Die Zentauryn
Die Initiation
Der Schweiß läuft ihm die Flanken herab, sein Fell glänzt in der Sonne und der Nordwind, der ihn voranzutreiben scheint, zeichnet Wellen auf dem Grasmeer.
Matt schimmern Sterne durch den blauen Himmel, und wenn er hoch blicken würde, würde er einen neuen leuchtenden Punkt am Himmel sehen; einen Stern, den kein Sterndeuter seines Volkes würde einordnen können.
Doch der junge Pferdemensch, der Marain Zentauryn, sieht all dies nicht.
Seine gesammten Sinne sind auf sein Ziel konzentriert.
Es ist seine Initiation - seine Prüfung.
Die erste Jagd.
Seine Nase ist von dem Geruch erfüllt, dem er so lange gefolgt war, und jetzt sieht er es vor sich.
Endspurt.
Der alte Mahras, dieses riesige, bullige Wesen mit dem zotteligen Fell, dem tödliche Stoßzähne aus dem Maul wachsen, wittert ihn und schnaubt.
Es kennt sein Schicksal: es hatte sich schon vor Wochen von seiner Herde getrennt um den Tod zu suchen, doch nun, als er in Gestalt dieses Zentauryn aus dem Grasland auf ihn zukommt, wird es kämpfen.
Ein letztes Mal.
Die Hufe des Marain graben sich tief in die vom Regenguss noch feuchte Erde, seine Finger schliessen sich fester um den Speer mit der Feuersteinspitze, den er eigens für dieses Ereignis hergestellt hatte.
Sein Herz rast, er hebt den Speer über seinen Kopf, und dann, als er nur noch wenige Meter entfernt ist, wirft er.
Surrend fliegt der Speer durch die Luft und dringt tief in die Flanken des Mahras ein, dieses brüllt zornig und schleudert seinen gewaltigen Schädel herum, um den jungen Marain mit seinen Stoßzähnen zu töten.
Doch der Marain weicht aus, er weiß plötzlich genau, was zu tun ist, es ist als würden ihn die Geister seiner Ahnen leiten, dies ist das Vermächtnis seiner Väter, ihr in seinem Blut verankertes Gedächtnis.
Er läuft weiter, läuft einen großen Kreis und zieht einen weiteren Speer aus dem Köcher auf seinem Rücken um den tödlichen Tanz fortzusetzen.
Heute Abend wird es einen neuen Jäger in der Herde geben.
Beobachtungsbericht 376-283-001
von Professor Michell Tardestino
Zaphira 1305
Ihnen liegt ein Forschungsbericht über die Spezies Zaphira-78A, genannt "Marain Zentauryn".
Im Auftrag der Company haben wir, d.h. der Kapitän, ein junger Officer und ich selbst, eine Außenmission zur Erforschung der Fauna in den nördlichen Steppen dieses Planeten durchgeführt.
Dem Protokoll für solche Missionen folgend, haben wir diese neueentdeckte Spezies, die ein Mischwesen zwischen Pferd und Mensch zu sein scheint, zunächst für drei Tage von unserem Gleiter aus mit aktivierter Tarnvorrichtung beobachtet (audiovisuell), um eine bessere Position für die folgende Kontaktaufnahme zu gewinnen.
Dabei sind wir auf viele Eigenheiten dieser Wesen gestoßen, die ich hier kurz zusammenfasse:
1.: sie besitzen sechs Gliedmaßen, vier Beine und zwei Hände,
2.: sie leben in isolierten, nomadisch umherziehenden, Stämmen von bis zu 100 Individuen,
3.: sie bekriegen sich häufig untereinander in ritualisierten, scheinbar unblutigen Kämpfen,
4.: sie ernähren sich hauptsächlich von der Jagd, nehmen aber auch häufig pflanzliche Nahrung zu sich.
Hier das Tagebuch meiner Beobachtungen:
1. Tag:
Diese neue Spezies verblüfft uns alle sehr; nicht nur ihre Morphologie ist fremdartig, sondern auch ihre Kultur, deren Träger und Vermittler anscheinend Frauen sind, während die, überaus stark tätowierten, Männer sich der Nahrungssuche und dem Kämpfen widmen.
