[Gemeinschaftsprojekt] 2. Schreibquilt

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    2. Schreibquilt (2006)


    Der rote Faden dieses Schreibquilts sind GERÄUSCHE und auch der WIND musste in jeder Geschichte eine wichtige Rolle spielen.
    Da es sich beim Schreibquilt um eine unendliche Geschichte handelt - sie also keinen Anfang und kein Ende besitzt - kannst du selbst entscheiden, wo du einsteigen möchtest:


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    Die Autoren der einzelnen Geschichten:


    01 - Heinrich
    02 - Ehana
    03 - Yambwi
    04 - Gomeck
    05 - Tabor
    06 - Hans
    07 - Ly
    08 - Latsi
    09 - Parsana
    10 - Sturmfaenger
    11 - Jerron
    12 - Shay
    13 - Lucida
    14 - Veria
    15 - Eronar

  • 1
    Allmählich wurde es kühl, und eine schwere Stille zog über das Land. Selbst die Tiere wurden von der herbeigewehten Trauer erfasst und verkrochen sich in ihren Höhlen und Bauten. Die Vögel verstummten und sogar das Rascheln der Bäume klang gedämpft, ja beinahe so, als schlucke es selbst den Schall. Bär fröstelte und sah zum Himmel. Nicht eine einzige Wolke war zu sehen und die Sonne leuchtete hell am Firmament. Dennoch hatte er das Gefühl, als läge ein Schatten über dem Land. Ein Schatten der Traurigkeit, der schwer auf die Erde drückte. Er beschleunigte seinen Gang. Schneller und schneller, bis er fast schon rannte. Aber es nutzte nichts. Vor diesem Schatten gab es kein Entrinnen. Je weiter Bär durch den Wald lief, desto bedrohlicher erschienen ihm die Bäume. Riesen, die Trauer und Zorn ausstrahlten. Als wollten sie ihm sagen, dass er hier nicht willkommen war. Als wollten sie Bär dazu bringen umzukehren.
    Dann, mit einem Mal, war der Spuk vorbei. So plötzlich wie er begonnen hatte. Bärs Herz klopfte laut, als er langsam stehenblieb. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht. Vor ihm tat sich eine Senke auf, in der einige Häuser standen. Er war am Ziel. Das musste Merséit sein.
    ***
    Eine leichte Brise zog über die Hügel, als Abos auf dem Pfad entlang schlenderte. Die Wiesen waren saftig grün und dufteten in einer wunderbaren Vielfalt. Am Horizont waren die Wälder deutlich zu sehen und bildeten ein herrliches Panorama, während Merséit im Tal verborgen lag. Über all dem schien die Sonne so hell wie selten, und am Himmel waren weder Wolken noch Sterne zu sehen. Abos genoss diese Stille und blieb stehen. Er schloss die Augen, sog die Luft tief in sich hinein und lauschte dem leicht über das Gras streichenden Wind.
    Doch dann stutzte er. Wo waren die Glimbios, deren sanfter Gesang für gewöhnlich aus den Büschen erklang? Wo die Kletikiten mit ihrem Zirpen? Statt der natürlichen Symphonie, die sonst immer zu hören war, war nun alles still. Selbst der Wind schien auf unheimliche Weise lautlos in den Zweigen zu rascheln. Ein eisiger Schauer jagte ihm über den Rücken.
    ***
    Der Wind blies durch die leeren Gassen und verursachte ein Konzert, das Bär die Haare zu Berge stehen ließ. Der Boden war bedeckt mit kleinen rostigen Eisenkügelchen, die durch kleine Böen zu kreisartigen Mustern gerollt wurden. Sonst regte sich nichts. Das Leben schien die Stadt verlassen zu haben. War dies wirklich Merséit? Die wunderschöne und vor Leben sprühende Stadt, wie Rosenwein sie beschrieben hatte?
    Die Dächer bestanden hier aus zerbeulten, rostigen Metallplatten und die Wände sahen beschmiert und zerkratzt aus. Das einzige, was auf Leben hindeutete, waren ein paar zu einem Schlitz geöffnete, eiserne Fensterläden, aus denen argwöhnische Augen den Neuankömmling beobachteten. Was versetzte die Einwohner in so eine Angst, dass sie sich in ihren Häusern verschanzten? In dieser Gegend gab es weder Orke noch Biester, und von bösen Geistern schien der Ort auch nicht heimgesucht zu werden.
    Am zentralen Platz stand ein großes Gebäude, das einst sehr schön gewesen sein mochte, aber nunmehr nur noch eine Ruine darstellte. Die Fensterläden hingen schief in den Angeln, gebrochene Wände waren notdürftig geflickt, und durch das Dach hatte der Rost bereits faustgroße Löcher gefressen, die nur teilweise ausgebessert worden waren. Aber es war das einzige Haus, dessen Tür offen stand, und das wohl einen Tempel darstellte. Hier würde Bär sicher einen Schlafplatz für die kommende Nacht finden, um sich am nächsten Tag mit frischer Kraft auf die Suche nach Rosenwein machen zu können.
    ***
    So hatte sich Abos seinen Aufenthalt in Merséit nicht vorgestellt. Schon seit Tagen regnete es immer wieder Eisenkugeln und die Leute verschanzten sich in ihren Häusern. Für einen Geschichtenerzähler keine guten Voraussetzungen, um sich Brot und Unterkunft zu verdienen. Betrübt saß er deshalb in seiner kleinen Kammer und schaute auf das kleine Fenster, das durch den Wind rappelte. Die eisernen Läden waren verriegelt.
    Doch dann wurde die Tür aufgerissen und drei Bewohner traten ein.
    "Das ist der Kerl", sagte einer und die anderen griffen nach Abos' Armen. Dieser war viel zu verwirrt, um sich zu wehren. Sie führten ihn auf einen Marktplatz, in dessen Mitte ein Scheiterhaufen aufgebaut war. Ohne dass ihm jemand sagte, warum, wurde er an den Pfahl in der Mitte des Haufens gebunden, während viele Leute dabei zuschauten, ihn beschimpften und mit Unrat bewarfen.
    Dann trat ein Mann auf ein kleines Podest und las die Klageschrift vor. Abos wurde vorgeworfen, für den Magiesturm verantwortlich zu sein, der seit einigen Tagen die Stadt heimsuchte. "Mit dem Tage seiner Ankunft" hieß es, habe der Sturm begonnen und sich verschlimmert.
    Doch noch bevor die Rede zu Ende war, fing die Erde an zu beben und kleine eiserne Kugeln fielen vom Himmel. Mit lautem Geschrei löste sich die Menge auf und die Menschen, Zwerge und Elben liefen in ihre Häuser, um sich zu schützen.
    Der Redner stellte verdutzt fest, dass er sich nicht mehr vom Podest bewegen konnte. Er war an ihm festgewachsen. Langsam verholzten auch seine Beine und seine Hüfte bis hinauf zu den Schultern. Dann kamen seine Arme und schließlich auch der Kopf. Zurück blieb eine Holzfigur.
    ***
    Bär drehte sich noch einmal in dem sehr weichen Bett um und dachte daran, was ihn an diesem Tag wohl erwarten würde, als der Boden erzitterte. Was war das? Er sprang aus dem Bett und zog sich schnell an. Der Boden erzitterte wieder, diesmal etwas stärker. Er lief durch den Gang, durch den ein kalter Wind zog, und erreichte schließlich die Eingangshalle.
    Vielleicht war es auch in Ordnung so. Vielleicht war er wirklich schuld an den Stürmen. Weiter konnte Abos nicht mehr denken, denn schon hatte ihn die Eiserne Hand berührt. Noch ein letztes Mal leuchtete der Pentaglit an seinem Hals schwach auf, bevor er für immer stumpf wurde.
    Ein lautes Knacken fuhr durch die Halle. Dann fing die Erde an zu beben. Zuerst war es nur ein leichtes Zittern, doch es wurde immer stärker und schwoll schließlich zu einem deutlichen Schwanken an, das von tiefen Brummgeräuschen begleitet wurde. Diese endeten dann in einer Kakophonie aus Knacken, Rumpeln und Reiben. Risse zeichneten sich am Boden ab, bis der Boden endgültig zerbrach und eine Eiche rasend schnell der Decke entgegen wuchs und diese mit einem Knall sprengte, der noch weit hinter den Hügeln des Umlandes zu hören war. Die Steine polterten hinunter und zerrissen, was von dem einstmals mosaikgeschmückten Boden übrig geblieben war. Mit Rumpeln und Poltern krachten Decke und Wände des Tempels in sich zusammen.
    Nun gab der Boden unter dem Gewicht des Baumes und der herabgestürzten Gesteinsbrocken endgültig nach. Der Baum fiel knackend und krachend in den Keller, wo er von den ihm folgenden Steinen begraben wurde.

  • 2.2
    Krachend löste sich der etwa kopfgroße Brocken, auf dem Anápi ihren linken Fuß platziert hatte, und polterte die steile Felswand hinab. Nur indem sie ihr Gewicht sofort auf das andere Bein verlagerte und sich mit den Fingern am Gestein festkrallte, konnte die junge Frau verhindern, zusammen mit ihm etwa zehn Schritt unterhalb ihrer jetzigen Position auf dem felsigen Strand zu zerschellen. Mit rasendem Herzen blickte sie dem Felsstück hinterher. Wie oft war sie schon hier herabgeklettert und hatte dabei eben diesen Vorsprung als Halt benutzt, und nun war er mit einem Mal weggebrochen.
    Erst nach einiger Zeit konzentrierten Atmens wagte sie den restlichen Abstieg. Ihre übrigen Festhaltepunkte erwiesen sich als zuverlässig, so dass sie bald das untere Ende des steilen Abhangs erreicht hatte.
    Sie befand sich nun am Fuße der Klippen, die an der Küste westlich von Sésento, ihrem Heimatdorf, steil zum Meer abfielen. Nur ein schmaler Streifen kiesiger Strand trennte hier bei Ebbe die Felswand vom Wasser. Mit der Flut wurde auch dieser vom Meer überschwemmt, so dass der Abstieg nur zu bestimmten Zeiten möglich war. Aber es wusste ohnehin kaum jemand aus dem Dorf, wie es hier unten aussah. Zum Seetang- und Fischesammeln fuhr man vom Strand nördlich der Siedlung los, wo es flach ins Wasser ging. Diesem Abschnitt der Küste aber kam gemeinhin wenig Interesse zu, galt er doch als vom Land aus unzugänglich.
    Nicht jedoch für Anápi. Mit traumwandlerischer Sicherheit konnte sie die etwa zwanzig Schritt hohe Klippe hinabklettern. Sie hatte diese Aktion schon so manches Mal gewagt, seit sie als Kind einmal herausgefunden hatte, wo es kleine Vorsprünge im Gestein gab, die Händen und Füßen guten Halt boten. Sie suchte den verlassenen Streifen Strand gerne auf, wenn sie allein sein und ihren Gedanken freien Lauf lassen wollte - oder aber zur stillen Kontaktaufnahme mit den Mächten der Natur, so wie heute. Bereits in ihrer Kindheit hatte Anápi sich zum Meer und anderen Gewässern besonders hingezogen gefühlt, so dass der Wassersprecher von Sésento in ihr seine Schülerin und künftige Nachfolgerin erkannt hatte. Manchmal konnte sie das noch immer kaum glauben, denn nicht viele hatten die Gabe, mit einer bestimmten Naturgewalt Kontakt aufnehmen und ihre Zeichen lesen zu können. In jedem Dorf gab es - wenn überhaupt - nur einen Sprecher für jede Macht. Jemand, der das Wasser zu verstehen vermochte, stellte gerade für ein Küstendorf wie Sésento eine mehr als glückliche Fügung dar, und genoss entsprechendes Ansehen. Aber Anápi hatte erst zu lernen begonnen und war noch weit vom Wissen Vúrams entfernt.
    Mit wenigen Schritten hatte sie den schmalen Streifen Kiesstrand überquert. Bald schwappte die Brandung über ihre nackten Füße. Noch ein paar Schritte, und das Wasser reichte ihr fast bis zu den Knien. Prüfend sah Anápi an sich herab. Sie trug nur ein leichtes Webgewand, dessen längster Saum an ihrem linken Knie endete, und weder der wenige Schmuck, den sie trug, noch ihr kunstvoll geflochtener Zopf würden ihr das Nasswerden wirklich übel nehmen. Sie watete noch ein gutes Stück weiter ins Meer hinein, das sich wie ein blauer Teppich vor ihr ausbreitete. Mit jedem Stück hob sich ihre Laune. An einem heißen Tag wie diesem gab es doch nichts Besseres als ein erfrischendes Bad im Meer! Als sie etwa bis zur Hüfte im Wasser stand, ließ sie schließlich ihre Hände und Unterarme in einer schnellen Bewegung in die Wasseroberfläche eintauchen, um sie gleich darauf in die Höhe zu reißen und funkelnde Wasserperlen aufzuwirbeln. Lachend warf sie sich vollends in die Fluten, tauchte unter und wieder auf, warf sich auf den Rücken und ließ sich, das Gesicht dem Strand zugewandt, nur mit kräftigen Beinschlägen weiter nach draußen tragen.
    Bald jedoch veranlasste sie etwas, jäh anzuhalten und die Beine absinken zu lassen. Die Aussicht auf den Strand hatte ihr nicht nur unberührte Natur, sondern noch etwas anderes geboten. Ein gutes Stück zu ihrer Rechten hatte eines der tropfenförmigen Boote angelegt, wie es die Dörfler benutzten, wenn sie aufs Meer hinausfuhren. Es war das erste Mal, dass Anápi hier ein Zeichen der Anwesenheit anderer Siú sah. Das Boot hatte hinter einem hervorstehenden, schroffen Stück Felswand angelegt, das am Ostende des Strandes ihrer Abstiegsstelle ein natürliches Hindernis bildete. Das Gestein war hier härter als weiter westlich, so dass es nicht im Laufe der Jahrtausende weggewaschen worden war, sondern in die Fluten hineinragte. Vom Ufer aus hätte Anápi nie gesehen, was sich dahinter befand - aber hier draußen war der Blick frei.
    Irritiert und neugierig zugleich machte sich Anápi auf den Rückweg zum Strand, steuerte aber auf die Felsnase zu. Selten war sie hier so weit hinausgeschwommen wie heute, so dass sie dem Strandabschnitt hinter der Blockade kaum nähere Beachtung geschenkt hatte, geschweige denn den Fels umrundet hätte. Hier wollte sie meist nur ihre Ruhe haben - zum Schwimmen war der belebte Strand im Norden des Dorfes besser geeignet und vor allem ungefährlicher, sollten ihr die im tieferen Wasser lebenden Tiere zu nahe kommen.
    An der Felsnase angelangt, schwamm Anápi vorsichtig um diese herum - und fand am Strand selbst niemanden vor. Das Boot lag verlassen da. Langsam machte sie einige Schritte darauf zu - und vernahm bald Stimmen, die der Wind aus einiger Entfernung herübertrug. Sie ging ein paar Augenblicke lang am Strand umher, der hier fast doppelt so breit war wie auf der anderen Seite der Felsbarriere, und schon bald glaubte sie, die Sprecher geortet zu haben.
    Unweit der Bootsanlegestelle befand sich eine Höhle, deren Eingang Anápi zunächst nicht gesehen hatte, weil mehrere große Felsbrocken die direkte Sicht auf ihn verhinderten. Von dem, was in der Höhle gesprochen wurde, konnte sie jedoch nichts verstehen - sie musste näher heran.
    Mit raschen, aber vorsichtigen Schritten bewegte sie sich im Schutz der Felsstücke auf den Höhleneingang zu, bis sich das Gewirr von Stimmen in ihren Ohren schließlich deutlich genug vom Rauschen des Meeres, dem Geschrei der Seevögel und dem Wind abhob. Offenbar befanden sich da mehrere Männer im Inneren der Höhle.
    Die Nachmittagssonne schien vom Meer her in den Höhleneingang und erhellte ihr Inneres ein paar Schritt weit. Anápi schlich bis zu dem Felsen heran, der die Öffnung zur linken Seite hin begrenzte, und beugte sich vorsichtig nach vorne, um hineinspähen zu können. Der Lichtschein fiel gerade weit genug in die Höhle, um den Körper eines Mannes zu erfassen, der sich aus dem Stand nach vorne gebeugt hatte und offensichtlich damit beschäftigt war, etwas vom Boden aufzusammeln. Was dieses Etwas war, konnte Anápi aus der Entfernung nicht erkennen. Aber sie wusste auf der Stelle, wen sie da vor sich hatte - Lásil, den Bootsbauer aus dem Dorf. Sie sah ihn zwar nur von hinten, aber Lásil hatte anders als alle anderen Bewohner von Sésento nicht schwarze, sondern dunkelbraune Haare, die er meist zu einer Art faserigem Zopf zusammengedreht hatte. Im Dorf sagte man ihm daher häufig nach, er sei kein richtiger Siun, sondern habe fremdländisches Blut in den Adern - dabei waren beide seiner Eltern Siú, wenn sie auch nicht aus der Gegend stammten. Aber auch sonst war Lásil nicht sonderlich beliebt in Sésento. Seine schweigsame Art und die Gewohnheit, lieber allein aufs Meer hinauszurudern, während die anderen Siú im Dorf feierten, sorgten dafür, dass ihm viele mit befremdlichen Blicken begegneten. Und nun hielt sich eben dieser Lásil mit mehreren anderen in einer bislang unbekannten Höhle auf? Anápis Neugier stieg ins Unermessliche. Etwas ganz und gar nicht Alltägliches war hier im Gange, dessen war sie sich sicher. Nur zu gerne wollte sie wissen, mit wem Lásil sich bis gerade eben unterhalten hatte. Aber wer auch immer sich noch in der Höhle aufhalten mochte, befand sich weiter im Inneren, wo Anápi nicht hinsehen konnte, und offenbar schienen Lásils Begleiter im Moment ähnlich beschäftigt wie er selbst, denn von weiter drinnen war eine Art Klackern zu hören.
