Ich hatte zu Beginn dieses Tutorials im Rahmen meiner Vorüberlegungen zur Ästhetik und Typologie angedeutet, dass das Tsemehkiooni die Richtung einer Bewegung am Verb markieren soll. Auch das ist eine relativ typische Eigenschaft vieler nordamerikanischer Sprachen. Es klingt aber exotischer, als es ist, denn in einer einfachen Form gibt es Richtungsangaben am Verb auch im Deutschen, und zwar bei Verben wie "hineingehen", "herauskommen" oder auch "weglaufen". Sie alle enthalten neben der Wortwurzel, die die Art der Bewegung beschreibt, ein Präfix, das die Richtung angibt: "hinein-", "heraus-", "weg-". (Eine Besonderheit des Deutschen, auf die ich hier nicht weiter eingehen will, ist übrigens die, dass man diese Präfixe je nach Satzbau auch abtrennen kann: "Ich gehe in das Haus hinein.")
Wenn man sich diese Präfixe im Deutschen genau anschaut, dann stellt man fest, dass es davon gar nicht so wenige gibt, und dass ihre Bedeutungen zum Teil schon recht speziell sind: "Hinein" zum Beispiel gibt an, dass die Bewegung vom Standpunkt des Betrachters weg bis ins Innere eines Ziels reicht und dass dieses Ziel die Form eines Containers oder einer abgegrenzten Fläche haben muss. "Hervor" beschreibt eine Bewegung auf den Betrachter zu, die an einem Punkt beginnt, der hinter etwas Anderem versteckt liegt und daher nicht einsehbar ist.
Mit ein bisschen gutem Willen lassen sich auch Präfixe wie "bei-" in "beimischen" oder "an-" in "anbringen" als Richtungsangabe interpretieren. Hier ist es allerdings schon deutlich schwieriger, die Bedeutung genau zu definieren. Vertauschen wir einmal die Elemente: Bedeutet "bei-" in "beibringen" wirklich noch "in die Nachbarschaft von"? Bedeutet "an-" in "anmischen" wirklich noch "in Berührung mit"? Aus diesen Komplikationen lässt sich ablesen, dass das Deutsche die Richtungsmarkierungen nicht systematisch verwendet: Solche unvorhersehbaren Bedeutungsänderungen von Wort zu Wort sind typisch für derivationale Bildungen (also: "Ableitungen"), bei denen die Bedeutung des Prä- oder Suffixes sozusagen an die Bedeutung des Grundworts "angeklebt" wird, so dass die zusammengesetzte Form als inhaltliche Einheit wahrgenommen wird und dementsprechend auch unabhängig von anderen Bildungen mit dem gleichen Grundwort ihre Bedeutung verändern kann.
Was ich mir für das Tsemehkiooni vorstelle, soll da ein bisschen regelmäßiger sein, so dass man im Normalfall tatsächlich davon ausgehen kann, dass ein Bewegungsmarker eine Bewegung in die entsprechende Richtung beschreibt. Wie sieht das nun konkret aus? Schauen wir uns als einfachste Beispiele die Sätze 10 ("The sun is rising now") und 19 ("The rain came down") an. Beide Sätze werden gebildet, indem man die einfachen Aussagen "Die Sonne scheint gerade" bzw. "Es regnete" durch Bewegungspräfixe ergänzt, die sich in etwa mit den deutschen Wörtern "hinauf" bzw. "herab" übersetzen lassen (allerdings zusätzlich mit der Assoziation von großer Höhe - wenn es nur um einen Höhenunterschied von wenigen Metern ginge, dann würde man im Tsemehkiooni eine andere Bewegungsangabe verwenden):
Šireehtaawat.
[?i??e?ç?ta?w?t]
š-ireeh-taawa-t
3SG.EVENT-hoch_hinauf-Sonnenschein-DUR
"Die Sonne geht gerade auf."
(wörtlich: "Die Sonne steigt zur Zeit in die Höhe.")
Šageššoogun.
[?a??????o??un]
š-ageeh-šoogu-on
3SG.EVENT-herab_aus_großer_Höhe-Regen-PAST
"Der Regen fiel herab (aus großer Höhe)."
(Im zweiten Beispielsatz verschmilzt das //h// mit dem folgenden /?/, und der vorherige Vokal, der nun vor einem Doppelkonsonanten steht, wird deshalb gekürzt.)
