war ihm nämlich gekommen, dass seine Soldaten auf keine andere Weise besser Kraft und Entschlossenheit für das Kommende sammeln konnten, als wenn man ihnen vor dem Kampf noch einmal die Gelegenheit bot, sich richtig mit Fleisch vollzuessen. Fleisch war etwas, das es in Rykis seltener gab als in Okro, denn ersteres hatte einen deutlich geringeren Anteil an den fruchtbaren Ebenen des Nham-Tals, die sich hervorragend für die Viehzucht eigneten. In beiden Völkern aber galt der Genuss von Fleisch als mächtige Energiequelle, was in ihrer gemeinsamen Religion und Weltanschauung begründet liegt. Dieser zufolge können Seelenträger – also intelligente, kulturschaffende Wesen wie Menschen –, wenn sie einen Nicht-Seelenträger, also Tiere, verspeisen, deren Lebensenergie in sich aufnehmen und werden so körperlich und geistig in gesteigertem Maße leistungsfähiger, als wenn sie nur pflanzliche Nahrung zu sich nehmen würden. Die okroische Armee hatte den Rykiern also nicht nur zahlenmäßig einiges voraus, sondern konnte es sich auch leisten, ihre Soldaten häufiger mit Fleisch zu versorgen. Wenn den rykischen Soldaten das schon nicht regelmäßig vergönnt sein sollte, dann wenigstens vor dieser Schlacht. Und so kam es dazu, dass besagtes Fest als Schlachtfest ausgerufen wurde.
Garid Kadene ließ den Marktplatz von Ryn räumen und alle Schlachter und Fleischer der Stadt sowie jeden, der ein großes Messer anbrachte und aussah, als hätte er schon einmal ein Tier getötet und ausgenommen, einen riesigen Schlachtplatz aufbauen. In der Mitte des Marktplatzes ließ er eine Reihe großer Kessel und Bratpfannen aufstellen, in denen das Fleisch zubereitet werden sollte, und auf dessen anderer Seite sollten die etwa dreitausend Soldaten, aus denen der in Ryn lagernde Teil des Heeres bestand, Platz finden. Zwei Tage vor dem Zeitpunkt, an dem man die Ankunft der Okroer erwartete, ließ er die von der Bevölkerung gestifteten Tiere auf den Platz treiben, und unter den neugierigen Blicken der Ryner begann das Spektakel.
Den Leuten an den Kesseln und Pfannen hatte Kadene im Voraus erklärt, dass sie ein Gericht zubereiten sollten, das den Rykiern bislang nur am alljährlichen Neun-Götter-Fest zu essen vergönnt war, nämlich Ghan, einen kultischen Eintopf. Seine Wahl fiel deshalb auf dieses Gericht, da es das einzige war, das ihm einfiel, das aus einer Vielzahl von Fleischsorten bestand und einfach in großen Mengen zuzubereiten war. Dieser Eintopf bestand etwa zu drei Vierteln aus Fleisch und zu einem Viertel aus der Rugha, einer weißen, leicht faserigen, unterirdisch wachsenden Knolle. Den Ryner, der in einer großen Metallschale die Gewürzmischung für die vielen Kessel anrühren sollte, hatte er allerdings separat beiseitegenommen. Die Gewürze sollten dem Gericht nicht nur in einem etwas anderen Mischungsverhältnis zugefügt werden, als man es sonst beim X tat – schließlich wollte er nicht den Zorn der Götter auf sich ziehen, indem er ihre Kultspeise für so etwas Profanes wie eine Soldatenspeisung hernahm –, sondern er wies den Würzer auch an, eimerweise Samen der Fidhere-Pflanze beizumischen. Es handelte sich dabei um ein Kraut, das man in Rykis gern kranken Kindern verabreichte, damit sie schneller zu Kräften kamen. Die getrockneten Samen wurden dabei zerrieben und mit etwas Wasser geschluckt. Sie hatten einen grässlich intensiven Geschmack, an den sich jeder Rykier mit Schaudern erinnerte, wenn er den Namen der Pflanze nur hörte, und deshalb war Kadene bewusst, dass er seine Soldaten niemals freiwillig dazu bewegen könnte, die Samen zu essen, wenn es keine wirkliche Notwendigkeit dafür gab. Kadene hatte auch keine Ahnung, wie sich die Samen geschmacklich im Essen auswirken würden, ließ es aber einfach darauf ankommen, denn in dieser Situation war ihm alles recht, was die Kampfeskraft der Soldaten zu steigern vermochte. So geschah es. Der Würzer gab die Gewürze in einem anderen als dem normalen Mischverhältnis in den Trog, und gab, wie von Kadene beauftragt, die Fidhere-Samen hinzu. In den Pfannen hatte man indessen das Fleisch der frisch geschlachteten Tiere angebraten – alles bunt durcheinander, Muskelfleisch und Innereien, von Säugetieren und Vögeln, nichts sollte verkommen. In diesem Punkt stimmte das Rezept noch mit dem des Z überein, denn für die Zubereitung des kultischen Gerichts bedurfte es ebenfalls des Fleisches und der Innereien von neun verschiedenen Tierarten, um die neun Hauptgötter zu ehren. Das Fleisch kam in die Kessel, darauf Wasser und die geschälten und kleingeschnittenen Rugha-Knollen. Das Ganze ließ man eine Zeitlang kochen. Anschließend verfügte Kadene, abweichend vom kultischen Rezept mehrere große Schöpfer Blut in jeden der Kessel zu geben, denn wie auch Fleisch galt Blut als Quelle der Lebenskraft, und während des andauernden Schlachtens fiel ständig jede Menge davon an und versah den Boden des Marktplatzes mit einer zunehmend dunkler werdenden Färbung. Und das, obwohl auch ständig nebenher Blutwurst hergestellt wurde. Nach dem Blut kam in die Kessel noch ein großer Löffel von Kadenes Würzmischung, und das Ganze wurde noch einmal ausgiebig auf dem Feuer gelassen, damit es schön einkochen konnte. Als Kadene nach einiger Zeit von dem Eintopf probierte, war er von seiner dunkelbraunen Farbe und dem kräftigen Geschmack überrascht. Er wusste genau, wie der Ghan schmecken sollte, und davon war dieser Eintopf doch deutlich entfernt. Er wusste nicht, ob es an der veränderten Grundwürzung, der Blutzugabe oder den Fidhere-Samen lag, aber er befand das Gericht für äußerst wohlschmeckend und erklärte die Soldatenspeisung für eröffnet.