    Im nächsten Moment richtete sich Lásil auf. "Habt ihr noch mehr?" Anápi hatte ihn nicht oft sprechen hören, aber jedes Mal wunderte sie sich aufs Neue, wie die Stimme eines Mannes, der nur wenige Jahre älter war als sie selbst, bereits so verbraucht klingen konnte.
    "Ein paar", kam es aus dem Höhleninneren. Diese zwei Worte genügten Anápi, um einen der anderen Siú zu identifizieren. Das konnte nur Yávu sein, Holzsammler und für Lásil unentbehrlicher Lieferant. Er war ein etwas geselligerer Mensch und der einzige aus dem Dorf, der den Bootsbauer wirklich mochte.
    "Unglaublich, wie viele es hier gibt", erwiderte Lásil. Das erste Mal überhaupt glaubte Anápi, so etwas wie Freude in der Stimme des immer so befremdlich wirkenden Siun zu erkennen. "Wartet, ich gehe zum Boot und hole einen der Säcke."
    Anápi gelang es, sich rechtzeitig hinter einen der Felsen neben dem Höhleneingang zu kauern, bevor die schmale Gestalt des Bootsbauers aus dem Halbdunkel heraustrat. Vorsichtig spähte sie aus ihrem Versteck hervor. Als Lásil an ihr vorbeilief, gelang es ihr, einen Blick auf das zu werfen, was er eben vom Höhlenboden aufgesammelt hatte und das er nun zwischen Unterarmen und Bauch eingeklemmt vor sich hertrug - ein gutes Dutzend faustgroßer, zeltdachförmiger Gehäuse von schwarzer Farbe, deren goldene Fleckenmuster unter den Strahlen der Sonne auffunkelten. Anápi traf die Erkenntnis wie ein Faustschlag in den Magen. Caleira-Gehäuse!
    Caleiras waren Kriechtiere, die im Flachwasser an den Küsten um Sésento lebten. An und für sich waren die Tiere unscheinbar - schwarze, etwa anderthalb Finger lange Schnecken mit einer auffallend beuligen Haut. Ihre Gehäuse waren es, die sie so wertvoll machten - der Rír, die größte Währungseinheit der städtischen Siú, wurde aus Caleira-Schale gemacht, und im Ganzen maß man den Behausungen gar einen um ein Vielfaches höheren Wert zu.
    Fassungslos starrte sie Lásil hinterher, wie er in das Boot kletterte und die kostbare Fracht vorsichtig auf dessen Boden ablegte. Ihre Blicke erfassten jede noch so unbedeutende Bewegung des Mannes. Er machte ein paar Schritte in Richtung Bug und zog dort einen Sack hervor, wie man ihn sonst zum Sammeln von eben erst verendeten Laichfischen oder Seetang benutzte. Vorsichtig gab er die Schalen hinein, eine nach der anderen. Eine dunkle Vorahnung überkam Anápi - ein Gedanke, den sie zunächst gar nicht weiterzuverfolgen wagte. Der Bootsbauer war inzwischen wieder ans Ufer geklettert und eilte, die kostbare Fracht geschultert, zurück zu der Öffnung im Fels. Diesmal verschwand er in der Dunkelheit des Höhleninneren. Anápi hörte, wie er mit jemandem sprach - außer ihm und Yávu musste sich noch mindestens eine andere Person in der Höhle befinden. Sie rückte ein Stück hinter dem Felsen hervor und lauschte angestrengt in Richtung Eingang, aber die Stimmen von Lásil und seinen Begleitern kamen nun von weiter hinten aus der Höhle und gelangten nur als unverständliches Geraune an Anápis Ohr. Ob sie noch einmal neben die Öffnung schleichen und einen erneuten Blick ins Höhleninnere riskieren sollte? Sie kroch ein Stück um den Felsen herum und war kurz davor, sich aufzurichten, als ein lautes Lachen an ihr Ohr drang. Es gehörte Yávu und klang, als befänden sich die Männer wieder deutlich näher am Ausgang. Nein, jetzt wäre ihr Vorhaben eindeutig zu riskant. Anápi stellte sich lieber nicht vor, was Lásil mit ihr machen würde, bekäme er mit, dass sie ihn mit einem Sack voller Caleira-Schalen beobachtet hatte. Rasch suchte sie wieder den schützenden Schatten des Felsbrockens auf und spähte von dort aus in Richtung der Öffnung. Die Schemen dreier Siú lösten sich aus der Dunkelheit und traten in den Bereich, der gerade noch vom weißlichen Licht der Sonne erfasst wurde. Zuvorderst ging der Bootsbauer mit dem Sack, der nun bestimmt das Doppelte an Schalen enthalten musste als er im Boot hineingetan hatte. Außer Yávu folgte ihm ein weiterer, recht hochgewachsener Siun, der jedoch weitgehend vom Körper des Holzsammlers verdeckt wurde. Lásil hielt den Sack ein Stück weit auf und blickte mit einem ungewohnten Grinsen auf dem Gesicht hinein. Er musste in diesem Moment große Genugtuung empfinden. Anápi ballte die Fäuste. Verbrecher!
    Den Siú galten Mensch und Tier als auf einer Stufe stehende Wesen. Genauso wie man andere Siú nicht umbringen durfte, stellte deshalb auch das Töten von Tieren ein schweres Verbrechen dar. Nur wenn sie ohne fremdes Zutun starben, durfte man ihre Erzeugnisse verwerten. Wer also die Haut eines Tieres zur Lederherstellung nutzen oder sein Fleisch verzehren wollte, musste bis zu dessen natürlichem Tod warten. Aus diesem Grund waren Caleira-Gehäuse auch so wertvoll - die Tiere durften nicht getötet werden, um an die schön gemusterten Schalen zu gelangen, und verendete Caleiras fand man selten, da ihre Kadaver meist vom Meer weggespült wurden. Als Anápi gerade alt genug gewesen war, um erstmals mit den Erwachsenen aufs Meer hinauszufahren, hatte ihr Onkel am Strand ein leeres Gehäuse gefunden und es in der nächsten Stadt verkauft. Mit dem, was er dafür bekommen hatte, hätte er alle fünfzehn Personen in seinem Haus bestimmt ein Jahr lang ernähren können. Was man dann erst für so viele Schalen, wie sie der Bootsbauer aus der Höhle geschafft hatte, bekommen würde …
    Im selben Moment erfasste ihr Blick den dritten Siun. Seine Statur … das dichte, hüftlange Haar … der Kleidungsstil … sie wagte gar nicht, abzuwarten, bis er den Kopf in ihre Richtung drehte. Eine siedende Woge stieg in ihrem Inneren auf, von der Magengegend ausgehend und sich noch im selben Moment über den ganzen Körper ausbreitend. Beyal?!
    Nein, das konnte, durfte er nicht sein. Lásil mochte moralisch in der Lage sein, Caleiras zu töten, um an ihre Gehäuse zu gelangen, aber Beyal? Der Mann, für den sie schon seit dem Ende ihrer Kindheit starke Zuneigung empfand und mit dem sie nach der Geburt ihres ersten Kindes endlich unter einem Dach leben würde? Der den Mächten der Natur stets mit genauso viel Achtung begegnet war wie sie selbst? Anápi zwang sich, tief Luft zu holen und diesen Gedanken zu verscheuchen. Nein, auf keinen Fall konnte es sich bei dem dritten Siun um Beyal handeln, er wäre nie zu einer solchen Tat in der Lage.
    Angespannt beobachtete Anápi weiter den Höhleneingang. Als die Männer vollends ans Tageslicht traten, schlug ihr Herz so wild, dass sie glaubte, es würde den dreien verraten, dass sie sich hier versteckt hatte. Zuerst kam Lásil, den Sack so behutsam in den Armen haltend, als handle es sich dabei um ein Kind. Ihm folgten Yávu und - Beyal. So sehr Anápi auch herbeigesehnt hatte, sich geirrt zu haben - er war es wirklich.
    Aber … er würde es niemals fertig bringen, ein Tier zu töten, und schon gar nicht um des Geldes willen. Nein, nicht Beyal …! Und doch war es sein Gesicht gewesen, das sie eben gesehen hatte, vor Freude strahlend und lachend. Würde aber jemand, der mutwillig und kaltblütig Tiere umbrachte, um aus ihnen Profit zu schlagen, sich dabei so verhalten, wie die drei es getan hatten? Wahrscheinlich würden solche Verbrecher wortlos und schnell ihre grausame Arbeit verrichten, um es möglichst schnell hinter sich zu bringen. Nein, niemand konnte so kaltblütig sein und dabei noch Freude empfinden. Schon gar nicht Beyal … Aber er hatte Caleiras in den Händen gehabt und sich dabei auch noch gefreut …
    Anápi wollte nichts mehr sehen. Sie drehte sich von der Höhle weg, ließ sich vollends auf den steinigen Boden sinken, umfasste die Knie mit den Armen und vergrub ihren Kopf darin. Zu ihren Tränen gesellte sich bald ein hemmungsloses Schluchzen, das jegliche weiteren Gedanken aus ihrem Bewusstsein verbannte. Sie versuchte erst gar nicht, dagegen anzukämpfen, sondern ließ jede Faser ihres Körpers mit ihm erbeben und einen dichten Tränenschleier ihre Sicht vernebeln.
    Das Schaben des Bootes auf dem steinigen Ufer, während es ins Wasser geschoben wurde, die Geräusche, die die drei Siú beim Einsteigen machten, und das leise Plätschern der von den Paddeln abperlenden Tropfen beim Auftreffen auf der Wasseroberfläche - all das drang nicht bis zu Anápi durch, wie sie sich hinter dem Felsen zusammengekauert hatte, den Kopf zwischen Armen und Knien vergraben.
    Anápi wusste nicht, wie lange sie in dieser Position ausgeharrt hatte, doch als es ihr schließlich gelang, den tränenschweren Kopf wieder von ihren Armen zu heben, war die Sonne bereits ein ganzes Stück weiter in Richtung Horizont gewandert. Mit einem Mal bemerkte sie auch, dass immer wieder feinste Tröpfchen sprühender Gischt auf ihren nackten Füßen landeten. Ihr Blick richtete sich jäh nach unten. Nicht nur die Sonne hatte sich fortbewegt, auch das Meer war deutlich nähergekommen - die Flut hatte eingesetzt. Bald würde der gesamte schmale Felsstreifen unter ihren Füßen vollkommen vom Wasser bedeckt sein - sie musste hier weg, so schnell wie möglich! Und das in ihrem Zustand, kraftlos vom vielen Weinen … Mühsam richtete sie sich auf, in der Hoffnung, dass das Meer um die Felsnase herum noch nicht zu unruhig geworden war … und sie wenigstens noch einen sicheren Felsvorsprung in den Klippen erreichen konnte, bevor auch noch das letzte Stückchen Strand den Fluten anheim gefallen sein würde.
    ***
    Im Nachhinein konnte sich Anápi nicht erinnern, wie es ihr gelungen war, so kraftlos und mit völlig verweinten Augen zurück zu ihrer Kletterwand zu gelangen und den gefährlichen Aufstieg zu überstehen, ohne einen Vorsprung zu verfehlen und abzurutschen. Oben angekommen, schlug sie zunächst den Weg in Richtung Dorf ein, nach wenigen Augenblicken aber verlangsamte sie ihren Schritt. Wenn sie jetzt nach Sésento zurückkehrte und ihr jemand begegnete, würde diesem sicher auffallen, wie verweint und mitgenommen sie aussah. Und wie würde sie wohl reagieren, wenn sie auf Beyal, Lásil oder Yávu träfe? Vielleicht hatte gar einer der drei sie bemerkt, sich aber nichts anmerken lassen? Nein, jetzt ins Dorf zurückzukehren, war keine gute Idee.
    Ein Stück hinter der nächsten Wegesbiegung ging ein schmaler Pfad ab, der in die Küstenwälder hineinführte. Er wurde von den Dörflern benutzt, wenn sie im Herbst Nüsse oder Früchte von den Bäumen sammeln wollten. Jetzt aber, im Frühling, kam nur selten jemand hier entlang. Anápi schlug den Weg in den Wald ein und ließ sich nach einiger Zeit, vom vielen Weinen und der anstrengenden Kletterpartie in den Felsen am Rande der Erschöpfung, gegen den Stamm eines Baumes sinken. Ihre Gedanken griffen nach dem kleinen Funken Hoffnung, der noch in ihr glomm, dass ihre Sinne ihr lediglich einen Streich gespielt hatten und es sich bei dem dritten Siun in der Höhle doch nicht um Beyal gehandelt hatte. Aber auch dieser verlosch rasch. Natürlich war es Beyal gewesen, sie hatte ihn doch genau gesehen … Langsam ließ sie sich auf den Boden sinken, die scharfen Kanten der Baumrinde ignorierend, die über ihre nackten Schultern, Haare und Kleidung schabten.
    ***
    Irgendwann musste sie wohl eingeschlafen sein, denn das nächste, woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie sich umsah und bemerkte, wie die Dämmerung bereits eingesetzt hatte. Verwirrt rappelte sie sich auf, wobei gut ein halbes Dutzend Nussfliegen, das es sich auf ihren Oberarmen bequem gemacht hatte, die Flucht ergriff. Es war kurz nach Mittag gewesen, als sie sich auf den Weg zum Strand gemacht hatte. Höchste Zeit, um zurück nach Hause zu gehen, bevor man sich etwa noch Sorgen um sie zu machen begann.
    ***
    Als Anápi die ersten Häuser von Sésento erreichte, hatte sich bereits die Nacht über das kleine Dorf gesenkt. Draußen war niemand zu sehen. Rasch folgte sie den ausgetretenen Pfaden durch das kniehohe Gras bis zum Haus ihrer Familie. Beim Eintreten stieg ihr ein harziger Geruch in die Nase - der einer Fackel. Offenbar war noch jemand wach. Anápi machte ein paar schnelle Schritte in den im völligen Dunkel liegenden Schlafraum, um neugierigen Fragen zu entgehen. Mit langjähriger Gewohnheit bewegte sie sich um die nicht einmal schemenhaft erkennbaren Körper der anderen Familienmitglieder herum. Schließlich gelangte sie an ihre eigene Schlafstatt, rollte sich auf ihr in voller Bekleidung zusammen, schloss die Augen und wartete darauf, dass ihre Müdigkeit sie übermannte und in eine andere Welt hinüberführte, in der es kein Recht und kein Unrecht gab.
    ***
    Etwas berührte Anápi an der Schulter, und sie fuhr entsetzt hoch. Völlige Dunkelheit, doch da war jemand, und dieser Jemand roch leicht nach Harz. Es war Núwi, eine ihrer älteren Schwestern. "Kommst du kurz mit nach draußen?", drang es leise an ihr Ohr. Anápi erhob sich wortlos. Wenn Núwi sie zu dieser Zeit weckte, hatte das einen Grund, und es würde nichts nützen, ihr zu widersprechen. Die beiden Frauen verließen den Schlafbereich und gingen in den Hauptraum des Hauses, in dem noch immer die Harzfackel knisterte.
    Bevor Anápi fragen konnte, weshalb ihre Schwester sie nach draußen geholt hatte, fing diese auch schon zu sprechen an. "Mir dir ist doch irgendetwas nicht in Ordnung?"
    Anápi schüttelte den Kopf. "Nein. Es ist nichts …"
    Núwi wollte ihrer Schwester eine Hand auf die Schulter legen, doch diese wich aus. "Anápi, es muss doch irgendetwas passiert sein. Ich habe dich eben, als ich ins Bett wollte, weinen gehört. Und sieh dich doch einmal an - es ist nicht normal, dass man sich vollständig bekleidet zum Schlafen niederlegt."
    Anápi senkte den Kopf und schwieg. Núwi wartete geduldig. Nach Momenten der Stille, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, gelang schließlich einem lauten Schluchzer der Weg aus Anápis Innerem nach draußen. Núwi trat auf ihre Schwester zu und legte die Arme um sie. Während der ganzen Zeit, die Anápi in ihre Schulter weinte, sprach Núwi kein Wort. Irgendwann lösten sich die beiden Frauen schließlich wieder voneinander. "Beyal", brachte Anápi heraus.
    "Ja? Was ist mit ihm?"
    "Ich … ich habe ihn heute gesehen. Am Strand." Ein erneuter Weinanfall ließ den Körper der jungen Frau erbeben. "Du musst mir versprechen, dass du es niemandem sagst!", entfuhr es ihr überraschend heftig. "Sonst … ist er …"
    Núwi nickte.
    "Versprich es mir! Versprich mir, dass du es keinem sagst, egal, wie schlimm das ist, was ich dir jetzt erzähle!"
    "Ich verspreche es."
