Beiträge von Weltenbastler

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    Die Luft heulte und pfiff in seinen großen Ohren und wirbelte Staubwolken vom Berghang auf, bis es ihm zu ungemütlich wurde. Es schmiegte sich in eine kleine Spalte, aus der ein kleiner Strauch sich dem stetigen Luftstrom trotzig entgegenstemmte, und steckte seine spitze Schnauze in sein Fell.
    Die Zeit verging, und es wurde langsam dunkel. Die Ohren eng an den Körper angelegt, döste das kleine Wesen vor sich hin, bis es plötzlich ein tiefes, sonores Geräusch hörte. Es hob misstrauisch den Kopf und lugte unter den kargen Zweigen des Busches hervor, um den Verursacher dieses Geräusches zu entdecken, doch die öde Landschaft bot lediglich mit vereinzelten knorrigen Bäumen und reichlich Gesteinsblöcken etwas Abwechslung. Es wollte sich schon wieder in den Schutz der Zweige zurückziehen, als es erneut aufschrak. Der Boden unter ihm zitterte kurz, dann fühlte es, wie es in die Höhe gehoben wurde. Der Horizont veränderte sich, drehte sich, und mit einem Mal wurde dem Tier klar, dass der Felsbrocken, auf den es sich zurückgezogen hatte, nicht das war, was er zunächst vorgegeben hatte zu sein. Es saß auf einem großen, steingrauen Wesen, dessen Haut mit Moos und Gras bewachsen war! Mit zitternder Schnauze versuchte es, mehr im Halbdunkel zu erkennen, doch es bemerkte nur, dass sein Träger sich offensichtlich bewegte. Die Landschaft zog vorbei, und der Boden schien so weit entfernt zu sein, wie wenn es auf einen kleinen Baum geklettert wäre.
    Eine Weile verharrte das Tier so, angstvoll unter dem kleinen Gestrüpp hervorlugend, das auf dem Rücken dieses Wesens wuchs. Doch je länger die Steinwüstenei um es herum vorbeizog und sich offensichtlich nichts weiter Gefährliches ereignete, wurde das Tier wieder etwas lebendiger. Es unternahm langsam tastende Erkundungsgänge über den breiten Rücken dieses Wesens, das einem Felsen so täuschend ähnlich sah. Es kletterte weiter nach oben, und erreichte schließlich den höchsten Punkt, wo der Wind nunmehr ungebremst in sein langes, seidiges Fell fuhr und es kräftig zerzauste. Inzwischen bewegte er sich schon recht schnell den Berghang hinunter und obwohl es nun fast dunkel war, erkannte es in der unmittelbaren Nähe weiterer solcher wandelnden Felssäulen, die mit ihm zu Tal zogen.
    Es wurde langsam müde, und so zog es sich wieder zu seinem Busch zurück. Tsukmænan finden sich immer recht bald mit einer Situation ab, in die sie hineingeraten, und lassen sich nicht so leicht beunruhigen, wenn ihnen offensichtlich keine Gefahr droht. Und so fiel es bald schon in einen leichten Schlaf, sanft gewiegt von den weit ausladenden Schritten des Steinwesens.
    Als die Sonne gerade den Horizont langsam violett färbte, wachte es wieder auf. Die Landschaft hatte sich verändert. Die Einöde der Berghänge hatten sie verlassen, nun schritten sie durch saftiges Grün, und zu beiden Seiten standen immer wieder hochgewachsene Bäume. Das Tsukmæ begann, seinen Träger nach etwas Essbarem abzusuchen, und fand tatsächlich in manchen Hautfalten kleine Parasiten, die sich dort eingenistet hatten. Solchermaßen gesättigt, beobachtete es erneut den vorbeiziehenden lichten Wald, streckte seine lange, spitze Schnauze in den Wind und begann, Gefallen an dieser Form der Fortbewegung zu finden.
    Das tiefe Brummen, das es am Abend zuvor aufgeschreckt hatte, kam von den Steinwesen selbst - sie verständigten sich offensichtlich damit. Doch die meiste Zeit seiner Reise hörte das Tier nichts von ihnen, nur manchmal wurden kurze Kommandos ausgetauscht. Das Tsukmæ ging erneut auf die Jagd, pflegte sein Fell ausgiebig, schlief ein bisschen, hielt wieder Ausschau vom Kopf des Wesens aus, das dies nicht sonderlich zu stören schien, und als der Abend sich erneut über das Land senkte, wurde der Tsukmæ allmählich des doch sehr begrenzten Aufenthaltsortes überdrüssig. Es bot sich für ihn aber keine allzu günstige Gelegenheit zum Absprung, und unschlüssig verharrte es weiter auf dem sich beständig bewegenden Koloss.
    ***
    Es war schon Abend, die Schatten wurden länger im Wald, und der Gnom Koia und seine Gruppe hatten sich gerade eine der süßen Tuuj-Früchte aus einem Baum geklaubt und begannen nun, die zähe, ledrige Schale über dem gelben Fruchtfleisch mit scharfkantigen Steinchen zu öffnen. Dies war die Aufgabe der beiden stärksten Gnome, Koia selbst und Miika, der mindestens ebenso stark war wie er. Doch sie ächzten und zeterten ob der widerspenstigen Schale.
    "Probier von unten, Miika!"
    "Dieser Stein ist zu stumpf! Ich brauche 'nen schärferen!" Koia wandte sich vorwurfsvoll Tanik zu, der dafür zuständig war, scharfe Steinsplitter zu beschaffen, indem er Kiesel auf einen geeigneten Baum schleppte und sie von dort auf harten Felsboden fallen liess. Tanik zuckte nur abwehrend die Schultern, was den Anführer der Gruppe zu weiteren lautstarken Zänkereien veranlasste.
    Da flatterte über ihnen ein Grünstirn-Túk heran und krallte sich an der Rinde eines Baumes fest. Er hatte wohl die nicht zu überhörenden Gnome bemerkt und zudem die duftende Frucht, deren Schale schon an mehreren Stellen angekratzt war, gerochen. Freudig begannen die Gnome, den Túk herbeizulocken, und schließlich kam das Flattertier von seinem Platz am Baum herunter und begann, die Schale der Tuuj-Frucht mit seinen scharfen Vorderzähnen problemlos abzuschälen. Die Gnome warteten geduldig im Gras daneben, lachten und hatten bereits die Streitereien von gerade eben vergessen. Schließlich lag das fasrige, süße Innere frei, und gemeinsam mit dem Túk, der wie die meisten Tiere keine Scheu vor den kleinen, quirligen Kobolden hatte, labten sie sich an der Frucht.
    Sie waren gerade mitten im größten Schmaus, und der Saft triefte von ihren Mündern, als ein weiterer Túk über ihnen vorbeiflog und laut pfiff. Die Gnome blickten empor und lauschten aufmerksam, sie verstanden die Sprache der meisten Tiere recht gut. Diesmal schien der Beutelgleiter ihnen die Ankunft einiger Trolle anzukündigen, was die Gnome natürlich in helle Aufregung versetzte, sowas kam nun wirklich nicht alle Tage vor. Sie überliessen dem Grünstirn-Túk die restliche Frucht und eilten davon, um die Riesen aus den Bergen zu sehen. Sie ahnten, was das Ziel der Trolle war. Irgendwo hier im Wald hatten Orks eines ihrer Lager aufgeschlagen - die Gnome hielten sich in der Regel einfach fern von ihnen, da ein Gnom für einen ausgewachsenen Ork gerade recht als kleine Zwischenmahlzeit diente.
    "Dort, glaube ich!" Koia deutete recht wahllos auf eine Wand aus Gebüsch und Unterholz, hinter der man exakt nichts erkennen konnte. Zufälligerweise hatte Koia aber sogar recht, nur wenig später tauchten zwischen den Bäumen die grauen Riesen auf, lautlos bewegten sie sich vorwärts und schafften es tatsächlich trotz ihrer Größe, keine Zweige auf ihrem Weg abzubrechen oder andere verräterischen Geräusche zu machen.
    Koia lief auf seinen kleinen Füßen, so schnell er konnte, vorwärts, um den Weg der Trolle zu kreuzen, und ließ seine Gruppe dabei hinter sich. Und mit einem Mal waren die dicken Säulenbeine schon vor ihm, bewegten sich mit langen Schritten auf ihn zu. Beherzt machte Koia einen Satz vorwärts und packte ein paar lange Borsten, die aus den Beinen wuchsen. Sofort wurde er mitgerissen und hörte hinter sich nur noch das Rufen der anderen, die zu langsam waren. Koia lachte in sich hinein, er liebte Abenteuer, und ein solches wagemutiges Erlebnis war genau recht, um seine Position als Führer in der Gruppe zu festigen.
    Er hangelte sich an Borsten und kleinen Flechten, die an dem Troll wuchsen, in die Höhe, bis er endlich den dichter bewachsenen Rücken und wenig später die Schulter des Trolls erreichte, wo er sich erst einmal hinsetzte und die Aussicht genoss.
    "Großartig! Was werden die andern sagen, wenn ich das erzähle!" sagte er begeistert mehr zu sich selbst, doch der Troll hatte das helle zwitschernde Stimmchen gehört und neigte seinen Kopf leicht zur Seite. Nur ein kurzes, tiefes Grummeln ertönte, und große, wässrige Augen blickten den kleinen Wicht wie unergründliche Brunnen an.
    "Seid sicher unterwegs zu den Fressern? Richtiger Weg, genau richtig. Böse Orks, sind schon sehr lang im Wald. Vertreibt ihr sie?"
    Doch der Troll reagierte nicht weiter auf das muntere Plappern, sondern richtete seinen Blick wieder nach vorne. Koia zuckte mit den Schultern und begann, wieder zum Rücken zurückzukrabbeln, da bemerkte er plötzlich zwei kleine, schwarze Knopfaugen, die ihn über eine ständig zitternde, schnuppernde Schnauze hinweg unter einem kleinen Busch heraus anblickten. Mit einem kleinen Entzückensruf verharrte Koia. Gnome lieben Tiere jeglicher Art, und verirrt sich einmal ein ihnen unbekanntes in den Wald, ist die Freude, aber auch die Neugierde groß.
    Vorsichtig und mit beruhigenden Worten näherte sich Koia dem Gestrüpp, und die besondere Ausstrahlung der Gnome verfehlte auch hier ihre Wirkung nicht. Als das Tierchen sich vorsichtig unter den Ästen ins Freie traute, lachte Koia laut auf. Das Tier war nun wirklich lustig anzuschauen, die Schnauze war so lang und dünn, dass sie alleine deshalb ständig zu zittern schien, doch das Außergewöhnlichste an dem Tier mit hellbraunem, gepunktetem Fell waren seine Ohren. Sie waren ungewöhnlich lang, echte Schlappohren, und hingen zu beiden Seiten des Kopfes weit hinunter bis zu den Füßen und waren seitlich mit dem Körper leicht verwachsen. Die großen, schwarzen Augen des Tieres blickten den Gnom erwartungsvoll an. Da erinnerte sich Koia wieder daran, wo sie sich gerade befanden, und er wandte sich mit ernsten Worten an das Tier:
    "Musst hier weg! Bald gefährlich, Orks in der Nähe!"
    Die Ohren des Tieres zuckten, und es schien tatsächlich die eindringlichen Worte zu verstehen. Zumindest begann es, nach oben zu klettern, bis es wieder erneut auf der Schulter des Trolles saß. Der Oberkörper war nun hoch emporgereckt, und die Nase des Tieres wandte sich suchend von einer Seite zur anderen.
    Koia kletterte ihm hinterher. "Nicht viel Zeit. Bald bei den Orks! Komm hinunter!" Doch mit einem Mal duckte sich das Tier, und mit einem federnden Satz schnellte es davon. Und nun konnte Koia im Dämmerlicht auch erkennen, was es mit den großen Ohren des Tieres auf sich hatte: diese spannten sich plötzlich auf, und das Tier segelte förmlich mit ihnen weg von dem Troll in den Wald hinein, um schließlich an der Rinde eines Baumes aufzutreffen, wo es sich sofort festkrallte und mit kräftigen Bewegungen nach oben wegkletterte.
    Koia lachte wieder, doch nun wurde es auch für ihn höchste Zeit, wieder zu seiner Gruppe zurückzukehren.
    Das Tsukmæ verschnaufte erst, als es den Baum weit emporgeklettert war. Dieses kleine zweibeinige Wesen, das plötzlich auf dem Steinwesen aufgetaucht war, hatte in ihm ein Gefühl der Angst hervorgerufen, obwohl es sofort Zutrauen zu ihm gefasst hatte. Doch es hatte mit einem Mal den Eindruck, es wäre definitiv besser, sich möglichst schnell einen anderen Platz zu suchen. Es war zwar schon reichlich dunkel in diesem Wald, der ihm völlig fremd war, doch für einen beherzten Sprung zu einem der Bäume reichte das Licht noch gerade so aus.
    Der Baum, auf dem das Tsukmæ nun saß, hatte eine recht glatte Rinde, so etwas hatte es bisher noch nicht gesehen, wo es herkam. Äste gab es im unteren Bereich keine, doch weiter oben war eine ausladende Baumkrone zu sehen. Das Tsukmæ beschloss, dort hinaufzuklettern, denn nach unten wollte es nun nicht mehr, und an Ort und Stelle bleiben konnte es nicht.
    Oben angekommen, ruhte sich das kleine Tier erst einmal aus, das Herz raste von dem langen Aufstieg und der Aufregung über die kleine Gestalt, die ihn von dem Steinwesen vertrieben hatte. Dann erkundete es sein neues Zuhause erst einmal. Die Äste verliefen seltsam geradlinig vom Stamm weg, und als das Tsukmæ auf einem dieser Äste entlanglief, entdeckte es an dessen Ende eine große Frucht, mindestens so groß wie es selbst. Es schnupperte daran; es roch verlockend. Dann versuchte das Tierchen, ein kleines Stück davon anzunagen. Es wagte sich noch ein kleines Stückchen weiter hinaus, kratzte mit seinen kleinen Zähnchen an der vorderen Kante der Frucht herum, bis es plötzlich innehielt. Tieren sagt man ja einen gewissen Sinn nach, mit dem sie Gefahr spüren ... und in genau diesem Moment beschlich dem Tsukmæ ein äußerst unwohles Gefühl. Es konnte jedoch nicht feststellen, woran dies lag. Argwöhnisch schnupperte es wieder in den Wind hinein, doch als es ein leises Knirschen und Knacken unter seinen Füßen verspürte, war es bereits zu spät. Im nächsten Augenblick wurde die Welt weggerissen, und mit einem lauten Knall explodierte die Frucht unter den Füßen des Tsukmæ und schleuderte es hinaus in die Nacht.
    ***
    Tirrkass döste ein wenig an einen Baum gelehnt, der am Rande ihres Lagers stand. Seine großen Ohren lauschten auch ohne seine hundertprozentige Aufmerksamkeit auf jedes Geräusch, das vor ihm aus dem Wald ertönte. Über ihm knallten von Zeit zu Zeit die Früchte der Srektul-Bäume, wenn der Überdruck in ihnen zu groß wurde und sie ihre pfeilförmigen Samen weit hinaus in die Landschaft schleuderten. Tirrkass hatte sich aber schon daran gewöhnt, jedes Jahr in dieser Jahreszeit konnte man sie hören.
    Seine Gedanken wanderten zurück zu dem gestrigen Tag, als er ein kleines Duell mit einem jungen Kerl, gerade erst zwei Jahre in ihrem Stamm, ausfocht. Tirrkass musste schmunzeln - der Arme hatte keine Chance gehabt und muss wohl noch ein Weile an sich arbeiten, bis er ihn darin schlagen konnte, die 3000 Schritt durch Wald, Feld und Wasser in Rekordzeit zurückzulegen. Tirrkass reckte sich ein wenig, eigentlich weniger aufgrund von Müdigkeit, sondern mehr, um das Arbeiten seiner nur leicht ziehenden Muskeln besser zu spüren. Da vermeinte er plötzlich, ein unerwartetes Geräusch zu hören, und hob den Kopf hoch hinauf, um seine Ohren in alle Richtungen zu drehen. Er lauschte angestrengt, doch das Geräusch wiederholte sich nicht, und auch seine feine Nase nahm keine unbekannte Witterung auf. Dennoch blieb er misstrauisch eine Weile aufrecht stehen, seine Aufmerksamkeit war geweckt. Nichts geschah, nur der Wind heulte leise durch die Baumwipfel über ihm.
    Doch gerade, als er sich nach einiger Zeit wieder etwas bequemer an den Baumstamm lehnen wollte, ertönte von der anderen Seite des Lagers mit einem Mal ein lautes Jaulen, das jäh abbrach. Ohne auch nur einen Moment nachzudenken, schoss Tirrkass los, seine Instinkte bestimmten nun sein Handeln, und in halsbrecherischen Tempo rannte er, seine lange Waffe in der Hand, durch das Lager. Von rechts und von links stießen weitere Wachposten zu ihm, auch sie wussten sofort, was dies zu bedeuten hatte, und ohne dass weitere Verständigung nötig war, stürmten sie zur anderen Seite des Dorfes, heiser knurrend, hechelnd. Gegen Ende leitete sie der lauter werdende Tumult den Weg, mit einem gewaltigen Satz sprang Tirrkass über eine kleine Reihe von struppigen Büschen, die sich durch das Dorf zog, und landete direkt drei Schritt weit vor einem gewaltigen nachtgrauen Koloss, der breitbeinig und mit offenen Armen seinen Weg versperrte. Mit einem verblüfften Jaulen warf sich Tirrkass zur Seite und entging im allerletzten Moment der herabsausenden Faust, die mit der Wucht von Felsbrocken seinen Schädel zerschmettert hätte, verlor dabei jedoch seine Waffe, eine lange Schwertlanze mit großer, gezackter Klinge. Doch er hatte Glück, der Troll setzte ihm nicht nach, sondern wandte sich sofort zur anderen Seite, wo ein weiterer Ork mit einem markerschütternden Schrei heranstürmte, die scharfe Klinge hoch erhoben. Der Troll bewegte seine Hand so schnell, dass das Auge es kaum zu erkennen vermochte, und viel schneller, als man es den grauen, sonst so behäbigen Riesen zutraute. Die Waffe traf auf den Arm des Trolls, drang tief ein, aber wurde dann weit weggeschleudert, während der angreifende Ork, Tirrkass erkannte ihn als Kraitall, einen Schmied des Dorfes, zwischen die Arme des Trolls geriet. Ein letzter Schrei erstarb in berstenden und krachenden Knochen, als der Troll den Leib des Orks in seinen Armen schlicht zerquetschte. Tirrkass stöhnte auf, es drehte sich ihm fast der Magen um, doch wie von ferner Hand gesteuert griff er seine auf dem Boden liegende Waffe und sprang dem Troll entgegen, der ihm nun den Rücken zuwandte und Anstalten machte, den Kampfplatz mit Kraitall in seinen Armen wieder zu verlassen. Mit einem Keuchen warf er seine Lanze auf den Rücken des Trolls, die Klinge drang eine Handbreit in die ledrige, graue Haut ein, doch der Troll wankte nicht einmal, er wischte nur wie nach einer lästigen Fliege nach hinten, traf Tirrkass am Oberkörper, warf ihn mehrere Schritt weit weg und stampfte einfach weiter. Ein weiterer Wachposten sprang ihn von der Seite an, versetzte dem Riesen noch eine Wunde und musste mit seinem Leben dafür bezahlen. Tirrkass blickte sich wie betäubt um, sein Brustkorb schien von heißen Eisen durchbohrt zu werden, es machte Mühe, seine Lungen mit Atem zu füllen. Das Kampfgetümmel tobte um ihn herum weiter, heiseres Gebrüll und scharfe Kommandos schallten über den Platz, während die Trolle völlig schweigsam und unhörbar ihren tödlichen Weg durch die gegen sie anbrandenden Angreifer bahnten. Die ersten Orks kamen mit Fackeln herbeigeeilt, und brennende Pfeile schossen durch die Luft und bohrten sich in die Trolle, die bereits wieder auf dem Rückzug waren, jeder mit ein oder zwei der Dorfbewohner in ihren Armen. Feuer war das einzige, was diese Riesen noch am ehesten beeindruckte.
    Der Blick Tirrkass' trübte sich, die Geräusche wurden leiser. Er versuchte mit letzter Willenskraft, aufzustehen, er konnte nicht einfach nur zusehen, musste doch seine Kampfeskraft beweisen, durfte nicht tatenlos bleiben, doch eine rote Welle von Schmerzen überrollte seinen Kopf, dann wurde es Nacht um ihn.
    ***
    Tiefes Schwarz lag über den Farnen und Sträuchern zu Füßen der großen Srektul-Bäume. Alles Leben im Wald verharrte, während das Kampfgeschrei weit entfernt im Wald ertönte. Doch der Tumult verklang, und mit einem Mal wackelten die Zweige eines Farns, und eine spitze, lange Schnauze kam zum Vorschein. Das Tsukmæ schüttelte verwundert seinen pelzigen Kopf, wie um den Schmerz zu vertreiben, der sich zwischen seinen langen Ohren breit gemacht hatte, nachdem es auf so unsanfte Weise von seinem Aussichtsplatz hoch droben über den Wipfeln katapultiert wurde. Es war weit hinaus in die Nacht geflogen, hatte sich mehrfach um seine eigene Achse gedreht, bis es endlich die Orientierung wiederfand, als die Erde sein Gewicht wieder unbarmherzig nach unten zog. Seine Ohren spannten sich im Fallwind, und halb betäubt durch den lauten Knall segelte das Tier zu Boden, rasselte durch Äste und Zweige und war nicht in der Lage, sich irgendwo festzukrallen, bis sein gebremster Sturz schließlich in der weichen Farnschicht am Waldboden sein Ende fand. Hier blieb es liegen, mit rasendem Herz, nicht verstehend, was hier um ihn herum vorging, und wartete reglos ab.
    Erst, als die seltsamen Geräusche in der Ferne verklangen, und ganz langsam und vorsichtig die anderen Tiere des Waldes sich regten, schüttelte das Tsukmæ seine Starre ab und krabbelte aus seinem Versteck, um sofort die knorrige Rinde eines jungen Baumes hochzuklettern. Es hielt nicht an, bis es in sicherer Höhe einen Ast erreichte, kauerte sich dort in die Astgabel und starrte hinaus in die Nacht. Allmählich fiel die Angst wieder von ihm ab. Es schüttelte sein seidiges Fell, in dem sich Schmutz, kleine Rindenstückchen und Ästchen von seinem Sturz vefangen hatten, und schon hatte es die schlimmen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit wieder fast vergessen. Es reckte seinen kleinen Kopf in die Höhe, und beschloss, der Welt um es herum seinen Unmut über solch ungehörigen Dinge kundzutun, öffnete seine lange Schnauze und stieß ein langes, leicht zorniges Zwitschern aus, das die Nacht durchschallte.