Letzteres scheint ein wichtiger Bestandteil ihres sozialen Lebens zu sein; wir beobachteten heute die Männer dabei, wie sie Waffen herstellten, hauptsächlich Pfeil und Bogen sowie Wurfspeere, die allerdings seltsamerweise mit weichen Pflanzenteilen gepolstert werden.
Die Frauen schienen ein bestimmtes Ritual vorzubereiten, dessen Sinn uns noch leider noch nicht gegenwärtig ist.
Am "Abend" bauten Mitglieder des Stammes ein großes Zelt auf, das wohl als Versammlungsraum dient und in dessen Innerem gepresste Grasballen für ein Lagerfeuer aufgeschichtet wurden.
2. Tag:
Heute sind drei männliche Jugendliche, nachdem sie von Frauen rituell gewaschen wurden, allein und in verschiedene Richtungen aufgebrochen, dies legt einen Initiationsritus nahe. Die Erwachsenen haben das Feuer im Großen Zelt angezündet.
Des Weiteren haben wir heute beobachten können, wie eine Gruppe erwachsener Männer eine Herde der riesigen Huftiere, die sie laut Audioanalyse Mahras nennen, angegriffen hat und eines der gigantischen Tiere erlegte. Nachdem sie es in mehrere Stücke zerlegt und zurück ins Lager gebracht hatten, werden die Stücke über dem Feuer gebraten. Ich vermute, dass das Tier als Festmahl verspeist werden soll, wenn die Jugendlichen zurückkehren.
3. Tag:
Wir konnten heute ein Rudel säbelzahnbewehrter, sechsbeiniger Großkatzen sehen, die Mahras jagten. Ihre Jagdtechnik ist folgendermaßen: Die Weibchen des Rudels, deren Zähne keine besondere Größe erreichen, überwältigen das Beutetier, drücken es zu Boden und fixieren seine Kehle, damit das ranghöchste Männchen zum Todesbiss ansetzen kann, bei dem es mit seinen gigantischen Reißzähnen die Halsschlagader durchtrennt.
Heute sind die drei Jungen wieder aufgetaucht. Sie haben jeweils die Stoßzähne eines Mahras mitgebracht, zusammen mit einigen Teilen des Fleisches. Sie sind vom gesamten Stamm feierlich begrüßt worden. Wie zu erwarten war wurde das Fleisch, scheinbar einer bestimmten Tradition folgend, aufgeteilt. Das Fest, dauerte einen ganzen Tag, aber ich hatte das Gefühl, dass die Jugendlichen noch nicht voll initiiert waren: als sich der Stamm endlich zur Ruhe begab, mussten sie in einem gesonderten Zelt schlafen.
Ich hoffe, nach der Kontaktaufnahme mehr darüber herauszufinden.
Persönliches Logbuch des Kapitäns Jonathan Tamiel:
Eintrag 8:
Am fünften Tag unserer Anwesenheit auf Zaphira nahmen wir Kontakt mit den Marain Zentauryn auf. Um diese anscheinend primitiven aber menschenähnlichen Wesen nicht zu erschrecken, näherten wir uns ihnen zu Fuss und scheinbar unbewaffnet.
Dass jeder, der uns angreifen würde, innerhalb von wenigen Sekunden tot wäre, sah man uns zumindest nicht an.
Unser Computer konnte ihre Sprache anhand der Aufnahmen, die wir während unserer dreitägigen Beobachtung gemacht haben, entschlüsseln. Und so konnten wir sie ihn ihrer Sprache grüßen, als wir uns ihrem gerade erwachenden Lager näherten.
Es gibt zwar in dieser Region keine Nächte, aber so etwas wie Dämmerungsphasen, die als Ruhezeit benutzt werden. Das kommt dadurch zu Stande, dass die Rotationsache des Planeten einige Grad von der Horizontalen abweicht.
Die Sonne sinkt dabei nur tiefer richtung Horizont, geht aber nicht unter; dieser Zyklus wiederholt sich etwa alle 28 Stunden. Interessanterweise sind die Sterne aber den ganzen Tag über sichtbar.