Im Folgenden erlebte Ryn das wohl größte Gelage seiner Geschichte. Das Heer schlug sich mit dem Fleischeintopf, der Blutwurst und den in der Gegend so verbreiteten Brotfladen voll, und als keiner der Soldaten auch nur einen Löffel voll mehr hinunterbrachte, durfte auch die übrige Bevölkerung mitessen. Man erzählte sich, dass viele der Soldaten wenige Stunden nach dem Essen und auch noch an den darauffolgenden Tagen begeistert davon erzählten, wie gut sie sich seit dem Genuss des Eintopfs fühlten. Ob das jetzt wirklich von dem Essen selbst oder lediglich von der Wirkung der ermutigenden Worte des Feldherrn kam, wusste keiner so recht. Aber es war auch egal – Kadenes Ziel, die Motivation der Truppen zu steigern, war erreicht, und als er sie am darauffolgenden Tag gegen die Okroer in den Kampf ziehen sah, war ihm, als wären sie mit weit größerem Einsatz als sonst bei der Sache. Dem Ryner Heer gelang es zwar nicht, die Okroer zu besiegen – wie jeder weiß, endeten die Nachgründungskriege mit großen Verlusten auf beiden Seiten und der Beibehaltung des politischen Status quo, also des Großreichs Okro-Rykis –, aber Kadenes Eintopfrezept gelang es, sich nachhaltig in das Bewusstsein der Rykier einzuprägen. Man sagt, dass der Boden des Marktplatzes von Ryn noch Jahre nach dem Spektakel leicht dunkler gefärbt war von all dem Blut, das während der Aktion geflossen war, und es gibt auch Geschichten von Städtern, die gar fortan ihr eigenes Schlachtblut dort entsorgt haben, um die Färbung zu bewahren.
Das Rezept
Aus der Entstehungsgeschichte mag man dem Eindruck erliegen, dass die Herstellung des Eintopfs ein Leichtes ist, schließlich wurde er ja in ungeheuren Mengen für eine Kompanie Soldaten zubereitet. In Wahrheit bedarf es dafür jedoch weitaus mehr als nur des Zusammenwerfens von möglichst viel Fleisch mit ein paar Knollen und einer Handvoll verschiedener Gewürze. Vor allem die Würzmischung war es, die den Rykiern, die den Eintopf später nachkochen wollten, große Probleme bereitete. Sie war allein Kadene und dem damaligen Würzer bekannt, und während ersterer das Geheimnis des Eintopfs eisern für sich behielt, war letzterer nach dem okroischen Angriff aus der Stadt geflohen. Nach Kriegsende gab es einige Versuche, das Gericht, das die halbe Stadt als so unglaublich wohlschmeckend und kräftigend in Erinnerung hatte, nachzukochen, doch so recht wollte es nicht gelingen. Man wusste zwar, dass die Würzung anders war als bei Z, aber es schmeckte trotzdem nicht nach dem, was der Feldherr auf dem Marktplatz hatte auftischen lassen. Und an den verwendeten Fleischsorten schien es nicht zu liegen, so dass es nichts anderes sein konnte als das Mischverhältnis der Gewürze.