    3
    Draußen knirschten Schritte auf Geröll. Cassy hielt die Luft an und lauschte. Dseyun lief auf und ab wie ein Tiger, auf und ab, und sie konnte förmlich hören, wie ungeduldig er war.
    Mit schlechtem Gewissen zog sie die Hose hoch und verknotete das Band, obwohl sie sich noch nicht besser fühlte. Genau genommen hatte sie sich seit Tagen nicht besser gefühlt, aber sie durfte die Gruppe nicht noch länger aufhalten.
    Als sie die Toilettentür aufstieß, wandte Dseyun den Kopf und blieb stehen. Der Yunai-Mann sah aus wie immer, als könnten ihm Hitze, eine Steigung von dreißig Grad und nur eine einzige Toilette innerhalb von vier Wegstunden nichts anhaben. Wobei letzteres auch stimmte, dachte Cassy säuerlich, immerhin war er ein Mann.
    "Geht es dir besser?", fragte er sachlich.
    Cassy nickte. Wie es ihr ging, interessierte ohnehin niemanden. Sie hätte niemals geglaubt, dass sie ihre einsame Wohnung in Es-Chaton einmal so schätzen würde, aber nach zwei Wochen im Süden von Marou kamen ihr die alltäglichsten Dinge luxuriös vor, beispielsweise soviel Zeit auf der Toilette zu verbringen, wie sie wollte.1 Oder überhaupt eine Toilette zu haben. Dieses verlassene Arbeiterquartier am Hang war immer noch besser als ein Gebüsch.
    "Gut." Dseyun musterte sie, vielleicht wollte er die Richtigkeit ihrer Aussage überprüfen. Der Yunai war der Anführer ihrer Truppe, und zuerst war Cassy von ihm begeistert gewesen. Mit seinen langen schwarzen Haaren, die er zu einer komplizierten Frisur hochgebunden trug, der dunklen Haut und den durchdringenden hellen Augen sah er aus, wie sie sich die Helden ihrer Kindheit ausgemalt hatte, Yuns weltberühmte Schwertkämpfer.2 Aber inzwischen hatte sie Marou und ihre Reise so gründlich satt, dass sie nichts mehr begeistern konnte, auch Dseyun nicht. Außerdem brachte er ihr ohnehin die meiste Zeit so viel Aufmerksamkeit entgegen wie einer Fliege auf seinem Stiefel, seine Aura hatte die unansehnliche Farbe von schmutzigem Eis und fühlte sich genauso kalt an.
    "Nion!", rief Dseyun. "Wo steckst du? Es geht weiter!"
    Nions schmale Gestalt schnellte aus dem Schatten eines Felsblocks in die Höhe. Er bedachte Cassy mit einem missbilligenden Blick, als könnte er sich gerade eben eine Bemerkung darüber verkneifen, wie sehr Frauen doch "den Betrieb aufhielten". Aber das war auch nicht nötig, denn erstens las sie es in seiner Aura und zweitens hatte sie diesen Spruch schon oft genug gehört. Es war einer von Nions Lieblingssprüchen.
    Sie streckte die Hand aus, um ihren Imp von dem Felsbrocken abzupflücken, wo er auf sie gewartet hatte.3 Malakai sprang auf ihren Arm und lief auf die Schulter hinauf, seinem Stammplatz. Mit verschränkten Beinen ließ er sich nieder. Er mochte zwar nur ein Ding sein, trotzdem gab ihr seine Gesellschaft etwas mehr Zuversicht. Sie fühlte sich nicht so allein.
    Nion sprang schon wieder allen voran den Pfad hinauf. Sein rotes Haar leuchtete wie eine Fackel in der stechenden Sonne. Ihn konnte Cassy von ihrer kleinen Reisegruppe am wenigsten ausstehen. Nion war klein und schmal und auf die typisch halbelfische Art schön. Seine Haut war marmorfarben, und das perfekt geschnittene Gesicht erinnerte an das einer Porzellanpuppe. Die Narbe auf seiner Stirn wirkte so wenig überzeugend, dass sich Cassy nicht gewundert hätte, wenn er sich selbst geschnitten hätte, um verwegener zu wirken. Aber abgesehen von seinem Gesicht war nichts an Nion niedlich. Er nannte Cassy die "Hexolschlampe", erzählte ihr zehnmal am Tag, dass sie "den Betrieb aufhalte" und erklärte, wenn sich irgendwann ein Mann für so ein dürres, glatzköpfiges Ding wie sie interessieren würde, würde er ihr eine Kiste Sekt schenken. Sie hätte ihn umbringen mögen.
    Dseyun folgte ihm mit etwas gemesseneren Schritten. Zuletzt schloss sich Cassy an und benutzte ihren Magierstab als Gehstock. Ihre Beine hatten zwar schon vor Tagen aufgehört zu protestieren, aber es war trotzdem nicht so anstrengend, wenn sie sich abstützte. Mit der Linken drückte sie den Hut aus geflochtenen Dschungelblättern tiefer in die Stirn, damit die Sonne ihr nicht die nackte Kopfhaut verbrannte.
    "Ich will nach Hause", flüsterte sie Malakai zu und kam sich furchtbar kindisch vor. Immerhin bezahlte das Unternehmen sie gut für diese Reise, und sie hatte die Chance, als Hexolforscherin zu einigem Ansehen zu kommen.4 Wenn es stimmte, was sie von Scheffler gehört hatte, war eine solche Entdeckung noch nie gemacht worden.5 Aber keine Bezahlung konnte diese Strapazen aufwiegen, dachte sie, konnte den Frust aufwiegen, wochenlang mit zwei gutaussehenden Männern unterwegs zu sein, die sie mit Verachtung straften. Und die Reise bekam ihr nicht. Als sie noch in Hotels abgestiegen waren, hatte sich Cassy geärgert, dass es nur Brötchen mit Wurst und Käse gab, nichts Warmes, aber jetzt hätte sie mit Begeisterung ein Käsebrötchen verzehrt. Seit acht Tagen bekam sie nur noch trockene Kekse zu sehen, die die Konsistenz und den Geschmack von Pappe aufwiesen, und Wasser aus großen Flaschen, das nach Staub und Leder schmeckte. Kein Wunder, dass ihr manchmal schwarz vor Augen wurde.
    "Du hast es ja bald geschafft", zirpte Malakai dicht an ihrem Ohr. "Nur noch ein paar Tage. Dann kannst du den Abgang machen und diese Herren der Schöpfung wieder sich selbst überlassen."
    Cassy seufzte und beschleunigte ihre Schritte, weil sie schon wieder zurückfiel. Immerhin gab es hier, in der Nähe der Grabung, wieder mehr Anzeichen der Zivilisation (wie ab und zu eine Toilette). Das Geröll erschwerte das Laufen allerdings sehr. Von unten hatte die kahle Spitze des Vulkans schwarz ausgesehen, wie sie sich über dem Urwald erhob, aber hier oben waren die Gesteinsbrocken von einem gräulichen Rot, das an eine Wüste erinnerte. Bei jedem Schritt gerieten die scharfkantigen Steine ins Rutschen, und mehr als einmal war Cassy bei dem anstrengenden Aufstieg gestürzt und hatte sich die Knie blutig geschlagen. Es herrschte tiefe Stille, nirgends kämpfte sich auch nur ein Grashalm durch das Geröll. Hier oben schien es überhaupt kein Leben mehr zu geben, was in der Nähe von so viel Hexol eigentlich mehr als seltsam war. Cassy verzog das Gesicht und zerrte an den Riemen ihres Rucksacks. Die Wasserflasche darin schien mit jeder Wegstunde schwerer zu werden, und ihr Rücken hatte schon wunde Stellen, wo die Lederriemen durch ihre dünne Kleidung schnitten.
    Dann plötzlich, ohne Vorankündigung, kehrte das Gefühl zurück. Cassys Ohren verschlossen sich, das Blut begann darin zu klopfen. Sie hörte Herzschlag – langsamen, unendlich kraftvollen Herzschlag, und sie hatte den Eindruck, von kühlen, fürsorglichen Händen gehalten zu werden. Sie holte tief Luft und stützte sich auf ihren Stab, um nicht zu fallen. Sofort stand Dseyun neben ihr.
    "Spürst du etwas?", fragte er.
    Sie konnte nur nicken. Sie hatte die Empfindung schon häufiger gehabt, je näher sie dem Vulkan gekommen waren, aber bislang nur kurz vor dem Einschlafen oder Erwachen.
    "Hexol", murmelte sie, als das Gefühl abklang. "Viel Hexol. Scheffler hatte Recht, das ist nicht einfach eine Lay.6 Hier ist eine riesige Menge Hexol konzentriert, mehr, als alle Organa von Es-Chaton in einem Jahr saugen.7"
    Eine von Dseyuns Augenbrauen hob sich, ansonsten blieb sein Ausdruck undurchdringlich. Er nickte einmal kurz, wandte sich dann ab und nahm den Aufstieg wieder auf.
    Cassy wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Jetzt, wo die Empfindung schwand, fühlte sie sich schrecklich verlassen. Von jeher schien Hexol das einzige auf der Welt zu sein, das etwas für einen Drachenmenschen wie sie übrig hatte. Sie runzelte die Stirn, als ihr etwas auffiel. War der Herzschlag nicht langsamer gewesen als sonst, wenn sie mit Hexol arbeitete? Und hatte die Berührung der Hände nicht kürzer angehalten? Aber bevor sie den Männern etwas davon erzählte, hielt sie lieber den Mund. Sie war erschöpft, und Drachenmenschen galten ohnehin als überspannt.8
    Sie stiegen weiter hinauf. Cassy fragte sich, wie die winzigen spitzen Steine den Weg in ihre Stiefel nur schafften. Die Sonne schien einfach nicht zu sinken, obwohl sie ihrem Gefühl nach schon wieder stundenlang unterwegs waren. Sie konnte so viel Wasser in sich hinein schütten, wie sie wollte, ihre Kehle brannte noch immer. Kurz hielten sie Rast im Schatten eines großen Felsblocks, dann kletterten sie weiter, die Männer voran und Cassy hinterher. Ihre Lunge brannte, und sie musste sich mehr und mehr zwingen, einen Fuß vor den nächsten zu setzen. Natürlich hatten die Männer diese Schwierigkeiten nicht, Nion war sogar vor lauter Ungeduld schon weit voraus gelaufen. Als Cassy gerade mit ihrem Stolz kämpfte und überlegte, ob sie Dseyun um eine weitere Pause bitten sollte, kam Nion zu ihnen zurückgelaufen, dass die Steine nur so zur Seite wegspritzten.
    "Sie sagen, es ist kein Vulkan!", verkündete er schon aus der Ferne.
    "Wer sagt das?", fragte Cassy, und zugleich fragte Dseyun: "Was ist es sonst?"
    Nion breitete die Arme aus. "Ein Krater!", antwortete er melodramatisch, wobei er Cassys Frage wie so häufig völlig ignorierte.
    Zum ersten Mal wirkte Dseyun überrascht. "Das ist höchst merkwürdig. Wenn es ein Krater ist, warum erstreckt er sich dann in die Höhe?"
    Unvermittelt schoss Cassy ein Bild durch den Kopf. Ein Geschwür. Sie schluckte, als sich ihr Verstand mit Bildern füllte, die alle schwach, krank, gefährlich, fremd, schlimm bedeuteten. Die Welt kippte weg, und Dseyun packte sie mit Eisengriff am Arm.
    "Cassandra? Ist alles in Ordnung?"
    Zittrig holte Cassy Luft. Der Himmel färbte sich erst blutrot, dann tiefschwarz. Sie blinzelte, und das erbarmungslose Blau über ihr kehrte zurück. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. "Wir müssen hier weg. Das ist ein schrecklicher Ort!" Plötzlich kamen ihr die Gedanken, die sie sich um Brötchen und Toiletten gemacht hatte, nichtig vor. Gefahr. Gefahr. Es war so deutlich, aber die Männer würden sie nicht verstehen. "Es ist gefährlich", sagte Cassy und hörte selbst, wie verloren ihre Stimme klang.
    Nions Gesicht hellte sich auf. "Gefährlich? Umso besser. Ich langweile mich ohnehin schon den ganzen Tag."
    "Bitte glaubt mir", sagte Cassy verzweifelt. "Hier stimmt etwas nicht. Es ist ein toter Ort. In der Nähe von so viel Hexol müsste man einen blühenden Flecken vorfinden!"
    Dseyun hob den Kopf und spähte den Berghang hinauf. "Du hast Recht." Er runzelte die Stirn. "Schrecklich, sagst du?" Es schien, als wolle er etwas hinzufügen, doch dann schüttelte er den Kopf. "Du bist sicher müde. Wenn du dich erst einmal ausgeruht hast, wirst du nicht mehr Die-Dunkelheit-ausspeit in jedem Schatten sehen."
    Unwillkürlich wurde Cassy bei seinen Worten kälter. "Die-Dunkelheit-ausspeit? Was ist das?"
    "Nur eine Redensart. Ein Name, den mein Volk für ein Wesen kennt, das nicht beschrieben werden kann. Es heißt, sie sei der Feind unserer Mutter." Er machte eine knappe Geste, die vielleicht die Landschaft ringsum, vielleicht den Boden unter seinen Füßen meinte. "Mein Volk erzählt, die Welt sei bunt und vielfältig gewesen, ehe sie Die-Dunkelheit-ausspeit, die im Sterben lag, umfing und an ihre Brust legte, um ihr Leben zu retten. Doch die Fremde konnte nicht geheilt werden, und sie brachte Schmerz und Elend über alles. Wohin ein Fetzen ihres verstümmelten Körpers oder ein Tropfen ihres Blutes fiel, entstanden die Dämonen Pest, Gier und Hass, und die Geister der Sterblichen wurden von Verwirrung umhüllt. Sie verloren ihre Achtung vor Mutter. Sie öffneten ihren Leib und entrissen ihr ihre Schätze, Gold und Metall … aber ich erzähle Märchen." Ein schwaches, entschuldigendes Lächeln huschte über sein Gesicht. "Wir Yunai sagen jedenfalls, wenn jemand schreckhaft ist, er sähe Die-Dunkelheit-ausspeit im Schatten."
    "Verstehe", murmelte Cassy. Die Geschichte war nicht dazu angetan, ihre Laune zu heben. Ein zerstückeltes Wesen …
    "Kannst du weiter gehen?" Dseyun hatte zu seinem üblichen sachlichen Tonfall zurück gefunden.
    "Ja. Je schneller wir fertig sind, desto schneller können wir diesen toten Ort verlassen."
    "Es ist überhaupt kein toter Ort", sagte Nion, der offenbar nur halb zugehört hatte. "Auf der Grabung sind jede Menge Leute. Sie wollen uns ihre Ergebnisse vorlegen. Kommt schon, wir sind gleich oben."
    Auch wenn das akute Gefühl von Gefahr geschwunden war, musste Cassy sich zwingen, um weiter zu gehen. Sie wusste, sie hatte es sich nicht eingebildet.
    Malakai hüpfte ihr von der Schulter auf den Hut. "Aber Cassy!", sagte er vorwurfsvoll. "Wenn es gefährlich ist, kannst du da nicht hingehen. Was ist denn überhaupt los? Du bist ganz blass."
    "Ich weiß es nicht", murmelte Cassy. "Ich kann es nicht erklären." Nion blickte sich über die Schulter nach ihr um, als wolle er eine spöttische Bemerkung darüber machen, dass sie sich mit einem Imp unterhielt, aber ausnahmsweise sagte er nichts.
    Cassy konnte inzwischen die Grabung sehen. Halb verfallene Stümpfe von Türmen standen auf der Spitze des Berges in den Himmel wie abgebrochene Zähne. Ein Muster von Holzzäunen zog sich zwischen den Ruinen hindurch. Noch ehe ihre Gruppe den Gipfel erreicht hatte, liefen ihnen die Grabungsarbeiter entgegen. Einer, der in einer staubigen Uniform steckte und vermutlich der Leiter war, redete auf Dseyun ein und drückte ihm einen Stapel Papier in die Hand. Alle schienen gleichzeitig zu sprechen, und wieder wurde Cassy schwindelig. Sie bemerkte kaum, wie sie den Gipfel erreichten. Erst, als sie in einem Zelt auf einem Hocker saß und ihr jemand eine dampfende Tasse Tee anbot, wurde ihr klar, dass sie endlich ihr Ziel erreicht hatten.
    Die Grabung machte einen vernachlässigten Eindruck – wie eines der zahlreichen staatlichen Projekte zur Erforschung der chrymäischen Ruinen, die aus Geldmangel in den letzten Jahren aufgegeben worden waren. Nur existierte diese noch. Cassy fragte sich, ob der Staat das auch wusste. Durch das Zelt spannten sich Schnüre, an denen getrocknete Früchte hingen, und in der Ecke befand sich ein kleiner Herd, in dem Wasser abgekocht werden konnte. Offenbar waren die Arbeiter daran gewöhnt, sich selbst zu versorgen. Aber was hatte sie dazu gebracht, unter diesen widrigen Bedingungen durchzuhalten?
    "Das ist Cassandra Cordes, unsere Hexolexpertin", stellte Dseyun Cassy vor und lehnte seinerseits mit einer knappen Geste den Tee ab, den ihm ein Arbeiter brachte. "Frau Cordes wird den Fund untersuchen, und das Unternehmen erwartet bald Rückmeldung über alles, was sie heraufindet. Herr Bukovicz und ich prüfen derweil die Qualität des Hexols. Ihr habt hier oben gute Arbeit geleistet. Aber wie seid Ihr überhaupt auf den Gedanken gekommen, dass sich unterhalb der Ansiedlung eine Hexolquelle befindet? Gab es irgendwelche Anzeichen? Gerade der karge Boden weist ja nicht darauf hin."
    Der Mann in der Uniform wirkte nervös. "Die Ruinen stammen zwar aus chrymäischer Zeit, aber wir konnten nicht feststellen, dass es sich wirklich um eine Ansiedlung handelt. Die Bauten erinnern am ehesten an Wachtürme. Aber eine ganze Ansiedlung voller Wachtürme konnten wir uns nicht erklären."
    Nion streckte auf seinem Klappstuhl die Beine von sich und gähnte demonstrativ. Archäologische Vorträge interessierten ihn nicht. Dseyun trat an die Zelttür und schaute nachdenklich hinaus. "Es scheint in der Tat kaum Wohnhäuser gegeben zu haben, soweit es sich noch erkennen lässt. Ungewöhnlich für die Chrymäer. Trotzdem hat diese Tatsache in meinen Augen nichts mit dem Hinweis auf ein größeres Hexolvorkommen zu tun. Ich frage also noch einmal: Wie seid Ihr auf den Gedanken gekommen, dass es hier Hexol gibt?"
    Der Mann kratzte sich an der Schläfe, ein wenig hilflos, wie es Cassy schien. "Ich kann Eure Frage nicht beantworten, Herr Dseyun. Ich weiß es nicht. Wir alle waren uns einig, dass noch etwas anderes unter den Ruinen sein müsste. Und als wir es gefunden haben, hatten wir das Gefühl, wir müssten sofort Scheffler kontaktieren."
    "Da ist etwas – anderes, nicht nur Hexol, nicht wahr?", fragte Cassy leise. Sie wusste nicht, wie der Gedanke in ihren Kopf kam, aber das Gefühl war stark.
    Der Grabungsleiter machte eine ratlose Geste.
    "Ich kann nicht behaupten, alles zu verstehen", sagte Dseyun. "Aber wenn Eure Meldung der Wahrheit entspricht, habt Ihr klug entschieden. Der Staat würde das Hexol einstreichen und Euch nicht einmal für Eure Mühe entlohnen. Scheffler dagegen wird sich für Euer Vertrauen erkenntlich zeigen. Grundbedingung ist natürlich, dass diese Angelegenheit unter uns bleibt."
    Cassy nippte an ihrem Tee. Sie fühlte sich alles andere als wohl. Auf den Gedanken, dass sie zu allem Überfluss auch noch in eine illegale Sache verwickelt war, war sie noch nicht gekommen. Scheffler besaß zwar keinen guten Ruf, weil er seine Arbeiter schlecht bezahlte, aber dass ein so bekanntes Unternehmen den Staat hinterging, hätte sie nicht für möglich gehalten. Trotzdem, die beiden seltsamen Männer, die Wanderung, wo sie doch auch ein Luftschiff hätten benutzen können, dieser abgelegene Ort … sie hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmte. Cassys Hand zitterte, rasch stellte sie die Teetasse ab und schlang die Finger ineinander, um das Zittern zu unterdrücken.
    "Selbstverständlich, Herr Dseyun", sagte der Grabungsleiter. "Wird denn Scheffler dafür sorgen, dass die Entdeckung auch später geheim bleibt? Einige meiner Mitarbeiter …"
    Dseyuns Aura verfinsterte sich leicht, wenn auch seine Miene unbeweglich blieb. "Ihr solltet Eure Arbeiter im eigenen Interesse unter Kontrolle halten. Alles Übrige bleibt Scheffler überlassen, aber ich bin bereit, ein gutes Wort für Euch einzulegen. Können wir nun den Fund sehen?"
    "Möchtet Ihr nicht erst die Aufzeichnungen studieren?"
    Dseyun warf die Blätter auf den Klapptisch, der mitten im Zelt stand. "Zuerst würden wir uns gern selbst ein Bild machen."
    "Dann folgt mir bitte." Der Mann wich Dseyuns Blick aus. Nion sprang auf, dehnte sich wie eine Katze und stand einen Augenblick später vor dem Zeltausgang. Cassy kämpfte sich vom Stuhl hoch, ihr Körper schien ihr kaum mehr zu gehorchen. Vor allem ihre Füße schmerzten auf einmal unerträglich. Obwohl sie gehofft hatte, sich auf der Grabung ausruhen zu können, war ihr auch das jetzt gleichgültig. Sie war eine Verbrecherin! Oder zumindest wurde sie gerade zu einer, und sie konnte überhaupt nichts dagegen tun. Was würden die Männer mit ihr machen, wenn sie sich plötzlich weigerte, zu erledigen, was ihr aufgetragen worden war? Was würde Dseyun machen? Sie wollte es gar nicht wissen. Der Yunai wartete, bis sie aufgestanden war, und bildete den Abschluss des kleinen Zuges. Vor Angst war Cassy ganz kalt, und ihre Knie fühlten sich weich an. Sie hatte sich ohnehin gewundert, warum Scheffler ausgerechnet sie für eine so gut bezahlte Arbeit ausgewählt hatte, eine unbekannte Forscherin, die weder Freunde noch Gönner besaß. Sicher, ihre Noten waren hervorragend, und ihr Hexolgespür übertraf das vieler anderer Drachenmenschen, doch jetzt vermutete sie fast, dass für das Unternehmen eine andere Tatsache von größerem Interesse gewesen war: Abgesehen von Malakai würde niemand sie vermissen. Oder war sie jetzt völlig paranoid geworden?
    Der Imp hatte sich auf ihrem Hut klein gemacht und rührte sich nicht. Ob er begriff, in was für einer Situation sie sich befand? Oder spürte er einfach nur ihre Angst?
    Der Grabungsleiter führte sie zu einem Loch im Boden, das Cassy schon aus der Entfernung aufgefallen war. Eine improvisierte Treppe aus Brettern führte in die Tiefe – weit in die Tiefe, wie es aussah. Balken stützten die ausgehöhlten Wände des Schachtes ab. Aus dem Schacht stieg ein schwacher, aber ekelhafter Geruch auf – als würde etwas verwesen, das schon in lebendigem Zustand unappetitlich gewesen war.
    "Auf zum Mittelpunkt der Welt!", sagte Nion munter.
    Der Grabungsleiter zog einen Lichtkristall aus der Tasche und warf einen unruhigen Blick auf Dseyun. Als der Yunai-Mann ihm einen Wink gab, hob er den Kristall und stieg voran in die Dunkelheit hinunter. Cassy war übel und schwindelig, wieder musste sie sich auf den Stab stützen, um auf der unebenen Treppe nicht zu fallen.
    Plötzlich fasste sie Dseyun unter dem Arm.
    "Brauchst du Hilfe?", fragte er ruhig.
    Cassy zuckte zusammen. "Oh, Herr – Dseyun, ich – ich komme schon zurecht, aber ich wollte nur sagen, auch ich bin dem Unternehmen gegenüber vollkommen loyal." Sie schämte sich für ihre eigene Feigheit. "Was auch immer wir hier finden, niemand wird von mir ein Wort darüber erfahren."
    Im blassen Schein des Lichtkristalls wirkte Dseyuns Gesicht gespenstisch. "Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, deine Loyalität in Zweifel zu ziehen. Du bist eine kompetente Frau, und das Unternehmen weiß deine Qualitäten zu schätzen." Er schob Cassy nicht unsanft weiter voran. "Komm mit, wir sind hier noch nicht fertig." Ihre Knie zitterten noch immer, aber sie fühlte sich nicht unbedingt erleichtert. Wer konnte wissen, was als nächstes passierte?
    Je tiefer sie ins Erdinnere vordrangen, desto unbehaglicher fühlte sich Cassy. Obwohl es nicht warm war, brach ihr der Schweiß aus, und der Hut klebte ihr an der Stirn. Der Lichtkristall schickte flackernde Schatten über die Wände, und nicht nur einmal zuckte Cassy zusammen, weil sie etwas – irgendetwas – in den Schatten zu erkennen glaubte. Es war aber nichts da, nur das Erdreich und einige Felsen, die aus den Wänden ragten. Der Tunnel wurde feuchter, je tiefer sie hinabstiegen.
    "Die haben aber tief gegraben." Nions Stimme hallte von den Wänden wider. Der rothaarige Halbelf gab sich gelassen, doch Cassy konnte am Vibrieren seiner Aura erkennen, dass auch er unruhig war.
    "Wir sind gleich da", sagte der Grabungsleiter gedämpft. "Nur noch ein paar Schritte …"
    Eine Welle von Empfindungen überschwemmte Cassy, und sie wäre sofort zusammengesackt, wenn Dseyun sie nicht um die Taille gepackt und festgehalten hatte. Zuneigung, Abscheu, Freude und Verzweiflung, Schmerz und das Nachlassen eines unerträglichen Schmerzes … die Unterschiedlichkeit der Gefühle zerriss sie beinahe. Sie schrie auf und kämpfte darum, sich aus Dseyuns Griff zu befreien, um sich wieder die Treppe hinauf zu schleppen. Es war zwecklos, da ihr Körper so schlaff war wie Pudding.
    Sie begann zu schluchzen und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht. "Wir können nicht weiter gehen! Wir können da nicht runter!"
    Dseyuns Hände lockerten sich nicht. "Cassandra, ich kann dich stützen, oder ich kann dich tragen, aber dort hinunter wirst du dich in jedem Fall bewegen", sagte er. "Man erwartet unseren Bericht."
    "Wir haben dich nicht so lange mit uns rumgeschleppt, damit du uns auf den letzten Metern schlapp machst", pflichtete Nion ihm bei.
    Vor Cassys Blick flimmerte es, sie kniff die Lider fest zusammen. Nur noch undeutlich spürte sie, wie Dseyun sie mit sich zerrte. Dann strahlte hellblaues Licht sogar durch ihre geschlossenen Lider. Das musste es sein, was sie gespürt hatte. Sie konnte nicht anders, als die Augen aufzureißen.
    Vor ihr breitete sich die unglaublichste Menge Hexol aus, die sie jemals gesehen hatte. Es war wie ein Meer vom prachtvollsten Blau, und es erstreckte sich bis zum Horizont der unterirdischen Höhle. Zum großen Teil schien das Hexol in Wasser gelöst zu sein, glühende Wellen spülten um den Felsboden der Grotte und leckten an den schmutzigen Stiefeln des Grabungsleiters. Ein anderer Teil des wertvollen Rohstoffs schwebte als blau leuchtender Nebelschleier über dem Meer, rankte sich in irisierenden Spiralen in die Dunkelheit und formte zarte, komplexe Gebilde in allen denkbaren Blauschattierungen.
    Dseyun ließ Cassy los. Sie stürzte vornüber auf die Knie, aber sie spürte den Schmerz nicht.
    Es war unfassbar. Sie konnte nichts tun als schauen.
    Nion fand als erster die Sprache wieder. "Das glaub ich jetzt nicht!", rief er. Sein schmaler Körper war eine Silhouette vor dem leuchtenden Blau. "Sieh sich nur einer all das Hex an! Hier unten hat’s die ganze Zeit drauf gewartet, dass jemand es findet und sich eine goldene Nase daran verdient! Stellt euch bloß mal vor, wie viel Kris man aus dem Zeug herstellen kann! Scheffler wird begeistert sein!"
    Während sich Cassy benommen aufrichtete, war Dseyun schon an das Hexolmeer heran getreten und schöpfte mit der hohlen Hand von der leuchtenden Flüssigkeit. Prüfend nahm er einen kleinen Schluck.9"Ausgezeichnetes Material", stellte er fest. "Die Konzentration ist sehr hoch. Diese Quelle ist ergiebiger als die yunischen. Es ist wirklich verblüffend." Er nahm seine Wasserflasche aus dem Gepäck, tauchte sie tief in das Hexol ein und kehrte mit der vollen Flasche zu Cassy zurück. "Trink, das wird dir wieder auf die Beine helfen."10
    Automatisch führte Cassy die Flasche zum Mund und schluckte. Die Schönheit des unterirdischen Meeres bannte sie noch immer, aber sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Dass sich soviel Hexol an diesem Ort befand, war nicht richtig. Sie wusste es so deutlich, wie sie wusste, dass Bäume ihre Wurzeln nicht in den Himmel streckten.
    "Wir haben außerdem dies hier gefunden", sagte der Grabungsleiter. Obwohl er flüsterte, war seine Stimme in der Stille deutlich zu hören. "Das scheint für die Hexolansammlung verantwortlich zu sein, auch wenn wir nicht verstehen, welcher Zusammenhang besteht." Er ergriff eine eiserne Stange mit einem improvisierten Haken am Ende und stieg auf einen Felsvorsprung, der ein Stück über dem Wasser aufragte. Mit weit aufgerissenen Augen sah Cassy zu, wie er die Stange ins Wasser hinein stieß und einen Moment später wieder hervorzog. An der Spitze der Stange hing …
    Ein Fleischfetzen?
    Der Teil einer Pflanze?
    Der abgetrennte Tentakel eines Weichtieres?
    Es war weißlich und leicht transparent, und es zuckte wie ein Fisch im Todeskampf. Der Gestank, der davon ausging, nahm Cassy den Atem, sie zog sich ihr Halstuch über die Nase und atmete durch den geöffneten Mund. "Igitt", sagte Nion angewidert, und sogar Dseyun wich zurück.
    "Was soll das sein?", fragte Nion. "Es sieht nach überhaupt nichts aus."
    "Es ist Teil eines Organismus, der sich hier in diesem … Hexol befindet", erklärte der Arbeiter. Ihm war nicht anzumerken, ob er sich ekelte, sein Gesicht wirkte entspannt. "Zumindest ist es das, was wir bisher herausfinden können. Offenbar steckt in dieser Höhle eine Art Riesenglobster, der große Mengen Hexol anzieht.11Aber der Organismus ist instabil. Er zerfällt, wenn man ihn nur anrührt."
    Nion verzog das Gesicht. "Globster? Das riecht, als wäre es seit Wochen tot! So stinkt nicht mal toter Globster!"
    "Es ist kein Tier." Cassy hatte das Bedürfnis, laut zu schreien, aber selbst das Sprechen bereitete ihr Mühe. Wellen einer fremdartigen Aura liefen über das Stück Fleisch am Haken, fremdartige, beißende Farben, die nicht einmal ihre Drachenmenschenaugen richtig erkennen konnten, doch bereits das Wissen, dass es sie gab, bereitete ihr Schmerzen. "Es ist … ich … ich weiß es nicht." Sie griff nach Dseyuns Hand und klammerte sich an ihn. Sein Schutz war besser als gar keiner. Und alles war ihr egal, wenn sie nur hier wegkamen. "Aber es ist böse. Bitte glaubt mir, es ist böse. Wir müssen gehen. Schnell!"
    Zu ihrer Verwunderung wurde Dseyun nicht ärgerlich, er widersprach ihr nicht einmal. Sein Blick war unverwandt auf den Fetzen des fremden Organismus gerichtet. "Böse", murmelte er. Auf sein sonst so regloses Gesicht trat ein Ausdruck, den Cassy noch nie an ihm gesehen hatte, und seine Aura fiel in sich zusammen und schmolz wie Eis im Regen. "Böse … und einsam, ewig sterbend und ungeboren im Schoß der Mutter …" Er hob eine Hand an die Schläfe. "Die-Dunkelheit-ausspeit." Seine Stimme war tonlos.
    Nion kam herbeigelaufen, sichtlich alarmiert.
    "Was hast du? Worüber redest du?"
    "Es ist nur eine … Geschichte. Ich habe vorhin darüber gesprochen." Dseyuns Blick wandte sich nicht von dem Ding ab, aber seine Augen schienen trüb zu werden. "Ein fremdes, fremdes Wesen, eine Schlange, die am Busen der Mutter saugt … sie bringt die Geister der schwachen Sterblichen zu Fall. Und nur ein Tropfen ihres Blutes versprüht Unglück …" Ohne weiteren Zusammenhang fuhr er fort: "Mein armes Land, sie haben uns verboten, an Geschichten zu glauben. Nein, sie haben unsere Geschichten getötet. Sie haben uns alles genommen. Ich habe keinen Ort mehr, an den ich gehen kann, ohne den leeren Himmel zu sehen und das leere Meer …"
    "He!", rief der Grabungsleiter hinüber. "Herr Dseyun, wollt Ihr es Euch nicht näher ansehen?"
    Dseyun rührte sich nicht. Und auf einmal spürte Cassy es auch: Eine tiefe, lähmende Leere, die sich auf sie legte. Ihr Leben war sinnlos. Jeder Augenblick, den sie atmete, war sinnlos. Schon in der Schule hatten ihr die anderen Mädchen "Chimäre!" nachgerufen und ihr, wenn sie nicht hinsah, nasse Lappen auf den Stuhl gelegt. Kein Junge hatte sie jemals angesehen, es sei denn, es ging darum, die Hausaufgaben bei ihr abzuschreiben. Und als sie dem schönen jungen Assistenten für Nekrosomatik in der Akademie ein Stück Kuchen zum Fest von Es-Chatons Landung hingestellt hatte, hatte er sich dafür bei der hübschen Sekretärin bedankt. Cassy war nicht mutig genug gewesen, um den Irrtum aufzuklären. Und noch immer war ihr bester Freund ein Imp, ein Gegenstand. Wie sollte sie jemals glücklich werden? Sie hatte niemals die Möglichkeit gehabt. Sie war hässlich, und sie war nicht einmal ein richtiger Mensch. Es war nicht gerecht.
    Sie konnte sich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Warum überschwemmten sie diese Gedanken so sehr … Gerade jetzt …?
    Dämmerung legte sich über Cassys Augen. Nur noch undeutlich sah sie, wie Nion gestikulierend zu dem Grabungsleiter lief, wieder zurückkam und Dseyun am Arm zog. Der Yunai stand da wie ein Schlafwandler, den Blick ins Leere gerichtet. Was kümmerte sie das? Sie hasste beide, und ohnehin war alles sinnlos.
    "He, Cassy!" Nion zerrte jetzt an ihr. "Verdammt, was ist denn mit euch? Warum hört ihr mir nicht zu? Cassy! Cassandra! Du musst wenigstens ein paar Aufzeichnungen machen!"
    "Lass mich in Ruhe!", murmelte Cassy.
    "Nimmst du mich etwa nicht ernst?" Nions Gesicht verdüsterte sich. "Ist es, weil ich ein Halbelf bin, oder warum?"
    Cassy wandte sich ab. Sie hatte keine Kraft mehr, um mit ihm zu streiten. Wozu auch? Sie war … so müde. Und nichts ergab mehr einen Sinn.
    Der Grabungsleiter kam auf sie zu und hielt ihr den Stab hin. Das bleiche Stück Fleisch am Haken zappelte nicht mehr, sondern hing schlaff herab. Der Mund des Mannes öffnete und schloss sich rasch, aber wenn er etwas sagte, dann übertönte es das Pfeifen und Knistern in ihren Ohren.
    Cassys Sicht verzerrte sich. Sie sah, wie Dseyun die Hände auf die Schläfen presste und zurückstolperte, die Augen vor Schmerzen zusammengekniffen.
    Hoffnung? Gab es Hoffnung? Irgendetwas … war dort.
    Das letzte, was sie wahrnahm, war Nions bleiches Puppengesicht, ausdruckslos wie das eines Schlafenden. Dann stürzte Dunkelheit auf sie herab.
    Als Cassy aufwachte, redete Nion. Das war nichts Besonderes, er redet eigentlich immer, wenn sie aufwachte, zumindest die letzten Wochen. Etwas verwirrt setzte sie sich auf. War sie ohnmächtig geworden? Ja, natürlich, die Sonne, der anstrengende Aufstieg, das schlechte Essen. Sie war wohl ein wenig übermüdet. Aber gerade jetzt zusammenzubrechen, wo doch so viel Arbeit anstand …
    " …uns alle ein Riesenstück voranbringen", sagte Nion gerade. "So eine Chance kriegen wir nie wieder. Wir können so viel Hex saugen, wie wir wollen. Scheffler wird begeistert sein!"
    Dseyun, der neben ihm hockte, nickte ernsthaft zu seinen Worten. "Wir wären Narren, wenn wir nicht zupacken würden", erwiderte er.
    "Aber was ist mit dem, was du geredet hast?" Nion hob unbehaglich die Schultern. "Die Sage oder was das war?"
    "Ein Mythos ohne Grundlage." Dseyun schüttelte ärgerlich den Kopf. "Ich muss Wahnvorstellungen gehabt haben. Die Mythen Yuns taugen nicht einmal als Gutenachtgeschichten für Kinder. Es fehlte noch, dass unser Nachwuchs wieder beginnt, an Märchen wie die Gütige oder Die-Dunkelheit-ausspeit zu glauben."
    "Wir haben alle mal unsere schlechten Tage", sagte Nion jovial.
    Cassy blickte sich um. Sie befand sich wieder an der Oberfläche, in der Nähe eines der Arbeiterquartiere. Jemand hatte ihr eine zusammengerollte Decke unter den Kopf geschoben. In diesem Moment bemerkten die Männer, dass sie sich aufgerichtet hatte. Dseyun reichte ihr seine Wasserflasche, und sie nahm dankbar einen Schluck.
    "Wie geht es dir?", fragte er.
    "Gut." Es stimmte, sie fühlte sich tatsächlich stark und unternehmungslustig. "Ich bin ohnmächtig geworden, nicht wahr?"
    "Nicht nur du", sagte Nion. "Auch Dseyun. Sogar mir ist schlecht geworden. Bestimmt irgendwelche Gase da unten oder so. Aber euch Drachenmenschen haut’s auch bei der geringsten Gelegenheit aus den Latschen. Der Grabungsleiter und ich haben dich hochgetragen, Dseyun konnte schon wieder allein laufen." Ein Grinsen lag auf seinem Gesicht.
    "Kannst du aufstehen?", fragte Dseyun. "Wir haben das Gewebestück in Alkohol einlegen lassen, aber wie lange es sich halten wird, wissen wir dennoch nicht. Die Verwesung ist bereits weit fortgeschritten. Du solltest am besten sofort beginnen, deine Untersuchungen vorzunehmen."
    Cassy richtete sich auf. Sie war noch ein wenig unsicher auf den Beinen, aber sie konnte laufen. Ein schwacher Schmerz saß hinter ihrer Stirn, doch sie beachtete ihn nicht. Der mühsame Weg hierher war überhaupt nicht sinnlos gewesen, und sie hatten die Entdeckung des Jahrhunderts gemacht. Ein Wesen, das Hexol anzog! Denn was sollte es sonst sein, was sie dort im unterirdischen Meer gesehen hatte? Undeutlich erinnerte sie sich, dass sie traurig gewesen war, sehr traurig. Aber warum eigentlich? Es gab doch Hoffnung. Hatte sie jemals daran gezweifelt? Natürlich würde sie es als Drachenmensch nicht leicht haben, aber sie war Wissenschaftlerin, und das gab ihr eine hervorragende Möglichkeit, sich selbst Ansehen zu erarbeiten. Vor allem nach dieser außerordentlichen Entdeckung. Wenn jemand Grund hatte, traurig zu sein, dann die Wissenschaftler, die nicht hier waren.
    "Du hast Recht", sagte sie. "Aber wir sollten dringend mehr Gewebeproben nehmen. Dieser Fund ist außerordentlich bedeutend. Und Scheffler wird bestimmt interessiert sein, selbst einige Proben zu erhalten. Am besten schicken wir auch welche an die Zweigstellen in anderen Städten."
    "Das ist eine gute Idee", stimmte Dseyun ihr zu.
    Cassy fühlte sich von Unruhe erfasst. Es juckte sie in den Fingern, mit der Forschung an den Proben zu beginnen, und noch nie hatte sie sich so sehr ein Labor vor Ort gewünscht. Sie konnte es kaum noch erwarten, ihrem Auftraggeber zu präsentieren, was sie hier entdeckt hatten. Aber dazu mussten sie die Gewebestücke erst einmal von diesem einsamen Ort fortschaffen und zu anderen Menschen bringen. Je eher sie damit anfingen, desto besser.
    War es wirklich gut? Cassy versuchte zu überlegen, aber ihr Kopf war wie mit Watte gepolstert. Ja, es war gut, es musste gut sein. Hatte sie Zweifel gehabt?
    "Aber was mag das nur für ein Ding sein?", fragte Nion.
    "Das ist unwichtig", erwiderte Dseyun. "Uns interessiert nur sein Nutzen."
    Ein hartnäckiges Tschilpen drang an Cassys Ohr. Es klang wie Malakai. Tatsächlich, stellte sie fest, ihr Imp hopste nur einen Meter neben ihr auf dem Boden herum, schwenkte die dünnen Ärmchen über dem Kopf und rief ihr aus Leibeskräften etwas zu. Missbilligend runzelte sie die Stirn. Was redete Malakai denn da? Wie, sie hatte vor einer halben Stunde … Vor einer halben Stunde war gar nichts gewesen. Und ganz bestimmt hatte sie vor einer halben Stunde nicht etwas völlig anderes gesagt als jetzt!
    "Malakai, du störst", sagte sie mit einem Anflug von Ärger. "Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin? Ich habe jetzt keine Zeit für deine Albernheiten."
    Als sie sah, wie sich der Imp mit gekränktem Gesicht zurückzog, wandte sie sich wieder den beiden Männern zu. "An die Arbeit. Ich sehe keinen Grund, weshalb wir diese Proben nicht so schnell wie irgend nur möglich nach Es-Chaton schaffen sollten …"
    Malakai schnappte nach Luft, ein ums andere Mal. Als Imp konnte er nicht weinen, ansonsten hätte er es sicher getan. Sie hatte gesagt, dass er sie störte. Er war doch ihr einziger und bester Freund gewesen, er, Malakai, der immer für seine Herrin da war! Der Hexol-Kristall, der sein Herz ersetzte, schickte ein schmerzhaftes Pochen durch seinen Körper. Malakai wich vor seiner Meisterin zurück, dann sprang er auf einen der Steine am Hang und ließ sich zitternd nieder. Mit den Armen umschlang er seine spitzen Knie und lugte unglücklich zu Cassy hinüber. Sie beachtete ihn überhaupt nicht, sondern unterhielt sich weiter mit den Männern, die sie neulich noch so sehr gehasst hatte. Dabei war es wichtig, was er ihr zu sagen hatte, das fühlte er, vielleicht wichtiger als alles andere. Etwas hatte sich geändert, auch wenn er nicht wusste, was es war. Und nicht nur Cassy hatte sich verändert – auch der dunkelhäutige Mann sprach auf einmal so anders, und der Halbelf benahm sich freundlicher als zuvor, was Malakai genau so seltsam vorkam. Aber was sollte er tun? Er war bloß ein Imp, ein Ding. Er konnte seine Herrin nicht zwingen, ihm zuzuhören.
    Malakai wandte sich ab und kauerte sich auf dem Fels zusammen wie ein kleines Tier. Ein scharfer Wind war aufgekommen, der den Geruch der Verwesung aus dem Schacht mit hinauftrug.