So weit so gut. Nehmen wir als nächstes ein paar Sätze in Angriff, bei denen es ein echtes Subjekt gibt, das man sich nicht aus der Verbbedeutung erschließen muss. Die Beispielsätze 15-17 eignen sich dafür gut als Ausgangspunkt, wobei ich sie der Einfachheit halber etwas abändere:
15. The dog jumped up.
16. The dog jumped onto the table.
17. The dog walked away.
Pšimnaa?on awanaawe.
[p??m?na???n ?awa?na?we]
p-?ši-Ø-?mnaa?-on awanaawe
3SG.EVENT-aufwärts_in_stehende_Position-Ø-springend-PAST Hund
"Der Hund sprang auf."
Paruuwamnaa?on awanaawe.
[pa??u?w?m?na???n ?awa?na?we]
p-aruuw-Ø-?mnaa?-on awanaawe
3SG.EVENT-aufwärts_auf_horizontale_Ebene-Ø-springend-PAST Hund
"Der Hund sprang auf den Tisch."
(wörtlich eigentlich nur: auf eine erhöhte ebene Fläche)
Psaga?meenon awanaawe.
[?psa????me?n?n ?awa?na?we]
p-saga?-Ø-meeno-on awanaawe
3SG.EVENT-weit_weg-Ø-gehend-PAST Hund
"Der Hund ging weg."
Hierzu sind eine ganze Menge Erläuterungen fällig. Das fängt schon mit dem Hund an; das Wort awanaawe, das ich hier mit "Hund" übersetzt habe, ist nämlich eigentlich auch ein Verb. Mehr dazu ein anderes Mal; konzentrieren wir uns für heute auf die Bewegungsangaben. Wer die Aufschlüsselung der Verben genau gelesen hat, dem sollte aufgefallen sein, dass ich jeweils ein leeres Element ("-Ø-") gefolgt von einem Partizip ("springend", "gehend") angegeben habe. Was hat es damit auf sich? Hätte ich nicht besser einfach "springen" oder "gehen" schreiben sollen? Die Antwort lautet, dass die entsprechenden Morpheme, -?mnaa?- und -meeno-, keine Verbwurzeln sind, sondern Suffixe, die die Art und Weise einer Bewegung angeben, ähnlich wie die beiden Wiederholungsmarker aus dem letzten Post. Man kann sie nicht ohne ein Richtungspräfix wie -?ši- "aufwärts in stehende Position", -aruuw- "aufwärts auf eine horizontale Ebene" oder -saga?- "vom Sprecher weg" benutzen, da das Wort sonst nicht vollständig wäre. Statt dessen (oder zusätzlich) kann man sie auch an eine echte Verbwurzel anhängen; z.B. würde man einen Sprungwurf beim Basketball als auf_ein_unbewegtes_Ziel_zu-werfen-springend ausdrücken. Bei "einfachen" Bewegungen, die durch die Bedeutung des Suffixes bereits ausreichend beschrieben werden, kommt das Tsemehkiooni aber wie in den obigen Beispielsätzen ohne eine Verbwurzel aus, sofern ein Richtungspräfix vorhanden ist, mit dem das Suffix einen zweiteiligen Wortstamm bilden kann. Dieses Detail, das ich im Rahmen der Vorüberlegungen schon einmal kurz erwähnt hatte, habe ich mir übrigens beim Maidu und anderen Indianersprachen aus Nordkalifornien abgeschaut: Auch dort wird die Bedeutung von vielen Bewegungsverben aus jeweils zwei Elementen zusammengesetzt, die die Richtung und die Art der Bewegung angeben, die aber keine echte Verbwurzel sind und deshalb nicht alleine für sich stehen können - so lassen sich etwa im Maidu die Wortstämme widój "hochziehen" und wiwáj "teilen" aufschlüsseln in ein Art-und-Weise-Präfix (wi- "mit der Hand") und jeweils unterschiedliche Richtungssuffixe (-doj "herauf" und -waj "auseinander").
(Zu den Art-und-Weise-Markierungen im Tsemehkiooni werde ich bei Gelegenheit auch noch einiges mehr schreiben.)