    Anápi ließ sich auf den Boden sinken und bedeutete der Schwester, es ihr gleichzutun. Immer wieder von Schluchzern unterbrochen, erzählte sie ihr, was sie am Strand gesehen hatte. Núwis Augen weiteten sich vor Entsetzen, als Anápi auf die vielen Caleira-Schalen zu sprechen kam, unterbrach sie jedoch nicht. Am Ende ihres Berichts hatte Anápi erneut das Gesicht in den Händen vergraben. Núwi strich ihr sanft übers Haar und begann dann, die Frisur ihrer Schwester zu lösen, was diese, genau wie das Umziehen, vor dem Schlafengehen nicht getan hatte. "Jetzt verstehe ich, weshalb du so lange fort warst", sagte sie leise, während sie die Zopfstränge voneinander trennte und das lange Haar vorsichtig mit den Fingern durchkämmte. "Ich hätte an deiner Stelle auch nicht gewusst, was ich hätte tun sollen."
    Anápi sagte etwas, das durch ihre Tränen hindurch als leises Wimmern an die Ohren ihrer Schwester gelang. "Was soll ich denn tun?"
    "Ich weiß es auch nicht." Núwi stand auf und half Anápi dabei, sich ebenfalls aufzurichten. "Leg dich am besten wieder schlafen. Bestimmt ist alles ganz anders, als du denkst. Mach dir nicht so viele Sorgen."
    Anápi nickte und wischte sich mit dem Arm übers Gesicht. Núwi trat an den Wasserkrug heran, der in der Ecke stand, brachte die Harzfackel zum Erlöschen und machte sich dann mit ihrer Schwester auf den Weg zurück in den Schlafraum. Bald war aus diesem lange nichts anderes außer dem gleichmäßigen Atmen von gut einem Dutzend Personen zu hören.
    ***
    Cétir, Dorfoberhaupt von Sésento, stand im Eingangsbereich seines Hauses, eine kunstvoll gearbeitete Laterne in der Hand, in der eine kleine Flamme unruhig tanzte. Er trug einen einfachen Überwurf, und sein mit zahlreichen grauen Strähnen durchzogenes Haar fiel ihm glatt und offen den Rücken hinab. Kein Siun würde sich normalerweise in einem solch schmucklosen Aufzug vor jemandem zeigen, der nicht unter seinem Dach lebte. Aber diese Situation war alles andere als normal. Edála, der rote Mond, stand hoch über dem Horizont - bald würde die erste Hälfte der Nacht vorüber sein. Und vor ihm stand eine sichtlich aufgebrachte Núwi, die ihm mit unterdrückter Stimme berichtete, was sie vor kurzem von ihrer Schwester erfahren hatte.
    Als sie geendet hatte, senkte sich für ein paar Augenblicke Stille über den Raum. "Ich danke dir, dass du mir das gesagt hast, Núwi", meinte Cétir schließlich leise und machte Anstalten, sich in Richtung des Durchgangs zu wenden, der ins Innere des Gebäudes führte.
    "Was wirst du nun tun?", fragte Núwi schnell.
    "Ich werde mich wieder schlafen legen", antwortete der Dorfvorsteher, "und morgen sehen wir dann weiter."
    "Aber bis dahin könnten sie die Schalen längst versteckt oder beiseite geschafft haben, so dass es keine Beweise mehr gibt. Man lässt doch nicht einen Haufen Caleira-Schalen einfach so bei sich zu Hause herumliegen."
    Cétir kam sichtlich ins Grübeln. "Das stimmt natürlich. Aber wenn ich sie jetzt aus dem Schlaf reißen lasse, gibt es einen Aufruhr im Dorf."
    "Ich fürchte, dass es den ohnehin geben wird."
    "Nun, das ist ein gutes Argument", erwiderte Cétir. "Gib mir einen Moment Zeit, um zu bedenken, was zu tun ist." Er schenkte Núwi noch ein wenig überzeugendes Lächeln und verschwand im Inneren des Hauses.
    ***
    Auf den Gesichtern von Beyal, Lásil und Yávu stand deutlich sichtbare Beunruhigung, was man ihnen nicht verdenken konnte. Wann wurde sonst jemand mitten in der Nacht geweckt und zum Dorfvorsteher beordert? Man hatte sie fast zeitgleich zu Cétirs Haus gebracht, so dass ihnen rasch klar geworden war, worum es gehen musste. Hin und wieder sprachen sie leise miteinander oder warfen sich nervöse Blicke zu, während sie auf den Dorfvorsteher warteten. Ihre Begleiter hatten sich vor dem Eingang postiert, um zu verhindern, dass die drei sich einfach ihrer Verantwortung entzögen.
    Nur kurze Zeit nach ihrer Ankunft betrat Cétir den Raum. Seit der Unterredung mit Núwi hatte er sich der Situation angemessen gekleidet und einige Schmuckstücke angelegt, an deren Wert sich seine besondere Stellung im Dorf erkennen ließ. Sein Haar formte nun eine Art lockeren Knoten im Nacken und hing weiter bis über die Schulterblätter herab. Den drei Delinquenten blieb jedoch nicht viel Zeit, das Erscheinungsbild des Dorfvorstehers zu würdigen, denn kaum hatte er den Raum betreten, hob Cétir auch schon zu sprechen an. "Ich nehme an, ihr wisst, weshalb ihr hier seid?"
    "Nein - was sollen wir denn Unrechtes getan haben?", entrutschte es Yávu augenblicklich, während seine Blicke wild zwischen Beyal und Lásil hin- und herfuhren.
    Cétir schwieg weiterhin. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Er schien wirklich darauf zu warten, dass die drei von sich aus erzählten, was sie getan hatten. Viele Möglichkeiten gab es nicht, denn während man Lásil und Yávu häufiger zusammen sah, war es äußerst ungewöhnlich, dass Beyal mit den beiden zu schaffen hatte.
    Irgendwann schließlich begann Beyal leise: "Nun, wir waren gestern mit dem Boot draußen …"
    Lásil stieß ihn in die Seite und brachte ihn so zum Schweigen. "Bevor wir nicht wissen, was man uns vorwirft, sagen wir gar nichts", beeilte er sich zu sagen.
    "Nun gut." Cétir musterte die drei eingehend. "Es hat in der Tat etwas damit zu tun, dass ihr gestern draußen wart. Ihr wurdet dabei beobachtet, wie ihr eine beträchtliche Menge Caleira-Schalen aus einer Höhle hinausgetragen habt. Ihr werdet euch für das Töten dieser Tiere verantworten müssen."
    Ein wildes Durcheinander entrüsteter Proteste brach auf Cétir ein, nachdem er geendet hatte. Der erste, der wieder einen vollständigen Satz zustande brachte, war Lásil. "Wer war das, wer hat das behauptet? Wir haben keine Caleiras getötet!"
    "Genau! Die lagen einfach da!", rief Yávu dazwischen. "Von der Flut in die Höhle gespült, da drinnen sind sie dann verendet."
    "Wir haben nur die leeren Schalen eingesammelt", übernahm Lásil wieder das Wort.
    "Einen Moment", unterbrach Cétir den Redeschwall. "Eins nach dem anderen. Lásil, erzähl mir die ganze Geschichte, und zwar von vorne und der Reihe nach."
    "Ich war gerade an der Fertigstellung eines neuen Boots", begann der Angesprochene, "da kam Beyal des Wegs und fing mit mir eine Unterhaltung an." Seiner Stimme nach zu urteilen, schien er sich darüber nicht sonderlich gefreut zu haben. "Er meinte, dem Verhalten der Vögel nach zu urteilen, seien heute wieder Fische draußen an der Sandbank angeschwemmt worden. Er fragte, ob ich deswegen so fleißig sei. Ich sagte ihm, dass mir das noch gar nicht aufgefallen wäre. Irgendwie überredete er mich dann, das Boot gleich auszuprobieren, obwohl ich noch nicht ganz fertig war. Yávu, der gerade bei mir war, drängte auch dazu, also gab ich mich geschlagen, und wir fuhren los, bevor die Flut kommen und die Sandbank unter Wasser setzen würde." Cétirs Gesicht war wieder vollkommen ausdruckslos, während der Bootsbauer redete. "Wir sammelten ein paar Fische ein und wollten zurückfahren, aber als wir das Boot ins Wasser schoben, muss sich ein Stein in einer Ritze zwischen zwei Planken verkantet und den Spalt vergrößert haben, denn nach kurzer Zeit bemerkten wir, dass immer mehr Wasser ins Boot hineinlief. Wir fuhren nicht mehr zur Sandbank zurück, sondern zum nächsten Küstenstreifen, weil wir da eher Material finden würden, um das Boot zu reparieren. Und da entdeckten wir dann eben diese Höhle."
    Cétir runzelte die Stirn. "Wo genau ist das? So etwas müsste eigentlich bekannt sein."
    "Ein ganzes Stück südwestlich von hier. Unten an den Steilklippen. Da, wo man sonst nicht hinkommt."
    "Wer kann uns da bloß gesehen haben …", kam ein leises Murmeln von Yávu. Cétir bedeutete ihm, zu schweigen, und bedachte Lásil mit einem auffordernden Blick.
    "Das ist so eine Einhöhlung im Fels, sie geht ziemlich tief hinein. Ich schätze, dass man nur bei Ebbe hineingehen kann. Innen ist der Grund dann wieder tiefer ausgewaschen als am Eingang. Wir vermuten, dass die Caleiras bei Flut in die Höhle gespült werden, und dann, wenn bei Ebbe das Wasser abläuft, nicht mehr zurück ins Meer gelangen und dadurch sterben." Die anderen beiden nickten bekräftigend, doch mit jedem Wort, das er sprach, wurde die Stimme des Bootsbauers leiser, als schleiche sich langsam das Bewusstsein in seine Gedanken, dass Cétir ihm das Ganze wohl nicht abnehmen würde. Schließlich verstummte er ganz.
    "Ich denke, ich brauche euch nicht zu sagen, dass eure Geschichte recht abenteuerlich klingt", meinte der Dorfvorsteher heiser. "Bei ein, zwei Gehäusen würde ich das ja noch glauben. Aber mir wurde berichtet, dass ihr mehrere Dutzend davon aus der Höhle herausgetragen habt. Da liegt ein ganz anderer Verdacht natürlich nahe." Die drei hoben zu erneutem Protest an, woraufhin Cétir schnell weitersprach. "Aber nun gut. Ich werde mir morgen ein Boot nehmen und mir die Sache selbst ansehen."
    Auf den Gesichtern von Beyal, Lásil und Yávu machte sich zaghafte Erleichterung breit, die jedoch sogleich wieder von ihnen wich. "Bis dahin kann ich euch allerdings nicht nach Hause gehen lassen", fuhr Cétir in einem etwas strengeren Tonfall als bisher fort. "Ich habe ein paar Leute ausgeschickt, um die Caleiras herbringen zu lassen. Ich möchte euch nichts unterstellen, aber ich muss sichergehen, dass ihr die Schalen nicht schnell beseitigt. Ich habe auch mit Vúram gesprochen." Das war der Wellensprecher, Anápis Lehrmeister, der mit den Kräften des Wassers geistig in Kontakt treten konnte. "Er wird euch bis morgen in seinem Haus aufnehmen, bis ich die Caleiras und die Höhle mit eigenen Augen gesehen habe. Dann werde ich entscheiden, wie es weitergehen soll."
    Seine Worte klangen so unmissverständlich, dass keiner der drei es wagte, noch Widerworte zu erheben. Cétir ging kurz nach draußen und erteilte den dort Postierten ein paar Anweisungen. Alsbald wurden der Bootsbauer und seine Begleiter in die Nacht hinaus geführt.
    ***
    Anápi erwachte davon, wie zwei Personen draußen vor dem Fenster mit unterdrückten Stimmen, aber dennoch deutlich hörbar miteinander sprachen. Sie setzte sich auf und rieb sich verwirrt die Augen. Auch in den Rest ihrer Familie schien Bewegung gekommen zu sein, wie das schnelle Tappen etlicher Paar Füße um sie herum verriet. "Was ist denn los?", fragte sie, noch halb schlafend, in das Dunkel. Draußen lief ein Grüppchen erregt miteinander diskutierender Siú vorbei.
    "Zieh dich an und komm mit nach draußen", sagte die eilig näherkommende Stimme eines ihrer Brüder. "Aus irgendeinem Grund ist das ganze Dorf in Aufruhr."
    Im Nu war Anápi auf den Beinen. Es musste schon etwas Schlimmes passiert sein, wenn es alle Bewohner von Sésento mitten in der Nacht aus den Betten holte. Anápi musste nicht lange nachdenken, was dieses Schlimme wohl sein mochte. Ihre Zähne gruben sich in ihre Unterlippe. Núwi musste trotz ihres Versprechens etwas gesagt haben - wie hätten es die anderen sonst erfahren sollen?
    Rasch kleidete sich an und eilte aus dem Schlafraum. Im Vorraum war man damit beschäftigt, irgendwie Licht zu machen. Anápi lief an ihren Verwandten vorbei und nach draußen. Sie sah zwei junge Männer aus dem Nachbarhaus eilig näher kommen und sprach sie an: "Was ist hier eigentlich los?"
    "Sag bloß, du weißt es noch nicht", meinte einer der beiden erstaunt. "Man hat Beyal heute Nacht aus dem Schlaf gerissen, und Yávu und Lásil auch. Angeblich haben sie Unmengen von Caleira-Schalen unten vom Strand heraufgebracht!"
    "Jeder sagt, sie hätten sie getötet", fügte der andere schnell hinzu. "Das ist doch verrückt! Los, komm mit, vielleicht können wir irgendetwas tun."
    Anápi nickte und stolperte den beiden hinterher, deren Tempo sie auf ihren entkräfteten Beinen kaum halten konnte. Vor dem Haus des Dorfvorstehers hielten sie schließlich an. Dort hatte sich bereits eine Ansammlung von mehreren Dutzend Dörflern gebildet, die jedoch gebührenden Abstand zur Eingangstür hielten, vor der sechs Männer Wache standen. Anápi blieb hinter ihren Nachbarn stehen und senkte den Kopf, in der Hoffnung, so nicht erkannt zu werden und lästige Fragen beantworten zu müssen. Hin und wieder schnappte sie Fetzen der erregten Unterhaltung der beiden auf.
    "Wenn du mich fragst - der Bootsbauer war's, dem habe ich noch nie getraut."
    "Natürlich war er's - und jetzt zerrt er arme Unschuldige mit hinein. Warte nur, bis das rauskommt, Cétir lässt ihn aus dem Dorf werfen."
    Anápis Gedanken schweiften ab. Hätte sie doch bloß den Mund gehalten und sich Núwi nicht anvertraut! Dabei hatte diese ihr gegenüber noch nie ein Versprechen gebrochen, sie hatte sich immer auf sie verlassen können … Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus, um die in ihrer Bauchgegend entstehende Mischung aus wachsender Verzweiflung und Wut unter Kontrolle zu bekommen. Aber könnte es nicht auch sein, dass jemand anderes die drei gesehen hatte, wie sie mit so vielen Caleiras im Dorf eintrafen?
    Während sie noch grübelte, kam plötzlich Unruhe in den Kreis der Umstehenden. Über die Schulter ihres Vordermanns hinweg konnte Anápi erspähen, wie mehrere Personen aus dem Haus kamen und von denen, die bereits davor gestanden hatten, weggeführt wurden. Das konnten nur Beyal und die beiden anderen gewesen sein! Sie streckte sich weiter, um sehen zu können, wohin sie gebracht wurden, aber die meisten um sie herumstehenden Siú waren ziemlich groß und versperrten ihr die Sicht. Im selben Moment erhob der Dorfvorsteher die Stimme und rief über den Platz hinweg: "Ihr habt mit dieser Sache nichts zu tun. Geht nach Hause und legt euch wieder schlafen."
    Murrend setzte sich der Auflauf in Bewegung. Eine solche Anordnung duldete keinen Widerspruch. Anápi blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls zu gehen. Von ein paar vorbeilaufenden Dörflern schnappte sie noch auf, dass man die drei zu Vúrams Haus bringen würde. Sie beschleunigte ihren Schritt - nun wusste sie genau, was sie diese Nacht noch zu tun hatte.
    Ein paar Bäume weiter wurde Anápi jäh in ihren Gedanken unterbrochen, als sie aus dem Augenwinkel sah, wie Núwi ihren Weg kreuzte. Rasch streckte sie den Arm aus und fasste die Schwester grob an der Schulter.
    "Du hast es Cétir gesagt!", entfuhr es ihr.
    Núwi riss sich los. "Es tut mir Leid", sagte sie nur, unendliches Bedauern in ihrem Gesicht. "Es war ungeheuerlich. Ich musste es ihm sagen. Es wird sich schon alles klären."
    Bevor Anápi etwas erwidern konnte, verschwand Núwi in der Nacht.
    ***
    Mitternacht war längst vorbei, als Anápi sich aus dem Haus schlich. Stille lag über dem Dorf, von dem frischen Wind, der vom Meer herüberwehte, einmal abgesehen.
    Überraschenderweise schienen die Wege um einiges belebter als gewöhnlich. Wohin sie auch blickte - mindestens ein Fackellicht, vom Wind zum Flackern gebracht, wanderte umher. Offenbar hatte Cétir Wachen abgeordnet, um dafür zu sorgen, dass die Dörfler in den Betten blieben. Was das Vorhaben Anápis um einiges erschweren würde.