    1 Es-Chaton: größte Stadt Phainomainicas, Zentrum der Welt; Marou: südliches Land in Phainomainica, z. T. mit Dschungel bewachsen.
    2 Yun: Insel-Königreich, das für seine fremdartige Kultur und seine Schwertkämpfer bekannt ist.
    3 Imp: Mit Hilfe kristallisierten Hexols erzeugtes Gegenstandswesen, das gern von Magiern als Begleiter genutzt wird.
    4 Hexol: mysteriöser, stark energiehaltiger Stoff, der überall in Phainomainica vorhanden ist und als Grundlage aller Magitechnologie und der Technologie überhaupt dient.
    5 Scheffler: Unternehmen in Es-Chaton, das sich mit der Herstellung von zauberkräftigen Kristallen (Kris) aus Hexol befasst, und sich auch noch für einige andere Dinge interessiert.
    6 Lay: eine der "Adern" aus Hexol, welche die Welt wie ein Netz überziehen.
    7 Organon: Ein Kraftwerk, das Hexol aus der Luft filtert oder aus der Erde saugt, um daraus Energie zu erzeugen.
    8 Drachenmenschen: Bevölkerungsgruppe chimärologisch veränderter Menschen, die sich durch hohe Magiebegabung und Aurensicht auszeichnen. Hypersensibel und anfällig, werden v. a. zur Wartung von Organa genutzt.
    9 Hexol wird häufig in Getränken verarbeitet. Dseyun beweist hier das ungewöhnliche Können eines echten Hexol-Experten, die Konzentration von Hexol in einer Flüssigkeit am Geschmack erkennen zu können.
    10 Der Konsum von Hexol wirkt kurzzeitig aufputschend, schmerzstillend und stimmungsaufhellend.
    11 Globster: Großes Meeresweichtier, das nur aus einer amorphen Masse besteht.