Doch ich schweife ab. Die Marain waren uns gegenüber nicht agressiv, sie wirkten eher mittelmäßig interessiert, vermutlich hielten sie uns ihrerseits für eine Unterart ihrer Art, die viele verschiedene Formen anzunehmen scheint.
Die Wachen, die uns aufgegriffen hatten, führten uns drei durch das Lager, rings um uns her waren die erwachenden Marain, auf der Seite liegend oder schon stehend oder umhertrabend, die uns neugierig betrachteten... es war schon ein seltsames Gefühl, diese Wesen besitzen eine Art archaische Schönheit.
Sie brachten uns in das einzige Zelt, vor einen Marainmann, dessen nicht von schwarzem Fell bedeckter Körper mehr noch als die der anderen Männer mit Tätowierungen übersät war.
Er saß auf dem Gras, mit einigen anderen, anscheinend hochrangigen, Zentauryn, interessanterweise auch Frauen, um ein Feuer herum und härtete einen Speer über diesem, wärend er sich leise mit den Anderen unterhielt.
Das Gespräch mit ihm war kurz, er hielt uns offensichtlich nicht für wichtig, er redete von einer Fehde, die er gegen den Stamm der Donnerer zu führen habe, welche nur noch einen Tag von hier entfernt lagerten, und dass er deshalb keine Zeit habe, sich mit fremden Wanderern zu beschäftigen.
Ich beließ es bei diesem Gespräch, das für sich schon recht aufschlussreich war, aber da es uns anscheinend gestattet war uns frei in der Herde zu bewegen hoffte ich auf eine Möglichkeit, an weitere Informationen zu kommen.
Offizier Ina Lethian erhielt sie sehr bald, als eine neugierige Marain-Frau auf sie zutrabte, die ihren glänzenden Schutzanzug musterte und sie auszufragen begann.
Ina wiederum nutzte diese Gelegenheit geschickt, um die Marain ihrerseits auszufragen.
Es stellte sich heraus, dass das Weibchen von einem anderen Stamm der Zentauryn kam und bei einer der Fehden, die offensichtlich ständig tobten, entführt wurde.
Das geschieht wohl recht häufig und die Frau ist darüber anscheinend nicht besonders unglücklich. Sie meinte, es wäre Schicksal, dass so etwas geschieht, und ein jeder Zentauryn müsse sich nunmal entsprechend des Baos verhalten, einer Art Ehrenkodex, wie es scheint.
Die Ehre scheint den Zentauryn überhaupt unglaublich wichtig zu sein; und mit ihr die Fehde, die wohl auch dazu dient, den Genpool der Herde durch den Frauenraub zu erweitern.
Sie erzählte auch von großen Ruinen im Norden, (tagwärts wie sie sich ausdrückte, also dort, wo die Dämmerungsphasen kürzer werden) in denen ihr neuer Stamm, die Mondwandler, große rituelle Feste abhielten und dem verlorenen Gott huldigten, was auch immer sie damit meinte.
Den Vorsitz bei diesen Ritualen haben die Neyshanin inne, scheinbar so etwas wie Druiden, vor denen alle großen Respekt haben. Ihr Ziel sei es, wie sie sagte, ebenfalls eine solche zu werden, was aber sehr schwer wäre.
Am Abend:
-"Sir, wir haben gerade etwas beobachtet, wir wurden Zeugen eines Überfalls von geflügelten Humanoiden auf eine Herde der Zentauryn etwa 120 Meilen von Ihrem Standort entfernt."
-"Was ist genau passiert? Wie viele Angreifer waren es?"
-"Es waren mehr als 20, sie stürzten sich im Sturzflug auf die Herde und schleuderten einige Speere. Es war nur ein sehr kurzer Angriff, bei dem allerdings einige Zentauryn verletzt wurden. Ehe sie sich wehren konnten, hatten die Angreifer sich schon nach Südwesten in Richtung Gebirge zurückgezogen."
-"Könnten es Marain Buteo sein?"
-"Vermutlich ja."
-"Dann unterbrechen wir die Untersuchung der Zentauryn fürs Erste und bringen mehr über diese neue Spezies in Erfahrung. Halten Sie die Position, wir kommen zu Ihnen."