    Anápi wartete einen Moment ab, und als sich die beiden nächsten Fackeln etwas von ihr entfernten, huschte sie unter einen mit dichten Ranken bewachsenen Ast, der vom Nachbarhaus herabhing. In diesem Moment war sie sehr dankbar, dass viele Dörfler in ihre Gebäude Bäume und andere hohe Pflanzen integriert hatten. So hatte man nicht nur unnötige Schäden an der Natur verhindert, sondern auch ausgezeichnete Verstecke geschaffen. Auf diese Weise gelang es Anápi, sich von den Fackelträgern unbemerkt bis zum Haus des Sprechers zu schleichen. Gebückt huschte sie unter eines der Fenster auf der Rückseite und spähte hinein. Da sie Vúram oft bei rituellen Tätigkeiten half und die beiden einander sehr vertraut waren, kannte sie auch das Innere seines Hauses. In diesem kleinen Raum hier bewahrte er etwa sein Trinkwasser auf - und er eignete sich sicher auch, um jemanden einzusperren. Im fahlen Licht eines der Monde erkannte Anápi im Inneren nur einige große Tonkrüge, die mit Brettern abgedeckt waren, viel mehr gab es nicht zu sehen. Sie zog sich vom Fenster zurück und schlich weiter am Haus entlang. Das nächste Fenster war ein wenig kleiner als das vorige und mit einem Geflecht aus biegsamen Zweigen versehen. Der Vorratsraum - die Zweige sollten verhindern, dass Vögel hineinfliegen und sich an den Vorräten gütlich tun konnten. Sonderlich wirksam schien das jedoch nicht mehr zu sein, denn unten links waren einige Zweige nicht mehr richtig an der Wand befestigt und standen ein Stück nach innen ab. Da müsste Vúram mal nachbessern. Anápi wollte sich gerade wieder abwenden, doch ein Glitzern in ihrem Augenwinkel ließ sie sofort wieder genauer hinsehen. Es ging von dem aus, was man rechts neben dem Eingang zum Vorratsraum aufgeschichtet hatte. Die Caleiras! Anápis Augen wurden groß - da lagen wirklich etwa dreimal so viele, wie sie Lásil ins Boot hatte tragen sehen. Wie gerne würde sie jetzt einfach ins Haus des Sprechers gehen und diesen Haufen verschwinden lassen … Rasch ließ sie vom Fenster ab und spähte um die nächste Ecke. Der Eingang befand sich nur ein paar Schritt entfernt - sollte sie es wagen …? Im selben Moment verbannte sie diesen Einfall wieder aus ihren Gedanken. Nein, auf keinen Fall konnte sie sich jetzt einfach so in Vúrams Haus schleichen - was, wenn er sie entdeckte? Und er war bestimmt nicht allein. Leise seufzend begab sie sich wieder auf die Rückseite des Hauses. Was wollte sie hier eigentlich? Es war schwachsinnig gewesen, überhaupt hierher zu kommen. Vúram würde Beyal und die beiden anderen kaum in einem Raum untergebracht haben, der ein Fenster hatte. Sie würde nicht mit ihnen reden können. Anápi rieb sich die müden Augen und lief wieder zum anderen Ende der Wand, von dem sie hergekommen war. Als gerade kein Fackelträger in Sicht war, huschte sie in den Schatten eines Baumes zwischen Vúrams Haus und dem seiner Nachbarn. Ein kurzer Blick zurück zum Sprecherhaus - und Anápi zuckte unwillkürlich zusammen. Da bewegte sich jemand. War er zuvor auch schon in ihrer Nähe gewesen, und sie hatte ihn nur nicht gesehen, er aber sie? Anápis ohnehin schon beschleunigter Herzschlag raste nun erst recht. Die Person befand sich nun vor dem Eingang zu Vúrams Haus, sah sich kurz um und ging dann schnellen Schritts auf den Baum zu, hinter dem sich Anápi versteckt hielt. Entsetzt presste sie sich an den Stamm, als würde sie mit ihm verschmelzen wollen, und wagte keinen einzigen Atemzug, bis die Gestalt unerwartet vor dem Baum vorbeilief und in den Schatten der nächsten Häuser verschwand. Anápi atmete auf und ließ sich nach hinten auf den Boden sinken. Der Fremde - Statur und Gang zufolge musste es ein Mann gewesen sein - war offenbar auch nur ein Schaulustiger, der sich nachts umhertrieb, obwohl er eigentlich schlafen sollte. Oder es handelte sich um einen der Wachposten, dessen Fackel eine Bö zum Erlöschen gebracht hatte. Egal. Anápi ließ das Grübeln sein und lief, von den wachsamen Augen der Fackelträger unentdeckt, nach Hause.
    ***
    Die Sonne hatte ihren Weg vom Horizont zum Zenit bereits hinter sich gebracht, als Vúram seine drei unfreiwilligen Gäste aus der kleinen Kammer führte, in der sie die Nacht verbracht hatten. Obwohl er ihnen Essen und eine Schlafstelle bereitet hatte, boten sie ein miserables Bild - als hätten sie tagelang weder geschlafen noch gegessen, kreidebleich im Gesicht, die Haare verworren und glanzlos.
    Der Sprecher öffnete die Eingangstür und ließ sie hinausgehen, wo bereits ein sichtlich unausgeschlafener Cétir auf sie wartete - und mit ihm das halbe Dorf. Sie alle bildeten einen Halbkreis um das Häuflein Caleira-Schalen, das man auf einem Stück groben Tuchs auf dem Boden aufgeschichtet hatte.
    Jegliche Restfarbe, die sich noch in den Gesichtern der drei befand, wich mit einem Schlag, als der Dorfvorsteher vortrat. Er streckte ihnen eine offene Hand entgegen, auf der der verkrustete Körper einer toten Caleira lag, den man offensichtlich mit einem Messer quer durchgeschnitten hatte. "Die habt ihr wohl übersehen", sagte er knapp.
    "Wo hast du die her?"
    "Die ist nicht von uns!"
    "Das waren wir nicht!", kam es zugleich aus drei Kehlen.
    Cétir machte ihnen mit einer unmissverständlichen Geste klar, zu schweigen. "Ich war vorhin in dieser Höhle und habe mich dort umgesehen. Es sieht dort in der Tat so aus wie von dir beschrieben, Lásil. Allerdings habe ich in dieser Vertiefung weder lebende noch verweste Caleiras gesehen. Die einzige Caleira, die ich heute gesehen habe, ist diese hier, und die", er deutete auf den Haufen, "habe ich hier entdeckt."
    Beyal trat einen Schritt vor. "Cétir, ich versichere dir, dass wir das nicht waren. Weder Lásil noch Yávu noch ich. Was hätten wir denn davon?"
    "Es ist wirklich so, wie Lásil es gestern erzählt hat", übernahm Yávu das Wort. "Wir kamen in diese Höhle, da waren haufenweise verweste Caleiras mit ihren Gehäusen …" Der Rest dessen, was er sagen wollte, ging in den wütenden Zwischenrufen der Umstehenden unter.
    Als auf Cétirs Anordnung wieder etwas Ruhe eingekehrt war, löste sich jemand aus der Menge hinter dem Dorfvorsteher und rief: "Wenn die Geschichte so stimmen sollte - warum habt ihr dann nicht gleich allen freudestrahlend von eurem Fund erzählt? Warum dann diese Heimlichtuerei? Das macht man doch nur, wenn man etwas zu verbergen hat!" Bestätigende Rufe aus allen Richtungen.
    "Ihr hättet uns doch ohnehin nicht geglaubt - das sieht man jetzt ja!", schrie Lásil in die Menge.
    "Und warum habt ihr die Schalen nicht zurückgelassen, wenn euch das von Anfang an klar war?", meldete sich ein weiterer Dörfler zu Wort.
    "Versucht doch einfach, euch in unsere Lage hineinzuversetzen. Wenn man so einen unglaublichen Schatz findet, denkt man einfach nicht mehr", sagte Yávu, was die anderen Siú wieder zu hitzigen Zwischenrufen veranlasste.
    "Ruhe!", entfuhr es Cétir. "Wir haben ja eine Augenzeugin des Vorfalls. Anápi, bist du hier?"
    Auf Drängen der Umstehenden bewegte sich die Aufgerufene widerstrebend auf den Dorfvorsteher zu. Sie hatte ganz hinten gestanden, damit Beyal sie nicht sah. Als man sie ganz nach vorne geschoben hatte, wurde sie sofort von den Blicken ihres Geliebten erfasst.
    "Du warst das also", sagte Beyal verbittert und senkte den Kopf.
    Anápi kam es vor, als würde dieser Tonfall in seiner Stimme ihr Herz zerspringen lassen. Nichts in der Welt hätte sie lieber getan, als auf ihn zuzulaufen, ihn Cétir und der wütenden Menge zu entreißen und mit ihm an einen Ort zu verschwinden, an dem sie mit ihm allein sein und sich in Ruhe seine Sicht der Ereignisse anhören konnte. Obwohl es ihr nach wie vor unglaublich erschien, dass es einen von der Natur derart geformten Ort gab, an dem Dutzende Caleiras zugrunde gingen, glaubte sie in diesem Moment mehr als zuvor an seine Version der Geschichte. Nein, er war einfach kein Mann, der Tiere tötete, zumal er so viele Caleira-Gehäuse wirklich nicht loswerden können würde, ohne aufzufallen.
    Cétirs scharfe Stimme unterbrach ihre Gedanken. "Anápi! Du hast die drei an der Küste gesehen. Was haben sie da genau getan? Hast du sie Caleiras töten sehen?"
    "Nein!", rief Anápi. "Ich habe sie nur aus der Höhle herauskommen sehen, die Schalen in den Händen. Sonst nichts! Aber sie haben gelacht und sich gefreut. Das tut man nicht, wenn man ein Verbrechen begeht. Sie müssen die Schalen wirklich da gefunden haben."
    Lásil nickte heftig. "So war es auch! Ich verstehe nur nicht, wie du uns beobachten konntest …" Bei diesen Worten schien er sich sichtlich unwohl zu fühlen. "Wir haben dich nicht gesehen."
    "Ich hatte mich hinter einem Felsen in der Nähe der Höhle versteckt."
    Beyal machte große Augen. "Wie um alles in der Welt kommst du an diesem Ort? Keiner von uns kannte ihn."
    "Beyal, sei ruhig", unterbrach Cétir den Austausch von Belanglosigkeiten. "Anápi, sprich bitte weiter."
    "Ich bin oft dort in der Nähe … ich kann die Klippe hinunterklettern. - Cétir, ich kann nicht mehr sagen. Ich war nicht in der Höhle selbst. Ich … ich kann auch kaum glauben, dass man so viele Schalen an einem einzigen Ort finden kann. Aber jetzt weiß ich, dass es nicht anders gewesen sein kann. Sie hatten keine Messer bei sich. Und Blut habe ich an ihren Händen auch nicht gesehen."
    "Sie lügt doch!", schrie jemand mit aller Kraft nach vorne. "Glaubt ihr kein Wort! Sie will doch nur, dass Beyal nichts geschieht!"
    Dies war wieder neues Wasser auf die Mühlen der Zuschauer. Mitten in dem Geschrei fiel zunächst kaum jemandem auf, dass Beyal seinen beiden Leidensgenossen etwas zuflüsterte, woraufhin diese zunächst schwiegen und dann entschlossen nickten. Schließlich machte Beyal einen Schritt nach vorne und rief mit der gesamten ihm noch verbleibenden Kraft: "Wir fordern ein táchal!"
    Innerhalb weniger Augenblicke lag Totenstille über dem Dorf. Selbst diejenigen, die Beyal nicht verstanden hatten, weil sie selbst mit Keifen beschäftigt waren, verstummten und blickten fragend in die Gesichter ihrer Nachbarn. Ein táchal war ein Ritual, bei dem die Naturkräfte angerufen wurden, um über das Schicksal einer Person zu entscheiden, die sich gegen sie versündigt hatte. Um die Mächte nicht unnötigerweise in ihrem Fluss zu stören, kam es dazu nur, wenn die Schuld oder Unschuld des Täters anders nicht bewiesen werden konnte. Solche Verbrechen aber kamen zumeist durch Beobachter oder eindeutige Spuren ans Tageslicht - oder eben gar nicht. Angesichts der Erlebnisse Anápis, dem Schalenhaufen und der toten Caleira konnte niemand den Dörflern ihre Überraschung ob der Forderung eines solchen Rituals verdenken.
    Cétir war der erste, der passende Worte fand. "Ein táchal? Das hat es seit Generationen nicht gegeben."
    "Na und?", konterte Beyal, der mit einem Mal wie neugeboren schien. "Das ist die einzige Möglichkeit, unsere Unschuld zu beweisen, wenn ihr uns schon nicht glaubt."
    Vúram trat neben den Dorfvorsteher. "Wenn das euer Ernst ist, dann soll es so sein." Seine dunklen Augen funkelten, wie Anápi es noch nie zuvor gesehen hatte. Allem Anschein nach reizte es den Sprecher, ein solches Ritual durchführen zu dürfen, wie es lange keiner seiner Vorgänger abgehalten hatte. "Aber heute werde ich das nicht alles vorbereiten können. Dafür brauche ich die richtigen Utensilien, und Zeit und Ort wollen wohl gewählt sein … in zwei Tagen könnte ich es schaffen."
    Anápi wandte ihren Blick gen Boden. Als Vúrams Schülerin würde sie ihm bei den Vorbereitungen des Rituals helfen müssen … aber was, wenn es Beyal für schuldig befand? Schnell versuchte sie, das bange Gefühl in ihrer Magengrube abzuschütteln. Das táchal würde die Unschuld der drei beweisen. Es musste einfach so sein, wie die drei es beschrieben hatten! Aber da war immer noch die tote Caleira …
    Um sie herum löste sich die Ansammlung unter Cétirs Anweisungen langsam auf. Sie bahnte sich einen Weg in Richtung Vúram, wobei sie den Dorfvorsteher nicht aus den Augen ließ. Er hatte das Schalenbündel an sich genommen und wies allem Anschein nach ein paar Leute an, Beyal, Lásil und Yávu irgendwohin zu bringen. Wie gern hätte Anápi sie aufgehalten - nun würde sie wieder nicht mit Beyal sprechen können. Sie unterdrückte einen Seufzer. Kam es einmal zu einemtáchal, galten Aussagen von Zeugen oder Beteiligten ohnehin nichts mehr. Alles, was sie nun für Beyal tun konnte, war, Vúram bei der Vorbereitung des Rituals zu helfen, so gut sie konnte.
    Gegen Abend hatte der Wind aufgefrischt und seither nicht wieder nachgelassen. Mehr als einmal landeten große Spritzer Salzwasser in dem kleinen Boot, das Anápi und den Sprecher über die Wellen trug. Vúram hatte sich für dastáchal die Höhle ausgesucht, in der die drei die Caleiras gefunden hatten, denn dafür schien ihm der Ort des Verbrechens am besten geeignet. Anápi hatte ihm mehrere Male erklärt, wie sehr die Begehbarkeit der Höhle von den Gezeiten abhängig war, aber der Sprecher hatte dennoch auf diesem Ort beharrt. Der Rest der Nachmittagsebbe nach Cétirs Verhör hätte für eine Fahrt zur Höhle nicht mehr ausgereicht. So waren sie nun mitten in der Nacht, während der zweiten Ebbe, auf dem Weg zur Steilküste, um keine der wenigen Stunden zu verlieren, die sie für die Vorbereitung des Rituals nutzen konnten.
    Als sie die Felsnase gerade umrundet hatten, versteifte sich Anápis Körper unwillkürlich. Da, nur wenige Schritte vom Höhleneingang entfernt, lag bereits ein anderes Boot!
    "Da ist jemand!", rief sie Vúram zu.
    Der Sprecher erhob sich, was in dem schwankenden Boot nur unter großen Mühen möglich war. Anápi ergriff seine Schulter, bevor er etwa noch über Bord fiel, und deutete auf den Strand.
    "Tatsächlich", murmelte Vúram mit zusammengekniffenen Augen. "Ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte. Cétir hätte mir Bescheid gesagt, hätte er noch einmal herkommen wollen. Wir sollten vorsichtig sein." Er deutete dem Bootsführer, nahe an der Felsnase anzulegen. Wenig später hatten sie den Strand erreicht.
    Anápi sprang als erste aus dem Boot und deutete auf die Felsen vor dem Höhleneingang. Sie lief voran und nutzte dabei die bereits erprobten Verstecke; der Sprecher folgte ihr, so schnell es sein bereits fortgeschrittenes Alter erlaubte. Bald stand Anápi rechts neben dem Höhleneingang und beugte sich vorsichtig vor. In der Höhle tanzte die Flamme einer einzelnen Laterne - und beleuchtete das Gesicht eines Mannes, den Anápi sofort erkannte. Es war Devéral, der Seemoossammler aus dem Dorf. Und er suchte den Boden ab.
    Sie schob Vúram sanft ein paar Schritte vom Eingang weg und berichtete mit unterdrückter Stimme von dem, was sie eben gesehen hatte.
    "Devéral? Und Caleiras? Aber …"
    "Er sucht nach Caleiras, also glaubt er Beyal und den anderen!", sprudelte es aus Anápi heraus.
    Vúram runzelte die Stirn. "Und dafür kommt er zu dieser Zeit her? Und wenn das Meer so unruhig ist?"
    Anápi hörte nur mit halbem Ohr hin. Ein Gedanke stieg in ihr auf … Die Gestalt, die sie in der letzten Nacht bei Vúrams Haus gesehen hatte … das hätte Devéral sein können! Statur und Größe passten genau … Sie deutete dem Sprecher, ihr zu folgen, und zog ihn mit sich hinter den Felsen hervor und in die Höhle hinein.