    2.2
    Krachend löste sich der etwa kopfgroße Brocken, auf dem Anápi ihren linken Fuß platziert hatte, und polterte die steile Felswand hinab. Nur indem sie ihr Gewicht sofort auf das andere Bein verlagerte und sich mit den Fingern am Gestein festkrallte, konnte die junge Frau verhindern, zusammen mit ihm etwa zehn Schritt unterhalb ihrer jetzigen Position auf dem felsigen Strand zu zerschellen. Mit rasendem Herzen blickte sie dem Felsstück hinterher. Wie oft war sie schon hier herabgeklettert und hatte dabei eben diesen Vorsprung als Halt benutzt, und nun war er mit einem Mal weggebrochen.
    Erst nach einiger Zeit konzentrierten Atmens wagte sie den restlichen Abstieg. Ihre übrigen Festhaltepunkte erwiesen sich als zuverlässig, so dass sie bald das untere Ende des steilen Abhangs erreicht hatte.
    Sie befand sich nun am Fuße der Klippen, die an der Küste westlich von Sésento, ihrem Heimatdorf, steil zum Meer abfielen. Nur ein schmaler Streifen kiesiger Strand trennte hier bei Ebbe die Felswand vom Wasser. Mit der Flut wurde auch dieser vom Meer überschwemmt, so dass der Abstieg nur zu bestimmten Zeiten möglich war. Aber es wusste ohnehin kaum jemand aus dem Dorf, wie es hier unten aussah. Zum Seetang- und Fischesammeln fuhr man vom Strand nördlich der Siedlung los, wo es flach ins Wasser ging. Diesem Abschnitt der Küste aber kam gemeinhin wenig Interesse zu, galt er doch als vom Land aus unzugänglich.
    Nicht jedoch für Anápi. Mit traumwandlerischer Sicherheit konnte sie die etwa zwanzig Schritt hohe Klippe hinabklettern. Sie hatte diese Aktion schon so manches Mal gewagt, seit sie als Kind einmal herausgefunden hatte, wo es kleine Vorsprünge im Gestein gab, die Händen und Füßen guten Halt boten. Sie suchte den verlassenen Streifen Strand gerne auf, wenn sie allein sein und ihren Gedanken freien Lauf lassen wollte - oder aber zur stillen Kontaktaufnahme mit den Mächten der Natur, so wie heute. Bereits in ihrer Kindheit hatte Anápi sich zum Meer und anderen Gewässern besonders hingezogen gefühlt, so dass der Wassersprecher von Sésento in ihr seine Schülerin und künftige Nachfolgerin erkannt hatte. Manchmal konnte sie das noch immer kaum glauben, denn nicht viele hatten die Gabe, mit einer bestimmten Naturgewalt Kontakt aufnehmen und ihre Zeichen lesen zu können. In jedem Dorf gab es - wenn überhaupt - nur einen Sprecher für jede Macht. Jemand, der das Wasser zu verstehen vermochte, stellte gerade für ein Küstendorf wie Sésento eine mehr als glückliche Fügung dar, und genoss entsprechendes Ansehen. Aber Anápi hatte erst zu lernen begonnen und war noch weit vom Wissen Vúrams entfernt.
    Mit wenigen Schritten hatte sie den schmalen Streifen Kiesstrand überquert. Bald schwappte die Brandung über ihre nackten Füße. Noch ein paar Schritte, und das Wasser reichte ihr fast bis zu den Knien. Prüfend sah Anápi an sich herab. Sie trug nur ein leichtes Webgewand, dessen längster Saum an ihrem linken Knie endete, und weder der wenige Schmuck, den sie trug, noch ihr kunstvoll geflochtener Zopf würden ihr das Nasswerden wirklich übel nehmen. Sie watete noch ein gutes Stück weiter ins Meer hinein, das sich wie ein blauer Teppich vor ihr ausbreitete. Mit jedem Stück hob sich ihre Laune. An einem heißen Tag wie diesem gab es doch nichts Besseres als ein erfrischendes Bad im Meer! Als sie etwa bis zur Hüfte im Wasser stand, ließ sie schließlich ihre Hände und Unterarme in einer schnellen Bewegung in die Wasseroberfläche eintauchen, um sie gleich darauf in die Höhe zu reißen und funkelnde Wasserperlen aufzuwirbeln. Lachend warf sie sich vollends in die Fluten, tauchte unter und wieder auf, warf sich auf den Rücken und ließ sich, das Gesicht dem Strand zugewandt, nur mit kräftigen Beinschlägen weiter nach draußen tragen.
    Bald jedoch veranlasste sie etwas, jäh anzuhalten und die Beine absinken zu lassen. Die Aussicht auf den Strand hatte ihr nicht nur unberührte Natur, sondern noch etwas anderes geboten. Ein gutes Stück zu ihrer Rechten hatte eines der tropfenförmigen Boote angelegt, wie es die Dörfler benutzten, wenn sie aufs Meer hinausfuhren. Es war das erste Mal, dass Anápi hier ein Zeichen der Anwesenheit anderer Siú sah. Das Boot hatte hinter einem hervorstehenden, schroffen Stück Felswand angelegt, das am Ostende des Strandes ihrer Abstiegsstelle ein natürliches Hindernis bildete. Das Gestein war hier härter als weiter westlich, so dass es nicht im Laufe der Jahrtausende weggewaschen worden war, sondern in die Fluten hineinragte. Vom Ufer aus hätte Anápi nie gesehen, was sich dahinter befand - aber hier draußen war der Blick frei.
    Irritiert und neugierig zugleich machte sich Anápi auf den Rückweg zum Strand, steuerte aber auf die Felsnase zu. Selten war sie hier so weit hinausgeschwommen wie heute, so dass sie dem Strandabschnitt hinter der Blockade kaum nähere Beachtung geschenkt hatte, geschweige denn den Fels umrundet hätte. Hier wollte sie meist nur ihre Ruhe haben - zum Schwimmen war der belebte Strand im Norden des Dorfes besser geeignet und vor allem ungefährlicher, sollten ihr die im tieferen Wasser lebenden Tiere zu nahe kommen.
    An der Felsnase angelangt, schwamm Anápi vorsichtig um diese herum - und fand am Strand selbst niemanden vor. Das Boot lag verlassen da. Langsam machte sie einige Schritte darauf zu - und vernahm bald Stimmen, die der Wind aus einiger Entfernung herübertrug. Sie ging ein paar Augenblicke lang am Strand umher, der hier fast doppelt so breit war wie auf der anderen Seite der Felsbarriere, und schon bald glaubte sie, die Sprecher geortet zu haben.
    Unweit der Bootsanlegestelle befand sich eine Höhle, deren Eingang Anápi zunächst nicht gesehen hatte, weil mehrere große Felsbrocken die direkte Sicht auf ihn verhinderten. Von dem, was in der Höhle gesprochen wurde, konnte sie jedoch nichts verstehen - sie musste näher heran.
    Mit raschen, aber vorsichtigen Schritten bewegte sie sich im Schutz der Felsstücke auf den Höhleneingang zu, bis sich das Gewirr von Stimmen in ihren Ohren schließlich deutlich genug vom Rauschen des Meeres, dem Geschrei der Seevögel und dem Wind abhob. Offenbar befanden sich da mehrere Männer im Inneren der Höhle.
    Die Nachmittagssonne schien vom Meer her in den Höhleneingang und erhellte ihr Inneres ein paar Schritt weit. Anápi schlich bis zu dem Felsen heran, der die Öffnung zur linken Seite hin begrenzte, und beugte sich vorsichtig nach vorne, um hineinspähen zu können. Der Lichtschein fiel gerade weit genug in die Höhle, um den Körper eines Mannes zu erfassen, der sich aus dem Stand nach vorne gebeugt hatte und offensichtlich damit beschäftigt war, etwas vom Boden aufzusammeln. Was dieses Etwas war, konnte Anápi aus der Entfernung nicht erkennen. Aber sie wusste auf der Stelle, wen sie da vor sich hatte - Lásil, den Bootsbauer aus dem Dorf. Sie sah ihn zwar nur von hinten, aber Lásil hatte anders als alle anderen Bewohner von Sésento nicht schwarze, sondern dunkelbraune Haare, die er meist zu einer Art faserigem Zopf zusammengedreht hatte. Im Dorf sagte man ihm daher häufig nach, er sei kein richtiger Siun, sondern habe fremdländisches Blut in den Adern - dabei waren beide seiner Eltern Siú, wenn sie auch nicht aus der Gegend stammten. Aber auch sonst war Lásil nicht sonderlich beliebt in Sésento. Seine schweigsame Art und die Gewohnheit, lieber allein aufs Meer hinauszurudern, während die anderen Siú im Dorf feierten, sorgten dafür, dass ihm viele mit befremdlichen Blicken begegneten. Und nun hielt sich eben dieser Lásil mit mehreren anderen in einer bislang unbekannten Höhle auf? Anápis Neugier stieg ins Unermessliche. Etwas ganz und gar nicht Alltägliches war hier im Gange, dessen war sie sich sicher. Nur zu gerne wollte sie wissen, mit wem Lásil sich bis gerade eben unterhalten hatte. Aber wer auch immer sich noch in der Höhle aufhalten mochte, befand sich weiter im Inneren, wo Anápi nicht hinsehen konnte, und offenbar schienen Lásils Begleiter im Moment ähnlich beschäftigt wie er selbst, denn von weiter drinnen war eine Art Klackern zu hören.
    Im nächsten Moment richtete sich Lásil auf. "Habt ihr noch mehr?" Anápi hatte ihn nicht oft sprechen hören, aber jedes Mal wunderte sie sich aufs Neue, wie die Stimme eines Mannes, der nur wenige Jahre älter war als sie selbst, bereits so verbraucht klingen konnte.
    "Ein paar", kam es aus dem Höhleninneren. Diese zwei Worte genügten Anápi, um einen der anderen Siú zu identifizieren. Das konnte nur Yávu sein, Holzsammler und für Lásil unentbehrlicher Lieferant. Er war ein etwas geselligerer Mensch und der einzige aus dem Dorf, der den Bootsbauer wirklich mochte.
    "Unglaublich, wie viele es hier gibt", erwiderte Lásil. Das erste Mal überhaupt glaubte Anápi, so etwas wie Freude in der Stimme des immer so befremdlich wirkenden Siun zu erkennen. "Wartet, ich gehe zum Boot und hole einen der Säcke."
    Anápi gelang es, sich rechtzeitig hinter einen der Felsen neben dem Höhleneingang zu kauern, bevor die schmale Gestalt des Bootsbauers aus dem Halbdunkel heraustrat. Vorsichtig spähte sie aus ihrem Versteck hervor. Als Lásil an ihr vorbeilief, gelang es ihr, einen Blick auf das zu werfen, was er eben vom Höhlenboden aufgesammelt hatte und das er nun zwischen Unterarmen und Bauch eingeklemmt vor sich hertrug - ein gutes Dutzend faustgroßer, zeltdachförmiger Gehäuse von schwarzer Farbe, deren goldene Fleckenmuster unter den Strahlen der Sonne auffunkelten. Anápi traf die Erkenntnis wie ein Faustschlag in den Magen. Caleira-Gehäuse!
    Caleiras waren Kriechtiere, die im Flachwasser an den Küsten um Sésento lebten. An und für sich waren die Tiere unscheinbar - schwarze, etwa anderthalb Finger lange Schnecken mit einer auffallend beuligen Haut. Ihre Gehäuse waren es, die sie so wertvoll machten - der Rír, die größte Währungseinheit der städtischen Siú, wurde aus Caleira-Schale gemacht, und im Ganzen maß man den Behausungen gar einen um ein Vielfaches höheren Wert zu.
    Fassungslos starrte sie Lásil hinterher, wie er in das Boot kletterte und die kostbare Fracht vorsichtig auf dessen Boden ablegte. Ihre Blicke erfassten jede noch so unbedeutende Bewegung des Mannes. Er machte ein paar Schritte in Richtung Bug und zog dort einen Sack hervor, wie man ihn sonst zum Sammeln von eben erst verendeten Laichfischen oder Seetang benutzte. Vorsichtig gab er die Schalen hinein, eine nach der anderen. Eine dunkle Vorahnung überkam Anápi - ein Gedanke, den sie zunächst gar nicht weiterzuverfolgen wagte. Der Bootsbauer war inzwischen wieder ans Ufer geklettert und eilte, die kostbare Fracht geschultert, zurück zu der Öffnung im Fels. Diesmal verschwand er in der Dunkelheit des Höhleninneren. Anápi hörte, wie er mit jemandem sprach - außer ihm und Yávu musste sich noch mindestens eine andere Person in der Höhle befinden. Sie rückte ein Stück hinter dem Felsen hervor und lauschte angestrengt in Richtung Eingang, aber die Stimmen von Lásil und seinen Begleitern kamen nun von weiter hinten aus der Höhle und gelangten nur als unverständliches Geraune an Anápis Ohr. Ob sie noch einmal neben die Öffnung schleichen und einen erneuten Blick ins Höhleninnere riskieren sollte? Sie kroch ein Stück um den Felsen herum und war kurz davor, sich aufzurichten, als ein lautes Lachen an ihr Ohr drang. Es gehörte Yávu und klang, als befänden sich die Männer wieder deutlich näher am Ausgang. Nein, jetzt wäre ihr Vorhaben eindeutig zu riskant. Anápi stellte sich lieber nicht vor, was Lásil mit ihr machen würde, bekäme er mit, dass sie ihn mit einem Sack voller Caleira-Schalen beobachtet hatte. Rasch suchte sie wieder den schützenden Schatten des Felsbrockens auf und spähte von dort aus in Richtung der Öffnung. Die Schemen dreier Siú lösten sich aus der Dunkelheit und traten in den Bereich, der gerade noch vom weißlichen Licht der Sonne erfasst wurde. Zuvorderst ging der Bootsbauer mit dem Sack, der nun bestimmt das Doppelte an Schalen enthalten musste als er im Boot hineingetan hatte. Außer Yávu folgte ihm ein weiterer, recht hochgewachsener Siun, der jedoch weitgehend vom Körper des Holzsammlers verdeckt wurde. Lásil hielt den Sack ein Stück weit auf und blickte mit einem ungewohnten Grinsen auf dem Gesicht hinein. Er musste in diesem Moment große Genugtuung empfinden. Anápi ballte die Fäuste. Verbrecher!
    Den Siú galten Mensch und Tier als auf einer Stufe stehende Wesen. Genauso wie man andere Siú nicht umbringen durfte, stellte deshalb auch das Töten von Tieren ein schweres Verbrechen dar. Nur wenn sie ohne fremdes Zutun starben, durfte man ihre Erzeugnisse verwerten. Wer also die Haut eines Tieres zur Lederherstellung nutzen oder sein Fleisch verzehren wollte, musste bis zu dessen natürlichem Tod warten. Aus diesem Grund waren Caleira-Gehäuse auch so wertvoll - die Tiere durften nicht getötet werden, um an die schön gemusterten Schalen zu gelangen, und verendete Caleiras fand man selten, da ihre Kadaver meist vom Meer weggespült wurden. Als Anápi gerade alt genug gewesen war, um erstmals mit den Erwachsenen aufs Meer hinauszufahren, hatte ihr Onkel am Strand ein leeres Gehäuse gefunden und es in der nächsten Stadt verkauft. Mit dem, was er dafür bekommen hatte, hätte er alle fünfzehn Personen in seinem Haus bestimmt ein Jahr lang ernähren können. Was man dann erst für so viele Schalen, wie sie der Bootsbauer aus der Höhle geschafft hatte, bekommen würde …
    Im selben Moment erfasste ihr Blick den dritten Siun. Seine Statur … das dichte, hüftlange Haar … der Kleidungsstil … sie wagte gar nicht, abzuwarten, bis er den Kopf in ihre Richtung drehte. Eine siedende Woge stieg in ihrem Inneren auf, von der Magengegend ausgehend und sich noch im selben Moment über den ganzen Körper ausbreitend. Beyal?!
    Nein, das konnte, durfte er nicht sein. Lásil mochte moralisch in der Lage sein, Caleiras zu töten, um an ihre Gehäuse zu gelangen, aber Beyal? Der Mann, für den sie schon seit dem Ende ihrer Kindheit starke Zuneigung empfand und mit dem sie nach der Geburt ihres ersten Kindes endlich unter einem Dach leben würde? Der den Mächten der Natur stets mit genauso viel Achtung begegnet war wie sie selbst? Anápi zwang sich, tief Luft zu holen und diesen Gedanken zu verscheuchen. Nein, auf keinen Fall konnte es sich bei dem dritten Siun um Beyal handeln, er wäre nie zu einer solchen Tat in der Lage.
    Angespannt beobachtete Anápi weiter den Höhleneingang. Als die Männer vollends ans Tageslicht traten, schlug ihr Herz so wild, dass sie glaubte, es würde den dreien verraten, dass sie sich hier versteckt hatte. Zuerst kam Lásil, den Sack so behutsam in den Armen haltend, als handle es sich dabei um ein Kind. Ihm folgten Yávu und - Beyal. So sehr Anápi auch herbeigesehnt hatte, sich geirrt zu haben - er war es wirklich.
    Aber … er würde es niemals fertig bringen, ein Tier zu töten, und schon gar nicht um des Geldes willen. Nein, nicht Beyal …! Und doch war es sein Gesicht gewesen, das sie eben gesehen hatte, vor Freude strahlend und lachend. Würde aber jemand, der mutwillig und kaltblütig Tiere umbrachte, um aus ihnen Profit zu schlagen, sich dabei so verhalten, wie die drei es getan hatten? Wahrscheinlich würden solche Verbrecher wortlos und schnell ihre grausame Arbeit verrichten, um es möglichst schnell hinter sich zu bringen. Nein, niemand konnte so kaltblütig sein und dabei noch Freude empfinden. Schon gar nicht Beyal … Aber er hatte Caleiras in den Händen gehabt und sich dabei auch noch gefreut …
    Anápi wollte nichts mehr sehen. Sie drehte sich von der Höhle weg, ließ sich vollends auf den steinigen Boden sinken, umfasste die Knie mit den Armen und vergrub ihren Kopf darin. Zu ihren Tränen gesellte sich bald ein hemmungsloses Schluchzen, das jegliche weiteren Gedanken aus ihrem Bewusstsein verbannte. Sie versuchte erst gar nicht, dagegen anzukämpfen, sondern ließ jede Faser ihres Körpers mit ihm erbeben und einen dichten Tränenschleier ihre Sicht vernebeln.
    Das Schaben des Bootes auf dem steinigen Ufer, während es ins Wasser geschoben wurde, die Geräusche, die die drei Siú beim Einsteigen machten, und das leise Plätschern der von den Paddeln abperlenden Tropfen beim Auftreffen auf der Wasseroberfläche - all das drang nicht bis zu Anápi durch, wie sie sich hinter dem Felsen zusammengekauert hatte, den Kopf zwischen Armen und Knien vergraben.
    Anápi wusste nicht, wie lange sie in dieser Position ausgeharrt hatte, doch als es ihr schließlich gelang, den tränenschweren Kopf wieder von ihren Armen zu heben, war die Sonne bereits ein ganzes Stück weiter in Richtung Horizont gewandert. Mit einem Mal bemerkte sie auch, dass immer wieder feinste Tröpfchen sprühender Gischt auf ihren nackten Füßen landeten. Ihr Blick richtete sich jäh nach unten. Nicht nur die Sonne hatte sich fortbewegt, auch das Meer war deutlich nähergekommen - die Flut hatte eingesetzt. Bald würde der gesamte schmale Felsstreifen unter ihren Füßen vollkommen vom Wasser bedeckt sein - sie musste hier weg, so schnell wie möglich! Und das in ihrem Zustand, kraftlos vom vielen Weinen … Mühsam richtete sie sich auf, in der Hoffnung, dass das Meer um die Felsnase herum noch nicht zu unruhig geworden war … und sie wenigstens noch einen sicheren Felsvorsprung in den Klippen erreichen konnte, bevor auch noch das letzte Stückchen Strand den Fluten anheim gefallen sein würde.
    ***
    Im Nachhinein konnte sich Anápi nicht erinnern, wie es ihr gelungen war, so kraftlos und mit völlig verweinten Augen zurück zu ihrer Kletterwand zu gelangen und den gefährlichen Aufstieg zu überstehen, ohne einen Vorsprung zu verfehlen und abzurutschen. Oben angekommen, schlug sie zunächst den Weg in Richtung Dorf ein, nach wenigen Augenblicken aber verlangsamte sie ihren Schritt. Wenn sie jetzt nach Sésento zurückkehrte und ihr jemand begegnete, würde diesem sicher auffallen, wie verweint und mitgenommen sie aussah. Und wie würde sie wohl reagieren, wenn sie auf Beyal, Lásil oder Yávu träfe? Vielleicht hatte gar einer der drei sie bemerkt, sich aber nichts anmerken lassen? Nein, jetzt ins Dorf zurückzukehren, war keine gute Idee.
    Ein Stück hinter der nächsten Wegesbiegung ging ein schmaler Pfad ab, der in die Küstenwälder hineinführte. Er wurde von den Dörflern benutzt, wenn sie im Herbst Nüsse oder Früchte von den Bäumen sammeln wollten. Jetzt aber, im Frühling, kam nur selten jemand hier entlang. Anápi schlug den Weg in den Wald ein und ließ sich nach einiger Zeit, vom vielen Weinen und der anstrengenden Kletterpartie in den Felsen am Rande der Erschöpfung, gegen den Stamm eines Baumes sinken. Ihre Gedanken griffen nach dem kleinen Funken Hoffnung, der noch in ihr glomm, dass ihre Sinne ihr lediglich einen Streich gespielt hatten und es sich bei dem dritten Siun in der Höhle doch nicht um Beyal gehandelt hatte. Aber auch dieser verlosch rasch. Natürlich war es Beyal gewesen, sie hatte ihn doch genau gesehen … Langsam ließ sie sich auf den Boden sinken, die scharfen Kanten der Baumrinde ignorierend, die über ihre nackten Schultern, Haare und Kleidung schabten.
    ***
    Irgendwann musste sie wohl eingeschlafen sein, denn das nächste, woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie sich umsah und bemerkte, wie die Dämmerung bereits eingesetzt hatte. Verwirrt rappelte sie sich auf, wobei gut ein halbes Dutzend Nussfliegen, das es sich auf ihren Oberarmen bequem gemacht hatte, die Flucht ergriff. Es war kurz nach Mittag gewesen, als sie sich auf den Weg zum Strand gemacht hatte. Höchste Zeit, um zurück nach Hause zu gehen, bevor man sich etwa noch Sorgen um sie zu machen begann.
    ***
    Als Anápi die ersten Häuser von Sésento erreichte, hatte sich bereits die Nacht über das kleine Dorf gesenkt. Draußen war niemand zu sehen. Rasch folgte sie den ausgetretenen Pfaden durch das kniehohe Gras bis zum Haus ihrer Familie. Beim Eintreten stieg ihr ein harziger Geruch in die Nase - der einer Fackel. Offenbar war noch jemand wach. Anápi machte ein paar schnelle Schritte in den im völligen Dunkel liegenden Schlafraum, um neugierigen Fragen zu entgehen. Mit langjähriger Gewohnheit bewegte sie sich um die nicht einmal schemenhaft erkennbaren Körper der anderen Familienmitglieder herum. Schließlich gelangte sie an ihre eigene Schlafstatt, rollte sich auf ihr in voller Bekleidung zusammen, schloss die Augen und wartete darauf, dass ihre Müdigkeit sie übermannte und in eine andere Welt hinüberführte, in der es kein Recht und kein Unrecht gab.
    ***
    Etwas berührte Anápi an der Schulter, und sie fuhr entsetzt hoch. Völlige Dunkelheit, doch da war jemand, und dieser Jemand roch leicht nach Harz. Es war Núwi, eine ihrer älteren Schwestern. "Kommst du kurz mit nach draußen?", drang es leise an ihr Ohr. Anápi erhob sich wortlos. Wenn Núwi sie zu dieser Zeit weckte, hatte das einen Grund, und es würde nichts nützen, ihr zu widersprechen. Die beiden Frauen verließen den Schlafbereich und gingen in den Hauptraum des Hauses, in dem noch immer die Harzfackel knisterte.
    Bevor Anápi fragen konnte, weshalb ihre Schwester sie nach draußen geholt hatte, fing diese auch schon zu sprechen an. "Mir dir ist doch irgendetwas nicht in Ordnung?"
    Anápi schüttelte den Kopf. "Nein. Es ist nichts …"
    Núwi wollte ihrer Schwester eine Hand auf die Schulter legen, doch diese wich aus. "Anápi, es muss doch irgendetwas passiert sein. Ich habe dich eben, als ich ins Bett wollte, weinen gehört. Und sieh dich doch einmal an - es ist nicht normal, dass man sich vollständig bekleidet zum Schlafen niederlegt."
    Anápi senkte den Kopf und schwieg. Núwi wartete geduldig. Nach Momenten der Stille, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, gelang schließlich einem lauten Schluchzer der Weg aus Anápis Innerem nach draußen. Núwi trat auf ihre Schwester zu und legte die Arme um sie. Während der ganzen Zeit, die Anápi in ihre Schulter weinte, sprach Núwi kein Wort. Irgendwann lösten sich die beiden Frauen schließlich wieder voneinander. "Beyal", brachte Anápi heraus.
    "Ja? Was ist mit ihm?"
    "Ich … ich habe ihn heute gesehen. Am Strand." Ein erneuter Weinanfall ließ den Körper der jungen Frau erbeben. "Du musst mir versprechen, dass du es niemandem sagst!", entfuhr es ihr überraschend heftig. "Sonst … ist er …"
    Núwi nickte.
    "Versprich es mir! Versprich mir, dass du es keinem sagst, egal, wie schlimm das ist, was ich dir jetzt erzähle!"
    "Ich verspreche es."
    Anápi ließ sich auf den Boden sinken und bedeutete der Schwester, es ihr gleichzutun. Immer wieder von Schluchzern unterbrochen, erzählte sie ihr, was sie am Strand gesehen hatte. Núwis Augen weiteten sich vor Entsetzen, als Anápi auf die vielen Caleira-Schalen zu sprechen kam, unterbrach sie jedoch nicht. Am Ende ihres Berichts hatte Anápi erneut das Gesicht in den Händen vergraben. Núwi strich ihr sanft übers Haar und begann dann, die Frisur ihrer Schwester zu lösen, was diese, genau wie das Umziehen, vor dem Schlafengehen nicht getan hatte. "Jetzt verstehe ich, weshalb du so lange fort warst", sagte sie leise, während sie die Zopfstränge voneinander trennte und das lange Haar vorsichtig mit den Fingern durchkämmte. "Ich hätte an deiner Stelle auch nicht gewusst, was ich hätte tun sollen."
    Anápi sagte etwas, das durch ihre Tränen hindurch als leises Wimmern an die Ohren ihrer Schwester gelang. "Was soll ich denn tun?"
    "Ich weiß es auch nicht." Núwi stand auf und half Anápi dabei, sich ebenfalls aufzurichten. "Leg dich am besten wieder schlafen. Bestimmt ist alles ganz anders, als du denkst. Mach dir nicht so viele Sorgen."
    Anápi nickte und wischte sich mit dem Arm übers Gesicht. Núwi trat an den Wasserkrug heran, der in der Ecke stand, brachte die Harzfackel zum Erlöschen und machte sich dann mit ihrer Schwester auf den Weg zurück in den Schlafraum. Bald war aus diesem lange nichts anderes außer dem gleichmäßigen Atmen von gut einem Dutzend Personen zu hören.
    ***
    Cétir, Dorfoberhaupt von Sésento, stand im Eingangsbereich seines Hauses, eine kunstvoll gearbeitete Laterne in der Hand, in der eine kleine Flamme unruhig tanzte. Er trug einen einfachen Überwurf, und sein mit zahlreichen grauen Strähnen durchzogenes Haar fiel ihm glatt und offen den Rücken hinab. Kein Siun würde sich normalerweise in einem solch schmucklosen Aufzug vor jemandem zeigen, der nicht unter seinem Dach lebte. Aber diese Situation war alles andere als normal. Edála, der rote Mond, stand hoch über dem Horizont - bald würde die erste Hälfte der Nacht vorüber sein. Und vor ihm stand eine sichtlich aufgebrachte Núwi, die ihm mit unterdrückter Stimme berichtete, was sie vor kurzem von ihrer Schwester erfahren hatte.
    Als sie geendet hatte, senkte sich für ein paar Augenblicke Stille über den Raum. "Ich danke dir, dass du mir das gesagt hast, Núwi", meinte Cétir schließlich leise und machte Anstalten, sich in Richtung des Durchgangs zu wenden, der ins Innere des Gebäudes führte.
    "Was wirst du nun tun?", fragte Núwi schnell.
    "Ich werde mich wieder schlafen legen", antwortete der Dorfvorsteher, "und morgen sehen wir dann weiter."
    "Aber bis dahin könnten sie die Schalen längst versteckt oder beiseite geschafft haben, so dass es keine Beweise mehr gibt. Man lässt doch nicht einen Haufen Caleira-Schalen einfach so bei sich zu Hause herumliegen."
    Cétir kam sichtlich ins Grübeln. "Das stimmt natürlich. Aber wenn ich sie jetzt aus dem Schlaf reißen lasse, gibt es einen Aufruhr im Dorf."
    "Ich fürchte, dass es den ohnehin geben wird."
    "Nun, das ist ein gutes Argument", erwiderte Cétir. "Gib mir einen Moment Zeit, um zu bedenken, was zu tun ist." Er schenkte Núwi noch ein wenig überzeugendes Lächeln und verschwand im Inneren des Hauses.
    ***
    Auf den Gesichtern von Beyal, Lásil und Yávu stand deutlich sichtbare Beunruhigung, was man ihnen nicht verdenken konnte. Wann wurde sonst jemand mitten in der Nacht geweckt und zum Dorfvorsteher beordert? Man hatte sie fast zeitgleich zu Cétirs Haus gebracht, so dass ihnen rasch klar geworden war, worum es gehen musste. Hin und wieder sprachen sie leise miteinander oder warfen sich nervöse Blicke zu, während sie auf den Dorfvorsteher warteten. Ihre Begleiter hatten sich vor dem Eingang postiert, um zu verhindern, dass die drei sich einfach ihrer Verantwortung entzögen.
    Nur kurze Zeit nach ihrer Ankunft betrat Cétir den Raum. Seit der Unterredung mit Núwi hatte er sich der Situation angemessen gekleidet und einige Schmuckstücke angelegt, an deren Wert sich seine besondere Stellung im Dorf erkennen ließ. Sein Haar formte nun eine Art lockeren Knoten im Nacken und hing weiter bis über die Schulterblätter herab. Den drei Delinquenten blieb jedoch nicht viel Zeit, das Erscheinungsbild des Dorfvorstehers zu würdigen, denn kaum hatte er den Raum betreten, hob Cétir auch schon zu sprechen an. "Ich nehme an, ihr wisst, weshalb ihr hier seid?"
    "Nein - was sollen wir denn Unrechtes getan haben?", entrutschte es Yávu augenblicklich, während seine Blicke wild zwischen Beyal und Lásil hin- und herfuhren.
    Cétir schwieg weiterhin. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Er schien wirklich darauf zu warten, dass die drei von sich aus erzählten, was sie getan hatten. Viele Möglichkeiten gab es nicht, denn während man Lásil und Yávu häufiger zusammen sah, war es äußerst ungewöhnlich, dass Beyal mit den beiden zu schaffen hatte.
    Irgendwann schließlich begann Beyal leise: "Nun, wir waren gestern mit dem Boot draußen …"
    Lásil stieß ihn in die Seite und brachte ihn so zum Schweigen. "Bevor wir nicht wissen, was man uns vorwirft, sagen wir gar nichts", beeilte er sich zu sagen.
    "Nun gut." Cétir musterte die drei eingehend. "Es hat in der Tat etwas damit zu tun, dass ihr gestern draußen wart. Ihr wurdet dabei beobachtet, wie ihr eine beträchtliche Menge Caleira-Schalen aus einer Höhle hinausgetragen habt. Ihr werdet euch für das Töten dieser Tiere verantworten müssen."
    Ein wildes Durcheinander entrüsteter Proteste brach auf Cétir ein, nachdem er geendet hatte. Der erste, der wieder einen vollständigen Satz zustande brachte, war Lásil. "Wer war das, wer hat das behauptet? Wir haben keine Caleiras getötet!"
    "Genau! Die lagen einfach da!", rief Yávu dazwischen. "Von der Flut in die Höhle gespült, da drinnen sind sie dann verendet."
    "Wir haben nur die leeren Schalen eingesammelt", übernahm Lásil wieder das Wort.
    "Einen Moment", unterbrach Cétir den Redeschwall. "Eins nach dem anderen. Lásil, erzähl mir die ganze Geschichte, und zwar von vorne und der Reihe nach."
    "Ich war gerade an der Fertigstellung eines neuen Boots", begann der Angesprochene, "da kam Beyal des Wegs und fing mit mir eine Unterhaltung an." Seiner Stimme nach zu urteilen, schien er sich darüber nicht sonderlich gefreut zu haben. "Er meinte, dem Verhalten der Vögel nach zu urteilen, seien heute wieder Fische draußen an der Sandbank angeschwemmt worden. Er fragte, ob ich deswegen so fleißig sei. Ich sagte ihm, dass mir das noch gar nicht aufgefallen wäre. Irgendwie überredete er mich dann, das Boot gleich auszuprobieren, obwohl ich noch nicht ganz fertig war. Yávu, der gerade bei mir war, drängte auch dazu, also gab ich mich geschlagen, und wir fuhren los, bevor die Flut kommen und die Sandbank unter Wasser setzen würde." Cétirs Gesicht war wieder vollkommen ausdruckslos, während der Bootsbauer redete. "Wir sammelten ein paar Fische ein und wollten zurückfahren, aber als wir das Boot ins Wasser schoben, muss sich ein Stein in einer Ritze zwischen zwei Planken verkantet und den Spalt vergrößert haben, denn nach kurzer Zeit bemerkten wir, dass immer mehr Wasser ins Boot hineinlief. Wir fuhren nicht mehr zur Sandbank zurück, sondern zum nächsten Küstenstreifen, weil wir da eher Material finden würden, um das Boot zu reparieren. Und da entdeckten wir dann eben diese Höhle."
    Cétir runzelte die Stirn. "Wo genau ist das? So etwas müsste eigentlich bekannt sein."
    "Ein ganzes Stück südwestlich von hier. Unten an den Steilklippen. Da, wo man sonst nicht hinkommt."
    "Wer kann uns da bloß gesehen haben …", kam ein leises Murmeln von Yávu. Cétir bedeutete ihm, zu schweigen, und bedachte Lásil mit einem auffordernden Blick.
    "Das ist so eine Einhöhlung im Fels, sie geht ziemlich tief hinein. Ich schätze, dass man nur bei Ebbe hineingehen kann. Innen ist der Grund dann wieder tiefer ausgewaschen als am Eingang. Wir vermuten, dass die Caleiras bei Flut in die Höhle gespült werden, und dann, wenn bei Ebbe das Wasser abläuft, nicht mehr zurück ins Meer gelangen und dadurch sterben." Die anderen beiden nickten bekräftigend, doch mit jedem Wort, das er sprach, wurde die Stimme des Bootsbauers leiser, als schleiche sich langsam das Bewusstsein in seine Gedanken, dass Cétir ihm das Ganze wohl nicht abnehmen würde. Schließlich verstummte er ganz.
    "Ich denke, ich brauche euch nicht zu sagen, dass eure Geschichte recht abenteuerlich klingt", meinte der Dorfvorsteher heiser. "Bei ein, zwei Gehäusen würde ich das ja noch glauben. Aber mir wurde berichtet, dass ihr mehrere Dutzend davon aus der Höhle herausgetragen habt. Da liegt ein ganz anderer Verdacht natürlich nahe." Die drei hoben zu erneutem Protest an, woraufhin Cétir schnell weitersprach. "Aber nun gut. Ich werde mir morgen ein Boot nehmen und mir die Sache selbst ansehen."
    Auf den Gesichtern von Beyal, Lásil und Yávu machte sich zaghafte Erleichterung breit, die jedoch sogleich wieder von ihnen wich. "Bis dahin kann ich euch allerdings nicht nach Hause gehen lassen", fuhr Cétir in einem etwas strengeren Tonfall als bisher fort. "Ich habe ein paar Leute ausgeschickt, um die Caleiras herbringen zu lassen. Ich möchte euch nichts unterstellen, aber ich muss sichergehen, dass ihr die Schalen nicht schnell beseitigt. Ich habe auch mit Vúram gesprochen." Das war der Wellensprecher, Anápis Lehrmeister, der mit den Kräften des Wassers geistig in Kontakt treten konnte. "Er wird euch bis morgen in seinem Haus aufnehmen, bis ich die Caleiras und die Höhle mit eigenen Augen gesehen habe. Dann werde ich entscheiden, wie es weitergehen soll."
    Seine Worte klangen so unmissverständlich, dass keiner der drei es wagte, noch Widerworte zu erheben. Cétir ging kurz nach draußen und erteilte den dort Postierten ein paar Anweisungen. Alsbald wurden der Bootsbauer und seine Begleiter in die Nacht hinaus geführt.
    ***
    Anápi erwachte davon, wie zwei Personen draußen vor dem Fenster mit unterdrückten Stimmen, aber dennoch deutlich hörbar miteinander sprachen. Sie setzte sich auf und rieb sich verwirrt die Augen. Auch in den Rest ihrer Familie schien Bewegung gekommen zu sein, wie das schnelle Tappen etlicher Paar Füße um sie herum verriet. "Was ist denn los?", fragte sie, noch halb schlafend, in das Dunkel. Draußen lief ein Grüppchen erregt miteinander diskutierender Siú vorbei.
    "Zieh dich an und komm mit nach draußen", sagte die eilig näherkommende Stimme eines ihrer Brüder. "Aus irgendeinem Grund ist das ganze Dorf in Aufruhr."
    Im Nu war Anápi auf den Beinen. Es musste schon etwas Schlimmes passiert sein, wenn es alle Bewohner von Sésento mitten in der Nacht aus den Betten holte. Anápi musste nicht lange nachdenken, was dieses Schlimme wohl sein mochte. Ihre Zähne gruben sich in ihre Unterlippe. Núwi musste trotz ihres Versprechens etwas gesagt haben - wie hätten es die anderen sonst erfahren sollen?
    Rasch kleidete sich an und eilte aus dem Schlafraum. Im Vorraum war man damit beschäftigt, irgendwie Licht zu machen. Anápi lief an ihren Verwandten vorbei und nach draußen. Sie sah zwei junge Männer aus dem Nachbarhaus eilig näher kommen und sprach sie an: "Was ist hier eigentlich los?"
    "Sag bloß, du weißt es noch nicht", meinte einer der beiden erstaunt. "Man hat Beyal heute Nacht aus dem Schlaf gerissen, und Yávu und Lásil auch. Angeblich haben sie Unmengen von Caleira-Schalen unten vom Strand heraufgebracht!"
    "Jeder sagt, sie hätten sie getötet", fügte der andere schnell hinzu. "Das ist doch verrückt! Los, komm mit, vielleicht können wir irgendetwas tun."
    Anápi nickte und stolperte den beiden hinterher, deren Tempo sie auf ihren entkräfteten Beinen kaum halten konnte. Vor dem Haus des Dorfvorstehers hielten sie schließlich an. Dort hatte sich bereits eine Ansammlung von mehreren Dutzend Dörflern gebildet, die jedoch gebührenden Abstand zur Eingangstür hielten, vor der sechs Männer Wache standen. Anápi blieb hinter ihren Nachbarn stehen und senkte den Kopf, in der Hoffnung, so nicht erkannt zu werden und lästige Fragen beantworten zu müssen. Hin und wieder schnappte sie Fetzen der erregten Unterhaltung der beiden auf.
    "Wenn du mich fragst - der Bootsbauer war's, dem habe ich noch nie getraut."
    "Natürlich war er's - und jetzt zerrt er arme Unschuldige mit hinein. Warte nur, bis das rauskommt, Cétir lässt ihn aus dem Dorf werfen."
    Anápis Gedanken schweiften ab. Hätte sie doch bloß den Mund gehalten und sich Núwi nicht anvertraut! Dabei hatte diese ihr gegenüber noch nie ein Versprechen gebrochen, sie hatte sich immer auf sie verlassen können … Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus, um die in ihrer Bauchgegend entstehende Mischung aus wachsender Verzweiflung und Wut unter Kontrolle zu bekommen. Aber könnte es nicht auch sein, dass jemand anderes die drei gesehen hatte, wie sie mit so vielen Caleiras im Dorf eintrafen?
    Während sie noch grübelte, kam plötzlich Unruhe in den Kreis der Umstehenden. Über die Schulter ihres Vordermanns hinweg konnte Anápi erspähen, wie mehrere Personen aus dem Haus kamen und von denen, die bereits davor gestanden hatten, weggeführt wurden. Das konnten nur Beyal und die beiden anderen gewesen sein! Sie streckte sich weiter, um sehen zu können, wohin sie gebracht wurden, aber die meisten um sie herumstehenden Siú waren ziemlich groß und versperrten ihr die Sicht. Im selben Moment erhob der Dorfvorsteher die Stimme und rief über den Platz hinweg: "Ihr habt mit dieser Sache nichts zu tun. Geht nach Hause und legt euch wieder schlafen."
    Murrend setzte sich der Auflauf in Bewegung. Eine solche Anordnung duldete keinen Widerspruch. Anápi blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls zu gehen. Von ein paar vorbeilaufenden Dörflern schnappte sie noch auf, dass man die drei zu Vúrams Haus bringen würde. Sie beschleunigte ihren Schritt - nun wusste sie genau, was sie diese Nacht noch zu tun hatte.
    Ein paar Bäume weiter wurde Anápi jäh in ihren Gedanken unterbrochen, als sie aus dem Augenwinkel sah, wie Núwi ihren Weg kreuzte. Rasch streckte sie den Arm aus und fasste die Schwester grob an der Schulter.
    "Du hast es Cétir gesagt!", entfuhr es ihr.
    Núwi riss sich los. "Es tut mir Leid", sagte sie nur, unendliches Bedauern in ihrem Gesicht. "Es war ungeheuerlich. Ich musste es ihm sagen. Es wird sich schon alles klären."
    Bevor Anápi etwas erwidern konnte, verschwand Núwi in der Nacht.
    ***
    Mitternacht war längst vorbei, als Anápi sich aus dem Haus schlich. Stille lag über dem Dorf, von dem frischen Wind, der vom Meer herüberwehte, einmal abgesehen.
    Überraschenderweise schienen die Wege um einiges belebter als gewöhnlich. Wohin sie auch blickte - mindestens ein Fackellicht, vom Wind zum Flackern gebracht, wanderte umher. Offenbar hatte Cétir Wachen abgeordnet, um dafür zu sorgen, dass die Dörfler in den Betten blieben. Was das Vorhaben Anápis um einiges erschweren würde.
    Anápi wartete einen Moment ab, und als sich die beiden nächsten Fackeln etwas von ihr entfernten, huschte sie unter einen mit dichten Ranken bewachsenen Ast, der vom Nachbarhaus herabhing. In diesem Moment war sie sehr dankbar, dass viele Dörfler in ihre Gebäude Bäume und andere hohe Pflanzen integriert hatten. So hatte man nicht nur unnötige Schäden an der Natur verhindert, sondern auch ausgezeichnete Verstecke geschaffen. Auf diese Weise gelang es Anápi, sich von den Fackelträgern unbemerkt bis zum Haus des Sprechers zu schleichen. Gebückt huschte sie unter eines der Fenster auf der Rückseite und spähte hinein. Da sie Vúram oft bei rituellen Tätigkeiten half und die beiden einander sehr vertraut waren, kannte sie auch das Innere seines Hauses. In diesem kleinen Raum hier bewahrte er etwa sein Trinkwasser auf - und er eignete sich sicher auch, um jemanden einzusperren. Im fahlen Licht eines der Monde erkannte Anápi im Inneren nur einige große Tonkrüge, die mit Brettern abgedeckt waren, viel mehr gab es nicht zu sehen. Sie zog sich vom Fenster zurück und schlich weiter am Haus entlang. Das nächste Fenster war ein wenig kleiner als das vorige und mit einem Geflecht aus biegsamen Zweigen versehen. Der Vorratsraum - die Zweige sollten verhindern, dass Vögel hineinfliegen und sich an den Vorräten gütlich tun konnten. Sonderlich wirksam schien das jedoch nicht mehr zu sein, denn unten links waren einige Zweige nicht mehr richtig an der Wand befestigt und standen ein Stück nach innen ab. Da müsste Vúram mal nachbessern. Anápi wollte sich gerade wieder abwenden, doch ein Glitzern in ihrem Augenwinkel ließ sie sofort wieder genauer hinsehen. Es ging von dem aus, was man rechts neben dem Eingang zum Vorratsraum aufgeschichtet hatte. Die Caleiras! Anápis Augen wurden groß - da lagen wirklich etwa dreimal so viele, wie sie Lásil ins Boot hatte tragen sehen. Wie gerne würde sie jetzt einfach ins Haus des Sprechers gehen und diesen Haufen verschwinden lassen … Rasch ließ sie vom Fenster ab und spähte um die nächste Ecke. Der Eingang befand sich nur ein paar Schritt entfernt - sollte sie es wagen …? Im selben Moment verbannte sie diesen Einfall wieder aus ihren Gedanken. Nein, auf keinen Fall konnte sie sich jetzt einfach so in Vúrams Haus schleichen - was, wenn er sie entdeckte? Und er war bestimmt nicht allein. Leise seufzend begab sie sich wieder auf die Rückseite des Hauses. Was wollte sie hier eigentlich? Es war schwachsinnig gewesen, überhaupt hierher zu kommen. Vúram würde Beyal und die beiden anderen kaum in einem Raum untergebracht haben, der ein Fenster hatte. Sie würde nicht mit ihnen reden können. Anápi rieb sich die müden Augen und lief wieder zum anderen Ende der Wand, von dem sie hergekommen war. Als gerade kein Fackelträger in Sicht war, huschte sie in den Schatten eines Baumes zwischen Vúrams Haus und dem seiner Nachbarn. Ein kurzer Blick zurück zum Sprecherhaus - und Anápi zuckte unwillkürlich zusammen. Da bewegte sich jemand. War er zuvor auch schon in ihrer Nähe gewesen, und sie hatte ihn nur nicht gesehen, er aber sie? Anápis ohnehin schon beschleunigter Herzschlag raste nun erst recht. Die Person befand sich nun vor dem Eingang zu Vúrams Haus, sah sich kurz um und ging dann schnellen Schritts auf den Baum zu, hinter dem sich Anápi versteckt hielt. Entsetzt presste sie sich an den Stamm, als würde sie mit ihm verschmelzen wollen, und wagte keinen einzigen Atemzug, bis die Gestalt unerwartet vor dem Baum vorbeilief und in den Schatten der nächsten Häuser verschwand. Anápi atmete auf und ließ sich nach hinten auf den Boden sinken. Der Fremde - Statur und Gang zufolge musste es ein Mann gewesen sein - war offenbar auch nur ein Schaulustiger, der sich nachts umhertrieb, obwohl er eigentlich schlafen sollte. Oder es handelte sich um einen der Wachposten, dessen Fackel eine Bö zum Erlöschen gebracht hatte. Egal. Anápi ließ das Grübeln sein und lief, von den wachsamen Augen der Fackelträger unentdeckt, nach Hause.
    ***
    Die Sonne hatte ihren Weg vom Horizont zum Zenit bereits hinter sich gebracht, als Vúram seine drei unfreiwilligen Gäste aus der kleinen Kammer führte, in der sie die Nacht verbracht hatten. Obwohl er ihnen Essen und eine Schlafstelle bereitet hatte, boten sie ein miserables Bild - als hätten sie tagelang weder geschlafen noch gegessen, kreidebleich im Gesicht, die Haare verworren und glanzlos.
    Der Sprecher öffnete die Eingangstür und ließ sie hinausgehen, wo bereits ein sichtlich unausgeschlafener Cétir auf sie wartete - und mit ihm das halbe Dorf. Sie alle bildeten einen Halbkreis um das Häuflein Caleira-Schalen, das man auf einem Stück groben Tuchs auf dem Boden aufgeschichtet hatte.
    Jegliche Restfarbe, die sich noch in den Gesichtern der drei befand, wich mit einem Schlag, als der Dorfvorsteher vortrat. Er streckte ihnen eine offene Hand entgegen, auf der der verkrustete Körper einer toten Caleira lag, den man offensichtlich mit einem Messer quer durchgeschnitten hatte. "Die habt ihr wohl übersehen", sagte er knapp.
    "Wo hast du die her?"
    "Die ist nicht von uns!"
    "Das waren wir nicht!", kam es zugleich aus drei Kehlen.
    Cétir machte ihnen mit einer unmissverständlichen Geste klar, zu schweigen. "Ich war vorhin in dieser Höhle und habe mich dort umgesehen. Es sieht dort in der Tat so aus wie von dir beschrieben, Lásil. Allerdings habe ich in dieser Vertiefung weder lebende noch verweste Caleiras gesehen. Die einzige Caleira, die ich heute gesehen habe, ist diese hier, und die", er deutete auf den Haufen, "habe ich hier entdeckt."
    Beyal trat einen Schritt vor. "Cétir, ich versichere dir, dass wir das nicht waren. Weder Lásil noch Yávu noch ich. Was hätten wir denn davon?"
    "Es ist wirklich so, wie Lásil es gestern erzählt hat", übernahm Yávu das Wort. "Wir kamen in diese Höhle, da waren haufenweise verweste Caleiras mit ihren Gehäusen …" Der Rest dessen, was er sagen wollte, ging in den wütenden Zwischenrufen der Umstehenden unter.
    Als auf Cétirs Anordnung wieder etwas Ruhe eingekehrt war, löste sich jemand aus der Menge hinter dem Dorfvorsteher und rief: "Wenn die Geschichte so stimmen sollte - warum habt ihr dann nicht gleich allen freudestrahlend von eurem Fund erzählt? Warum dann diese Heimlichtuerei? Das macht man doch nur, wenn man etwas zu verbergen hat!" Bestätigende Rufe aus allen Richtungen.
    "Ihr hättet uns doch ohnehin nicht geglaubt - das sieht man jetzt ja!", schrie Lásil in die Menge.
    "Und warum habt ihr die Schalen nicht zurückgelassen, wenn euch das von Anfang an klar war?", meldete sich ein weiterer Dörfler zu Wort.
    "Versucht doch einfach, euch in unsere Lage hineinzuversetzen. Wenn man so einen unglaublichen Schatz findet, denkt man einfach nicht mehr", sagte Yávu, was die anderen Siú wieder zu hitzigen Zwischenrufen veranlasste.
    "Ruhe!", entfuhr es Cétir. "Wir haben ja eine Augenzeugin des Vorfalls. Anápi, bist du hier?"
    Auf Drängen der Umstehenden bewegte sich die Aufgerufene widerstrebend auf den Dorfvorsteher zu. Sie hatte ganz hinten gestanden, damit Beyal sie nicht sah. Als man sie ganz nach vorne geschoben hatte, wurde sie sofort von den Blicken ihres Geliebten erfasst.
    "Du warst das also", sagte Beyal verbittert und senkte den Kopf.
    Anápi kam es vor, als würde dieser Tonfall in seiner Stimme ihr Herz zerspringen lassen. Nichts in der Welt hätte sie lieber getan, als auf ihn zuzulaufen, ihn Cétir und der wütenden Menge zu entreißen und mit ihm an einen Ort zu verschwinden, an dem sie mit ihm allein sein und sich in Ruhe seine Sicht der Ereignisse anhören konnte. Obwohl es ihr nach wie vor unglaublich erschien, dass es einen von der Natur derart geformten Ort gab, an dem Dutzende Caleiras zugrunde gingen, glaubte sie in diesem Moment mehr als zuvor an seine Version der Geschichte. Nein, er war einfach kein Mann, der Tiere tötete, zumal er so viele Caleira-Gehäuse wirklich nicht loswerden können würde, ohne aufzufallen.
    Cétirs scharfe Stimme unterbrach ihre Gedanken. "Anápi! Du hast die drei an der Küste gesehen. Was haben sie da genau getan? Hast du sie Caleiras töten sehen?"
    "Nein!", rief Anápi. "Ich habe sie nur aus der Höhle herauskommen sehen, die Schalen in den Händen. Sonst nichts! Aber sie haben gelacht und sich gefreut. Das tut man nicht, wenn man ein Verbrechen begeht. Sie müssen die Schalen wirklich da gefunden haben."
    Lásil nickte heftig. "So war es auch! Ich verstehe nur nicht, wie du uns beobachten konntest …" Bei diesen Worten schien er sich sichtlich unwohl zu fühlen. "Wir haben dich nicht gesehen."
    "Ich hatte mich hinter einem Felsen in der Nähe der Höhle versteckt."
    Beyal machte große Augen. "Wie um alles in der Welt kommst du an diesem Ort? Keiner von uns kannte ihn."
    "Beyal, sei ruhig", unterbrach Cétir den Austausch von Belanglosigkeiten. "Anápi, sprich bitte weiter."
    "Ich bin oft dort in der Nähe … ich kann die Klippe hinunterklettern. - Cétir, ich kann nicht mehr sagen. Ich war nicht in der Höhle selbst. Ich … ich kann auch kaum glauben, dass man so viele Schalen an einem einzigen Ort finden kann. Aber jetzt weiß ich, dass es nicht anders gewesen sein kann. Sie hatten keine Messer bei sich. Und Blut habe ich an ihren Händen auch nicht gesehen."
    "Sie lügt doch!", schrie jemand mit aller Kraft nach vorne. "Glaubt ihr kein Wort! Sie will doch nur, dass Beyal nichts geschieht!"
    Dies war wieder neues Wasser auf die Mühlen der Zuschauer. Mitten in dem Geschrei fiel zunächst kaum jemandem auf, dass Beyal seinen beiden Leidensgenossen etwas zuflüsterte, woraufhin diese zunächst schwiegen und dann entschlossen nickten. Schließlich machte Beyal einen Schritt nach vorne und rief mit der gesamten ihm noch verbleibenden Kraft: "Wir fordern ein táchal!"
    Innerhalb weniger Augenblicke lag Totenstille über dem Dorf. Selbst diejenigen, die Beyal nicht verstanden hatten, weil sie selbst mit Keifen beschäftigt waren, verstummten und blickten fragend in die Gesichter ihrer Nachbarn. Ein táchal war ein Ritual, bei dem die Naturkräfte angerufen wurden, um über das Schicksal einer Person zu entscheiden, die sich gegen sie versündigt hatte. Um die Mächte nicht unnötigerweise in ihrem Fluss zu stören, kam es dazu nur, wenn die Schuld oder Unschuld des Täters anders nicht bewiesen werden konnte. Solche Verbrechen aber kamen zumeist durch Beobachter oder eindeutige Spuren ans Tageslicht - oder eben gar nicht. Angesichts der Erlebnisse Anápis, dem Schalenhaufen und der toten Caleira konnte niemand den Dörflern ihre Überraschung ob der Forderung eines solchen Rituals verdenken.
    Cétir war der erste, der passende Worte fand. "Ein táchal? Das hat es seit Generationen nicht gegeben."
    "Na und?", konterte Beyal, der mit einem Mal wie neugeboren schien. "Das ist die einzige Möglichkeit, unsere Unschuld zu beweisen, wenn ihr uns schon nicht glaubt."
    Vúram trat neben den Dorfvorsteher. "Wenn das euer Ernst ist, dann soll es so sein." Seine dunklen Augen funkelten, wie Anápi es noch nie zuvor gesehen hatte. Allem Anschein nach reizte es den Sprecher, ein solches Ritual durchführen zu dürfen, wie es lange keiner seiner Vorgänger abgehalten hatte. "Aber heute werde ich das nicht alles vorbereiten können. Dafür brauche ich die richtigen Utensilien, und Zeit und Ort wollen wohl gewählt sein … in zwei Tagen könnte ich es schaffen."
    Anápi wandte ihren Blick gen Boden. Als Vúrams Schülerin würde sie ihm bei den Vorbereitungen des Rituals helfen müssen … aber was, wenn es Beyal für schuldig befand? Schnell versuchte sie, das bange Gefühl in ihrer Magengrube abzuschütteln. Das táchal würde die Unschuld der drei beweisen. Es musste einfach so sein, wie die drei es beschrieben hatten! Aber da war immer noch die tote Caleira …
    Um sie herum löste sich die Ansammlung unter Cétirs Anweisungen langsam auf. Sie bahnte sich einen Weg in Richtung Vúram, wobei sie den Dorfvorsteher nicht aus den Augen ließ. Er hatte das Schalenbündel an sich genommen und wies allem Anschein nach ein paar Leute an, Beyal, Lásil und Yávu irgendwohin zu bringen. Wie gern hätte Anápi sie aufgehalten - nun würde sie wieder nicht mit Beyal sprechen können. Sie unterdrückte einen Seufzer. Kam es einmal zu einemtáchal, galten Aussagen von Zeugen oder Beteiligten ohnehin nichts mehr. Alles, was sie nun für Beyal tun konnte, war, Vúram bei der Vorbereitung des Rituals zu helfen, so gut sie konnte.
    Gegen Abend hatte der Wind aufgefrischt und seither nicht wieder nachgelassen. Mehr als einmal landeten große Spritzer Salzwasser in dem kleinen Boot, das Anápi und den Sprecher über die Wellen trug. Vúram hatte sich für dastáchal die Höhle ausgesucht, in der die drei die Caleiras gefunden hatten, denn dafür schien ihm der Ort des Verbrechens am besten geeignet. Anápi hatte ihm mehrere Male erklärt, wie sehr die Begehbarkeit der Höhle von den Gezeiten abhängig war, aber der Sprecher hatte dennoch auf diesem Ort beharrt. Der Rest der Nachmittagsebbe nach Cétirs Verhör hätte für eine Fahrt zur Höhle nicht mehr ausgereicht. So waren sie nun mitten in der Nacht, während der zweiten Ebbe, auf dem Weg zur Steilküste, um keine der wenigen Stunden zu verlieren, die sie für die Vorbereitung des Rituals nutzen konnten.
    Als sie die Felsnase gerade umrundet hatten, versteifte sich Anápis Körper unwillkürlich. Da, nur wenige Schritte vom Höhleneingang entfernt, lag bereits ein anderes Boot!
    "Da ist jemand!", rief sie Vúram zu.
    Der Sprecher erhob sich, was in dem schwankenden Boot nur unter großen Mühen möglich war. Anápi ergriff seine Schulter, bevor er etwa noch über Bord fiel, und deutete auf den Strand.
    "Tatsächlich", murmelte Vúram mit zusammengekniffenen Augen. "Ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte. Cétir hätte mir Bescheid gesagt, hätte er noch einmal herkommen wollen. Wir sollten vorsichtig sein." Er deutete dem Bootsführer, nahe an der Felsnase anzulegen. Wenig später hatten sie den Strand erreicht.
    Anápi sprang als erste aus dem Boot und deutete auf die Felsen vor dem Höhleneingang. Sie lief voran und nutzte dabei die bereits erprobten Verstecke; der Sprecher folgte ihr, so schnell es sein bereits fortgeschrittenes Alter erlaubte. Bald stand Anápi rechts neben dem Höhleneingang und beugte sich vorsichtig vor. In der Höhle tanzte die Flamme einer einzelnen Laterne - und beleuchtete das Gesicht eines Mannes, den Anápi sofort erkannte. Es war Devéral, der Seemoossammler aus dem Dorf. Und er suchte den Boden ab.
    Sie schob Vúram sanft ein paar Schritte vom Eingang weg und berichtete mit unterdrückter Stimme von dem, was sie eben gesehen hatte.
    "Devéral? Und Caleiras? Aber …"
    "Er sucht nach Caleiras, also glaubt er Beyal und den anderen!", sprudelte es aus Anápi heraus.
    Vúram runzelte die Stirn. "Und dafür kommt er zu dieser Zeit her? Und wenn das Meer so unruhig ist?"
    Anápi hörte nur mit halbem Ohr hin. Ein Gedanke stieg in ihr auf … Die Gestalt, die sie in der letzten Nacht bei Vúrams Haus gesehen hatte … das hätte Devéral sein können! Statur und Größe passten genau … Sie deutete dem Sprecher, ihr zu folgen, und zog ihn mit sich hinter den Felsen hervor und in die Höhle hinein.
    Devéral war so sehr auf den Boden konzentriert, dass er Anápi und Vúram erst bemerkte, als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt waren. Ruckartig fuhr er hoch und wich zurück. "Wa … was macht ihr denn hier?"
    "Anders als du haben wir ein táchal vorzubereiten", entgegnete Vúram. "Was treibst du da?"
    Der Seemoossammler hatte die Hand, die nicht die Laterne hielt, hinter den Rücken schnellen lassen. Aber ihm wurde wohl bald bewusst, dass Lügen nicht viel bringen würde - schließlich war die Zahl der Möglichkeiten, was man in dieser Höhle tun konnte, recht begrenzt. Devéral holte langsam die Hand hervor und hielt sie dem Sprecher hin - eine mit trockenem Sand überzogene Caleira-Schale lag darin. "Die habe ich hier gefunden", meinte er knapp.
    "Schön, aber das erklärt nicht, was dich mitten in der Nacht dazu bringt, hier nach Caleiras zu suchen."
    Devérals Blick wanderte zwischen Anápi und dem Sprecher hin und her. Er gab sich sichtlich Mühe, nicht nervös zu erscheinen, was ihm aber nicht ganz gelang, wie das Zittern der Flamme in der Laterne verriet. "Nun, es gibt hier angeschwemmte Caleiras … und ich dachte, bevor das halbe Dorf danach sucht, gehe ich mir noch ein paar holen."
    Vúram legte den Kopf schief. Nach einer kurzen Stille meinte er: "Du glaubst also das, was Lásil und die anderen beiden heute Mittag erzählt haben."
    Anápi dämmerte langsam, worauf der Sprecher hinauswollte. Es war kein Geheimnis, dass Devéral den Bootsbauer nicht ausstehen konnte. Als Seemoossammler brauchte er ein Boot, und seit er sich einmal fürchterlich mit Lásil in die Haare bekommen hatte, weil sie beide ein Auge auf dieselbe Frau geworfen hatten, verlangte der Bootsbauer von ihm weit mehr als das, was ein Boot gewöhnlich kostete. Seitdem versuchten die beiden, einander zu schaden, wann immer sich die Gelegenheit bot. Selbst wenn er Lásil geglaubt hätte, hätte er dies niemals vor der versammelten Dorfgemeinschaft zugegeben.
    Hier, allein vor der Autorität des Sprechers, war die Situation jedoch eine andere. "Ich … weshalb nicht? Deswegen bin ich ja auch hier, ich wollte wissen, ob es hier wirklich Caleira-Schalen gibt, wenn die Flut vorbei ist."
    "Nun … du warst heute Mittag doch sicher auch vor Cétirs Haus und hast die tote Caleira gesehen? Die Caleira, die jemand mit einem Messer durchgeschnitten hat?"
    Devéral nickte übertrieben heftig. "Natürlich habe ich das."
    "Warum solltest du dann glauben, dass Lásil die Wahrheit gesagt hast, wenn du ihn nicht ausstehen kannst und es solch einen belastenden Beweis gibt?"
    Der Seemoossammler senkte den Kopf, als könne er Vúrams Blick nicht länger ertragen. Die Flamme in der Laterne flackerte stärker denn je, und Anápi glaubte, auch in Devérals Oberarmen Zuckungen zu erkennen. Er verhielt sich wirklich mehr als seltsam … und je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie in ihrem Glauben, dass er es war, den sie in der letzten Nacht vor Vúrams Haus gesehen hatte. Devéral hasste Lásil … und dennoch schien er ihm zu glauben … aber jetzt konnte er sich gegenüber Vúram nicht rechtfertigen …
    Ein ungeheuerlicher Gedanke fuhr wie ein Blitz in ihren Kopf. Ohne weiter darüber nachzudenken, ließ sie ihn nach draußen. "Du warst gestern Nacht bei Vúrams Haus! Ich weiß nicht, wie, aber du hast die tote Caleira in den Haufen getan!"
    Mit einem Klirren landete die Laterne auf dem steinernen Höhlenboden; die Flamme erlosch. Schwärze breitete sich vor Anápis Augen aus - aber links von ihr huschte ein Schatten vorbei, und hastige Schritte bewegten sich in Richtung des Höhleneingangs.
    Anápi fuhr herum und setzte ihm nach. Dieser …! Er durfte auf keinen Fall entkommen! Im Augenwinkel sah sie den Bootsführer am Strand.
    "Néril …!"
    Der Angesprochene ergriff sein Paddel und warf es dem herausstürmenden Devéral vor die Beine. Dieser stürzte und fiel der Länge nach auf seine linke Seite. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, hatte der Bootsführer ihn erreicht. Zwischen den beiden Männern entbrannte ein wüster Kampf.
    "Das Boot!", schrie Vúram, "wir werden ihn nicht von hier wegbekommen!" Anápi verstand. Wenn es Devéral gelänge, das Dorf zu erreichen, würde er fliehen, bevor man ihn befragen konnte. Blitzschnell machten sie das Boot los und schoben es mit vereinten Kräften ins Meer. In dem heftigen Wellengang würde es rasch abgetrieben werden.
    Devéral lag gerade am Boden; Néril war über ihm und drückte seine Schultern auf den Boden. "Was soll ich mit ihm machen?", brüllte er in Richtung des Sprechers.
    "Er darf auf keinen Fall ins Dorf kommen!", rief Vúram zurück, der gerade mit Anápi das eigene Boot losmachte. Die beiden sprangen hinein, und in einem günstigen Augenblick, in dem er Devéral gerade einen schmerzhaften Schlag in die Seite verpasst hatte, hechtete der Bootsführer hinterher. Er keuchte; die Haare waren zerzaust und klebten ihm vom Schweiß an Hals und Rücken. Mit vereinten Kräften hatten sie sich aber bald ein gutes Stück vom Ufer entfernt. Hinter ihnen stürzte sich bald der Seemoossammler in die Fluten, doch noch bevor er eine Wassertiefe erreicht hatte, in der er nicht mehr stehen konnte, gab er sein Vorhaben auf - angesichts des Seegangs waren beide Boote für einen Schwimmer bereits unerreichbar.
    "Was war das denn eben", brachte Néril heraus, "ich habe nur ein Klirren gehört, und dann …"
    "Wir können nur mutmaßen", erwiderte Vúram mit hilfesuchendem Blick. "Aber es scheint, dass wir uns über die Herkunft der toten Caleira in dem Schalenhaufen grundlegend geirrt haben."
    In Anápi harrten tausend Fragen einer Antwort, doch während der restlichen Fahrt sprach keiner ein Wort, also wagte auch sie es nicht. Bis zum Eintritt der Flut waren es noch ein paar Stunden - bis dahin würde man Devéral abgeholt haben. Allein das Schäumen der Wellen und das Geräusch der Paddel begleiteten die drei auf ihrem Rückweg ins Dorf.
    ***
    Im Morgengrauen hatte sich halb Sésento am Nordstrand versammelt, um auf die Boote zu warten, die den Seemoossammler abholen sollten.
    "Wie, er ist weg?", entfuhr es Cétir erschreckend laut. "Wie kann das denn sein?"
    "Er ist nicht mehr in der Höhle", erklärte der keuchende Mann, der soeben aus dem ersten Boot gesprungen war. "Wir waren dort, sind hineingegangen, bis zum Ende - nichts. Er ist verschwunden. Zumindest in der Nähe haben wir ihn auch nicht schwimmen gesehen."
    "Natürlich", meinte Vúram leise, "es war töricht von mir, anzunehmen, dass er dort bleiben würde, bis jemand kommt und ihn holt. Er wusste ja, dass wir ihn durchschaut hatten - für ihn stand zu viel auf dem Spiel. Er ist wohl ans nächste Ufer geschwommen und verschwunden."
    "Bei dem Wind, wie wir ihn heute haben?", zweifelte der Bootsführer. "Da kommt er nicht weit. Es war schon eine Qual, mit dem Boot vom Fleck zu kommen."
    "Gut, dann schicke ich Suchtrupps los", beschloss Cétir. "Irgendjemand wird ihn schon finden und hierherbringen."
    ***
    Kurz vor Einbruch der Dämmerung kamen zwei der Dörfler, die nach Devéral gesucht hatten, mit schwermütigen Mienen ins Haus des Dorfvorstehers. Selbiger saß mit Beyal, Lásil, Yávu und Vúram um einen Tisch. Auch Anápi war anwesend. Sie hatten etwas gegessen und darüber gesprochen, was mit Devéral und dem Haufen Caleira-Schalen geschehen sollte. Als Cétir sich erkundigte, was denn geschehen sei, erwiderte einer der Männer nur tonlos: "Kommt alle mit. Wir haben Devéral gefunden."
    In einer kleinen Prozession ging es zunächst nach draußen, zur Verwunderung aller dann aber nicht etwa an den flachen Strand, sondern ans südlichere Ende des Dorfs und von dort aus die Klippe entlang. Schließlich erreichten sie eine Stelle nur unweit von der, die Anápi immer für ihre gefährliche Kletterpartie benutzte. Der Anführer der kleinen Gruppe trat vorsichtig an den Rand der Klippe heran und deutete nach unten.
    Etwa dreißig Schritt unter ihnen lag auf ein paar größeren Felsbrocken am unteren Strand der merkwürdig verkrümmte Körper eines Mannes. Devéral. Schockiert wichen die meisten sogleich wieder vom Abgrund zurück.
    "Er wollte … die Klippe hochklettern." Anápi war die erste, die wieder Worte fand. Ihre Knie gaben nach, und sie ließ sich nach vorne auf sie herabsinken. "Die falsche Seite … auf dieser Seite des großen Felsens geht es nicht."
    "Manchmal ist die Natur doch gnädig", meinte Vúram und streckte der jungen Frau eine Hand entgegen, um sie wieder hochzuziehen. "Wer weiß, ob es so nicht besser ist, als ein Leben fernab der Heimat zu führen und für immer als Verbrecher zu gelten." Die Blicke der Anwesenden richteten sich schweigend auf ihn.
    "Er hat eine Caleira getötet. Und er hat drei Mitglieder unserer Gemeinschaft einer Tat bezichtigt, die sie nicht begangen haben. Das macht ihn zu einem Verbrecher." Während er leise sprach, bewegte sich der Sprecher ein paar Schritte vom Abgrund weg und wandte sich dem Dorfvorsteher zu.
    Dieser nickte. "Ich werde ihn später holen lassen. Zuerst ist es an der Zeit, den anderen einiges zu erklären."
    Langsameren Schritts als zuvor setzte sich die kleine Gruppe wieder in Bewegung. Im Zwielicht der fortschreitenden Dämmerung hatten sich die Meereswinde gelegt, und kaum ein anderer Laut war mehr zu hören als die Schritte der Siú auf dem felsigen Boden am oberen Ende der Klippe.