Jahre später, als es mit der Gesundheit von Feldherr Kadene bergab ging und er glaubte, das nächste Jahr nicht mehr zu überleben, verriet er, weil er das Geheimnis des Eintopfs nicht mit seiner Seele ans andere Ende der Welt entschwinden lassen, ihn vielmehr gern noch einmal genießen wollte, seiner Tochter das Mischverhältnis der Gewürze. Sie bereitete den Eintopf den Anweisungen ihres Vaters gemäß zu, aber es schmeckte immer noch nicht nach dem Essen vom Marktplatz. Schließlich sah er ein, dass der besondere Geschmack nur von den Fidhere-Samen kommen konnte, und er nahm sich seine Tochter zur Brust, schärfte ihr ein, dass er ihr nun das wahre Geheimnis des Eintopfs anvertrauen würde, sie es aber nur „aufrechten Rykiern“ anvertrauen dürfe, damit kein Feind es jemals gegen das rykische Volk würde einsetzen können. Sie schwor, dem gerecht zu werden, und der alte Feldherr erklärte ihr, dass er damals größere Mengen an Fidhere-Samen hinzugefügt hatte. Sie hieß ihn zunächst für verrückt, da kein Rykier freiwillig Fidhere-Samen zu sich nahm, gab seinem Drängen jedoch schließlich nach und kochte erneut einen Kessel des Eintopfs, diesmal mit reichlich Fidhere-Samen darin. Als Kadene von dem Eintopf probierte, trat ein breites Lächeln auf sein Gesicht, und er hatte den Beweis, dass es in der Tat die Samen des Krauts waren, die den Geschmack des Eintopfs maßgeblich bestimmten.
Dem Wunsch ihres Vaters gemäß verbreitete Kadenes Tochter das Rezept unter einigen vertrauenswürdigen Ryner Familien. Sie teilte die Befürchtungen ihres Vaters nicht, da das Fidhere-Kraut auch bei den Okroern als äußerst übel schmeckend galt und sie es nicht einmal zu Heilzwecken nutzten, respektierte aber seinen Wunsch. Die Generationen nach ihr taten es ihr gleich, und noch heute, in einer Zeit, in der sich Rykier und Okroer längst miteinander versöhnt haben, wird das Rezept ausschließlich in der alten rykischen Schrift und nur innerhalb von Familien weitergegeben, die bereits seit jeher in diesem Gebiet leben.
Während die kultische Variante des Eintopfs weiterhin nur an religiösen Feiertagen aufgetragen – und von den Rykiern nun, da sie das Geheimnis der Fidhere-Samen kennen, nur widerwillig gegessen wird –, hat Kadenes Abwandlung trotz des Zubereitungsaufwands Einzug in die Küche auch der einfachen Leute gehalten, zunächst nur in Ryn, dann zunehmend auch in den umliegenden rykischen Orten. Oft tun sich mehrere Familien zusammen, legen ihre Schlachtungen auf den gleichen Tag und sprechen sich bezüglich der Fleischarten ab, um anschließend gemeinsam den Eintopf zuzubereiten und zu essen. Den unbestrittenen Aufwand machen der köstliche Geschmack und die Tatsache wett, dass das Gericht durch seine Entstehungsgeschichte wie kein zweites für den rykischen Nationalstolz steht, und auf diesen legen die Rykier auch mehr als siebenhundert Jahren der Zugehörigkeit zum okroischen Großreich großen Wert.
Rykischer Bluttopf
nach Garid Kadene
3 Teile Fleisch von neun Tierarten (Muskelfleisch und Innereien, diesbezügliches Mischungsverhältnis gleichgültig)
1 Teil Rugha-Knollen
Wasser (sollte Fleisch und Knollen bedecken, dann nochmals etwa halb so viel nachgießen)
Frisches Blut eines beliebigen Tiers (etwa 1/2 der Wassermenge)
Drei Handvoll Fidhere-Samen
[… es folgt eine Auflistung von neun verschiedenen Gewürzen samt Mengenangaben …]
Das Fleisch kurz anbraten, mit Bratensaft in einen Kessel geben. Rugha-Knollen schälen und hinzufügen. So viel Wasser zugeben, dass die festen Bestandteile gerade bedeckt sind, dann noch etwa die Hälfte der Wassermenge hinzugeben. Den Kessel abdecken und alles kochen lassen, bis Fleisch und Knollen gut durchgegart sind. Langsam und vorsichtig das Blut unter ständigem Rühren hinzugeben – nicht zu schnell, sonst gerinnt es. Erst jetzt die genannten Gewürze hinzugeben. Die Fidhere-Samen nicht wie bei der Verwendung als Medizin zerstoßen, sondern ganz lassen. So lange kochen, bis der Eintopf eine dickliche Konsistenz angenommen hat. Mit Brot und Blutwurst servieren.
Im Gegensatz zu Kadenes Version beinhaltet das Kultgericht Ghan kein Blut und natürlich auch keine Fidhere-Samen. Ein absolutes Muss ist dabei allerdings, dass das Fleisch von neun Tierarten kommt und auch jeweils zu 1/9 von jeder Art stammt. Bei dem Schlachtspektakel auf dem Marktplatz von Ryn hingegen hat man das Mengenverhältnis der einzelnen Sorten untereinander nicht abgestimmt, sondern einfach genommen, was gerade da war. Hauptverantwortlich für den Geschmack sind ohnehin die Fidhere-Samen.