    Devéral war so sehr auf den Boden konzentriert, dass er Anápi und Vúram erst bemerkte, als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt waren. Ruckartig fuhr er hoch und wich zurück. "Wa … was macht ihr denn hier?"
    "Anders als du haben wir ein táchal vorzubereiten", entgegnete Vúram. "Was treibst du da?"
    Der Seemoossammler hatte die Hand, die nicht die Laterne hielt, hinter den Rücken schnellen lassen. Aber ihm wurde wohl bald bewusst, dass Lügen nicht viel bringen würde - schließlich war die Zahl der Möglichkeiten, was man in dieser Höhle tun konnte, recht begrenzt. Devéral holte langsam die Hand hervor und hielt sie dem Sprecher hin - eine mit trockenem Sand überzogene Caleira-Schale lag darin. "Die habe ich hier gefunden", meinte er knapp.
    "Schön, aber das erklärt nicht, was dich mitten in der Nacht dazu bringt, hier nach Caleiras zu suchen."
    Devérals Blick wanderte zwischen Anápi und dem Sprecher hin und her. Er gab sich sichtlich Mühe, nicht nervös zu erscheinen, was ihm aber nicht ganz gelang, wie das Zittern der Flamme in der Laterne verriet. "Nun, es gibt hier angeschwemmte Caleiras … und ich dachte, bevor das halbe Dorf danach sucht, gehe ich mir noch ein paar holen."
    Vúram legte den Kopf schief. Nach einer kurzen Stille meinte er: "Du glaubst also das, was Lásil und die anderen beiden heute Mittag erzählt haben."
    Anápi dämmerte langsam, worauf der Sprecher hinauswollte. Es war kein Geheimnis, dass Devéral den Bootsbauer nicht ausstehen konnte. Als Seemoossammler brauchte er ein Boot, und seit er sich einmal fürchterlich mit Lásil in die Haare bekommen hatte, weil sie beide ein Auge auf dieselbe Frau geworfen hatten, verlangte der Bootsbauer von ihm weit mehr als das, was ein Boot gewöhnlich kostete. Seitdem versuchten die beiden, einander zu schaden, wann immer sich die Gelegenheit bot. Selbst wenn er Lásil geglaubt hätte, hätte er dies niemals vor der versammelten Dorfgemeinschaft zugegeben.
    Hier, allein vor der Autorität des Sprechers, war die Situation jedoch eine andere. "Ich … weshalb nicht? Deswegen bin ich ja auch hier, ich wollte wissen, ob es hier wirklich Caleira-Schalen gibt, wenn die Flut vorbei ist."
    "Nun … du warst heute Mittag doch sicher auch vor Cétirs Haus und hast die tote Caleira gesehen? Die Caleira, die jemand mit einem Messer durchgeschnitten hat?"
    Devéral nickte übertrieben heftig. "Natürlich habe ich das."
    "Warum solltest du dann glauben, dass Lásil die Wahrheit gesagt hast, wenn du ihn nicht ausstehen kannst und es solch einen belastenden Beweis gibt?"
    Der Seemoossammler senkte den Kopf, als könne er Vúrams Blick nicht länger ertragen. Die Flamme in der Laterne flackerte stärker denn je, und Anápi glaubte, auch in Devérals Oberarmen Zuckungen zu erkennen. Er verhielt sich wirklich mehr als seltsam … und je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie in ihrem Glauben, dass er es war, den sie in der letzten Nacht vor Vúrams Haus gesehen hatte. Devéral hasste Lásil … und dennoch schien er ihm zu glauben … aber jetzt konnte er sich gegenüber Vúram nicht rechtfertigen …
    Ein ungeheuerlicher Gedanke fuhr wie ein Blitz in ihren Kopf. Ohne weiter darüber nachzudenken, ließ sie ihn nach draußen. "Du warst gestern Nacht bei Vúrams Haus! Ich weiß nicht, wie, aber du hast die tote Caleira in den Haufen getan!"
    Mit einem Klirren landete die Laterne auf dem steinernen Höhlenboden; die Flamme erlosch. Schwärze breitete sich vor Anápis Augen aus - aber links von ihr huschte ein Schatten vorbei, und hastige Schritte bewegten sich in Richtung des Höhleneingangs.
    Anápi fuhr herum und setzte ihm nach. Dieser …! Er durfte auf keinen Fall entkommen! Im Augenwinkel sah sie den Bootsführer am Strand.
    "Néril …!"
    Der Angesprochene ergriff sein Paddel und warf es dem herausstürmenden Devéral vor die Beine. Dieser stürzte und fiel der Länge nach auf seine linke Seite. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, hatte der Bootsführer ihn erreicht. Zwischen den beiden Männern entbrannte ein wüster Kampf.
    "Das Boot!", schrie Vúram, "wir werden ihn nicht von hier wegbekommen!" Anápi verstand. Wenn es Devéral gelänge, das Dorf zu erreichen, würde er fliehen, bevor man ihn befragen konnte. Blitzschnell machten sie das Boot los und schoben es mit vereinten Kräften ins Meer. In dem heftigen Wellengang würde es rasch abgetrieben werden.
    Devéral lag gerade am Boden; Néril war über ihm und drückte seine Schultern auf den Boden. "Was soll ich mit ihm machen?", brüllte er in Richtung des Sprechers.
    "Er darf auf keinen Fall ins Dorf kommen!", rief Vúram zurück, der gerade mit Anápi das eigene Boot losmachte. Die beiden sprangen hinein, und in einem günstigen Augenblick, in dem er Devéral gerade einen schmerzhaften Schlag in die Seite verpasst hatte, hechtete der Bootsführer hinterher. Er keuchte; die Haare waren zerzaust und klebten ihm vom Schweiß an Hals und Rücken. Mit vereinten Kräften hatten sie sich aber bald ein gutes Stück vom Ufer entfernt. Hinter ihnen stürzte sich bald der Seemoossammler in die Fluten, doch noch bevor er eine Wassertiefe erreicht hatte, in der er nicht mehr stehen konnte, gab er sein Vorhaben auf - angesichts des Seegangs waren beide Boote für einen Schwimmer bereits unerreichbar.
    "Was war das denn eben", brachte Néril heraus, "ich habe nur ein Klirren gehört, und dann …"
    "Wir können nur mutmaßen", erwiderte Vúram mit hilfesuchendem Blick. "Aber es scheint, dass wir uns über die Herkunft der toten Caleira in dem Schalenhaufen grundlegend geirrt haben."
    In Anápi harrten tausend Fragen einer Antwort, doch während der restlichen Fahrt sprach keiner ein Wort, also wagte auch sie es nicht. Bis zum Eintritt der Flut waren es noch ein paar Stunden - bis dahin würde man Devéral abgeholt haben. Allein das Schäumen der Wellen und das Geräusch der Paddel begleiteten die drei auf ihrem Rückweg ins Dorf.
    ***
    Im Morgengrauen hatte sich halb Sésento am Nordstrand versammelt, um auf die Boote zu warten, die den Seemoossammler abholen sollten.
    "Wie, er ist weg?", entfuhr es Cétir erschreckend laut. "Wie kann das denn sein?"
    "Er ist nicht mehr in der Höhle", erklärte der keuchende Mann, der soeben aus dem ersten Boot gesprungen war. "Wir waren dort, sind hineingegangen, bis zum Ende - nichts. Er ist verschwunden. Zumindest in der Nähe haben wir ihn auch nicht schwimmen gesehen."
    "Natürlich", meinte Vúram leise, "es war töricht von mir, anzunehmen, dass er dort bleiben würde, bis jemand kommt und ihn holt. Er wusste ja, dass wir ihn durchschaut hatten - für ihn stand zu viel auf dem Spiel. Er ist wohl ans nächste Ufer geschwommen und verschwunden."
    "Bei dem Wind, wie wir ihn heute haben?", zweifelte der Bootsführer. "Da kommt er nicht weit. Es war schon eine Qual, mit dem Boot vom Fleck zu kommen."
    "Gut, dann schicke ich Suchtrupps los", beschloss Cétir. "Irgendjemand wird ihn schon finden und hierherbringen."
    ***
    Kurz vor Einbruch der Dämmerung kamen zwei der Dörfler, die nach Devéral gesucht hatten, mit schwermütigen Mienen ins Haus des Dorfvorstehers. Selbiger saß mit Beyal, Lásil, Yávu und Vúram um einen Tisch. Auch Anápi war anwesend. Sie hatten etwas gegessen und darüber gesprochen, was mit Devéral und dem Haufen Caleira-Schalen geschehen sollte. Als Cétir sich erkundigte, was denn geschehen sei, erwiderte einer der Männer nur tonlos: "Kommt alle mit. Wir haben Devéral gefunden."
    In einer kleinen Prozession ging es zunächst nach draußen, zur Verwunderung aller dann aber nicht etwa an den flachen Strand, sondern ans südlichere Ende des Dorfs und von dort aus die Klippe entlang. Schließlich erreichten sie eine Stelle nur unweit von der, die Anápi immer für ihre gefährliche Kletterpartie benutzte. Der Anführer der kleinen Gruppe trat vorsichtig an den Rand der Klippe heran und deutete nach unten.
    Etwa dreißig Schritt unter ihnen lag auf ein paar größeren Felsbrocken am unteren Strand der merkwürdig verkrümmte Körper eines Mannes. Devéral. Schockiert wichen die meisten sogleich wieder vom Abgrund zurück.
    "Er wollte … die Klippe hochklettern." Anápi war die erste, die wieder Worte fand. Ihre Knie gaben nach, und sie ließ sich nach vorne auf sie herabsinken. "Die falsche Seite … auf dieser Seite des großen Felsens geht es nicht."
    "Manchmal ist die Natur doch gnädig", meinte Vúram und streckte der jungen Frau eine Hand entgegen, um sie wieder hochzuziehen. "Wer weiß, ob es so nicht besser ist, als ein Leben fernab der Heimat zu führen und für immer als Verbrecher zu gelten." Die Blicke der Anwesenden richteten sich schweigend auf ihn.
    "Er hat eine Caleira getötet. Und er hat drei Mitglieder unserer Gemeinschaft einer Tat bezichtigt, die sie nicht begangen haben. Das macht ihn zu einem Verbrecher." Während er leise sprach, bewegte sich der Sprecher ein paar Schritte vom Abgrund weg und wandte sich dem Dorfvorsteher zu.
    Dieser nickte. "Ich werde ihn später holen lassen. Zuerst ist es an der Zeit, den anderen einiges zu erklären."
    Langsameren Schritts als zuvor setzte sich die kleine Gruppe wieder in Bewegung. Im Zwielicht der fortschreitenden Dämmerung hatten sich die Meereswinde gelegt, und kaum ein anderer Laut war mehr zu hören als die Schritte der Siú auf dem felsigen Boden am oberen Ende der Klippe.

  • 3
    Draußen knirschten Schritte auf Geröll. Cassy hielt die Luft an und lauschte. Dseyun lief auf und ab wie ein Tiger, auf und ab, und sie konnte förmlich hören, wie ungeduldig er war.
    Mit schlechtem Gewissen zog sie die Hose hoch und verknotete das Band, obwohl sie sich noch nicht besser fühlte. Genau genommen hatte sie sich seit Tagen nicht besser gefühlt, aber sie durfte die Gruppe nicht noch länger aufhalten.
    Als sie die Toilettentür aufstieß, wandte Dseyun den Kopf und blieb stehen. Der Yunai-Mann sah aus wie immer, als könnten ihm Hitze, eine Steigung von dreißig Grad und nur eine einzige Toilette innerhalb von vier Wegstunden nichts anhaben. Wobei letzteres auch stimmte, dachte Cassy säuerlich, immerhin war er ein Mann.
    "Geht es dir besser?", fragte er sachlich.
    Cassy nickte. Wie es ihr ging, interessierte ohnehin niemanden. Sie hätte niemals geglaubt, dass sie ihre einsame Wohnung in Es-Chaton einmal so schätzen würde, aber nach zwei Wochen im Süden von Marou kamen ihr die alltäglichsten Dinge luxuriös vor, beispielsweise soviel Zeit auf der Toilette zu verbringen, wie sie wollte.1 Oder überhaupt eine Toilette zu haben. Dieses verlassene Arbeiterquartier am Hang war immer noch besser als ein Gebüsch.
    "Gut." Dseyun musterte sie, vielleicht wollte er die Richtigkeit ihrer Aussage überprüfen. Der Yunai war der Anführer ihrer Truppe, und zuerst war Cassy von ihm begeistert gewesen. Mit seinen langen schwarzen Haaren, die er zu einer komplizierten Frisur hochgebunden trug, der dunklen Haut und den durchdringenden hellen Augen sah er aus, wie sie sich die Helden ihrer Kindheit ausgemalt hatte, Yuns weltberühmte Schwertkämpfer.2 Aber inzwischen hatte sie Marou und ihre Reise so gründlich satt, dass sie nichts mehr begeistern konnte, auch Dseyun nicht. Außerdem brachte er ihr ohnehin die meiste Zeit so viel Aufmerksamkeit entgegen wie einer Fliege auf seinem Stiefel, seine Aura hatte die unansehnliche Farbe von schmutzigem Eis und fühlte sich genauso kalt an.
    "Nion!", rief Dseyun. "Wo steckst du? Es geht weiter!"
    Nions schmale Gestalt schnellte aus dem Schatten eines Felsblocks in die Höhe. Er bedachte Cassy mit einem missbilligenden Blick, als könnte er sich gerade eben eine Bemerkung darüber verkneifen, wie sehr Frauen doch "den Betrieb aufhielten". Aber das war auch nicht nötig, denn erstens las sie es in seiner Aura und zweitens hatte sie diesen Spruch schon oft genug gehört. Es war einer von Nions Lieblingssprüchen.
    Sie streckte die Hand aus, um ihren Imp von dem Felsbrocken abzupflücken, wo er auf sie gewartet hatte.3 Malakai sprang auf ihren Arm und lief auf die Schulter hinauf, seinem Stammplatz. Mit verschränkten Beinen ließ er sich nieder. Er mochte zwar nur ein Ding sein, trotzdem gab ihr seine Gesellschaft etwas mehr Zuversicht. Sie fühlte sich nicht so allein.
    Nion sprang schon wieder allen voran den Pfad hinauf. Sein rotes Haar leuchtete wie eine Fackel in der stechenden Sonne. Ihn konnte Cassy von ihrer kleinen Reisegruppe am wenigsten ausstehen. Nion war klein und schmal und auf die typisch halbelfische Art schön. Seine Haut war marmorfarben, und das perfekt geschnittene Gesicht erinnerte an das einer Porzellanpuppe. Die Narbe auf seiner Stirn wirkte so wenig überzeugend, dass sich Cassy nicht gewundert hätte, wenn er sich selbst geschnitten hätte, um verwegener zu wirken. Aber abgesehen von seinem Gesicht war nichts an Nion niedlich. Er nannte Cassy die "Hexolschlampe", erzählte ihr zehnmal am Tag, dass sie "den Betrieb aufhalte" und erklärte, wenn sich irgendwann ein Mann für so ein dürres, glatzköpfiges Ding wie sie interessieren würde, würde er ihr eine Kiste Sekt schenken. Sie hätte ihn umbringen mögen.
    Dseyun folgte ihm mit etwas gemesseneren Schritten. Zuletzt schloss sich Cassy an und benutzte ihren Magierstab als Gehstock. Ihre Beine hatten zwar schon vor Tagen aufgehört zu protestieren, aber es war trotzdem nicht so anstrengend, wenn sie sich abstützte. Mit der Linken drückte sie den Hut aus geflochtenen Dschungelblättern tiefer in die Stirn, damit die Sonne ihr nicht die nackte Kopfhaut verbrannte.
    "Ich will nach Hause", flüsterte sie Malakai zu und kam sich furchtbar kindisch vor. Immerhin bezahlte das Unternehmen sie gut für diese Reise, und sie hatte die Chance, als Hexolforscherin zu einigem Ansehen zu kommen.4 Wenn es stimmte, was sie von Scheffler gehört hatte, war eine solche Entdeckung noch nie gemacht worden.5 Aber keine Bezahlung konnte diese Strapazen aufwiegen, dachte sie, konnte den Frust aufwiegen, wochenlang mit zwei gutaussehenden Männern unterwegs zu sein, die sie mit Verachtung straften. Und die Reise bekam ihr nicht. Als sie noch in Hotels abgestiegen waren, hatte sich Cassy geärgert, dass es nur Brötchen mit Wurst und Käse gab, nichts Warmes, aber jetzt hätte sie mit Begeisterung ein Käsebrötchen verzehrt. Seit acht Tagen bekam sie nur noch trockene Kekse zu sehen, die die Konsistenz und den Geschmack von Pappe aufwiesen, und Wasser aus großen Flaschen, das nach Staub und Leder schmeckte. Kein Wunder, dass ihr manchmal schwarz vor Augen wurde.
    "Du hast es ja bald geschafft", zirpte Malakai dicht an ihrem Ohr. "Nur noch ein paar Tage. Dann kannst du den Abgang machen und diese Herren der Schöpfung wieder sich selbst überlassen."