    1
    Allmählich wurde es kühl, und eine schwere Stille zog über das Land. Selbst die Tiere wurden von der herbeigewehten Trauer erfasst und verkrochen sich in ihren Höhlen und Bauten. Die Vögel verstummten und sogar das Rascheln der Bäume klang gedämpft, ja beinahe so, als schlucke es selbst den Schall. Bär fröstelte und sah zum Himmel. Nicht eine einzige Wolke war zu sehen und die Sonne leuchtete hell am Firmament. Dennoch hatte er das Gefühl, als läge ein Schatten über dem Land. Ein Schatten der Traurigkeit, der schwer auf die Erde drückte. Er beschleunigte seinen Gang. Schneller und schneller, bis er fast schon rannte. Aber es nutzte nichts. Vor diesem Schatten gab es kein Entrinnen. Je weiter Bär durch den Wald lief, desto bedrohlicher erschienen ihm die Bäume. Riesen, die Trauer und Zorn ausstrahlten. Als wollten sie ihm sagen, dass er hier nicht willkommen war. Als wollten sie Bär dazu bringen umzukehren.
    Dann, mit einem Mal, war der Spuk vorbei. So plötzlich wie er begonnen hatte. Bärs Herz klopfte laut, als er langsam stehenblieb. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht. Vor ihm tat sich eine Senke auf, in der einige Häuser standen. Er war am Ziel. Das musste Merséit sein.
    ***
    Eine leichte Brise zog über die Hügel, als Abos auf dem Pfad entlang schlenderte. Die Wiesen waren saftig grün und dufteten in einer wunderbaren Vielfalt. Am Horizont waren die Wälder deutlich zu sehen und bildeten ein herrliches Panorama, während Merséit im Tal verborgen lag. Über all dem schien die Sonne so hell wie selten, und am Himmel waren weder Wolken noch Sterne zu sehen. Abos genoss diese Stille und blieb stehen. Er schloss die Augen, sog die Luft tief in sich hinein und lauschte dem leicht über das Gras streichenden Wind.
    Doch dann stutzte er. Wo waren die Glimbios, deren sanfter Gesang für gewöhnlich aus den Büschen erklang? Wo die Kletikiten mit ihrem Zirpen? Statt der natürlichen Symphonie, die sonst immer zu hören war, war nun alles still. Selbst der Wind schien auf unheimliche Weise lautlos in den Zweigen zu rascheln. Ein eisiger Schauer jagte ihm über den Rücken.
    ***
    Der Wind blies durch die leeren Gassen und verursachte ein Konzert, das Bär die Haare zu Berge stehen ließ. Der Boden war bedeckt mit kleinen rostigen Eisenkügelchen, die durch kleine Böen zu kreisartigen Mustern gerollt wurden. Sonst regte sich nichts. Das Leben schien die Stadt verlassen zu haben. War dies wirklich Merséit? Die wunderschöne und vor Leben sprühende Stadt, wie Rosenwein sie beschrieben hatte?
    Die Dächer bestanden hier aus zerbeulten, rostigen Metallplatten und die Wände sahen beschmiert und zerkratzt aus. Das einzige, was auf Leben hindeutete, waren ein paar zu einem Schlitz geöffnete, eiserne Fensterläden, aus denen argwöhnische Augen den Neuankömmling beobachteten. Was versetzte die Einwohner in so eine Angst, dass sie sich in ihren Häusern verschanzten? In dieser Gegend gab es weder Orke noch Biester, und von bösen Geistern schien der Ort auch nicht heimgesucht zu werden.
    Am zentralen Platz stand ein großes Gebäude, das einst sehr schön gewesen sein mochte, aber nunmehr nur noch eine Ruine darstellte. Die Fensterläden hingen schief in den Angeln, gebrochene Wände waren notdürftig geflickt, und durch das Dach hatte der Rost bereits faustgroße Löcher gefressen, die nur teilweise ausgebessert worden waren. Aber es war das einzige Haus, dessen Tür offen stand, und das wohl einen Tempel darstellte. Hier würde Bär sicher einen Schlafplatz für die kommende Nacht finden, um sich am nächsten Tag mit frischer Kraft auf die Suche nach Rosenwein machen zu können.
    ***
    So hatte sich Abos seinen Aufenthalt in Merséit nicht vorgestellt. Schon seit Tagen regnete es immer wieder Eisenkugeln und die Leute verschanzten sich in ihren Häusern. Für einen Geschichtenerzähler keine guten Voraussetzungen, um sich Brot und Unterkunft zu verdienen. Betrübt saß er deshalb in seiner kleinen Kammer und schaute auf das kleine Fenster, das durch den Wind rappelte. Die eisernen Läden waren verriegelt.
    Doch dann wurde die Tür aufgerissen und drei Bewohner traten ein.
    "Das ist der Kerl", sagte einer und die anderen griffen nach Abos' Armen. Dieser war viel zu verwirrt, um sich zu wehren. Sie führten ihn auf einen Marktplatz, in dessen Mitte ein Scheiterhaufen aufgebaut war. Ohne dass ihm jemand sagte, warum, wurde er an den Pfahl in der Mitte des Haufens gebunden, während viele Leute dabei zuschauten, ihn beschimpften und mit Unrat bewarfen.
    Dann trat ein Mann auf ein kleines Podest und las die Klageschrift vor. Abos wurde vorgeworfen, für den Magiesturm verantwortlich zu sein, der seit einigen Tagen die Stadt heimsuchte. "Mit dem Tage seiner Ankunft" hieß es, habe der Sturm begonnen und sich verschlimmert.
    Doch noch bevor die Rede zu Ende war, fing die Erde an zu beben und kleine eiserne Kugeln fielen vom Himmel. Mit lautem Geschrei löste sich die Menge auf und die Menschen, Zwerge und Elben liefen in ihre Häuser, um sich zu schützen.
    Der Redner stellte verdutzt fest, dass er sich nicht mehr vom Podest bewegen konnte. Er war an ihm festgewachsen. Langsam verholzten auch seine Beine und seine Hüfte bis hinauf zu den Schultern. Dann kamen seine Arme und schließlich auch der Kopf. Zurück blieb eine Holzfigur.
    ***
    Bär drehte sich noch einmal in dem sehr weichen Bett um und dachte daran, was ihn an diesem Tag wohl erwarten würde, als der Boden erzitterte. Was war das? Er sprang aus dem Bett und zog sich schnell an. Der Boden erzitterte wieder, diesmal etwas stärker. Er lief durch den Gang, durch den ein kalter Wind zog, und erreichte schließlich die Eingangshalle.
    Vielleicht war es auch in Ordnung so. Vielleicht war er wirklich schuld an den Stürmen. Weiter konnte Abos nicht mehr denken, denn schon hatte ihn die Eiserne Hand berührt. Noch ein letztes Mal leuchtete der Pentaglit an seinem Hals schwach auf, bevor er für immer stumpf wurde.
    Ein lautes Knacken fuhr durch die Halle. Dann fing die Erde an zu beben. Zuerst war es nur ein leichtes Zittern, doch es wurde immer stärker und schwoll schließlich zu einem deutlichen Schwanken an, das von tiefen Brummgeräuschen begleitet wurde. Diese endeten dann in einer Kakophonie aus Knacken, Rumpeln und Reiben. Risse zeichneten sich am Boden ab, bis der Boden endgültig zerbrach und eine Eiche rasend schnell der Decke entgegen wuchs und diese mit einem Knall sprengte, der noch weit hinter den Hügeln des Umlandes zu hören war. Die Steine polterten hinunter und zerrissen, was von dem einstmals mosaikgeschmückten Boden übrig geblieben war. Mit Rumpeln und Poltern krachten Decke und Wände des Tempels in sich zusammen.
    Nun gab der Boden unter dem Gewicht des Baumes und der herabgestürzten Gesteinsbrocken endgültig nach. Der Baum fiel knackend und krachend in den Keller, wo er von den ihm folgenden Steinen begraben wurde.

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    2. Schreibquilt (2006)


    Der rote Faden dieses Schreibquilts sind GERÄUSCHE und auch der WIND musste in jeder Geschichte eine wichtige Rolle spielen.
    Da es sich beim Schreibquilt um eine unendliche Geschichte handelt - sie also keinen Anfang und kein Ende besitzt - kannst du selbst entscheiden, wo du einsteigen möchtest:


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    Die Autoren der einzelnen Geschichten:


    01 - Heinrich
    02 - Ehana
    03 - Yambwi
    04 - Gomeck
    05 - Tabor
    06 - Hans
    07 - Ly
    08 - Latsi
    09 - Parsana
    10 - Sturmfaenger
    11 - Jerron
    12 - Shay
    13 - Lucida
    14 - Veria
    15 - Eronar

    26
    Es half nichts. Abgesehen von dem halbverwesten Frosch war der Würfel leer. Volban warf den Kadaver angewidert weg. Zum ersten Mal begann er zu verstehen, warum die Hornanden die Magie so verabscheuten. Hätte er es doch nur früher erkannt! Seinen Traum von Ansehen und Reichtum konnte er erst mal vergessen. Schlimmer noch, Chamides würde die Begebenheit überall herumerzählen und seinen Ruf ruinieren! Egal wie oft er den Würfel auch öffnete, immer war das Ergebnis dasselbe: Ein paar schmierige Froschreste, aber keine Phiolen. Nach zwei Stunden gab er auf.
    "Jetzt weiß ich, warum man dich in den Rhenn geworfen hat", murmelte er verbittert. "Weil du nichts als Unglück bringst!" Der einzig würdige Abschluß für diesen furchtbaren Tag war ein ordentliches Besäufnis. Und das würde er sich jetzt gönnen. Er musste nur vorher den verfluchten Würfel loswerden. Auf der anderen Straßenseite hockte ein verkrüppelter Bettler, der seine Schale jedem Passanten hinhielt und mit stetigem Singsang um milde Gaben bat. Volban pfefferte ihm den Würfel hin. "Da! Werde glücklich damit!" Er lachte humorlos auf und ging die nächste Kneipe suchen.
    "Segnen soll er Euch, der Gott Laoghan! Glaub’ ich..." rief ihm Galbi Klumpfuß zögernd hinterher, denn er wusste nicht recht, was er von der seltsamen Gabe halten sollte. "Un’ mich lieber gleich no’ mit.. Wassn das fürn Ding?!"
    +++
    "Was issn nu, Manuri? Willste’s ham oder nich?"
    Manuri der Pfandleiher sah Galbi forschend an. "Du sagst jemand hat ihn dir geschenkt? Einfach so?"
    Der Alte nickte eifrig. "Bei ’n Göttern, so wars! In mei’m Leben hab ich no’ nie nich so’n Almosen gekricht!"
    Manuri zögerte. Es war eine schöne Arbeit - aber irgendetwas war ihm nicht ganz geheuer. Hehlerei konnte einen diverse Finger oder Hände kosten - wenn man Glück hatte und so leicht davonkam. Und er konnte es sich nicht leisten, Aufmerksamkeit auf das Pfandhaus zu ziehen, immerhin war es ein Stützpunkt der Uranach. "Warte mal kurz, Galbi. Ich muss Lissa fragen, was sie davon hält."
    Der drahtige Wyssenier ging nach hinten in seinen Laden, wo eine alte Frau saß. Sie war nicht mehr ganz richtig im Kopf, hatte ihn aber mit ihren Vorahnungen schon oft vor Fehlkäufen bewahrt. "Na, Lissa? Sieh mal, was ich hier habe. Was meinst du dazu?"
    Lissa ließ ihre Näharbeit sinken und streckte die Hände nach dem Würfel aus. "Ein Spielzeug für mich, Manuri? Gib es mal der alten Lissa, oh..." Sie drehte ihn hin und her, hielt ihn ans Ohr und schloss verzückt die Augen. "Es flüstert mir Dinge... von weit entfernten Orten... schenkst du es mir?"
    "Mal sehen, Mütterchen." Manuri nahm ihr den Würfel mit sanfter Gewalt wieder ab, und ging nach vorne zu Galbi, der schon ungeduldig wurde. "Scheint in Ordnung zu sein. Ich biete dir zwanzig Cirrons."
    Galbi nickte selig.
    Vermutlich würde er sich nur wieder getrockneten Süßblattpilz davon kaufen, und die nächsten Wochen im Dauerrausch verbringen. Manuri seufzte innerlich und zahlte ihm das Geld in kleinen Münzen aus. Er konnte es nicht ändern.
    Und der Würfel kam ihm gerade recht, wie ein Geschenk der Götter. In der Nacht zuvor war einer der Ihren gefangengenommen worden, und sie mussten ihn unbedingt wieder freibekommen. Die Wachen waren bestechlich, das war nicht das Problem, aber es kam auf die Person der jeweiligen Schicht an. Und Hauptmann Gelior hatte einen etwas überzüchteten Geschmack. Er bestand stets auf Kunstgegenständen, und hatte am liebsten noch mehrere zur Auswahl.
    Nicht zu vergessen die gewisse andere Schwäche, die er hatte.
    Der Uranach grinste. Ausgerechnet ein Würfel. Gelior würde ihn lieben!
    +++
    Volban rieb sich die Hände. Es war die vierte Runde 'Speer und Schild' die er gewann, und vor ihm lag schon ein beträchtlicher Haufen Geld. Seine schlechte Laune war nach ein paar Gläsern Dornbeerschnaps verflogen, ja, er war beinahe fröhlich. Das Schicksal begann bereits, seine Schulden an ihn zurückzuzahlen. Die kleinen Verwandten des Dämonenwürfels waren ihm heute Abend hold, und wenn das so weiterging, konnte er mit seinem Gewinn gleich morgen ein großzügiges Versöhnungsgeschenk an Chamides senden.
    Wieder einmal gratulierte sich Volban zu seiner Gerissenheit. Der Kerl von der Stadtwache, der ihm gegenübersaß, verstand nicht, wie ihm geschah. Volban, der Iskender, und der braungebrannte Helonni-Nomade am Tisch nahmen ihn nach allen Regeln der Kunst aus. Die Würfel rollten. "Ha!" rief er aus. "Schon wieder gewonnen! Wirt, eine Runde Schwarzbier für alle!"
    Der Wachmann sah verlegen aus, und machte Anstalten sich zu erheben. "Für mich nicht mehr, meine Freunde. Ich fürchte, ich muss aussteigen. Ich habe keine Münzen mehr."
    "Aber, aber", meine Volban jovial. "wie schade wäre es doch, wenn gerade jetzt Eure Glückssträhne begänne, wo ihr Euch nun erst warmgespielt habt. Sicher habt Ihr doch noch irgendetwas, das ihr setzen könntet."
    Widerstreitende Gefühle spiegelten sich auf Geliors Gesicht. "Nun ja, tatsächlich...", er kramte in seiner Manteltasche, "Ich habe heute zufällig diesen Würfel hier gef-"
    "Blutiges Feuer!" schrie Volban entsetzt. Hastig sprang er auf, klaubte seine Gewinne zusammen und schob sie in die Tasche, wobei ein Gutteil danebenfiel - es war ihm egal. "Das Ding lebt! E-es verfolgt mich! Mein Untergang! Erbarmen!"
    Hauptmann Gelior sah etwas beunruhigt den Würfel an, und dann den flüchtenden Coltharer, der in Richtung Hafen verschwand als wäre eine Horde Hornanden hinter ihm her.
    Der Iskender schüttelte nur den den Kopf, und murmelte etwas von abergläubischen Verwandten.
    Der Helonni klopfte Gelior beruhigend auf die Schulter. "Nun, Freund Hauptmann. Willst du noch weiterspielen? Mir gefällt dieser Tand. Ich will ihn haben."
    Drei Stunden später machte sich der Helonni mit seinem Stück Tand auf den Weg nach Hause. Er sollte nie dort ankommen.