Bleibt noch zu ergänzen, dass die obigen Beispiele noch kaum ausreichen, um einen Eindruck von der ganzen Bandbreite an verfügbaren Richtungspräfixen im Tsemehkiooni zu vermitteln. Es soll insgesamt einmal an die hundert verschiedene davon geben, so dass man durch die Wahl der entsprechenden Richtungsangabe schon sehr genau spezifizieren kann, wie eine Bewegung genau abläuft, wo Start- und/oder Zielpunkt liegen und wie diese beschaffen sind. (Deshalb musste ich im vorletzten Beispielsatz auch nicht explizit angeben, dass der Hund auf einen Tisch gesprungen ist; normalerweise sollte man nämlich aus dem Kontext erschließen können, welche horizontale Ebene gemeint ist.) Als Vorbild für diese sehr speziellen Bewegungsangaben dienen einige in British Columbia gesprochene Sprachen - so gibt es z.B. im Kwakwala (einer Wakash-Sprache) die Suffixe -?s "in ein Boot hinein", -(x)s?nd "vom Feuer weg", -(x)tâ "auf die Spitze eines langen Stabes" oder -weneka?a "eins über das andere", und das Nisgha (eine Tsimshian-Sprache) hat Präfixe wie ?p?- "bis zur Mitte", l??- "gleichermaßen an beiden Enden", tq’al?- "flussaufwärts" oder hasp?- "mit der runden Seite nach oben". (Interessant ist hier übrigens auch, dass viele Richtungsangaben in diesen beiden Sprachen die natürliche Umgebung am Westhang der Rocky Mountains wiederspiegeln, die von engen und steilen Flusstälern geprägt ist und wo das Kanu für die Ureinwohner lange das Hauptverkehrsmittel darstellte. Da ich aber noch nicht genau weiß, wo in meiner Welt das Tsemehkiooni gesprochen werden soll, kann ich so etwas im Moment leider noch nicht mit einbauen...)
Lassen wir also den Hund noch ein paar andere Dinge tun, die durch unterschiedliche Kombinationen von Richtungsangabe und Art-und-Weise-Angabe ausgedrückt werden können:
Pšihme?on awanaawe.
[?p??m?????n ?awa?na?we]
p-?ši-Ø-hme?-on awanaawe
3SG.EVENT-aufwärts_in_stehende_Position-Ø-sanfte_Wiederholung-PAST Hund
"Der Hund stand wieder auf."
Pšikkion awanaawe.
[?p??kki??n ?awa?na?we]
p-?ši-Ø-kki-on awanaawe
3SG.EVENT-aufwärts_in_stehende_Position-Ø-plötzliche_Wiederholung-PAST Hund
"Der Hund stand/sprang plötzlich wieder auf."
(Man beachte, wie die Plötzlichkeit der Wiederholung hier impliziert, dass die Bewegung schnell und abrupt wie ein Sprung abgelaufen ist.)
Ponda?naron awanaawe.
[p?n?d??na???n ?awa?na?we]
p-onda-Ø-?nara-on awanaawe
3SG.EVENT-vor_und_zurück-Ø-schnell_laufend-PAST Hund
"Der Hund rannte hin und her."
Paska?naron awanaawe.
[p?s?k??na???n ?awa?na?we]
p-ska-Ø-?nara-on awanaawe
3SG.EVENT-im_Kreis-Ø-schnell_laufend-PAST Hund
"Der Hund rannte im Kreis herum."
Puro?amnaa?on awanaawe.
[pu??o??m?na???n ?awa?na?we]
p-uro?-Ø-?mnaa?-on awanaawe
3SG.EVENT-aus_Behälter_heraus-Ø-springend-PAST Hund
"Der Hund sprang aus dem Korb hinaus."
Pwagamnaa?on awanaawe.
[?pwa??m?na???n ?awa?na?we]
p-wak-Ø-?mnaa?-on awanaawe
3SG.EVENT-ins_Wasser-Ø-springend-PAST Hund
"Der Hund sprang ins Wasser."
P?enemeenon awanaawe.
[?p?ene?me?n?n ??awa?na?we]
p-ten?-Ø-meeno-on awanaawe
3SG.EVENT-in_abgegrenzten_Raum-Ø-gehend-PAST Hund
"Der Hund ging ins Haus hinein."
Der letzte Satz könnte je nach Kontext auch z.B. als "Der Hund ging auf eine umzäunte Wiese" interpretiert werden. Falls nötig, könnte man diese Bedeutungen natürlich dadurch auseinanderhalten, dass das Haus bzw. die Wiese als eigenes Wort im Satz auftaucht. Im Tsemehkiooni gibt es aber noch eine andere Möglichkeit, nämlich die, ein Thema ins Verb mit einzubauen. Wie das geht, erkläre ich beim nächsten Mal (und ich nehme mir vor, dafür nicht wieder drei Wochen zu brauchen...)
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