    Cassy seufzte und beschleunigte ihre Schritte, weil sie schon wieder zurückfiel. Immerhin gab es hier, in der Nähe der Grabung, wieder mehr Anzeichen der Zivilisation (wie ab und zu eine Toilette). Das Geröll erschwerte das Laufen allerdings sehr. Von unten hatte die kahle Spitze des Vulkans schwarz ausgesehen, wie sie sich über dem Urwald erhob, aber hier oben waren die Gesteinsbrocken von einem gräulichen Rot, das an eine Wüste erinnerte. Bei jedem Schritt gerieten die scharfkantigen Steine ins Rutschen, und mehr als einmal war Cassy bei dem anstrengenden Aufstieg gestürzt und hatte sich die Knie blutig geschlagen. Es herrschte tiefe Stille, nirgends kämpfte sich auch nur ein Grashalm durch das Geröll. Hier oben schien es überhaupt kein Leben mehr zu geben, was in der Nähe von so viel Hexol eigentlich mehr als seltsam war. Cassy verzog das Gesicht und zerrte an den Riemen ihres Rucksacks. Die Wasserflasche darin schien mit jeder Wegstunde schwerer zu werden, und ihr Rücken hatte schon wunde Stellen, wo die Lederriemen durch ihre dünne Kleidung schnitten.
    Dann plötzlich, ohne Vorankündigung, kehrte das Gefühl zurück. Cassys Ohren verschlossen sich, das Blut begann darin zu klopfen. Sie hörte Herzschlag – langsamen, unendlich kraftvollen Herzschlag, und sie hatte den Eindruck, von kühlen, fürsorglichen Händen gehalten zu werden. Sie holte tief Luft und stützte sich auf ihren Stab, um nicht zu fallen. Sofort stand Dseyun neben ihr.
    "Spürst du etwas?", fragte er.
    Sie konnte nur nicken. Sie hatte die Empfindung schon häufiger gehabt, je näher sie dem Vulkan gekommen waren, aber bislang nur kurz vor dem Einschlafen oder Erwachen.
    "Hexol", murmelte sie, als das Gefühl abklang. "Viel Hexol. Scheffler hatte Recht, das ist nicht einfach eine Lay.6 Hier ist eine riesige Menge Hexol konzentriert, mehr, als alle Organa von Es-Chaton in einem Jahr saugen.7"
    Eine von Dseyuns Augenbrauen hob sich, ansonsten blieb sein Ausdruck undurchdringlich. Er nickte einmal kurz, wandte sich dann ab und nahm den Aufstieg wieder auf.
    Cassy wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Jetzt, wo die Empfindung schwand, fühlte sie sich schrecklich verlassen. Von jeher schien Hexol das einzige auf der Welt zu sein, das etwas für einen Drachenmenschen wie sie übrig hatte. Sie runzelte die Stirn, als ihr etwas auffiel. War der Herzschlag nicht langsamer gewesen als sonst, wenn sie mit Hexol arbeitete? Und hatte die Berührung der Hände nicht kürzer angehalten? Aber bevor sie den Männern etwas davon erzählte, hielt sie lieber den Mund. Sie war erschöpft, und Drachenmenschen galten ohnehin als überspannt.8
    Sie stiegen weiter hinauf. Cassy fragte sich, wie die winzigen spitzen Steine den Weg in ihre Stiefel nur schafften. Die Sonne schien einfach nicht zu sinken, obwohl sie ihrem Gefühl nach schon wieder stundenlang unterwegs waren. Sie konnte so viel Wasser in sich hinein schütten, wie sie wollte, ihre Kehle brannte noch immer. Kurz hielten sie Rast im Schatten eines großen Felsblocks, dann kletterten sie weiter, die Männer voran und Cassy hinterher. Ihre Lunge brannte, und sie musste sich mehr und mehr zwingen, einen Fuß vor den nächsten zu setzen. Natürlich hatten die Männer diese Schwierigkeiten nicht, Nion war sogar vor lauter Ungeduld schon weit voraus gelaufen. Als Cassy gerade mit ihrem Stolz kämpfte und überlegte, ob sie Dseyun um eine weitere Pause bitten sollte, kam Nion zu ihnen zurückgelaufen, dass die Steine nur so zur Seite wegspritzten.
    "Sie sagen, es ist kein Vulkan!", verkündete er schon aus der Ferne.
    "Wer sagt das?", fragte Cassy, und zugleich fragte Dseyun: "Was ist es sonst?"
    Nion breitete die Arme aus. "Ein Krater!", antwortete er melodramatisch, wobei er Cassys Frage wie so häufig völlig ignorierte.
    Zum ersten Mal wirkte Dseyun überrascht. "Das ist höchst merkwürdig. Wenn es ein Krater ist, warum erstreckt er sich dann in die Höhe?"
    Unvermittelt schoss Cassy ein Bild durch den Kopf. Ein Geschwür. Sie schluckte, als sich ihr Verstand mit Bildern füllte, die alle schwach, krank, gefährlich, fremd, schlimm bedeuteten. Die Welt kippte weg, und Dseyun packte sie mit Eisengriff am Arm.
    "Cassandra? Ist alles in Ordnung?"
    Zittrig holte Cassy Luft. Der Himmel färbte sich erst blutrot, dann tiefschwarz. Sie blinzelte, und das erbarmungslose Blau über ihr kehrte zurück. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. "Wir müssen hier weg. Das ist ein schrecklicher Ort!" Plötzlich kamen ihr die Gedanken, die sie sich um Brötchen und Toiletten gemacht hatte, nichtig vor. Gefahr. Gefahr. Es war so deutlich, aber die Männer würden sie nicht verstehen. "Es ist gefährlich", sagte Cassy und hörte selbst, wie verloren ihre Stimme klang.
    Nions Gesicht hellte sich auf. "Gefährlich? Umso besser. Ich langweile mich ohnehin schon den ganzen Tag."
    "Bitte glaubt mir", sagte Cassy verzweifelt. "Hier stimmt etwas nicht. Es ist ein toter Ort. In der Nähe von so viel Hexol müsste man einen blühenden Flecken vorfinden!"
    Dseyun hob den Kopf und spähte den Berghang hinauf. "Du hast Recht." Er runzelte die Stirn. "Schrecklich, sagst du?" Es schien, als wolle er etwas hinzufügen, doch dann schüttelte er den Kopf. "Du bist sicher müde. Wenn du dich erst einmal ausgeruht hast, wirst du nicht mehr Die-Dunkelheit-ausspeit in jedem Schatten sehen."
    Unwillkürlich wurde Cassy bei seinen Worten kälter. "Die-Dunkelheit-ausspeit? Was ist das?"
    "Nur eine Redensart. Ein Name, den mein Volk für ein Wesen kennt, das nicht beschrieben werden kann. Es heißt, sie sei der Feind unserer Mutter." Er machte eine knappe Geste, die vielleicht die Landschaft ringsum, vielleicht den Boden unter seinen Füßen meinte. "Mein Volk erzählt, die Welt sei bunt und vielfältig gewesen, ehe sie Die-Dunkelheit-ausspeit, die im Sterben lag, umfing und an ihre Brust legte, um ihr Leben zu retten. Doch die Fremde konnte nicht geheilt werden, und sie brachte Schmerz und Elend über alles. Wohin ein Fetzen ihres verstümmelten Körpers oder ein Tropfen ihres Blutes fiel, entstanden die Dämonen Pest, Gier und Hass, und die Geister der Sterblichen wurden von Verwirrung umhüllt. Sie verloren ihre Achtung vor Mutter. Sie öffneten ihren Leib und entrissen ihr ihre Schätze, Gold und Metall … aber ich erzähle Märchen." Ein schwaches, entschuldigendes Lächeln huschte über sein Gesicht. "Wir Yunai sagen jedenfalls, wenn jemand schreckhaft ist, er sähe Die-Dunkelheit-ausspeit im Schatten."
    "Verstehe", murmelte Cassy. Die Geschichte war nicht dazu angetan, ihre Laune zu heben. Ein zerstückeltes Wesen …
    "Kannst du weiter gehen?" Dseyun hatte zu seinem üblichen sachlichen Tonfall zurück gefunden.
    "Ja. Je schneller wir fertig sind, desto schneller können wir diesen toten Ort verlassen."
    "Es ist überhaupt kein toter Ort", sagte Nion, der offenbar nur halb zugehört hatte. "Auf der Grabung sind jede Menge Leute. Sie wollen uns ihre Ergebnisse vorlegen. Kommt schon, wir sind gleich oben."
    Auch wenn das akute Gefühl von Gefahr geschwunden war, musste Cassy sich zwingen, um weiter zu gehen. Sie wusste, sie hatte es sich nicht eingebildet.
    Malakai hüpfte ihr von der Schulter auf den Hut. "Aber Cassy!", sagte er vorwurfsvoll. "Wenn es gefährlich ist, kannst du da nicht hingehen. Was ist denn überhaupt los? Du bist ganz blass."
    "Ich weiß es nicht", murmelte Cassy. "Ich kann es nicht erklären." Nion blickte sich über die Schulter nach ihr um, als wolle er eine spöttische Bemerkung darüber machen, dass sie sich mit einem Imp unterhielt, aber ausnahmsweise sagte er nichts.
    Cassy konnte inzwischen die Grabung sehen. Halb verfallene Stümpfe von Türmen standen auf der Spitze des Berges in den Himmel wie abgebrochene Zähne. Ein Muster von Holzzäunen zog sich zwischen den Ruinen hindurch. Noch ehe ihre Gruppe den Gipfel erreicht hatte, liefen ihnen die Grabungsarbeiter entgegen. Einer, der in einer staubigen Uniform steckte und vermutlich der Leiter war, redete auf Dseyun ein und drückte ihm einen Stapel Papier in die Hand. Alle schienen gleichzeitig zu sprechen, und wieder wurde Cassy schwindelig. Sie bemerkte kaum, wie sie den Gipfel erreichten. Erst, als sie in einem Zelt auf einem Hocker saß und ihr jemand eine dampfende Tasse Tee anbot, wurde ihr klar, dass sie endlich ihr Ziel erreicht hatten.
    Die Grabung machte einen vernachlässigten Eindruck – wie eines der zahlreichen staatlichen Projekte zur Erforschung der chrymäischen Ruinen, die aus Geldmangel in den letzten Jahren aufgegeben worden waren. Nur existierte diese noch. Cassy fragte sich, ob der Staat das auch wusste. Durch das Zelt spannten sich Schnüre, an denen getrocknete Früchte hingen, und in der Ecke befand sich ein kleiner Herd, in dem Wasser abgekocht werden konnte. Offenbar waren die Arbeiter daran gewöhnt, sich selbst zu versorgen. Aber was hatte sie dazu gebracht, unter diesen widrigen Bedingungen durchzuhalten?
    "Das ist Cassandra Cordes, unsere Hexolexpertin", stellte Dseyun Cassy vor und lehnte seinerseits mit einer knappen Geste den Tee ab, den ihm ein Arbeiter brachte. "Frau Cordes wird den Fund untersuchen, und das Unternehmen erwartet bald Rückmeldung über alles, was sie heraufindet. Herr Bukovicz und ich prüfen derweil die Qualität des Hexols. Ihr habt hier oben gute Arbeit geleistet. Aber wie seid Ihr überhaupt auf den Gedanken gekommen, dass sich unterhalb der Ansiedlung eine Hexolquelle befindet? Gab es irgendwelche Anzeichen? Gerade der karge Boden weist ja nicht darauf hin."
    Der Mann in der Uniform wirkte nervös. "Die Ruinen stammen zwar aus chrymäischer Zeit, aber wir konnten nicht feststellen, dass es sich wirklich um eine Ansiedlung handelt. Die Bauten erinnern am ehesten an Wachtürme. Aber eine ganze Ansiedlung voller Wachtürme konnten wir uns nicht erklären."
    Nion streckte auf seinem Klappstuhl die Beine von sich und gähnte demonstrativ. Archäologische Vorträge interessierten ihn nicht. Dseyun trat an die Zelttür und schaute nachdenklich hinaus. "Es scheint in der Tat kaum Wohnhäuser gegeben zu haben, soweit es sich noch erkennen lässt. Ungewöhnlich für die Chrymäer. Trotzdem hat diese Tatsache in meinen Augen nichts mit dem Hinweis auf ein größeres Hexolvorkommen zu tun. Ich frage also noch einmal: Wie seid Ihr auf den Gedanken gekommen, dass es hier Hexol gibt?"
    Der Mann kratzte sich an der Schläfe, ein wenig hilflos, wie es Cassy schien. "Ich kann Eure Frage nicht beantworten, Herr Dseyun. Ich weiß es nicht. Wir alle waren uns einig, dass noch etwas anderes unter den Ruinen sein müsste. Und als wir es gefunden haben, hatten wir das Gefühl, wir müssten sofort Scheffler kontaktieren."
    "Da ist etwas – anderes, nicht nur Hexol, nicht wahr?", fragte Cassy leise. Sie wusste nicht, wie der Gedanke in ihren Kopf kam, aber das Gefühl war stark.
    Der Grabungsleiter machte eine ratlose Geste.
    "Ich kann nicht behaupten, alles zu verstehen", sagte Dseyun. "Aber wenn Eure Meldung der Wahrheit entspricht, habt Ihr klug entschieden. Der Staat würde das Hexol einstreichen und Euch nicht einmal für Eure Mühe entlohnen. Scheffler dagegen wird sich für Euer Vertrauen erkenntlich zeigen. Grundbedingung ist natürlich, dass diese Angelegenheit unter uns bleibt."
    Cassy nippte an ihrem Tee. Sie fühlte sich alles andere als wohl. Auf den Gedanken, dass sie zu allem Überfluss auch noch in eine illegale Sache verwickelt war, war sie noch nicht gekommen. Scheffler besaß zwar keinen guten Ruf, weil er seine Arbeiter schlecht bezahlte, aber dass ein so bekanntes Unternehmen den Staat hinterging, hätte sie nicht für möglich gehalten. Trotzdem, die beiden seltsamen Männer, die Wanderung, wo sie doch auch ein Luftschiff hätten benutzen können, dieser abgelegene Ort … sie hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmte. Cassys Hand zitterte, rasch stellte sie die Teetasse ab und schlang die Finger ineinander, um das Zittern zu unterdrücken.
    "Selbstverständlich, Herr Dseyun", sagte der Grabungsleiter. "Wird denn Scheffler dafür sorgen, dass die Entdeckung auch später geheim bleibt? Einige meiner Mitarbeiter …"
    Dseyuns Aura verfinsterte sich leicht, wenn auch seine Miene unbeweglich blieb. "Ihr solltet Eure Arbeiter im eigenen Interesse unter Kontrolle halten. Alles Übrige bleibt Scheffler überlassen, aber ich bin bereit, ein gutes Wort für Euch einzulegen. Können wir nun den Fund sehen?"
    "Möchtet Ihr nicht erst die Aufzeichnungen studieren?"
    Dseyun warf die Blätter auf den Klapptisch, der mitten im Zelt stand. "Zuerst würden wir uns gern selbst ein Bild machen."
    "Dann folgt mir bitte." Der Mann wich Dseyuns Blick aus. Nion sprang auf, dehnte sich wie eine Katze und stand einen Augenblick später vor dem Zeltausgang. Cassy kämpfte sich vom Stuhl hoch, ihr Körper schien ihr kaum mehr zu gehorchen. Vor allem ihre Füße schmerzten auf einmal unerträglich. Obwohl sie gehofft hatte, sich auf der Grabung ausruhen zu können, war ihr auch das jetzt gleichgültig. Sie war eine Verbrecherin! Oder zumindest wurde sie gerade zu einer, und sie konnte überhaupt nichts dagegen tun. Was würden die Männer mit ihr machen, wenn sie sich plötzlich weigerte, zu erledigen, was ihr aufgetragen worden war? Was würde Dseyun machen? Sie wollte es gar nicht wissen. Der Yunai wartete, bis sie aufgestanden war, und bildete den Abschluss des kleinen Zuges. Vor Angst war Cassy ganz kalt, und ihre Knie fühlten sich weich an. Sie hatte sich ohnehin gewundert, warum Scheffler ausgerechnet sie für eine so gut bezahlte Arbeit ausgewählt hatte, eine unbekannte Forscherin, die weder Freunde noch Gönner besaß. Sicher, ihre Noten waren hervorragend, und ihr Hexolgespür übertraf das vieler anderer Drachenmenschen, doch jetzt vermutete sie fast, dass für das Unternehmen eine andere Tatsache von größerem Interesse gewesen war: Abgesehen von Malakai würde niemand sie vermissen. Oder war sie jetzt völlig paranoid geworden?
    Der Imp hatte sich auf ihrem Hut klein gemacht und rührte sich nicht. Ob er begriff, in was für einer Situation sie sich befand? Oder spürte er einfach nur ihre Angst?
    Der Grabungsleiter führte sie zu einem Loch im Boden, das Cassy schon aus der Entfernung aufgefallen war. Eine improvisierte Treppe aus Brettern führte in die Tiefe – weit in die Tiefe, wie es aussah. Balken stützten die ausgehöhlten Wände des Schachtes ab. Aus dem Schacht stieg ein schwacher, aber ekelhafter Geruch auf – als würde etwas verwesen, das schon in lebendigem Zustand unappetitlich gewesen war.
    "Auf zum Mittelpunkt der Welt!", sagte Nion munter.
    Der Grabungsleiter zog einen Lichtkristall aus der Tasche und warf einen unruhigen Blick auf Dseyun. Als der Yunai-Mann ihm einen Wink gab, hob er den Kristall und stieg voran in die Dunkelheit hinunter. Cassy war übel und schwindelig, wieder musste sie sich auf den Stab stützen, um auf der unebenen Treppe nicht zu fallen.
    Plötzlich fasste sie Dseyun unter dem Arm.
    "Brauchst du Hilfe?", fragte er ruhig.