    25
    Er trieb lange Zeit auf dem Wasser dahin, und wurde schließlich von dem coltharischen Kapitän Volban bemerkt, der am Bug seiner Táchibe, der Flußperle, stand und nach Sandbänken Ausschau hielt. "He da, Schiffsjunge! Mach dich nützlich und fisch’ mir das Glitzerding heraus!"
    Der Knabe sprang ins Wasser und kletterte kurz darauf triefnass zurück an Bord. "Ein Würfel, Kapitän!"
    "Das sehe ich selbst. Gib her." Vom ersten Moment an war Volban fasziniert. Beinahe andächtig strich er über das glatte Holz und die kunstvollen Muster. "Wer würde ein Prachtstück wie dich einfach verlieren?" brummte er in seinen Bart, um dann unvermittelt loszupoltern: "Was stehst du da und gaffst, du Bengel? Los, an die Arbeit, wisch diese Sauerei von einer Pfütze weg!"
    Die Ruderer sahen sich nur wortlos an. Nicht umsonst nannten sie ihren Schiffsherrn liebevoll 'den Schinder'. Der Rest des Tages verlief jedoch unerwartet erfreulich: Volban zog sich in seine Kabine zurück, um das Stück Treibgut genauer zu studieren.
    Ob es vielleicht ein Relikt aus der Zeit des Alten Reiches war? Oder nur ein ausgefallenes Accessoire aus der Schmiedestadt Carne? Sein Verdacht, dass es sich um ein magisches Artefakt handeln könnte, verdichtete sich zur Gewissheit, als er herausfand wie es zu öffnen war: Wenn man die Finger spreizte und auf drei Stellen zugleich drückte, schnappte der Deckel auf. Und der Innenraum war dreimal größer, als er hätte sein dürfen!
    Volban ließ den Würfel vor Schreck beinahe fallen, fasste sich aber schnell wieder. "Sieh mal einer an", murmelte er. "Du und ich, wir sind wie für einander geschaffen!"
    Er schielte argwöhnisch zur Kajütentür und bückte sich nach seiner Kleidertruhe. Hastig räumte er sie frei und hob vorsichtig den doppelten Boden an. Sorgfältig in Schleierseide eingeschlagene Phiolen kamen zum Vorschein. Tasheguánische Duftöle waren sehr selten und wertvoll. Volban war unter Umständen an sie herangekommen, die er niemandem freiwillig näher erläutern würde. Die als höchst wirksam geltenden Aphrodisiaka würden in Daerlon einen reißenden Absatz finden - falls er es schaffte, sie heil an den Zolleintreibern vorbeizuschmuggeln. Und diese Chancen waren durch den Würfel stark gestiegen. Dass ein coltharischer Schiffsherr wie er ein magisches Objekt mit wertvollem Inhalt besaß, würde erst keiner vermuten. Coltharer galten nämlich als äußerst abergläubisch. Allerdings war er nur zur Hälfte einer, obwohl man ihm diesen Makel nicht ansah. Und er würde bald allen beweisen, dass in der Tat wahres Händlerblut durch seine Adern floss! Zufrieden summend packte er die kleinen Phiolen in ihr neues Versteck. Mit dem Verkaufserlös würde er sich in den Collahandel und damit in die oberen Ränge der Coltharischen Handelsfahrer einkaufen. Bald schon würde er sich ganz in Blau kleiden dürfen.
    +++
    Drei Wochen später lief die Flußperle in Daerlon ein. Volban konnte kaum erwarten, bis die Liegegebühr bezahlt und die Ladung aus schweren Säcken voll flauschiger Mourakwolle endlich gelöscht war. So schnell wie möglich suchte er die Straße der Wohlgerüche auf. Hier wohnte ein sehr exklusiver Händler, der zu guten Preisen kaufte, ohne viele Fragen zu stellen. "Melde mich dem Herrn Chamides", befahl er dem Sklaven am Tor. "Sag ihm, Kapitän Volban von der Flußperle sei hier und möchte Geschäftliches mit ihm besprechen." Während er wartete bis er vorgelassen wurde, summte Volban zufrieden vor sich hin und tätschelte den Würfel in seiner Tasche.
    Chamides empfing ihn recht bald. "Kapitän Volban, nehme ich an? Was führt Euch in mein bescheidenes Heim?"
    Sie brachten die üblichen Floskeln hinter sich, dann rückte Volban mit seinem Anliegen heraus. "Ich bin durch Zufall in den Besitz einer kleinen aber exquisiten Auswahl erlesenster Düfte geraten. Aus den Trockenwäldern - Ihr wisst schon." Er blinzelte verschwörerisch.
    "Von welcher Menge reden wir hier?" wollte der feiste Händler wissen.
    "Achtzehn Phiolen."
    Chamides Augen glitzerten vor Gier. Er pfiff durch die Zähne. "Beachtlich, in der Tat. Ich bin sehr interessiert. Natürlich werde ich die Qualität erst prüfen müssen."
    "Natürlich." Volban holte den Würfel aus seiner Gürteltasche. Als er ihn öffnete, quoll eine Wolke widerlichen Fäulnisgestanks daraus hervor. "Was..?!"
    "Bei den Göttern!" Chamides würgte, sprang auf und hielt sich die Nase zu. "Deckel zu!"
    Volban traute seinen Augen nicht. Statt der wertvollen Phiolen lag da etwas, was wohl einmal ein toter Frosch gewesen war. Es stank bestialisch.
    Chamides presste sich ein Tuch vor Mund und Nase, trotzdem war die Zornesröte seines Gesichts nicht zu übersehen. "Verflucht sei der Konkurrent, der Euch geschickt hat mir meine empfindliche Nase zu verderben!"
    "Aber - aber..."
    "Glaubt Ihr, ich lasse mich zum Narren halten? Hinaus mit Euch!"
    Volban verließ fluchtartig das Haus. Draußen lehnte er sich an eine Mauer. Er war fassungslos, und den Tränen nahe. Das ging nicht mit rechten Dingen zu, nein, es stank förmlich nach Magie. "Du von Naerius verwünschtes Ding!" herrschte er den Würfel an. "Rück sofort mein Öl heraus!"

    24
    Dieser jedoch hatte seine Aufmerksamkeit längst auf etwas anderes gerichtet. Er folgte der Schneise einige Schritte weit und hielt dann an. "Sieh dir das mal an. So was hast du noch nicht gesehen." Aluí folgte ihm widerstrebend. Ihr Bruder deutete auf einen gewaltigen Haufen Dreck an einem der Bäume, der bestimmt den Durchmesser eines erwachsenen Tumali hatte.
    "Das ist ein Ameisenhügel", tat Aluí die Entdeckung ab. "Nun komm, wir müssen den Weg zurück finden, bevor noch jemand merkt, dass wir nicht zu Hause sind."
    "Das ist mit Sicherheit kein Tierbau", erklärte Sibrú. "Das stinkt nämlich." Beide sahen sich an. "Weißt du, was das ist? Das sind die Hinterlassenschaften dieser Bestie." Sibrú wandte sich wieder dem Haufen zu. Wenn er das Wesen nicht zuvor mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte er es spätestens jetzt angesichts der Ausmaße dieses Kotberges mit der Angst zu tun bekommen.
    Jäh verharrte sein Blick auf einer Stelle des Haufens. "Aluí, gib mir einen Stock." Die Angesprochene reagierte nicht. Schließlich beugte sich Sibrú vor und fing an, mit bloßen Händen in dem Haufen zu wühlen, entsetzte Blicke seiner Schwester im Rücken. Wenig später drehte er sich um und hielt triumphierend ein gleichmäßig geformtes Etwas hoch. An den wenigen Stellen, an denen der Gegenstand nicht mit Kot beschmutzt war, schimmerte etwas Goldenes hervor. Sibrú legte ihn vorsichtig auf den Boden und riss einige Blätter ab, mit denen er die Oberfläche seines Fundes zu reinigen begann. Nur wenig später konnte er erkennen, was genau er da vor sich hatte - einen hölzernen Würfel, etwa so doppelt so groß wie die Faust eines Erwachsenen, der mit fremdartigen goldenen Ornamenten verziert war.
    Aluí hatte ihrem Bruder staunend zugesehen. "Wie kommt das denn da rein?" Staunend kniete sie sich neben ihn auf den Waldboden und betrachtete den Fund.
    Sibrú hatte indes den Würfel geschüttelt - es schien nichts darin zu sein - und befingerte nun seine Seiten. "Anscheinend kann man ihn nicht aufmachen. Es ist einfach nur ein... Würfel."
    "Gib mal her", bat Aluí.
    "Nein, ich habe ihn gefunden, also darf ich ihn auch zuerst ansehen."
    "Du hast ihn doch eben schon angesehen."
    "Ich bin aber noch nicht fertig."
    "Du hat doch selbst gesagt, dass man ihn nicht aufmachen kann!"
    Aluí griff nach dem Fundstück, doch ihr Bruder hielt es eisern fest. "Tu deine Finger da weg!"
    "Nein, jetzt bin ich dran." Beide krallten sich an gegenüberliegenden Seiten des Würfels fest und zogen mit aller Kraft daran.
    Auf einmal glitt der Fund unter Sibrús kotbeschmierten Fingern weg. Die Kraft, mit der Aluí am anderen Ende gezogen hatte, sorgte dafür, dass sie nach hinten kippte und dabei den Würfel von sich schleuderte, der in hohem Bogen durch die Luft flog und hinter ihr auf dem Boden landete. Entsetzt sprang Sibrú auf, um den Schatz wieder an sich zu nehmen - der sich nunmehr wirklich als Schatz entpuppte. Der Aufprall musste irgendwie dazu geführt haben, dass sich eine Seite des Würfels geöffnet hatte und den Blick auf mehrere kleine Fläschchen freigab.
    Augenblicklich war aller Streit vergessen. "Er hat sich geöffnet!" Er nahm eine der Phiolen heraus und hielt sie hoch. In ihrem Inneren schwappte eine bernsteinfarbene Flüssigkeit hin und her. "Sieh dir das mal an!"
    Im selben Moment war ein markerschütterndes Brüllen zu hören, das von irgendwo hinter den Bäumen kam und sich über die Wipfel hinweg ausbreitete. Augenblicke später erschütterte ein leichtes Beben den Waldboden, dann war wieder Ruhe eingekehrt. Die Kinder hatten verstanden. "Sie haben es getötet", hauchte Aluí. Sie trat an ihren Bruder heran und warf einen Blick auf die Gegenstände in seinen Händen. "Lass uns das besser später ansehen. Wenn wir nicht vor den Jägern zu Hause sind, gibt es mächtig Ärger."
    "Ja, du hast Recht." Sibrú legte das Fläschchen wieder in den Würfel und klemmte einen kleinen Stock in den Spalt zwischen Deckel und Körper, damit er sich nicht wieder schloss. Sie schlugen die Richtung ein, von der sie auf die Schneise gestoßen waren, denn irgendwo dort mussten sie den Trampelpfad verlassen haben. Es gelang ihnen auch recht schnell, ihn wiederzufinden, und sie machten sich, halb gehend, halb rennend, auf den Rückweg. Bald tauchten auch schon die ersten, aus gestampften Pflanzen- und Holzteilen bestehenden Hütten des kleinen Tumali-Dorfes vor ihnen auf.
    Beide sahen sich suchend nach den Jägern um, doch noch war alles ruhig. Lediglich die besorgten Frauen und Kinder der ausgezogenen Männer waren auf dem Dorfplatz zusammengekommen, um zu warten. Es würde wohl noch einige Zeit dauern, bis die Erwachsenen das schwere Tier so zerlegt hatten, dass sie es wegtragen konnten. Im Schatten der Hütten schlichen sich die beiden Kinder nach Hause.
    Noch vor dem Eingang wurden sie von einer Nachbarin erwischt und ihrer Mutter übergeben, die nur auf sie gewartet zu haben schien. "Wo um alles in der Welt seid ihr gewesen? Ich habe die ganze Gegend nach euch abgesucht!"
    "Wir waren beim Spielen im Ostdorf", log Aluí, "all die anderen Kinder durften raus, nur wir nicht."
    Ihre Mutter schenkte ihr den schiefen Blick, den die beiden nur zu gut kannten - sie glaubte ihnen kein Wort. "Jetzt seht zu, dass ihr hineingeht", herrschte sie die beiden an, "über eure Bestrafung reden wir später. Und was habt ihr da eigentlich?"
    Sibrú zeigte ihr resigniert seinen Fund. Er hatte ohnehin nicht geglaubt, ihn lange vor den scharfen Augen seiner Mutter verbergen zu können.
    "Interessant. Aber wie das stinkt! Nein, dieses Ding kommt mir nicht ins Haus." Sie nahm ihrem Sohn den Würfel aus der Hand und legte ihn ein paar Schritte vor dem Eingang auf dem Boden ab. Ihre Kinder wollten protestieren, aber sie duldete keinerlei Widerspruch. "Morgen könnt ihr es wiederhaben." Sie schob die beiden nach drinnen und zog den schweren Vorhang zu.
    Draußen begann es langsam zu dämmern. Noch vor Tagesanbruch kamen die Jäger zurück ins Dorf, große Tragen mit Tierfleisch auf dem Rücken. Alsbald setzte der für Tumal typische, morgendliche Tropenregen ein, der diesmal noch stärker zu sein schien als sonst. Vor den Hütten und auf dem Dorfplatz bildeten sich große Pfützen, die die festgetretene Erde vom Versickern abhielt und die langsam zu kleinen Bächen anschwollen. Ein solcher entstand auch vor der Hütte von Aluís und Sibrús Eltern. Irgendwann schließlich erfasste er den seltsamen Würfel und trieb ihn den sanften Abhang hinab, der zum Dorfplatz führte, wo sich das Wasser sammelte. Von dort wurde er von einem noch größeren Schwall in einen nahegelegenen Bach befördert, wo er sich gelegentlich zwischen großen Kieseln verhakte, er auf Dauer aber den Kampf gegen die Elemente verlor und immer wieder mitgerissen wurde. Auch der kleine Stock war längst fortgespült worden, so dass sich der Würfel wieder geschlossen hatte.

    23
    "Jetzt warte doch. Ich bin nicht so schnell wie du." Mit hastigen Bewegungen ihrer kurzen Arme bog Aluí die grünen Blätter und Zweige zur Seite, um ihrem Bruder schneller durch das dichte Gebüsch folgen zu können. Schon mehrere Male hatte sie geglaubt, ihn verloren zu haben, aber dann hatte sie doch wieder seine helle Haut und die orangefarbene Strähne in seinem dunkelvioletten Haar im Dunkel der Nacht und des Unterholzes hervorblitzen sehen.
    Sibrú blieb kurz stehen, um zu warten, bis seine jüngere Schwester herangekommen war. "Sei doch still", raunte er ihr durch die Nacht zu, "am Ende bemerken sie noch, dass wir uns fortgeschlichen haben." Er wandte sich wieder in die Richtung, die er zuvor eingeschlagen hatte, und begann, sich weiter den Weg durch das Gewirr von Büschen und Kletterpflanzen zu bahnen. Die beiden Tumalikinder hatten keinerlei Probleme, sich in der Finsternis zurechtzufinden - ihre Sinne waren vollkommen an ein Leben in der Nacht angepasst.
    Auf einen neuerlichen Ruf seiner Schwester hielt Sibrú erneut kurz inne. Hätte er sie doch nur zu Hause gelassen, sie hielt ihn nur auf! Irritiert ließ er seinen Blick über die Wipfel schweifen. Der Wald klang heute anders als sonst, da war noch mehr als die üblichen Schreie der Eulen und Nachtvögel. Tatsächlich war da von weiter drinnen im Wald erregtes Pfeifen zu hören.
    "Das sind sie", flüsterte Aluí, die ihren Bruder eingeholt hatte und nun ebenfalls aufmerksam in die Dunkelheit lauschte. "Und das klingt gar nicht gut. Lass uns zurück nach Hause gehen, wir bekommen nur Ärger."
    Sibrús Augen leuchteten vor Aufregung. "Auf keinen Fall. Endlich passiert hier mal was, das will ich nicht verpassen. Geh doch nach Hause, wenn du Angst hast - ich bleibe hier."
    Aluí blieb trotzig stehen. "Ich habe keine Angst. Aber ich weiß, dass die Erwachsenen uns nicht verboten hätten, in den Wald zu gehen, wenn sie nicht genau wüssten, dass es dort gefährlich ist."
    "Das hättest du dir vorher überlegen müssen", gab ihr Bruder schroff zurück. "Jetzt red nicht lange, sondern komm!"
    Widerwillig machte sich seine Schwester wieder daran, ihm zu folgen. Er hatte ja Recht - für einen Rückzieher war es zu spät, sie würden so oder so Ärger bekommen. Von irgendwo hinter den Bäumen drangen erneute Pfeiftöne an ihr Ohr, aber die Quelle war zu weit entfernt, um erkennen zu können, was sich die Jäger zuriefen.
    Schreckliche Dinge hatten sich in dem kleinen Dorf ereignet - die Woche zuvor waren zwei schwarze Tumali blutüberströmt und nicht mehr wiederzuerkennen im Wald gefunden worden, und vorletzten Tag war einem weiteren dasselbe widerfahren. Irgendetwas musste da im Wald hausen, das über harmlose Dorfbewohner herfiel. Also hatte man einen Trupp Späher ausgesandt, die recht schnell herausgefunden hatten, was für die Morde verantwortlich war. Und genau dieses Etwas galt es jetzt zu richten. Noch während der Abenddämmerung hatte sich eine größere Gruppe von Jägern aufgemacht, um das Ungeheuer zu töten.
    Was für ein Ereignis in der sonst so langweiligen Gegend! Sibrú hatte seinen Vater angebettelt, ihn begleiten zu dürfen, aber nein, mit seinen zwölf Jahren sei er noch zu jung. Also hatte er sich trotz des ausdrücklichen Verbots seiner Eltern, auch nur einen Schritt in den Wald zu tun, mit seiner Schwester heimlich nach draußen geschlichen, um sich das Geschehen vor Ort anzusehen.
    Langsam arbeiteten sich die beiden durch die dichte Vegetation in Richtung der erwachsenen Tumali vor. Sibrú hatte bestimmt, sich durchs Gestrüpp zu schlagen, um nicht einem womöglich auf den Waldwegen postierten Aufpasser in die Arme zu laufen. Immer näher kamen sie dem Geschehen, und schließlich machte Sibrú plötzlich Halt und streckte den Arm aus, um seine Schwester ebenfalls zurückzuhalten.
    "Was ist denn?", flüsterte Aluí.
    "Schau." Ihr Bruder deutete nach vorne, wo sich hinter den Bäumen eine Lichtung erahnen ließ. Schon die ganze Zeit hatten die beiden nicht nur das hektische Pfeifen der Erwachsenen, sondern auch ein wildes Brüllen gehört, und jetzt hatten sie den Jagdschauplatz erreicht. Gebückt und bemüht, keinen Laut von sich zu geben, schlichen sich die Geschwister bis zum Rand der Lichtung vor und spähten durch das Blattwerk.
    Gut zwei Dutzend Tumali, mit langen Speeren bewaffnet, waren da am Werk - sie hatten einen Kreis gebildet, um so ihre Beute kontrolliert angreifen zu können. Selbige war größer als ein Haus, hatte mächtige Reißzähne, messerscharfe Klauen und einen monströsen, mit Dornen besetzten Schwanz, der wie eine Peitsche durch die Luft fuhr und dabei wiederholt Jäger von den Beinen riss und durch die Luft schleuderte. Wild schlug das Tier mit den Klauen um sich. Seine Bewegungen hatten etwas Unkontrolliertes, Verzweifeltes. War es etwa nachtblind und teilte nur zur Verteidigung Hiebe aus?
    Sibrú hielt den Atem an. Neben sich hörte er seine Schwester leise Laute von sich geben. "Sei still, sonst bemerken sie uns noch", presste er zwischen den vor Aufregung zusammengebissenen Zähnen hervor. Doch Aluí hörte nicht auf, zu wimmern und ihn in die Seite zu stupsen. Schließlich gab er ihrem Drängen nach. "Was ist denn?" Sie deutete auf die linke Seite der Lichtung, wo ein Tumali reglos am Boden lag. "I- ... ist das Vater?" - "Quatsch", gab Sibrú zurück, "Vater hat rote Haare, so wie du."
    Urplötzlich versteifte sich Aluís Körper unter der Hand ihres Bruders, die auf ihren Schultern lag. "D... da, sieh doch..." Die Blicke beider Kinder wanderten nach vorne und nahmen entsetzt wahr, dass das Tier die Reihen der Jäger durchbrochen hatte und geradewegs auf sie zukam.
    Sibrú fiel siedendheiß ein, dass sich die Erwachsenen, bevor sie in den Wald gegangen waren, mit einer Flüssigkeit eingerieben hatten, damit das Tier ihre Duftstoffe nicht wahrnehmen konnte. "Es hat uns gewittert", entfuhr es ihm, "bloß weg hier!"
    Beide sprangen auf und setzten zur Flucht an. So schnell sie ihre kurzen Beine trugen, rannten sie den Trampelpfad entlang zurück, den sie beim Hinweg angelegt hatten. Sibrú fiel beim Umsehen mehrmals hin, doch obwohl er sich sicher war, dass das Tier ihnen nicht mehr folgte, rappelte er sich immer wieder auf und lief weiter. Schließlich hatte er auch Aluí wieder eingeholt, die sich mit erstaunlicher Geschicklichkeit durch das dichte Gestrüpp bewegt hatte und nicht einmal gestolpert war. Sie war stehen geblieben und sah sich ratlos um. Keuchend hielt Sibrú ebenfalls inne, seine Blicke folgten den ihren. "Was ist denn?"
    Aluí deutete in den Wald hinein. Vor ihr hatte jemand - oder wohl eher etwas - Gras, Büsche und kleinere Bäume niedergetrampelt, so dass eine regelrechte Schneise entstanden war. "Das waren bestimmt nicht wir. Wir sind vom Weg abgekommen." Vorwurfsvoll musterte sie ihren Bruder.

    22
    Wutentbrannt und erbost stürmten die beiden Gnome wieder zurück, und aufgescheucht von dem Lärm, kamen hinter ihnen direkt fünfzehn weitere Gnomen hervorgepurzelt, alle laut schnatternd und schreiend. Veýkapnar, der Albenjunge, richtete sich auf, als die ersten Kiesel ihm entgegenflogen, und verbarg den Würfel schnell in seinem Gewand.
    Nun wurde es ungemütlich, denn die beiden Gnome, die den Würfel gestohlen hatten, hatten inzwischen die anderen ihrer Bande darüber in Kenntnis gesetzt. Einer von ihnen begann bereits tollkühn, sein Hosenbein empor zu klettern, während ein anderer ein kleines Messerchen in einen Zeh von Veýkapnars linken Fußes rammte. Es war Suash, den der Verlust seines kostbaren Schatzes fast in den Wahnsinn trieb, doch das wusste der Alb nicht, denn für Alben sah ein Gnom wie der andere aus; mit einem Schmerzensschrei sprang Veýkapnar zurück, schüttelte den Kletterer ab, drehte sich um und lief eilig in den Wald zurück, eine keifende Masse von Gnomen hinter sich.
    Den Tieren des Waldes blieb dieser Radau nicht unbemerkt. In den Baumwipfeln ertönte das Geschrei von Kretàr (***), und überall raschelte und kratzte es um Veýkapnar herum. Er geriet durch all das ein wenig in Panik, obwohl er eigentlich kein Grund dafür hatte, denn er war oft im Wald und auch nicht das erste Mal des Nachts. Die Farnwedel schlugen ihm ins Gesicht, und einmal blieb er an einer rauen Wurzel hängen und schlug lang hin. Schnell sprang er wieder auf, sein Fuß schmerzte und war aufgerissen. Er tastete nach dem Würfel unter seinem Gewand, er war bei dem Fall auf ihn gestürzt; es würde bestimmt einen blauen Fleck an seinen Rippen geben, doch der Würfel schien unversehrt geblieben zu sein.
    Er wollte schon weiterhasten, als er bemerkte, dass die hellen, nervigen Stimmen der Gnome nicht mehr zu hören waren. Er hatte sie wohl schon längst hinter sich gelassen, doch hatte er das in der Aufregung wohl nicht bemerkt. Er atmete ein paar mal tief durch und versuchte, sein Herz etwas ruhiger schlagen zu lassen. Es war inzwischen ziemlich dunkel geworden, und mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er sich nicht mehr sicher war, wo er sich befand. Sein gerade etwas beruhigtes Herz begann sofort wieder an zu pochen, während er verzweifelt versuchte, sich an irgendetwas in dem Dunkel um sich herum zu orientieren.
    Und plötzlich bemerkte er etwas anderes. Etwas, das ihn in noch viel mehr beunruhigte als die Vorstellung, möglicherweise an einen Baum gekauert die Nacht zu verbringen und morgen früh eine kräftige Abreibung zu erhalten. Es war totenstill um ihn herum, kein noch so leises Geräusch war zu hören. Und das, obwohl im Wald normalerweise stets irgendetwas raschelte, pfiff oder grunzte. Und dann nahm er den strengen Geruch wahr, den er bisher nicht bemerkt hatte, weil seine Aufmerksamkeit nur den kleinen Gnomen hinter ihm und dem Ausweichen von Ästen im Weg galt.
    Das Blut gefror in seinen Adern. Es roch nach nassem Fell, nach modriger Wärme. Panik schnürte ihm die Kehle zu, und ohne dass er willentlichen Einfluss darauf hatten, entrang sich ihm ein leises Wimmern.
    Veýkapnar sah den Schlag nicht kommen. Er hörte nur ein scharfes Rauschen in der Luft; dann verwandelte sich die Dunkelheit vor ihm in Gewalt, Blut und Schmerz. Der Aufprall warf ihn mehrere Meter nach hinten, er prallte gegen einen Baum, flog seitlich davon weg und blieb unter Farnbüschen liegen. Er spürte seine Beine nicht mehr - seine Hände tasteten nach unten, griffen in offenes Fleisch, in pulsierende Flüssigkeit. Ein lautes Schnauben ertönte neben ihm, und vor das etwas hellere Blätterdach des Waldes schob sich der gewaltige, pelzige Kopf eines Skráks, des gefürchtetsten Raubtieres des Landes. Etwas ragte aus seinem Maul, und Veýkapnar erkannte mit schwindendem Blick, dass es seine eigenen Beine waren, die ihm bei dem Schlag des gestachelten Schwanzes abgerissen wurden. Dann würgte er Blut empor, und sein Blick füllte sich mit ewiger Schwärze.


    (***) Kretàr sind affenartige, rudelbildende Tiere, die zeitlebens in den obersten Baumregionen dichter Wälder leben.

    21
    Shuni zwängte sich bereits durch mehrere Lagen des rauen Stoffes, bis sich seine Augen an das Dunkel gewöhnten. Im oberen Bereich der Tasche erkannte er im schwachen Licht, das hier durch die Nähte drang, ein kleines, vielversprechendes Päckchen. Der Inhalt war dank seiner feine Nase leicht zu erraten: würziger Käsegeruch ging von ihm aus. Mit geschickten Bewegungen öffnete Shuni das Papier und vergnügte sich sofort an dem fremdartig schmeckenden, dunkelgelben Käse. Mit vollem Mund begrüßte er Suash, der sich endlich auch aus irgendeinem Kleidungsstück hervorwühlte, und bot ihm ein kleines Stück von dem Käse an.
    Zufrieden mampften die beiden vor sich hin, immer hellhörig, ob aus der Gaststube verdächtige Geräusche zu vernehmen waren, da erregte ein verschnürtes Lederbündel Suashs Aufmerksamkeit. Neugierig, wie Gnomen nun einmal sind, kroch er sofort hinüber und betrachtete es kurz. Dann löste er mit flinken Fingern den Knoten der Schnur und begann, das Leder zur Seite zu biegen.
    Suashs Augen begannen zu leuchten, als zwischen den Lederschichten kunstvoll geschnitztes Holz sichtbar wurde. Der Gegenstand entpuppte sich schließlich als ein Würfel, mit geheimnisvollen Ornamenten und goldenen Beschlägen verziert. Suash war sich nicht über viele Dinge in seinem kleinen Leben sicher, doch in diesem Moment wusste er, er MUSSTE dieses Ding besitzen. "Shuni, schau!" Er zerrte es ein stückweit mehr aus seiner ledernen Hülle und strich verzückt mit den Fingerspitzen über die Oberfläche, während Shuni auf Händen und Knien herüberkroch, doch nicht ohne vorher noch schnell das Stück Käse in seiner Hand in sich hineingestopft zu haben. Erstauntes, heftiges Einatmen war zu hören, als er Suashs Fund sah, und ohne dass die beiden sich großartig darüber absprechen mussten, begannen sie, das Fundstück gemeinsam durch den Inhalt der Tasche zu schieben und zu drücken. Es war nicht einfach, denn der Würfel ging ihnen immerhin vom Fuß bis zur Brust. Doch er schien innen hohl zu sein, denn er wog nicht viel.
    Mit geübten Bewegungen wurde die Öffnung, durch die sie in die Tasche eingedrungen waren, etwas erweitert, und mit der nunmehr etwas größeren Angst, entdeckt zu werden, eilten die beiden Tunichtgute mit dem Würfel zwischen sich unter den sitzenden Alben hinweg, unter der Sitzbank die Wand entlang und schließlich durch die stets offene Türöffnung hinaus in die dämmrigen Gassen der Südstadt von Òumbýæ. Niemand hatte etwas bemerkt, denn Gnome waren meisterliche Diebe! Dennoch waren sie sehr angespannt, denn sie konnten sich durch den klobigen Gegenstand nicht so behände bewegen, wie sie es gewohnt waren, während sie an den Mauerkanten entlang huschten, dem Stadtrand entgegen, wo direkt Óumvík, der Sumpfwald begann. Wenn sie erst einmal jenseits der Stadtgrenze im Wald anlangten, wo sich die Abenddämmerung in Dunkelheit verwandelte und keine Alben herumliefen, waren sie in Sicherheit.
    "Hihi!" kicherte Shuni etwas nervös. "Keiner merkt's. Alle dumm."
    Suash ging vorne, den Würfel in seinem Rücken, und sagte über die Schulter: "Still noch! Sind gleich da."
    Nach wenigen Minuten gelangten die beiden Gnome zu einem Feldweg, der von der großen Straße abzweigte, die in die Stadt führte, und huschten dort hinein. Hier blieben sie aber auch nicht lange, sondern verschwanden schließlich im Unterholz des Waldes, und nur noch das gelegentliche Wackeln eines Farnblattes oder das Rascheln eines aus dem Schlaf gerissenen Twiggs (*) erinnerte an die kleinen Diebe.
    Aus dem Schatten der Häuser am Stadtrand löste sich eine schmale Gestalt. Lautlos schlich sie den Feldweg entlang und verschmolz wenig später völlig mit der zunehmenden Dunkelheit zwischen den Bäumen.
    Nach einiger Zeit schweigenden Wanderns durch das Unterholz - eine seltene Situation unter Gnomen - erreichten Suash und Shumi eine etwas lichtere Stelle des Waldes. Mehrere große Felsen erhoben sich und verhinderten, dass sich das dichte Blätterdach hier schließen konnte. Zwischen diesen Felsen, unter umgestürzten Baumstämmen und Wildwuchs, konnte man schon flackernden Feuerschein sehen, und leises Singen ertönte, begleitet von den Klängen eines kleinen Zupfinstruments. Suash verharrte mit einem Mal, was zur Ursache hatte, dass Shumi durch den plötzlichen Halt mit seinem Kinn gegen den Würfelrand schlug. "Au! Wurzelpisser, was machst du?"
    Suash wurde nachdenklich, ohne auf das Gezeter seines Kumpanen zu achten. Mit einer kurzen Handbewegung brachte er Shumi halbwegs zum Schweigen, zumindest solange, dass er ansetzen konnte: "Ruhig, Shumi! Denk doch nach. Der Würfel is so schön. Die anderen nehmen ihn weg! Mag ihn nicht hergeben!" Er strich wieder über die leicht im Licht des aufgehenden Mondes glänzenden Metallbeschläge des Würfels, der jetzt zwischen ihnen am Boden lag. Suash dachte ebenfalls mit seinem kleinen Kopf nach. Doch für ihn ergab sich aus dem Gesagten ein anderer Schluss.
    "Du willst ihn nicht hergeben? Willst ihn allein, wie? Und ich? Und meine Kisa? Und Suni?" Gegen Ende wurde seine dünne Stimme lauter.
    "Ach geh fort! Sie nehmen ihn weg, die anderen! Keiner soll's wissen! Nur du, du hast ihn ja schon gesehen."
    "Sonst würdest ihn wohl ganz behalten? Mistschlucker! Geýtup (**)!"
    Und bald keiften die beiden sich lautstark an und versuchten sich, mit Schimpfnamen zu übertrumpfen. Dass inzwischen bei den Felsen andere Gnome auf sie aufmerksam wurden, war ihnen mittlerweile egal, doch sie bemerkten so auch nicht, dass sich plötzlich ein Schatten von einem nahen Baum löste. Erst als blitzschnell eine große Hand niederfuhr und den Würfel unter sich bedeckte, hüpften die beiden Wichte mit einem Entsetzensschrei in die Höhe, um in dem Sekundenbruchteil, in dem ihre Füße den Waldboden wieder erreichten, so schnell das Weite zu suchen, dass man mit den Augen kaum folgen konnte. Oft genug hing ihr Überleben in der Wildnis von dieser Taktik ab: Bringe zunächst eine ausreichende Distanz zu einer möglichen Gefahr und versuche dann herauszufinden, ob es überhaupt eine Gefahr darstellt. So merkten sie auch hier erst, als sie halb unter einem moosbewachsenen Baumstumpf verschwunden waren, dass der Angreifer ein junger Alb war, der nunmehr laut lachend ihren Schatz in den Händen hielt.
    Er hatte die beiden diebischen Gnome bereits an der Tür zum Gasthof bemerkt, als er draußen herumlungerte, weil er noch nicht nach Hause wollte. In der Nähe des Gasthofes bot sich ab und zu die Möglichkeit, einen kleinen Botengang zu erledigen, einem Fremden die Koffer zu tragen oder ähnliches, und Veýkapnar war um jedes kleine Geldstück dankbar, das er ergattern konnte.