    Cassy zuckte zusammen. "Oh, Herr – Dseyun, ich – ich komme schon zurecht, aber ich wollte nur sagen, auch ich bin dem Unternehmen gegenüber vollkommen loyal." Sie schämte sich für ihre eigene Feigheit. "Was auch immer wir hier finden, niemand wird von mir ein Wort darüber erfahren."
    Im blassen Schein des Lichtkristalls wirkte Dseyuns Gesicht gespenstisch. "Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, deine Loyalität in Zweifel zu ziehen. Du bist eine kompetente Frau, und das Unternehmen weiß deine Qualitäten zu schätzen." Er schob Cassy nicht unsanft weiter voran. "Komm mit, wir sind hier noch nicht fertig." Ihre Knie zitterten noch immer, aber sie fühlte sich nicht unbedingt erleichtert. Wer konnte wissen, was als nächstes passierte?
    Je tiefer sie ins Erdinnere vordrangen, desto unbehaglicher fühlte sich Cassy. Obwohl es nicht warm war, brach ihr der Schweiß aus, und der Hut klebte ihr an der Stirn. Der Lichtkristall schickte flackernde Schatten über die Wände, und nicht nur einmal zuckte Cassy zusammen, weil sie etwas – irgendetwas – in den Schatten zu erkennen glaubte. Es war aber nichts da, nur das Erdreich und einige Felsen, die aus den Wänden ragten. Der Tunnel wurde feuchter, je tiefer sie hinabstiegen.
    "Die haben aber tief gegraben." Nions Stimme hallte von den Wänden wider. Der rothaarige Halbelf gab sich gelassen, doch Cassy konnte am Vibrieren seiner Aura erkennen, dass auch er unruhig war.
    "Wir sind gleich da", sagte der Grabungsleiter gedämpft. "Nur noch ein paar Schritte …"
    Eine Welle von Empfindungen überschwemmte Cassy, und sie wäre sofort zusammengesackt, wenn Dseyun sie nicht um die Taille gepackt und festgehalten hatte. Zuneigung, Abscheu, Freude und Verzweiflung, Schmerz und das Nachlassen eines unerträglichen Schmerzes … die Unterschiedlichkeit der Gefühle zerriss sie beinahe. Sie schrie auf und kämpfte darum, sich aus Dseyuns Griff zu befreien, um sich wieder die Treppe hinauf zu schleppen. Es war zwecklos, da ihr Körper so schlaff war wie Pudding.
    Sie begann zu schluchzen und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht. "Wir können nicht weiter gehen! Wir können da nicht runter!"
    Dseyuns Hände lockerten sich nicht. "Cassandra, ich kann dich stützen, oder ich kann dich tragen, aber dort hinunter wirst du dich in jedem Fall bewegen", sagte er. "Man erwartet unseren Bericht."
    "Wir haben dich nicht so lange mit uns rumgeschleppt, damit du uns auf den letzten Metern schlapp machst", pflichtete Nion ihm bei.
    Vor Cassys Blick flimmerte es, sie kniff die Lider fest zusammen. Nur noch undeutlich spürte sie, wie Dseyun sie mit sich zerrte. Dann strahlte hellblaues Licht sogar durch ihre geschlossenen Lider. Das musste es sein, was sie gespürt hatte. Sie konnte nicht anders, als die Augen aufzureißen.
    Vor ihr breitete sich die unglaublichste Menge Hexol aus, die sie jemals gesehen hatte. Es war wie ein Meer vom prachtvollsten Blau, und es erstreckte sich bis zum Horizont der unterirdischen Höhle. Zum großen Teil schien das Hexol in Wasser gelöst zu sein, glühende Wellen spülten um den Felsboden der Grotte und leckten an den schmutzigen Stiefeln des Grabungsleiters. Ein anderer Teil des wertvollen Rohstoffs schwebte als blau leuchtender Nebelschleier über dem Meer, rankte sich in irisierenden Spiralen in die Dunkelheit und formte zarte, komplexe Gebilde in allen denkbaren Blauschattierungen.
    Dseyun ließ Cassy los. Sie stürzte vornüber auf die Knie, aber sie spürte den Schmerz nicht.
    Es war unfassbar. Sie konnte nichts tun als schauen.
    Nion fand als erster die Sprache wieder. "Das glaub ich jetzt nicht!", rief er. Sein schmaler Körper war eine Silhouette vor dem leuchtenden Blau. "Sieh sich nur einer all das Hex an! Hier unten hat’s die ganze Zeit drauf gewartet, dass jemand es findet und sich eine goldene Nase daran verdient! Stellt euch bloß mal vor, wie viel Kris man aus dem Zeug herstellen kann! Scheffler wird begeistert sein!"
    Während sich Cassy benommen aufrichtete, war Dseyun schon an das Hexolmeer heran getreten und schöpfte mit der hohlen Hand von der leuchtenden Flüssigkeit. Prüfend nahm er einen kleinen Schluck.9"Ausgezeichnetes Material", stellte er fest. "Die Konzentration ist sehr hoch. Diese Quelle ist ergiebiger als die yunischen. Es ist wirklich verblüffend." Er nahm seine Wasserflasche aus dem Gepäck, tauchte sie tief in das Hexol ein und kehrte mit der vollen Flasche zu Cassy zurück. "Trink, das wird dir wieder auf die Beine helfen."10
    Automatisch führte Cassy die Flasche zum Mund und schluckte. Die Schönheit des unterirdischen Meeres bannte sie noch immer, aber sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Dass sich soviel Hexol an diesem Ort befand, war nicht richtig. Sie wusste es so deutlich, wie sie wusste, dass Bäume ihre Wurzeln nicht in den Himmel streckten.
    "Wir haben außerdem dies hier gefunden", sagte der Grabungsleiter. Obwohl er flüsterte, war seine Stimme in der Stille deutlich zu hören. "Das scheint für die Hexolansammlung verantwortlich zu sein, auch wenn wir nicht verstehen, welcher Zusammenhang besteht." Er ergriff eine eiserne Stange mit einem improvisierten Haken am Ende und stieg auf einen Felsvorsprung, der ein Stück über dem Wasser aufragte. Mit weit aufgerissenen Augen sah Cassy zu, wie er die Stange ins Wasser hinein stieß und einen Moment später wieder hervorzog. An der Spitze der Stange hing …
    Ein Fleischfetzen?
    Der Teil einer Pflanze?
    Der abgetrennte Tentakel eines Weichtieres?
    Es war weißlich und leicht transparent, und es zuckte wie ein Fisch im Todeskampf. Der Gestank, der davon ausging, nahm Cassy den Atem, sie zog sich ihr Halstuch über die Nase und atmete durch den geöffneten Mund. "Igitt", sagte Nion angewidert, und sogar Dseyun wich zurück.
    "Was soll das sein?", fragte Nion. "Es sieht nach überhaupt nichts aus."
    "Es ist Teil eines Organismus, der sich hier in diesem … Hexol befindet", erklärte der Arbeiter. Ihm war nicht anzumerken, ob er sich ekelte, sein Gesicht wirkte entspannt. "Zumindest ist es das, was wir bisher herausfinden können. Offenbar steckt in dieser Höhle eine Art Riesenglobster, der große Mengen Hexol anzieht.11Aber der Organismus ist instabil. Er zerfällt, wenn man ihn nur anrührt."
    Nion verzog das Gesicht. "Globster? Das riecht, als wäre es seit Wochen tot! So stinkt nicht mal toter Globster!"
    "Es ist kein Tier." Cassy hatte das Bedürfnis, laut zu schreien, aber selbst das Sprechen bereitete ihr Mühe. Wellen einer fremdartigen Aura liefen über das Stück Fleisch am Haken, fremdartige, beißende Farben, die nicht einmal ihre Drachenmenschenaugen richtig erkennen konnten, doch bereits das Wissen, dass es sie gab, bereitete ihr Schmerzen. "Es ist … ich … ich weiß es nicht." Sie griff nach Dseyuns Hand und klammerte sich an ihn. Sein Schutz war besser als gar keiner. Und alles war ihr egal, wenn sie nur hier wegkamen. "Aber es ist böse. Bitte glaubt mir, es ist böse. Wir müssen gehen. Schnell!"
    Zu ihrer Verwunderung wurde Dseyun nicht ärgerlich, er widersprach ihr nicht einmal. Sein Blick war unverwandt auf den Fetzen des fremden Organismus gerichtet. "Böse", murmelte er. Auf sein sonst so regloses Gesicht trat ein Ausdruck, den Cassy noch nie an ihm gesehen hatte, und seine Aura fiel in sich zusammen und schmolz wie Eis im Regen. "Böse … und einsam, ewig sterbend und ungeboren im Schoß der Mutter …" Er hob eine Hand an die Schläfe. "Die-Dunkelheit-ausspeit." Seine Stimme war tonlos.
    Nion kam herbeigelaufen, sichtlich alarmiert.
    "Was hast du? Worüber redest du?"
    "Es ist nur eine … Geschichte. Ich habe vorhin darüber gesprochen." Dseyuns Blick wandte sich nicht von dem Ding ab, aber seine Augen schienen trüb zu werden. "Ein fremdes, fremdes Wesen, eine Schlange, die am Busen der Mutter saugt … sie bringt die Geister der schwachen Sterblichen zu Fall. Und nur ein Tropfen ihres Blutes versprüht Unglück …" Ohne weiteren Zusammenhang fuhr er fort: "Mein armes Land, sie haben uns verboten, an Geschichten zu glauben. Nein, sie haben unsere Geschichten getötet. Sie haben uns alles genommen. Ich habe keinen Ort mehr, an den ich gehen kann, ohne den leeren Himmel zu sehen und das leere Meer …"
    "He!", rief der Grabungsleiter hinüber. "Herr Dseyun, wollt Ihr es Euch nicht näher ansehen?"
    Dseyun rührte sich nicht. Und auf einmal spürte Cassy es auch: Eine tiefe, lähmende Leere, die sich auf sie legte. Ihr Leben war sinnlos. Jeder Augenblick, den sie atmete, war sinnlos. Schon in der Schule hatten ihr die anderen Mädchen "Chimäre!" nachgerufen und ihr, wenn sie nicht hinsah, nasse Lappen auf den Stuhl gelegt. Kein Junge hatte sie jemals angesehen, es sei denn, es ging darum, die Hausaufgaben bei ihr abzuschreiben. Und als sie dem schönen jungen Assistenten für Nekrosomatik in der Akademie ein Stück Kuchen zum Fest von Es-Chatons Landung hingestellt hatte, hatte er sich dafür bei der hübschen Sekretärin bedankt. Cassy war nicht mutig genug gewesen, um den Irrtum aufzuklären. Und noch immer war ihr bester Freund ein Imp, ein Gegenstand. Wie sollte sie jemals glücklich werden? Sie hatte niemals die Möglichkeit gehabt. Sie war hässlich, und sie war nicht einmal ein richtiger Mensch. Es war nicht gerecht.
    Sie konnte sich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Warum überschwemmten sie diese Gedanken so sehr … Gerade jetzt …?
    Dämmerung legte sich über Cassys Augen. Nur noch undeutlich sah sie, wie Nion gestikulierend zu dem Grabungsleiter lief, wieder zurückkam und Dseyun am Arm zog. Der Yunai stand da wie ein Schlafwandler, den Blick ins Leere gerichtet. Was kümmerte sie das? Sie hasste beide, und ohnehin war alles sinnlos.
    "He, Cassy!" Nion zerrte jetzt an ihr. "Verdammt, was ist denn mit euch? Warum hört ihr mir nicht zu? Cassy! Cassandra! Du musst wenigstens ein paar Aufzeichnungen machen!"
    "Lass mich in Ruhe!", murmelte Cassy.
    "Nimmst du mich etwa nicht ernst?" Nions Gesicht verdüsterte sich. "Ist es, weil ich ein Halbelf bin, oder warum?"
    Cassy wandte sich ab. Sie hatte keine Kraft mehr, um mit ihm zu streiten. Wozu auch? Sie war … so müde. Und nichts ergab mehr einen Sinn.
    Der Grabungsleiter kam auf sie zu und hielt ihr den Stab hin. Das bleiche Stück Fleisch am Haken zappelte nicht mehr, sondern hing schlaff herab. Der Mund des Mannes öffnete und schloss sich rasch, aber wenn er etwas sagte, dann übertönte es das Pfeifen und Knistern in ihren Ohren.
    Cassys Sicht verzerrte sich. Sie sah, wie Dseyun die Hände auf die Schläfen presste und zurückstolperte, die Augen vor Schmerzen zusammengekniffen.
    Hoffnung? Gab es Hoffnung? Irgendetwas … war dort.
    Das letzte, was sie wahrnahm, war Nions bleiches Puppengesicht, ausdruckslos wie das eines Schlafenden. Dann stürzte Dunkelheit auf sie herab.
    Als Cassy aufwachte, redete Nion. Das war nichts Besonderes, er redet eigentlich immer, wenn sie aufwachte, zumindest die letzten Wochen. Etwas verwirrt setzte sie sich auf. War sie ohnmächtig geworden? Ja, natürlich, die Sonne, der anstrengende Aufstieg, das schlechte Essen. Sie war wohl ein wenig übermüdet. Aber gerade jetzt zusammenzubrechen, wo doch so viel Arbeit anstand …
    " …uns alle ein Riesenstück voranbringen", sagte Nion gerade. "So eine Chance kriegen wir nie wieder. Wir können so viel Hex saugen, wie wir wollen. Scheffler wird begeistert sein!"
    Dseyun, der neben ihm hockte, nickte ernsthaft zu seinen Worten. "Wir wären Narren, wenn wir nicht zupacken würden", erwiderte er.
    "Aber was ist mit dem, was du geredet hast?" Nion hob unbehaglich die Schultern. "Die Sage oder was das war?"
    "Ein Mythos ohne Grundlage." Dseyun schüttelte ärgerlich den Kopf. "Ich muss Wahnvorstellungen gehabt haben. Die Mythen Yuns taugen nicht einmal als Gutenachtgeschichten für Kinder. Es fehlte noch, dass unser Nachwuchs wieder beginnt, an Märchen wie die Gütige oder Die-Dunkelheit-ausspeit zu glauben."
    "Wir haben alle mal unsere schlechten Tage", sagte Nion jovial.
    Cassy blickte sich um. Sie befand sich wieder an der Oberfläche, in der Nähe eines der Arbeiterquartiere. Jemand hatte ihr eine zusammengerollte Decke unter den Kopf geschoben. In diesem Moment bemerkten die Männer, dass sie sich aufgerichtet hatte. Dseyun reichte ihr seine Wasserflasche, und sie nahm dankbar einen Schluck.
    "Wie geht es dir?", fragte er.
    "Gut." Es stimmte, sie fühlte sich tatsächlich stark und unternehmungslustig. "Ich bin ohnmächtig geworden, nicht wahr?"
    "Nicht nur du", sagte Nion. "Auch Dseyun. Sogar mir ist schlecht geworden. Bestimmt irgendwelche Gase da unten oder so. Aber euch Drachenmenschen haut’s auch bei der geringsten Gelegenheit aus den Latschen. Der Grabungsleiter und ich haben dich hochgetragen, Dseyun konnte schon wieder allein laufen." Ein Grinsen lag auf seinem Gesicht.
    "Kannst du aufstehen?", fragte Dseyun. "Wir haben das Gewebestück in Alkohol einlegen lassen, aber wie lange es sich halten wird, wissen wir dennoch nicht. Die Verwesung ist bereits weit fortgeschritten. Du solltest am besten sofort beginnen, deine Untersuchungen vorzunehmen."
    Cassy richtete sich auf. Sie war noch ein wenig unsicher auf den Beinen, aber sie konnte laufen. Ein schwacher Schmerz saß hinter ihrer Stirn, doch sie beachtete ihn nicht. Der mühsame Weg hierher war überhaupt nicht sinnlos gewesen, und sie hatten die Entdeckung des Jahrhunderts gemacht. Ein Wesen, das Hexol anzog! Denn was sollte es sonst sein, was sie dort im unterirdischen Meer gesehen hatte? Undeutlich erinnerte sie sich, dass sie traurig gewesen war, sehr traurig. Aber warum eigentlich? Es gab doch Hoffnung. Hatte sie jemals daran gezweifelt? Natürlich würde sie es als Drachenmensch nicht leicht haben, aber sie war Wissenschaftlerin, und das gab ihr eine hervorragende Möglichkeit, sich selbst Ansehen zu erarbeiten. Vor allem nach dieser außerordentlichen Entdeckung. Wenn jemand Grund hatte, traurig zu sein, dann die Wissenschaftler, die nicht hier waren.
    "Du hast Recht", sagte sie. "Aber wir sollten dringend mehr Gewebeproben nehmen. Dieser Fund ist außerordentlich bedeutend. Und Scheffler wird bestimmt interessiert sein, selbst einige Proben zu erhalten. Am besten schicken wir auch welche an die Zweigstellen in anderen Städten."
    "Das ist eine gute Idee", stimmte Dseyun ihr zu.
    Cassy fühlte sich von Unruhe erfasst. Es juckte sie in den Fingern, mit der Forschung an den Proben zu beginnen, und noch nie hatte sie sich so sehr ein Labor vor Ort gewünscht. Sie konnte es kaum noch erwarten, ihrem Auftraggeber zu präsentieren, was sie hier entdeckt hatten. Aber dazu mussten sie die Gewebestücke erst einmal von diesem einsamen Ort fortschaffen und zu anderen Menschen bringen. Je eher sie damit anfingen, desto besser.