    (*) Twiggs sind kleine, mausähnliche Säuger, die in den Wäldern und Sümpfen im Norden von Æýansmottír leben.
    (**) Geýtups sind recht unansehnliche, schleimige Kreaturen, die in den Sümpfen nahe Óumbýæs leben.

    20
    Doch als er sich von dem ersten Schreck erholt hatte, weigerte er sich strikt, sie an Bord gehen zu lassen. Alter Seemannsglaube besagte, dass die Nebelwölfe von Skah jeden überall hin verfolgen würden, der einer der Dar‘etienne in Gefahr brachte. Kapitän Seewald war dieses Risiko zu groß, denn die Reise nach Edador war lang und nicht ungefährlich.
    Belisa wollte beinahe schon aufgeben, als sich die Augen des Kapitäns weiteten und er sie hastig an Bord bat. Der Grund für seinen plötzlichen Sinneswandel waren die unzähligen, nebelhaften Gestalten, die auf einmal hinter Belisa aufgetaucht waren. Die Blicke ihrer leuchtend grünen Augen hatten ihm klar gemacht, dass es wesentlich gefährlicher wäre, Belisa nicht mit an Bord zu nehmen.
    Es sollten jedoch noch einige Tage vergehen, bis die Perlmutt wieder in See stechen würde, denn Kapitän Seewald hatte in Daronis noch einige Geschäfte zu erledigen. Tage, in denen die geheimnisvollen Jäger bereits nördlich Edadors Tanmariv betreten und einen Dieb angeheuert hatten, den sie Belisa entgegen schickten, um ihr den fremden Gegenstand abzunehmen.
    Er ging in Hakoi an Bord der Perlmutt, als Belisa bereits stark unter der Seefahrt litt. Niemals hätte sie geglaubt, dass sie sich so elend fühlen könnte und selbst Demian Waldläufers Erinnerungen an seine beschwerliche Reise hatten sie nicht darauf vorbereitet, dass sie als Kind der Erde auf See nicht zurecht kommen würde.
    Dabei machte ihr weniger das ungewohnte Schaukeln des Schiffes Probleme, als vielmehr der Umstand, dass sie ihre Energien nicht erneuern konnte. Sie war es gewohnt, barfuss über den atmenden, lebendigen Waldboden zu laufen und von Belirah (5) stets frische Energie zu beziehen. An Bord der Perlmutt jedoch berührten ihre blanken Sohlen nur totes Holz und machten sie trotz all ihrer mitgebrachten Heilkräuter krank. Erst der junge Mann, der in Hakoi an Bord der Perlmutt gegangen war, lenkte sie mit seinen abenteuerlichen Geschichten von ihrer Unpässlichkeit ab.
    Da sie sich gut verstanden und die einzigen Passagiere an Bord waren, verbrachten sie die meiste Zeit der Reise gemeinsam unter Deck, da Belisa beim Anblick des offenen Meeres immer schwindlig wurde. Dennoch wurde Belisa vom plötzlichen Aufbruch ihres Freundes überrascht, als dieser bereits in Destarin von Bord ging und sie nicht bis nach Edador begleitete. Traurig winkte sie ihm zum Abschied, als die Perlmutt wieder aus dem Hafen auslief.
    Kapitän Seewald trat in diesem Moment neben sie und musterte den kleiner werdenden Mann abschätzig. "Gut, dass wir den wieder los sind. Ihr solltet nachschauen, ob ihr noch all eure Habseligkeiten besitzt." brummelte er in seinen Bart und verschwand dann wieder.
    Belisa wollte ihren Freund schon verteidigen, als dieser etwas Rotes ins Licht der Sonne hielt und ihr frech zugrinste. Belisa erkannte den Würfel in seinen Händen und zuckte erschrocken zusammen. Sie wusste mit unerträglicher Sicherheit, dass sie ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen konnte.
    Dies stimmte sie wütend und traurig zugleich, während sie fieberhaft überlegte wie sie ihr Versagen Nograhm würde erklären können.
    Whiskis, der junge Dieb, ging währenddessen fröhlich pfeifend an Land und machte sich auf zum Waldpilz, wo er sich mit den beiden Südländern treffen wollte, die ihm für den Diebstahl des Würfels eine große Menge an Sithstreifen (6) versprochen hatten.
    Es herrschte bereits reges Treiben, als er den Waldpilz betrat. Ein Blick über die Anwesenden zeigte ihm, dass seine Auftraggeber noch nicht angekommen waren und so setzte er sich an die Theke, um auf sie zu warten.
    Nach zwei Gläsern Waldfeuers betraten die beiden hochgewachsenen Südländer schließlich den Waldpilz. Als sie an ihm vorbei gingen, um sich an einem der etwas abseits gelegeneren Tische hinzusetzen, ließ er den mittlerweile gut verpackten Würfel unauffällig in ihre Tasche fallen.
    Whiskis war froh, dass sie endlich hier waren, denn die hohen Stimmen der kleinen Ghaffins (7) , die sich zwischen den Beinen der Menschen bewegten, taten ihm bereits in den Ohren weh.
    Doch er war nicht der Einzige, der die Neuankömmlinge beobachtete. Suash und Shuni, zwei kleine Burschen von gerade einmal zwei Handbreit Körpergröße, lungerten wie so häufig unter der Eckbank der Kneipe, wo es dunkel war und sie nicht weiter auffielen, wenn sie heruntergefallene Speisereste verzehrten oder auch den einen oder anderen Becher Hochprozentigen dorthin schmuggelten und sich einen feuchtfröhlichen Abend machten. Suash war der erste, der die beiden fein gekleideten Alben bemerkte, die zur Tür hereinkamen und sich an einen Tisch abseits der anderen setzten.
    "Shuni! Die beiden da. Sehen reich aus! Kommst du mit?"
    "Warte, schau!"
    Ein Mann löste sich von der Theke und steuerte den Tisch der beiden Gestalten an, die recht fremdartig gekleidet waren.
    Ungezwungen setzte sich Whiskis zu ihnen an den Tisch, um sein Honorar entgegen zu nehmen. Er hatte nicht beobachtet, dass die beiden nachgeschaut hätten, was er ihnen da in ihre Tasche hatte fallen lassen, aber sie überreichten ihm kommentarlos einen großen Beutel voller Sithstreifen. Whiskis - der bereits öfter Geschäfte mit den beiden gemacht hatte - wunderte sich nicht weiter darüber. Er packte seine Sachen und verließ den Waldpilz wenig später.
    Die beiden fein gekleideten Männer blieben dagegen sitzen und tranken ihre Waldfeuer, ohne ein Wort miteinander zu reden. Ein Beobachter hätte zweifelsohne geglaubt, dass sie noch auf eine weitere Person warten würden.
    "Jetzt aber!
    "Hihi ... sofort, ja!"
    Die beiden in zusammengenähten Stoffresten gekleideten Grünschopfe flitzten durch das verrauchte Zwielicht Zwielicht und hatten keine Probleme, ungesehen bis unter die Sitzbank der Alben zu kommen, wie es ihnen auch sonst nie schwer fiel , nicht gesehen zu werden, wenn sie es nicht wollten. Sofern sie nicht gerade mit lautem Geplapper beschäftigt waren.
    Mit funkelnden Augen betrachteten sie die edlen Gewänder der beiden Fremden, dann fiel ihr Blick auf das Reisegepäck, das unter dem Tisch lag. Die Hand des einen Alben ruhte auf einer großen, verzierten Tasche und hielt den Griff sorgsam umschlossen. Selbstverständlich war sofort das Interesse der beiden Gnome geweckt. Mit einem kleinen Messer war geschwind eine Öffnung in der Taschenwand geschnitten, und sobald sie groß genug war, zwängte sich Shuni, stets der dreistere von beiden, hindurch ins Innere des Gepäckstücks. Suash vergewisserte sich noch kurz, dass keiner der Alben bemerkte, was unter ihrem Tisch vor sich ging, und steckte dann seinen Kopf hinterher.

    (5) Belirah ist die Göttin der Erde.
    (6) Sithstreifen sind in etwa das was wir Geld nennen.
    (7) Ghaffins sind kobaldartige Lebewesen, die vor allem in den Wäldern nördlich Edadors leben.

    19
    Noch lange hallten die Worte der Niasso im Gedächtnis des Frosches nach, während er weiter darum kämpfte, frei zu kommen. Er ahnte nicht, dass er ins Knochenloch gefallen war und das Öffnen des Deckels seinen Tod bedeuten würde, denn er war mittlerweile schon viel zu tief gesunken.
    So kämpfte er noch eine ganze Weile gegen die roten Wände an, die ihn gefangen hielten, bevor er erschöpft inne hielt und nach Atem rang. Das Rot des Würfels begann schon vor seinen Augen zu flimmern, als sein Gefängnis sich plötzlich wie wild anfing zu drehen. Immer wieder berührte er mit einem erschütternden "Plong" etwas Hartes, sprang davon ab und stürzte weiter in die Tiefe. So unsanft behandelt, sprang der Deckel des Würfels auf einmal auf und ließ den Frosch frei.
    Benommen und nach Atem ringend, schaute sich der Frosch um. Überall um ihn herum waberte feiner Nebel, in dem sich merkwürdige Schatten zu bewegen schienen. Er begriff nicht, wo er war, doch bevor er sich entschließen konnte aufzubrechen, schlossen sich zwei durchscheinende Kiefer um seinen kleinen Körper und verschlangen ihn.
    "Gut gemacht, mein Freund!" Die Stimme, die diese Worte sprach, war so flüchtig wie der Nebel, der die Gestalt des Sprechenden umhüllte und seine Umrisse unkenntlich machte. Eine verzerrte Hand fuhr durch das Fell des Nebelwolfes, während die andere den roten Würfel umschlossen hielt.
    "Dieser Gegenstand muss Anra‘sari wieder verlassen!" meinte Nograhm, der Herrscher über die Nebelfälle von Skah, nachdenklich und schickte seine Nebelwölfe aus, um einen der Dar‘etienne (1) zu ihm zu bringen, der diese Aufgabe übernehmen sollte.
    Belisa sammelte gerade Kräuter, als vor ihr einer der Nebelwölfe aus dem Nichts auftauchte. Er musterte sie mit seinen funkelnden, grünen Augen und blieb abwartend stehen. Belisa hatte schon oft einen seiner Gattung gesehen, aber noch nie hatte einer von ihnen vor ihr ausgeharrt. Doch aus den Erinnerungen ihrer Vorfahren wusste sie, dass Nograhm sie zu sehen wünschte.
    So nickte sie dem Nebelwolf bestätigend zu und machte sich auf zu Nograhm. Je weiter die beiden in den Wald vordrangen, desto mehr Nebelwölfe schlossen sich den beiden an, so dass sich Belisa bald von einem ganzen Rudel der schattenhaften Gestalten flankiert sah. Es musste etwas ungemein Wichtiges sein, wenn Nograhm alle seine Diener ausgeschickt hatte, um sie oder einen ihres Volkes zu finden.
    Als sie schließlich die wabernden Seen am Fuße des Sturmgebirges erreicht hatte, wartete Nograhm bereits auf sie. Wie immer war seine Gestalt nicht auszumachen zwischen den Nebeln, aber das Leuchten seiner uralten, blauen Augen besänftigte ihre Unruhe.
    Ruhig wartete sie ab, bis Nograhm das Wort an sie richten würde. Sie musste nicht lange warten, denn kaum hatte sich der letzte Nebelwolf zu seinen Füßen gelegt, reichte er Belisa den roten Würfel und meinte leise: "Bringe diesen Gegenstand nach Edador. Im Künstlerviertel findest du Espiró. Übergebe ihm den Würfel."
    Er musterte Belisa noch einmal mit seinen allwissenden Augen, bevor er in den Nebeln verschwand. Auch seine Diener verflüchtigten sich im sanften Wind und ließen Belisa alleine an den Ufern der geisterhaften Seen zurück.
    Solange Belisa sich erinnern konnte, war dies Nograhms Art: Wünsche auszusprechen, aber ihre Gründe niemals näher zu erläutern. Ihre Vorfahren und auch sie selbst akzeptierten diese Verhaltensweise seit Jahrhunderten, aber dieses Mal hätte sie sich gewünscht, mehr darüber zu erfahren, denn es war schon Generationen her, dass jemand aus ihrer Familie die Wälder von Skah verlassen hatte.
    Den merkwürdigen roten Gegenstand nachdenklich in den Händen drehend, machte sie sich dennoch auf den Weg zur Küste, denn Nograhms Wünsche galt es zu erfüllen. Nur kurz hielt sie zu Hause an, um das Notwendigste zu packen und ihrer Familie Bescheid zu geben, bevor sie sich auf den Weg nach Daronis machte; der einzigen Hafenstadt im Norden Lyskaris‘ (2). Tage vergingen, bis sie unter dem schützenden Blätterdach ihrer Heimat ins Freie hinaustrat. Blinzelnd sah sie hinauf zur Sonne, die sie zum ersten Mal in ihrem Leben sah, ohne das gewaltige Baumkronen sie verdeckten. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie an die Reise dachte, die ihr nun bevorstand.
    Zuletzt hatte Demian Waldläufer die Wälder verlassen, um den Kindern Elamatans (3) nach der Zeit der Feuerkriege beizustehen. Nograhm hatte seinerzeit viele Heiler der Wälder nach Tanmariv geschickt, um die grässlichen Wunden der Kriege mit den starken Heilkräutern der Nebelwälder zu heilen.
    Jetzt sollte sie diese Reise antreten, um dieses merkwürdige rote Ding nach Edador zu bringen.
    Während sie also auf ein Schiff wartete (4), das sie nach Edador bringen würde, regten sich tief im Süden Anra‘saris Geister längst vergangener Zeiten. Sie spürten, dass etwas Fremdes in ihre Welt eingedrungen war.
    Bringt es zu mir! Es muss Anra‘sari so schnell wie möglich wieder verlassen, bevor es Unheil anrichtet.
    Die zwei Jäger, denen der Auftrag erteilt worden war, nickten bestätigend und machten sich sofort auf die Reise.
    Es vergingen mehrere Mondläufe, bis am Horizont endlich die Segel eines Handelsschiffes der Camarah auftauchten und Belisas heruntergebrannte Reiselust erneut entfachten.
    So trat sie dem Kapitän der Perlmutt entschlossen entgegen, als sie ihn um eine Passage ersuchte. Dieser war bei ihrem Anblick zunächst viel zu erstaunt, um irgendetwas erwidern zu können. Die in verschiedenen Brauntönen gefleckte Haut, das kurze Haar, das in den Farben Grün, Braun, Rot und Weiß schimmerte und ihre bernsteinfarbenen Augen, die denen einer Katze glichen, verwirrten ihn völlig - sah er doch zum ersten Mal in seinem Leben eine der sagenumwobenen Heilerinnen aus dem Volke der Dar‘etienne.


    (1) Die Dar‘etienne leben in den Wäldern von Skah, die die Nebelfälle vor der restlichen Welt verbergen. Sie sind humanoide Lebewesen, die ein genetisches Gedächtnis besitzen.
    (2) Lyskaris ist einer von vier Kontinenten - der Herbstkontinent - Anra‘saris.
    (3) Elamatan ist der Gott des Frühlings und wacht über den Kontinent Tanmariv. Mit den "Kindern Elamatans" sind somit alle Völker Tanmarivs gemeint.
    (4) Daronis ist der zweitnördlichste Hafen Anra‘saris und wird nur selten von Handelsschiffen angelaufen.

    18
    Vier spitze Gesichtchen mit neugierigen großen Augen schoben sich vor den gesplitterten Baumstamm und bestaunten das seltsame Ding, das darin verborgen war. Es war aus Holz, wie es schien, und mit Metall? Selbst die Form schien schon völlig fremd. Es war ein Würfel - aber die Niasso, die all ihr Wissen aus dem sie umgebenden Sumpf und Dschungel nahmen, kannten nicht einmal ein Wort für eine solche Form. Staunend verharrten sie vor dem seltsamen Ding und wagten nicht, es zu berühren.
    Schließlich fasste sich Tiquitiquai ein Herz - Großvater Lintolotek müsste sich doch schämen, brächte sie nicht den Mut auf! Langsam schob sich die schmale Hand zu dem seltsamen Ding. Ein einzelner dünner Finger berührte ihn kurz und - nichts passierte. Halbwegs erleichtert, griff die Niasso zu und zerrte den Würfel aus dem Baumstamm. Das metallgeschmückte Holz war warm und glatt und völlig fremd. Ratlos drehte sie das Ding in ihren Händen und reichte es schließlich den anderen. Der Würfel wanderte nun von Hand zu Hand - doch keiner konnte sich erklären, was das sein sollte, und wo es herkam. Aber vielleicht konnte die Cha’el dieses Rätsel lösen. Tiquitiquai bekam den Würfel zurück und geschwind machte sich der kleine Trupp auf den Rückweg. Immer wieder drehte Tiquitiquai dabei den Würfel in ihren gelenkigen Fingern, fuhr die seltsamen Ornamente nach und probierte mit spitzen Zähnchen, ob sie daran nagen konnte. Aber das Holz bekam nicht einmal einen Kratzer.
    Die Niasso am Knochenloch hatten inzwischen die Überreste von Lintolotek zusammengeschnürt und warteten ungeduldig auf die Späher. So war ihr Empfang lebhaft, lautstark und überschwänglich. Sofort ging auch hier das seltsame fremde Ding von Hand zu Hand, wurde befühlt, berochen, gekostet, geschüttelt und bewundert. Keiner konnte sich recht erklären, woher es kam und wofür es gut war. Auch die Älteste konnte das Rätsel nicht lösen. Lange betrachtete sie das Ding und fuhr nachdenklich die seltsamen Ornamente nach. Als sie das Ding dabei noch schüttelte, sprang plötzlich mit einem metallenen Klicken eine Seite auf. Sofort zuckten die Niasso zurück - aber es war nur eine Klappe, die sich geöffnet hatte und nun einen Hohlraum offenbarte. Cha’el tastete mit ihrem langen faltigen Zeigefinger in die Höhlung. Sie war leer. Vielleicht musste man etwas hineintun? Tiquitiquai war sofort Feuer und Flamme für die Idee. Vielleicht war das Ding doch von den Geistern gekommen - und wenn man ihnen dafür etwas gab, erfüllten sie einen Wunsch? Viele Geschichten erzählten von Geistern, die Niasso auf die Probe stellten, und ihnen anschließend Wünsche erfüllten. Eine Weile wurde hin und herdiskutiert, die hohen aufgeregten Stimmchen der Niasso schwirrten wie Vogelgezwitscher durcheinander. Dann der Entschluss - etwas sollte in das Kistchen hineingelegt werden. Nur was?
    Aufgeregt stoben die Niasso auseinander, um in Sumpf und Wasser nach einem passenden Geschenk zu suchen. Eine Knospe vom Mondblütenbaum vielleicht? Oder ein glänzender Käferpanzer? Eine angeschliffene Muschelklinge?
    Mit großen Gejohle tauchten schließlich die Kinder bei Cha’el auf. Sie hatten einen dicken Wurzelfrosch gefangen, der quakend zu entkommen versuchte. Die Kinder tanzten mit dem Frosch um die Älteste und den Würfel herum, völlig begeistert von der Idee, den Geistern diesen Leckerbissen zu vermachen.
    Cha’el setzte den Würfel vorsichtig auf den Boden, so dass die offene Seite nach oben zeigte. Der Frosch wurde hineingestopft und der Deckel geschlossen. Es kostete einigen Kampf mit dem glitschigen strampelnden Tier, bis endlich der Würfel geschlossen war. Alle Blicke lagen nun schweigend auf dem fremden Ding und warteten, ob etwas geschehen würde. Dumpf klang das Quaken des gefangenen Frosches. Dazu kamen die Geräusche, die der Frosch bei vergeblichen Befreiungsversuchen verursachte. Der Würfel wackelte durch seine Bemühungen... und rutschte schließlich davon. Hüpfte der Frosch mit dem ganzen Ding? Hastig versuchten die Niasso den Würfel zu schnappen, behinderten sich aber gegenseitig. Durch Hände und Füße rutschte er immer weiter, wurde versehentlich geschubst und geschoben - und platschte schließlich in das Knochenloch.
    Betreten schauten die Niasso hinterher. Der Würfel sank schnell im klaren Wasser, zog eine kreiselnde Schmutzspur hinter sich her und einen Schleier winziger Luftbläschen. Dann versank er im schlammigen Grund.
    "Weg", sagte Tiquitiquai enttäuscht. "Einfach weg." Im Sumpf versunken, im Wasser. Die Niasso waren ausgezeichnete Schwimmer - aber im Knochenloch würde kein Lebender wagen zu schwimmen. "Weg..."

    17
    Zum Knochenfischen war das ganze Dorf auf den Beinen. Singend und schwatzend zogen die Niasso durch den Sumpf; vorbei an moosbärtigen Fächerbäumen und wild rankenden Schlingpflanzen. Sie wanderten trittsicher über schmale Wege, die für fremde Augen im überfluteten Sumpfboden wohl kaum zu erkennen wären. Wasser und Sumpf waren vertraut, sie waren hier zu Hause. Die Niasso waren zierliche kleine Geschöpfe mit feingliedrigen Händen und Füßen. Die blasse Haut hatte einen bläulichen Schimmer, Haar und Augen waren hingegen nachtschwarz. Viele waren in schilfgeflochtene Stoffe gekleidet, einige in schuppiges Leder.
    Cha’el, die Älteste, führte den fröhlichen Zug an. Hinter ihr folgten einige der Jäger mit Körben und Harpunen, und dahinter der Rest der Dorfbewohner. Männer, Frauen und Kinder, die zum Knochenloch zogen. Der Weg war allen gut bekannt: vorbei am großen Spinnenbaum, ein Stück entlang des Algenbächleins und dann um den Schlangenweiher. Sie waren diesen Weg erst vor einem Mond gegangen - als sie schweigend und traurig die Überreste von Lintolotek, Tanzende Perlmuschel, aus dem Dorf getragen hatten. Doch jetzt war es an der Zeit, ihn zurückzuholen.
    Am Knochenloch angekommen, gebot Cha’el dem schwatzenden Völkchen zu schweigen. Einen Schreckvogelruf lang starrte sie schweigend in das klare, tiefe Wasser, dann nickte sie den anderen zu. Fröhlich und erwartungsvoll verteilten diese sich nun um das Wasserloch. Die Jäger setzten ihre Lasten ab und wiesen lebhaft schwatzend auf den Knochenbaum. Der riesige alte Baum stand dicht neben dem Wasserloch und streckte seine starken Arme weit über Sumpf und Wasser. Sein Stamm war rissig vom Alter und ehrwürdig weit war seine Krone. Doch Laub sah man kaum, da an Ästen und Zweigen überall Knochen und Muschelsplitter gebunden waren. Alte Schädel hingen in den Zweigen, achtsam mit Sehnen befestigt. Knöchelchen baumelten an dünnen Fasern und schwangen mit den Blättern im Wind.
    Tiquitiquai, Kleine Schwester der Wasserschlange, hatte flink den Knochenbaum erklommen und angelte nun mit einer Harpune nach einem im Knochenloch versenkten Seil. Unter den aufmunternden Rufen der Dorfbewohner schnappte sie sich das Seil und begann, es hochzuziehen. Das Los hatte sie aus der Familie bestimmt, Großvater Lintolotek im Wasser zu versenken - und ihn nun zurückzuholen. In dem Mond, den sein toter Körper in dem Loch geruht hatte, konnten die Knochenputzerfische fein säuberlich alle Knochen abnagen, so dass er nun ins Dorf zurückkehren konnte.
    Mit einiger Mühe zog Tiquitiquai den großen Korb aus dem Knochenloch. Die Jäger fassten mit zu, sobald er aus dem Wasser auftauchte. Gemeinsam wurde der Korb ans Ufer gesetzt und unter fröhlichen Rufen begrüßt. Lintolotek war gestorben - doch seine Knochen sicherte, dass sein Geist in der Nähe blieb und seine Freunde und Verwandten mit Rat und Hilfe unterstützte. Sofort wurde einer der sauber abgenagten Rippen an den Knochenbaum gebunden. Cha’el sicherte den Knoten mit einem Lied, während die Dorfbewohner bereits die Familie des Verstorbenen zu seiner Rückkehr beglückwünschten. Doch noch ehe die Knochen gezählt und getrocknet waren, ließ ein seltsames Geräusch alle aufhorchen. Ein dünnes Pfeifen, wie aus großer Höhe, wie ein Sturmwind, der rasch näher kam. Besorgt blickten die Niasso nach oben, konnte im dunstigen Himmel hinter vielblättrigen Laubkronen aber nichts entdecken. Das Geräusch blieb aber - und verstärkte sich noch. Und schließlich gab es einen mächtigen Schlag, der den Boden erzittern ließ. Für einen Herzschlag waren alle Geräusche des Sumpfes verstummt, und auch die Niasso hatten sich erschrocken hinter Büschen und Schilf versteckt. Nicht weit vom Knochenloch entfernt sahen sie zitternde Baumwipfel und eine blasse Rauchsäule.
    Nichts geschah.
    Als die Geräusche des Sumpfes allmählich wieder einsetzten, wagten sich auch die Niasso wieder aus ihren Verstecken. Ängstlich wurden Vermutungen ausgetauscht. War dort etwas vom Himmel gefallen? Hatte ein Blitz den Wald berührt? Oder trieben gar die Geister seltsame Scherze? Schnell siegte die unstillbare Neugier des lebhaften Völkchens über den Schreck und so zogen Späher aus, um die Ursache des Lärmes zu suchen. Tiquitiquai flitzte hinter Issahilar, Wassersänger, durch das Schilf. Vögel flogen auf und schimpften lautstark über die erneute Störung. Die Neugier ließ die Niasso aber nicht alle Vorsicht vergessen. Kurz vor dem Ort des Lärmes, verhielten sie ihre Schritte und schlichen schattengleich weiter. Die schmalen blauen Körper verschmolzen fast mit dem vielfältigen Grün des Sumpfwaldes. Lautlos glitten sie weiter, sahen aber nicht viel. Ein Baumstamm war gesplittert, ringsum lagen Holzsplitter und abgerissene Zweige und selbst der Rauch, der von dem Stamm aufstieg, war kaum noch zu erkennen. Mit schnellen Handzeichen berieten sich die Niasso. Eine Gefahr schien nicht wirklich zu bestehen - und wenn doch Geister ihre Macht im Spiel hatten, würde verstecken ohnehin nicht helfen. Reichlich unbehaglich wagten sich die Geschöpfe näher. In dem Baum... steckte etwas?

    16
    Dieser Umstand führte dazu dass der Mann diesen, heftig fluchend, aus versehen mit einpackte, beim Auflesen des Heftes und dem Zusammensammelns der Doppel-D-Flaschen, die in der Nähe liegengeblieben waren, ohne vom Wind weggeweht zu werden.
    Nur einen unbedeutend kleinen Zeitabschnitt später, der eine kurze Busfahrt, einen auch-kurzen Aeromobiltransport, eine ellenlange Aufzugfahrt und ein permanentes Gezeter über Flecken auf einem frisch aus der Wäscherei abgeholten Laborkittel, der sowieso schon beinahe verloren gegangen wäre und deshalb doch heute schon genug Ärger gemacht hätte, beinhaltete, kam der Mann endlich an seinem Arbeitsplatz an (Labortrakt 436, Abteilung "Farben und Lacke" der Solar-Star 7 Raumstation, die an einem riesigen Kran hängt und so über dem Planeten schwebt), und ließ sich erst mal entnervt in seinen Stuhl fallen.
    Er platzierte den Koffer neben seinen Schreibtisch, der sich in einem kleinen Laborraum befand, zusammen mit einem Computer, einer Kaffeemaschine und einigen seltsamen Apparaturen, die lustig blinkten und ab und an dezente Geräusche von sich gaben. Eine Maschine druckte ganz langsam eine Reihe von Zahlen und Buchstaben auf Endlospapier. Der Mann startete den Computer. Der Versuch lief nun schon eine ganze Weile, heute Nacht erhoffte man sich das erste Ergebnis und er wollte dabei sein, wenn der Versuch abgeschlossen sein würde. Aber erst mal hieß es warten.
    Nach einem kurzen Blick, ob irgendwelche neue elektronische Post angekommen war, griff er nach seinem Koffer, legte ihn auf den Schreibtisch und öffnete ihn. Er seufzte leise, als er die Kümmerlichen Reste des Inhalts betrachtete, sah dann aber den Würfel. Er nahm ihn in die Hand, rückte seine Brille zurecht und hielt ihn gegen das Licht. "Was ist DAS denn?" dachte er, als er den Würfel beäugte und hin und her drehte. "Wie kommt DAS denn in meinen Koffer? Bah, egal...weg damit." Er öffnete die Abfallklappe unter seinem Schreibtisch und warf den Würfel hinein. Die Klappe schloss sich und mit einem leisen Zischen wurde der Inhalt des Müllkastens entleert. Und so wurde der Würfel, zusammen mit ein paar Schmierzetteln, alten Stickynotes und einer Schokoriegelverpackung, von der Station weggeschossen. Der Mann schaute dem entschwebenden Abfall durch sein kleines Fenster eine Weile hinterher. "Jetzt hab ich Lust auf einen Kaffee!" ging ihm durch den Kopf und er drehte sich um, um die Kaffeemaschine zu bedienen. So konnte er nicht sehen, wie der gesamte Abfall im Orbit verglühte, bloß der kleine Würfel, unbeschadet und nur ein wenig zu hoch temperiert, auf den Boden zuraste. "Hm, der Kaffee war auch schon mal besser." Er stellte die Tasse neben den Monitor auf seinen Schreibtisch, als eine der Maschinen ein *ping* von sich gab und der Drucker eine große rote Zahlen- und Buchstabenkombination druckte und anschließend das Drucken einstellte. Endlich war es soweit, der Versuch war abgeschlossen und beendet! Endlich passierte ihm einmal etwas aufregendes!

    15
    Und nur wenige Sekunden später war der Dieb in der Dunkelheit einer nächtlichen Seitenstrasse verschwunden. Er rannte noch ein wenig weiter, sprang über umgefallene Mülltonnen und Obdachlosenbehausungen. Oder über Mülltonnen, die als Obdachlosenbehausungen dienten. Als er sich sicher war seine Verfolger abgehängt zu haben, hielt er kurz inne und betrachtete seine Errungenschaft.
    Doch die Freude war nur von kurzer Dauer. Ein Licht, ein Geräusch, ein kurzer erschrockener Blick in die Richtung deren Herkunft. Darauf folgte ein etwas lauteres Geräusch, das verblüffende Ähnlichkeit mit dem Geräusch aufwies, das ein Schlagzeuger verursacht, der mitsamt seines Drumkits eine Treppe hinunterfällt. "Hmpf!" dachte Herr Rüselheimser. "Liegt da wieder irgendwelcher Krempel auf der Strasse!" machte sich keine Gedanken über das Geräusch, den kurzzeitigen Geschwindigkeitsverlust und das kurze Rütteln des Aeromobils und fuhr weiter ohne zu bemerken, dass er gerade einen mehr oder weniger harmlosen Passanten mit Karracho von der Strasse gefegt und in die Luft befördert hatte.
    Der kleine hölzerne Würfel flog in hohem Bogen über die Strasse, über eines der Häuser hinweg, landete auf einem Hausdach, fiel von dort in eine Regenrinne, kullerte diese entlang, prallte an einen Laternenpfahl, bis er schließlich auf den Boden fiel und einem Mann auf dem Weg zur Arbeit vor den Füssen liegen blieb.
    Der Mann war vielleicht Mitte 30 und hatte einen weißen Laborkittel an, den er gerade vor ein paar Minuten aus der Wäscherei abgeholt hatte, die ihn fast verschlampt hätte, nachdem kurz vor dem Vorwaschgang das Namensschild abgefallen war, weil es nur schlecht befestigt worden war und sich deshalb leicht lösen konnte. Zum Glück fand man das Schild und konnte es, weil es das einzig schlecht befestigte war und alle anderen noch vorhanden waren, schnell dem passenden Kleidungsstück zuordnen. Dieser Umstand gab einen Rabatt auf den Preis, was ja auch nur verständlich war, schließlich gibt es genug Wäschereien in dieser Stadt, die Konkurrenz ist groß und der Verlust eines maßgeschneiderten Laborkittels kann deshalb auch leicht zum Verlust eines Kunden führen. Bei sich trug er einen schwarzen Aktenkoffer aus Kunstplastik. Das heißt er sah aus wie Plastik, war aber in Wirklichkeit gar keines. In diesem Koffer befand sich alles, was dieser Herr für seine Arbeit benötigte: ein Kugelschreiber, ein Kreuzworträtselheft, eine seltsame grüne Frucht, die zum Essen bestimmt war, auch wenn sie sich versuchte dagegen zu wehren, eine 1000er Packung Heinedönsens Doppel-D (das erste zweidimensionale Getränk) und ein Schmuddelmagazin. Er hatte kurze, schwarze Haare, grade so auf die Länge zurechtgeschnitten, ab der man sie nicht mehr zu kämmen braucht und eine große, runde Brille vor seinen Augen, die er halb geschlossen hatte, ob aus Müdigkeit, geistiger Abwesenheit oder übermässigem Drogenkosum soll an dieser Stelle einmal offen bleiben.
    "Natürlich, natürlich," dachte er so bei sich "Natürlich hätte ich auch den Gelgozentrofensterlogikatapultonerophonemergensotransfusor benutzen können! Aber is doch nicht meine Schuld, dass der da im Weg rumsteht und nicht aufpasst und jetzt Tintenflecken im Gesicht hat! ICH bin wenigstens IMMER bei der Sache...!" Sein Koffer sprang auf und der gesamte Inhalt entleerte sich in die nähere Umgebung, als er über den Würfel stolperte und sich mit Schwung auf die Strasse legte. Die Heinedönsenflaschen verteilten sich in alle Himmelsrichtungen, das Kreuzworträtselheft fiel in eine Pfütze Physikizid und wurde gelöst, der Kugelschreiber wurde beinahe einem kleinen streunenden Ungetüm in der Form eines Fußballs mit unglaublich viel Fell zum Verhängnis, als er nur wenige Zentimeter neben dessen Körper vorbeizischte (was das Ungetüm dazu veranlasste erschrocken zu quäken und empört zu verschwinden), die Frucht ließ einen Triumphschrei los und floh in eine Seitenstrasse und das Schmuddelheft fiel auf den kleinen Holzwürfel.

    14
    Nachdenklich fuhr er die Ornamente auf der Oberfläche mit dem Daumennagel nach. Mit etwas Fantasie bildeten sie Schriftzeichen.
    Er stand auf, schritt an seiner Bücherwand entlang und zog schließlich Symbole und Skriphten aller Voelker und Zeyten heraus, das Standardwerk auf diesem Gebiet.
    Alle sechs Seiten des Würfel zeigten die gleichen Schriftzeichen - so es denn welche waren.
    Nein, da gab es keine Ähnlichkeit zu irgendeiner bekannten Schriftart.
    Er legte einen Bogen Pergament auf eine Seite des Würfels, nahm ein Stück Zeichenkohle und rieb die Zeichen durch. Vielleicht konnte man an der Universität etwas damit anfangen. Er stellte den Würfel auf die Fensterbank, wo neben exotischen Götzenstatuen und einem echten Waldmenschendolch schon einige andere kuriose Gegenstände aus allen Teilen der Welt als Schmuck dienten. Er setzte sich an seinen Zeichentisch und beschäftigte sich wieder mit wichtigen Dingen, die Arbeit musste schließlich getan werden.
    Areishas Ablösung war mit Sonnenuntergang eingetroffen. Ein humorloser Südländer, mit dem man sich nicht unterhalten konnte. Die Lust auf Spiele war Jemeiros vergangen. Er lieh sich etwas zu lesen aus der Bücherwand, ein Drama von Klimios dij Ayl, und verzog sich auf sein Lager.
    Archendos öffnete das Fenster, kalte Nachtluft strömte in den dunklen Raum, vermischt mit den Gerüchen einer nächtlichen Großstadt. Er konnte die Brandung hören.
    Ein Windstoß wirbelte seine Zeichnungen auf und wehte sie vom Tisch. Seufzend sammelte er sie wieder zusammen und beschwerte sie mit dem ersten Gegenstand, der ihm in die Finger kam, dem Holzwürfel. Hinter ihm knackte etwas. Er wollte sich gerade umdrehen, da legte sich etwas auf sein Gesicht, ein scharfer Geruch drang in seine Nase. Er wollte schreien, doch da spürte er, wie er das Bewusstsein verlor.
    Jeremeios erwachte mit schmerzendem Genick. Er war tatsächlich auf seinem provisorischem Deckenlager eingeschlafen, nachdem in die Intrigen der Imnia in Die Kammerzofe beinahe so sehr gelangweilt hatte, wie die ganze letzte Woche..
    Der Südländer lag mit dem Oberkörper auf dem Tisch. Während der Wache eingeschlafen, dafür würde ihm Jeremeios noch den Kopf waschen. Hinter dem Vorhang knarrte und raschelte es, der Alte war anscheinend noch wach. Jemeiros entschied sich, dem Soldaten seinen Schlaf zu lassen und ging hinüber zum Arbeitsbereich, um das Drama zurück zu stellen. Er zog den Vorhang beiseite und blickte auf eine hochgewachsene Gestalt in einem braunen Mantel. Jemeiros starrte ihn einen Augenblick lang völlig perplex an. Archendos lag regungslos auf dem Boden.
    Der Unbekannte stand an Archendos' Zeichentisch, Papiere und etwas anderes, das Jemeiros nicht genau erkennen konnte, in den Händen. Dann wandte er sich ab und floh, Jemeiros gab einen Alarmschrei ab und folgte ihm. Im Laufen griff er nach seinem Säbel, und stellte fest, dass er ihn abgelegt hatte.
    Die Gestalt erreichte die Tür, als diese gerade von außen geöffnet wurde. Die völlig verblüffte Wache wurde einfach umgerannt.
    Jeremeios folgte dem Fremden auf die Straße, sah wie dieser der zweiten Wache auswich und setzte ihm nach. "Archendos liegt drinnen, kümmert euch um ihn", rief er über die Schulter zurück und folgte der Gestalt, die mit wehendem Mantel die Straße hinunter floh. Sie rannte erst in Richtung Hafen, runter zu den Kais, wandte sich dann aber nach links und lief durch eine Seitengasse in Richtung östliches Hafenviertel.
    Der Abstand wurde größer, Jemeiros' Lungen pfiffen und seine Stiefel polterten über das Pflaster. Er wurde langsam alt und hatte etwas Fett angesetzt, aber ein ehemaliger Elitesoldat der reniischen Armee gibt nicht auf, niemals.
    Jemand kam von hinten an ihn heran, überholte ihn und schloss zu dem Verfolgten auf. Eine der beiden Türwachen. Wenige Augenblicke später waren die beiden hinter einer Abzweigung verschwunden, Jemeiros lief verbissen weiter.
    Der Weg führte an eine Abzweigung, die Wache stand ratlos da.
    "Du nach rechts!", rief Jemeiros ohne anzuhalten.
    "Jawohl, Hauptmann!"
    Jemeiros wandte sich nach links. Papier wehte über den Boden, die Unterlagen aus Archendos' Haus, offensichtlich verloren.
    Jeremeios zog die Balmuha im Laufen. Am Ende der Gasse sah er den Zipfel eines Mantels um die Ecke wischen. Als er um die Ecke bog, sah er, wie die Gestalt über einen schlafenden Bettler stolperte, beinahe fiel. Er feuerte die Balmuha ab, aber der Unbekannte wich erneut in eine Seitengasse aus, der Pfeil prallte wirkungslos von einer Mauer ab.
    Jeremeios setzte über den verblüfften Bettler hinweg, bog in die Seitengasse ein... und stoppte aus vollem Lauf.
    Eine Sackgasse, der Unbekannte war weg.
    Hauswände auf drei Seiten, die Gasse diente ihrem Geruch nach für die Bewohner dieser Häuser als Kloake. Es gab keine Möglichkeit sie auf einem anderem Weg als dem, auf dem er herein gekommen war, zu verlassen. Trotzdem war der Unbekannte nicht da, spurlos verschwunden. Jeremeios Atem beruhigte sich langsam, er sah sich noch einmal um, fand aber keine Erklärung für das plötzliche Verschwinden.
    Er zuckte mit den Achseln und verließ die Gasse.

    13
    Archendos drückte die Tür des Baderaumes hinter sich zu und schob den Riegel vor. Er seufzte und bemühte sich nicht mehr an den unerwünschten Besuch zu denken. Er öffnete den Schieber und das heiße Wasser strömte in das Hydrekem. Das Wasser stammte aus einem ungefähr 50 Fass fassenden Bronzetank auf dem Hof, floss durch den bereits von Henroi angeheiztem Ofen im alten Hühnerstall und von da aus durch Kupferrohre in den tiefer gelegenen Baderaum. Der Patriarch hatte ihm vor zwei Jahren für ein Exemplar dieses Systems ein hübsches Sümmchen gezahlt, dass seine Arbeit auf Monate hinaus finanziert hatte.
    Archendos entkleidete sich, warf seine Kryita achtlos auf den Boden, prüfte die Temperatur mit den Zehen und ließ sich seufzend in das Becken sinken. Das Wasser war eine Spur zu heiß. Er griff nach dem Seil der Wasserschütte und zog. Eiskaltes Salzwasser rann aus der Schütte über sein Gesicht und Oberkörper. Ein nordisches Salzbad, einfach herrlich, die Südländer würden das nie verstehen.
    Er schloss die Augen, zog stärker und öffnete den Schieber ganz. Etwas schlug schmerzhaft auf seinen Oberschenkel auf und versank im Wasser. Archendos gab einen kurzen Schreckensschrei von sich.
    "Alles in Ordnung mit euch?", klang es sofort durch die Tür.
    "Jaja, es ist nichts."
    Das schien zu genügen, der Bewacher verzog sich wieder.
    Archendos fischte im Wasser und bekam etwas Hartes, Kantiges zu fassen. Es war ein Würfel, ein ungefähr spanngroßer Holzwürfel. Er wog ein gutes Pfund. Wie bei Daitra kam so etwas in sein Badebecken? Das Salzwasserfass war erst an diesem Nachmittag von Henroi gefüllt worden und eigentlich sollte der auch alles Gröbere herausgefischt haben.
    Archendos richtete sich auf und blickte in die Öffnung der Schütte. Er konnte nichts erkennen. Im Wasserfass nachzusehen sollte sich als relativ schwierig erweisen; es hing auf dem Hinterhof in seinem Gestell und Archendos' 'lieber Besuch' hinderte ihn seit Tagen energisch daran, das Haus zu verlassen. Er wog den Würfel abschätzend in der Hand; er war schwer für seine Größe, ein gutes Pfund bestimmt. Archendos legte den Würfel auf den Beckenrand, verlies das Becken und begann sich abzutrocknen, ohne den Blick von ihm zu wenden.
    Jemeiros schlug Areishas zweite Linie mit einem Que-Manöver und verleibte sich grinsend ihren Spielstein ein.
    Areisha fluchte leise und blickte konzentriert auf die verfahrenen Situation.
    Der Alte kam mit einem Tuch um die Hüften aus dem Baderaum und Jermeiros nickte ihm zu, Areisha sah nicht einmal vom Spielbrett auf.
    "Können wir noch irgendetwas für euch tun?"
    Der Alte drehte sich um und sagte überraschend freundlich: "Nein, vielen Dank, ich mache mich wieder an die Arbeit." Er verschwand in seinem Arbeitsbereich und zog den Vorhang zu, der ihn von dem Wohnbereich abtrennte.
    Jemeiros zuckte mit den Achseln und beobachtete Areisha beim Angestrengt-Denken. Seit fünf Tagen saßen er hier herum, spielte Spiele und bewachte jemanden, der nicht bewacht werden wollte.
    Warum genau, darüber hatte ihn niemand informiert, die Sondersitzung des Rates war geheim gewesen und auch sein Auftrag hatte keine Begründung erhalten. Aber die Gerüchte waren eindeutig, es ging um politische Ränkespielchen ersten Ranges. Er bewachte den alten Archendos dij Djilvusi, Wissenschaftler, Schriftgelehrter und genialer Erfinder. Den begnadeten Konstrukteur, der mit seinen Bronzeguss-Sechspfündern der reniischen Armee im Oiska-Krieg kurze Nachladezeiten und damit den Sieg gebracht hatte.
    Und er langweilte sich zu Tode dabei.
    Archendos saß an der Werkbank und drehte das seltsame Objekt in den Händen. Das Holz trocknete langsam, nahm dabei aber auch keinen wesentlich helleren Farbton an. Die Oberfläche des Würfels war mit feinen, verschlungenen Schnitzereien verziert, einem Muster ohne offensichtlichem Sinn. Der Würfel wog genau ein Pfund und anderthalb Zim und hatte eine exakte Seitenlänge von einem Spann und einem Finger.
    Auch die Wasserschütte hatte er mit Hilfe einer Lampe untersucht. Seine beiden Bewacher mussten ihn für verrückt gehalten haben, hatten sich aber nicht dazu hinreißen lassen, ihn zu fragen. Der Würfel musste im Salzwasserfass gewesen sein, und war wohl von Henroi, seinem Diener mit dem Wasser aus dem Ostmeer geschöpft worden. Das erklärte aber nur wie er in sein Hydrekem kam, und nicht, was er eigentlich darstellen sollte.

    12
    Da hielt auch Ejhastnub nichts mehr im Wagen. "Sei gegrüßet zur Abendstunde, Sihijad. Hast Du den Tag angenehm verbracht?" Der Bratenduft stieg in seine Nase, und sein Magen wies lautstark auf die heutige Vernachlässigung hin.
    "Ich habe mir einen Ork gepflückt. Willst Du auch was?" Mit unschuldigem Lächeln hielt sie ihm eine Keule hin.
    "Ein Ork? Aber ein Ork kommt niemals alleine. Wo ist sein Rudel?"
    "Der war erst alleine. Dann hat er aber geschrieen. Wie er mich gesehen hat. Aber nur kurz. Hat aber gereicht. Die Anderen sind dann gekommen. Die waren ziemlich sauer, und haben gefragt, was das denn soll. Ich habe gesagt, ich habe Hunger. Da ist dann so ein ziemlich großer von denen daher gekommen. Der hat gesagt, dass das so nicht geht. Dem hab ich dann gezeigt, dass er nicht mehr geht. Der ist aber schon zu zäh. Ich hab ihn für Deine Torgen da drüben hin gelegt. Den anderen Orks hab ich dann gesagt, sie sollen gehen."
    "Und dann sind sie einfach so gegangen?" Ejhastnub hatte mit seiner Begleiterin schon so einiges erlebt. Doch schaffte sie es immer wieder, ihm den Atem zu verschlagen.
    "Nein. Sie hatten einen jungen Bock dabei. Den haben sie mir noch gegeben. Für Dich" Sie holte aus dem Schatten hinterm Fels eine Holzplatte mit fertig angerichtetem Wildprett an einer Pilz-Kräuter Sauce hervor. Seinen fassungslosen Gesichtsausdruck deutete sie vollkommen falsch: "Ich wollte Dich überraschen. War das dumm?"
    "Nein, das war .." Dann musste Ejhastnub lachen. "Ich dachte schon allen Ernstes, du wolltest mir einen Ork anbieten. Wo hast Du das ganze Kochgeschirr her?"
    "Das hatten die Orks dabei."
    "Nun gut. Ich muss noch meine Tiere versorgen, dann machen wir uns einen schönen Abend."
    Ein fernes Donnergrollen kündigte keine trockene Nacht an. So zogen sich Ejhastnub und Sihijad bald in den Wagen zurück, gerade bevor eine Regenwand ihre Fluten herniederprasseln ließ. Während Sihijad sich sofort auf ihrem Kissen zusammenrollte, holte Ejhastnub nochmals den Würfel hervor. Nur im Schein seiner Lampe konnte er die feinen Schnitzmuster kaum noch erkennen. Doch schien es ihm, als ob dieser Würfel in seiner Hand vibrierte. Nun das mochte eine Einbildung sein, und konnte morgen bei Tageslicht besser geklärt werden. So legte auch er sich auf sein Lager und schlief bald ein.
    Noch immer klopfte der Regen auf das Blechdach des Wagens, als Ejhastnub am nächsten Tag erwachte. Ein Schrei von draußen verriet ihm, dass Sihi mit ihrem Lieblingsfrühsport beschäftigt war. Zeit, den neuen Tag zu begrüßen. Mit weißem Schaum bedeckt schoss ein frischer Sturzbach an der Stelle vorbei, wo gestern noch das Lagerfeuer gewesen war. Mitten dort drin stand die Fentin und versuchte sich an einem Ringkampf mit ihrem Lieblingstorgen. Dieser ließ ein wohliges Brummen hören. Das massige Tier dachte wohl es bekäme einige Streicheleinheiten verabreicht.
    "Sihi, hilf mir bitte, die Torgen anzuspannen."
    "Sofort, Ejh - aaaaa" Weiter kam sie nicht, da ihr Gegner kurz mit dem Kopf wackelte und sie in hohem Bogen in das Rinnsal flog.
    Die Torgen waren bald darauf wieder bereit weiterzuziehen. "Wo wollen wir heute hin?"
    "Ich will nicht noch weiter ins Gebirge. Bei so einem Wolkenbruch möchte ich auf keinen Fall in eine enge Schlucht geraten." Beide befanden sich im Wagen. Die Torgen fanden alleine einen sicheren Weg, und nur selten musste Ejhastnub die Richtung korrigieren. Bei dem wieder zunehmenden Regenguss konnte er ohnehin kaum etwas sehen, und verließ sich lieber auf die bewährten Instinkte der Tiere.
    "Was ist das?" Sihijad zeigte auf den Würfel, den Ejhastnub vom Vortag noch nicht wieder weggeräumt hatte.
    "Eine künstlerische Schatulle. Ich habe sie gestern in der Bergstadt gekauft."
    "Sieht nach Regen aus."
    "Wie meinst Du das?" Ejhastnub nahm den Kasten. In die Verzierungen ließ sich alles Mögliche hineininterpretieren. Doch Regen?
    "Ich weiß nicht genau. Ich sehe ihn an und denke an schlechtes Wetter. So wie da draußen. Nur schlimmer." Nun fiel Ejhastnub auf, dass der Kasten tatsächlich zitterte. Waren es nur Sihis Worte, die diesen Eindruck hervorriefen, oder passte sich der Würfel dem Rhythmus der Regentropfen an?
    "Der Würfel will den Regen haben."
    "Sihi, was redest Du da? Wie soll eine Schatulle Regen haben wollen."
    "Du hast den Kopf so voll von schlauen Sachen. Darum siehst Du die einfachen Dinge nicht mehr. Der Würfel will den Regen."
    Ejhastnub öffnete eine Fensterklappe am Wagenrand. Kaum dass er den nächsten Fels wahrnahm, obwohl es gerade knapp über Mittag war. "Wir werden bald aus den Bergen draußen sein. Dann werden wir den Würfel so bald als möglich verkaufen, wenn er Dir Angst macht." "Er macht mir keine Angst. Er macht mich nass. Wenn ich raus gehe."
    Weder an diesem, noch am nächsten Tag durchbrach auch nur ein einziger Sonnenstrahl die Wolkenwand. Im Gegenteil, Ejhastnub bekam den Eindruck, dass der Regen sich immer weiter verstärkte. Nach zwei Tagen brachten sie den letzten Berg hinter sich. Doch nicht die Spur einer Ansiedlung war hier zu finden. Stattdessen zogen die Torgen sie durch ein hügeliges Waldland. An ein Aussteigen war hier nicht zu denken. Dornige Ranken griffen nach allem, was sich bewegte. Mehrmals mussten gar die Torgen eine solche zerbeißen, die sie mit ihren gewaltigen Kräften nicht abreißen konnten. Ein weiterer Tag ließ die Vorräte knapp werden. Wenigstens schienen sie in eine friedlichere Gegend zu kommen. Es gab wieder Tiere. Nur selten einmal sprang eines von ihnen einen Torgen an und erfuhr auf diese Weise, warum die Torgen dicke Schuppen hatten, oder auch wozu die Dornen auf diesen gut waren. Das Wetter hingegen verschlimmerte sich weiter. Donnergrollen trotz tagelangem Regens erhob sich über der Landschaft. Fast schon war es tagsüber so dunkel wie in der Nacht. Die Nächte ließen nicht mehr die geringste Spur eines Mondenscheines sehen.
    "Ejha, tu den Würfel weg." Kam Sihijad wieder auf dieses Thema zurück.
    "Du meinst immer noch, er hängt mit dem Wetter zusammen?"
    "Ich weiß es." Ejhastnub war inzwischen auch zu dieser Überzeugung gekommen. Zu ungewöhnlich war dieses Wetter um diese Jahreszeit. Gerade wollte er ihn aus einer Truhe holen, als ein Donnerschlag ihn allein durch die Wucht seines Knalls zu Boden warf. Der ganze Wagen erstrahle in einem gleißenden Licht. Funken sprühten in den Ecken, wo Verzierungen aus Ebereschenholz zur Magieabwehr in das Eisen eingearbeitet waren.
    "Was war das?" Noch nie war die Stimme der Fentin so dünn gewesen. Wo ihre Haut durch das Fell sichtbar war hatte diese die Farbe von Kreide.
    "Ein Blitz. Uns hat ein ziemlich heftiger Blitz getroffen. Und das trotz des ganzen Regens. Aber Du brauchst keine Angst zu haben. Hier drin sind wir sicher." Ejhastnub hielt inne, als er plötzlich bemerkte, dass sich der Wagen nicht mehr bewegte. Als er durch die Luke nach vorne hinaus blickte fühlte er, wie auch ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht wich als er das unmögliche erblickte. Was die Fentin auch nicht im Ansatz vermocht hatte. Was für Heerscharen räuberischer Kreaturen aller Art unmöglich gewesen war, der Himmelsspeer hatte es im Bruchteil eines Augenschlags erreicht: Einer der Torgen, jenes Tier, das das Gewicht des Eisenwagens nicht einmal zu spüren schien, das unbeirrt durch Echsensümpfe getrabt war, das den Sirenenstrauch zu seiner Leibspeise zählte, jenes von keiner Gefahr beeindruckbare Tier lag regungslos am Boden.
    Sihijad, die neben ihn getreten war stieß einen spitzen Schrei aus, und noch bevor Ejhastnub überhaupt zu einer Reaktion in der Lage war war sie aus dem Wagen raus, umarmte den Torgen und versuchte ihn wieder auf die Beine zu stellen.
    Ejhastnub kam ihr hinterher. Noch immer zitterten seine Knie, dass er fürchten musste im nächsten Moment umzufallen. Doch brachte er hervor: "Sihi, das hat keinen Sinn. Ist er tot?" Noch immer fiel es ihm schwer, solches zu akzeptieren. Er kniete sich neben den Torgen und löste sein Joch. Dabei befühlte er die Kehle des Tieres, seine einzige weiche Stelle. Doch bevor er etwas fühlen konnte war
    Sihijad wieder mit einem Wutschrei aufgesprungen und im Wagen verschwunden. Mit klammer Hand setzte Ejhastnub seine Untersuchung fort. Beinahe hätte auch er aufgeschrieen, allerdings vor Freude, als er noch einen schwachen Pulsschlag wahrnahm.
    Während er sich daran machte, den Torgen vom Rest seines Geschirrs zu befreien sprang Sihijad wieder aus dem Wagen, in der Hand den Würfel, den sie für die Ursache allen Übels hielt.
    Ein weiterer Blitz fuhr vom Himmel hernieder und spaltete eine nahe gelegene Eiche. Trotz des kräftigen Regenschauers schlugen sofort hohe Flammen aus dem Stamm. Im unsicherem Licht des Brandes erschien es nun Ejhastnub, als bräche der Würfel in ein diabolisches Gelächter aus. Obgleich er sich sicher war, dass dies nur eine Täuschung durch das Spiel des Flackerlichtes auf der Musterung des Kastens sein konnte, ließ dieser Anblick ihn frösteln. Einen letzten unsicheren Einwand hatte er seiner Begleiterin gegenüber vorzubringen: "Schau Sihi, der Würfel ist ein Handelsgut. Wenn ich meine Waren einfach so wegwerfe, wovon sollen wir dann leben?"
    Doch mit einem Blick auf den reglosen Torgen schnaubte sie: "Willst Du hier handeln?"
    Gegen diese Logik war nichts mehr einzuwenden. Außerdem hätte er die Fentin ohnehin nicht mehr aufhalten können, als sie an ihm vorbei sprang, einem im Feuerschein sichtbar gewordenen Felsabhang entgegen. Ejhastnub konnte nur noch zusehen, wie sie den Würfel dort hinunter schleuderte.
    Doch da war ihr Zorn auch schon wieder verraucht. Fast schien sie etwas zu schrumpfen. "Ejha, kommst Du mal?"
    Leicht irritiert begab sich nun auch Ejhastnub zu dem Graben. Sein Blick folgte dem ihren. Von dort unten leuchtete aus den Fenstern eines Anwesens ein Licht herauf.
    "Bekommt der jetzt Probleme wegen mir?" War die Besorgnis in ihrer Stimme gespielt, oder echt? Selbst nach all der Zeit mit ihr konnte er das nicht sagen.
    "Der Würfel wird wohl weit genug von diesem Hof entfernt liegen."
    "Da, in dem Fass auf dem Dach." Die Fentin musste noch bessere Augen haben, als Ejhastnub bisher geahnt hatte. Kaum konnte er dort unten Konturen ausmachen, und sie wollte den Flug des Würfels bis dort hin verfolgt haben. Dass sie so weit geworfen haben wollte, war weniger überraschend. "Und wenn schon. Jedenfalls ist es nicht mehr unser Problem." Mit diesen Worten drehte er sich wieder um. "Da, schau!"
    Unbemerkt von den beiden hatte das Gewitter nachgelassen, ja, sogar der Regen schien nicht mehr ganz so schwer auf Ejhastnubs Hut zu prasseln. Und war das nicht gar ein dünner silberner Streifen, dort hinten am Horizont?
    Ohne Hast gingen die beiden zurück zum Wagen. Sihijad schritt direkt auf den gefallenen Torgen zu. Als ob ihm ihre Umarmung neue Kraft verlieh hob dieser zunächst den Kopf, anfangs noch taumelnd erhob er sich dann und sie mit sich empor.