    War es wirklich gut? Cassy versuchte zu überlegen, aber ihr Kopf war wie mit Watte gepolstert. Ja, es war gut, es musste gut sein. Hatte sie Zweifel gehabt?
    "Aber was mag das nur für ein Ding sein?", fragte Nion.
    "Das ist unwichtig", erwiderte Dseyun. "Uns interessiert nur sein Nutzen."
    Ein hartnäckiges Tschilpen drang an Cassys Ohr. Es klang wie Malakai. Tatsächlich, stellte sie fest, ihr Imp hopste nur einen Meter neben ihr auf dem Boden herum, schwenkte die dünnen Ärmchen über dem Kopf und rief ihr aus Leibeskräften etwas zu. Missbilligend runzelte sie die Stirn. Was redete Malakai denn da? Wie, sie hatte vor einer halben Stunde … Vor einer halben Stunde war gar nichts gewesen. Und ganz bestimmt hatte sie vor einer halben Stunde nicht etwas völlig anderes gesagt als jetzt!
    "Malakai, du störst", sagte sie mit einem Anflug von Ärger. "Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin? Ich habe jetzt keine Zeit für deine Albernheiten."
    Als sie sah, wie sich der Imp mit gekränktem Gesicht zurückzog, wandte sie sich wieder den beiden Männern zu. "An die Arbeit. Ich sehe keinen Grund, weshalb wir diese Proben nicht so schnell wie irgend nur möglich nach Es-Chaton schaffen sollten …"
    Malakai schnappte nach Luft, ein ums andere Mal. Als Imp konnte er nicht weinen, ansonsten hätte er es sicher getan. Sie hatte gesagt, dass er sie störte. Er war doch ihr einziger und bester Freund gewesen, er, Malakai, der immer für seine Herrin da war! Der Hexol-Kristall, der sein Herz ersetzte, schickte ein schmerzhaftes Pochen durch seinen Körper. Malakai wich vor seiner Meisterin zurück, dann sprang er auf einen der Steine am Hang und ließ sich zitternd nieder. Mit den Armen umschlang er seine spitzen Knie und lugte unglücklich zu Cassy hinüber. Sie beachtete ihn überhaupt nicht, sondern unterhielt sich weiter mit den Männern, die sie neulich noch so sehr gehasst hatte. Dabei war es wichtig, was er ihr zu sagen hatte, das fühlte er, vielleicht wichtiger als alles andere. Etwas hatte sich geändert, auch wenn er nicht wusste, was es war. Und nicht nur Cassy hatte sich verändert – auch der dunkelhäutige Mann sprach auf einmal so anders, und der Halbelf benahm sich freundlicher als zuvor, was Malakai genau so seltsam vorkam. Aber was sollte er tun? Er war bloß ein Imp, ein Ding. Er konnte seine Herrin nicht zwingen, ihm zuzuhören.
    Malakai wandte sich ab und kauerte sich auf dem Fels zusammen wie ein kleines Tier. Ein scharfer Wind war aufgekommen, der den Geruch der Verwesung aus dem Schacht mit hinauftrug.




    1 Es-Chaton: größte Stadt Phainomainicas, Zentrum der Welt; Marou: südliches Land in Phainomainica, z. T. mit Dschungel bewachsen.
    2 Yun: Insel-Königreich, das für seine fremdartige Kultur und seine Schwertkämpfer bekannt ist.
    3 Imp: Mit Hilfe kristallisierten Hexols erzeugtes Gegenstandswesen, das gern von Magiern als Begleiter genutzt wird.
    4 Hexol: mysteriöser, stark energiehaltiger Stoff, der überall in Phainomainica vorhanden ist und als Grundlage aller Magitechnologie und der Technologie überhaupt dient.
    5 Scheffler: Unternehmen in Es-Chaton, das sich mit der Herstellung von zauberkräftigen Kristallen (Kris) aus Hexol befasst, und sich auch noch für einige andere Dinge interessiert.
    6 Lay: eine der "Adern" aus Hexol, welche die Welt wie ein Netz überziehen.
    7 Organon: Ein Kraftwerk, das Hexol aus der Luft filtert oder aus der Erde saugt, um daraus Energie zu erzeugen.
    8 Drachenmenschen: Bevölkerungsgruppe chimärologisch veränderter Menschen, die sich durch hohe Magiebegabung und Aurensicht auszeichnen. Hypersensibel und anfällig, werden v. a. zur Wartung von Organa genutzt.
    9 Hexol wird häufig in Getränken verarbeitet. Dseyun beweist hier das ungewöhnliche Können eines echten Hexol-Experten, die Konzentration von Hexol in einer Flüssigkeit am Geschmack erkennen zu können.
    10 Der Konsum von Hexol wirkt kurzzeitig aufputschend, schmerzstillend und stimmungsaufhellend.
    11 Globster: Großes Meeresweichtier, das nur aus einer amorphen Masse besteht.

  • 4
    Die Luft heulte und pfiff in seinen großen Ohren und wirbelte Staubwolken vom Berghang auf, bis es ihm zu ungemütlich wurde. Es schmiegte sich in eine kleine Spalte, aus der ein kleiner Strauch sich dem stetigen Luftstrom trotzig entgegenstemmte, und steckte seine spitze Schnauze in sein Fell.
    Die Zeit verging, und es wurde langsam dunkel. Die Ohren eng an den Körper angelegt, döste das kleine Wesen vor sich hin, bis es plötzlich ein tiefes, sonores Geräusch hörte. Es hob misstrauisch den Kopf und lugte unter den kargen Zweigen des Busches hervor, um den Verursacher dieses Geräusches zu entdecken, doch die öde Landschaft bot lediglich mit vereinzelten knorrigen Bäumen und reichlich Gesteinsblöcken etwas Abwechslung. Es wollte sich schon wieder in den Schutz der Zweige zurückziehen, als es erneut aufschrak. Der Boden unter ihm zitterte kurz, dann fühlte es, wie es in die Höhe gehoben wurde. Der Horizont veränderte sich, drehte sich, und mit einem Mal wurde dem Tier klar, dass der Felsbrocken, auf den es sich zurückgezogen hatte, nicht das war, was er zunächst vorgegeben hatte zu sein. Es saß auf einem großen, steingrauen Wesen, dessen Haut mit Moos und Gras bewachsen war! Mit zitternder Schnauze versuchte es, mehr im Halbdunkel zu erkennen, doch es bemerkte nur, dass sein Träger sich offensichtlich bewegte. Die Landschaft zog vorbei, und der Boden schien so weit entfernt zu sein, wie wenn es auf einen kleinen Baum geklettert wäre.
    Eine Weile verharrte das Tier so, angstvoll unter dem kleinen Gestrüpp hervorlugend, das auf dem Rücken dieses Wesens wuchs. Doch je länger die Steinwüstenei um es herum vorbeizog und sich offensichtlich nichts weiter Gefährliches ereignete, wurde das Tier wieder etwas lebendiger. Es unternahm langsam tastende Erkundungsgänge über den breiten Rücken dieses Wesens, das einem Felsen so täuschend ähnlich sah. Es kletterte weiter nach oben, und erreichte schließlich den höchsten Punkt, wo der Wind nunmehr ungebremst in sein langes, seidiges Fell fuhr und es kräftig zerzauste. Inzwischen bewegte er sich schon recht schnell den Berghang hinunter und obwohl es nun fast dunkel war, erkannte es in der unmittelbaren Nähe weiterer solcher wandelnden Felssäulen, die mit ihm zu Tal zogen.
    Es wurde langsam müde, und so zog es sich wieder zu seinem Busch zurück. Tsukmænan finden sich immer recht bald mit einer Situation ab, in die sie hineingeraten, und lassen sich nicht so leicht beunruhigen, wenn ihnen offensichtlich keine Gefahr droht. Und so fiel es bald schon in einen leichten Schlaf, sanft gewiegt von den weit ausladenden Schritten des Steinwesens.
    Als die Sonne gerade den Horizont langsam violett färbte, wachte es wieder auf. Die Landschaft hatte sich verändert. Die Einöde der Berghänge hatten sie verlassen, nun schritten sie durch saftiges Grün, und zu beiden Seiten standen immer wieder hochgewachsene Bäume. Das Tsukmæ begann, seinen Träger nach etwas Essbarem abzusuchen, und fand tatsächlich in manchen Hautfalten kleine Parasiten, die sich dort eingenistet hatten. Solchermaßen gesättigt, beobachtete es erneut den vorbeiziehenden lichten Wald, streckte seine lange, spitze Schnauze in den Wind und begann, Gefallen an dieser Form der Fortbewegung zu finden.
    Das tiefe Brummen, das es am Abend zuvor aufgeschreckt hatte, kam von den Steinwesen selbst - sie verständigten sich offensichtlich damit. Doch die meiste Zeit seiner Reise hörte das Tier nichts von ihnen, nur manchmal wurden kurze Kommandos ausgetauscht. Das Tsukmæ ging erneut auf die Jagd, pflegte sein Fell ausgiebig, schlief ein bisschen, hielt wieder Ausschau vom Kopf des Wesens aus, das dies nicht sonderlich zu stören schien, und als der Abend sich erneut über das Land senkte, wurde der Tsukmæ allmählich des doch sehr begrenzten Aufenthaltsortes überdrüssig. Es bot sich für ihn aber keine allzu günstige Gelegenheit zum Absprung, und unschlüssig verharrte es weiter auf dem sich beständig bewegenden Koloss.
    ***
    Es war schon Abend, die Schatten wurden länger im Wald, und der Gnom Koia und seine Gruppe hatten sich gerade eine der süßen Tuuj-Früchte aus einem Baum geklaubt und begannen nun, die zähe, ledrige Schale über dem gelben Fruchtfleisch mit scharfkantigen Steinchen zu öffnen. Dies war die Aufgabe der beiden stärksten Gnome, Koia selbst und Miika, der mindestens ebenso stark war wie er. Doch sie ächzten und zeterten ob der widerspenstigen Schale.
    "Probier von unten, Miika!"
    "Dieser Stein ist zu stumpf! Ich brauche 'nen schärferen!" Koia wandte sich vorwurfsvoll Tanik zu, der dafür zuständig war, scharfe Steinsplitter zu beschaffen, indem er Kiesel auf einen geeigneten Baum schleppte und sie von dort auf harten Felsboden fallen liess. Tanik zuckte nur abwehrend die Schultern, was den Anführer der Gruppe zu weiteren lautstarken Zänkereien veranlasste.
    Da flatterte über ihnen ein Grünstirn-Túk heran und krallte sich an der Rinde eines Baumes fest. Er hatte wohl die nicht zu überhörenden Gnome bemerkt und zudem die duftende Frucht, deren Schale schon an mehreren Stellen angekratzt war, gerochen. Freudig begannen die Gnome, den Túk herbeizulocken, und schließlich kam das Flattertier von seinem Platz am Baum herunter und begann, die Schale der Tuuj-Frucht mit seinen scharfen Vorderzähnen problemlos abzuschälen. Die Gnome warteten geduldig im Gras daneben, lachten und hatten bereits die Streitereien von gerade eben vergessen. Schließlich lag das fasrige, süße Innere frei, und gemeinsam mit dem Túk, der wie die meisten Tiere keine Scheu vor den kleinen, quirligen Kobolden hatte, labten sie sich an der Frucht.
    Sie waren gerade mitten im größten Schmaus, und der Saft triefte von ihren Mündern, als ein weiterer Túk über ihnen vorbeiflog und laut pfiff. Die Gnome blickten empor und lauschten aufmerksam, sie verstanden die Sprache der meisten Tiere recht gut. Diesmal schien der Beutelgleiter ihnen die Ankunft einiger Trolle anzukündigen, was die Gnome natürlich in helle Aufregung versetzte, sowas kam nun wirklich nicht alle Tage vor. Sie überliessen dem Grünstirn-Túk die restliche Frucht und eilten davon, um die Riesen aus den Bergen zu sehen. Sie ahnten, was das Ziel der Trolle war. Irgendwo hier im Wald hatten Orks eines ihrer Lager aufgeschlagen - die Gnome hielten sich in der Regel einfach fern von ihnen, da ein Gnom für einen ausgewachsenen Ork gerade recht als kleine Zwischenmahlzeit diente.
    "Dort, glaube ich!" Koia deutete recht wahllos auf eine Wand aus Gebüsch und Unterholz, hinter der man exakt nichts erkennen konnte. Zufälligerweise hatte Koia aber sogar recht, nur wenig später tauchten zwischen den Bäumen die grauen Riesen auf, lautlos bewegten sie sich vorwärts und schafften es tatsächlich trotz ihrer Größe, keine Zweige auf ihrem Weg abzubrechen oder andere verräterischen Geräusche zu machen.
    Koia lief auf seinen kleinen Füßen, so schnell er konnte, vorwärts, um den Weg der Trolle zu kreuzen, und ließ seine Gruppe dabei hinter sich. Und mit einem Mal waren die dicken Säulenbeine schon vor ihm, bewegten sich mit langen Schritten auf ihn zu. Beherzt machte Koia einen Satz vorwärts und packte ein paar lange Borsten, die aus den Beinen wuchsen. Sofort wurde er mitgerissen und hörte hinter sich nur noch das Rufen der anderen, die zu langsam waren. Koia lachte in sich hinein, er liebte Abenteuer, und ein solches wagemutiges Erlebnis war genau recht, um seine Position als Führer in der Gruppe zu festigen.
    Er hangelte sich an Borsten und kleinen Flechten, die an dem Troll wuchsen, in die Höhe, bis er endlich den dichter bewachsenen Rücken und wenig später die Schulter des Trolls erreichte, wo er sich erst einmal hinsetzte und die Aussicht genoss.
    "Großartig! Was werden die andern sagen, wenn ich das erzähle!" sagte er begeistert mehr zu sich selbst, doch der Troll hatte das helle zwitschernde Stimmchen gehört und neigte seinen Kopf leicht zur Seite. Nur ein kurzes, tiefes Grummeln ertönte, und große, wässrige Augen blickten den kleinen Wicht wie unergründliche Brunnen an.
    "Seid sicher unterwegs zu den Fressern? Richtiger Weg, genau richtig. Böse Orks, sind schon sehr lang im Wald. Vertreibt ihr sie?"
    Doch der Troll reagierte nicht weiter auf das muntere Plappern, sondern richtete seinen Blick wieder nach vorne. Koia zuckte mit den Schultern und begann, wieder zum Rücken zurückzukrabbeln, da bemerkte er plötzlich zwei kleine, schwarze Knopfaugen, die ihn über eine ständig zitternde, schnuppernde Schnauze hinweg unter einem kleinen Busch heraus anblickten. Mit einem kleinen Entzückensruf verharrte Koia. Gnome lieben Tiere jeglicher Art, und verirrt sich einmal ein ihnen unbekanntes in den Wald, ist die Freude, aber auch die Neugierde groß.
    Vorsichtig und mit beruhigenden Worten näherte sich Koia dem Gestrüpp, und die besondere Ausstrahlung der Gnome verfehlte auch hier ihre Wirkung nicht. Als das Tierchen sich vorsichtig unter den Ästen ins Freie traute, lachte Koia laut auf. Das Tier war nun wirklich lustig anzuschauen, die Schnauze war so lang und dünn, dass sie alleine deshalb ständig zu zittern schien, doch das Außergewöhnlichste an dem Tier mit hellbraunem, gepunktetem Fell waren seine Ohren. Sie waren ungewöhnlich lang, echte Schlappohren, und hingen zu beiden Seiten des Kopfes weit hinunter bis zu den Füßen und waren seitlich mit dem Körper leicht verwachsen. Die großen, schwarzen Augen des Tieres blickten den Gnom erwartungsvoll an. Da erinnerte sich Koia wieder daran, wo sie sich gerade befanden, und er wandte sich mit ernsten Worten an das Tier:
    "Musst hier weg! Bald gefährlich, Orks in der Nähe!"
    Die Ohren des Tieres zuckten, und es schien tatsächlich die eindringlichen Worte zu verstehen. Zumindest begann es, nach oben zu klettern, bis es wieder erneut auf der Schulter des Trolles saß. Der Oberkörper war nun hoch emporgereckt, und die Nase des Tieres wandte sich suchend von einer Seite zur anderen.
    Koia kletterte ihm hinterher. "Nicht viel Zeit. Bald bei den Orks! Komm hinunter!" Doch mit einem Mal duckte sich das Tier, und mit einem federnden Satz schnellte es davon. Und nun konnte Koia im Dämmerlicht auch erkennen, was es mit den großen Ohren des Tieres auf sich hatte: diese spannten sich plötzlich auf, und das Tier segelte förmlich mit ihnen weg von dem Troll in den Wald hinein, um schließlich an der Rinde eines Baumes aufzutreffen, wo es sich sofort festkrallte und mit kräftigen Bewegungen nach oben wegkletterte.
    Koia lachte wieder, doch nun wurde es auch für ihn höchste Zeit, wieder zu seiner Gruppe zurückzukehren.
    Das Tsukmæ verschnaufte erst, als es den Baum weit emporgeklettert war. Dieses kleine zweibeinige Wesen, das plötzlich auf dem Steinwesen aufgetaucht war, hatte in ihm ein Gefühl der Angst hervorgerufen, obwohl es sofort Zutrauen zu ihm gefasst hatte. Doch es hatte mit einem Mal den Eindruck, es wäre definitiv besser, sich möglichst schnell einen anderen Platz zu suchen. Es war zwar schon reichlich dunkel in diesem Wald, der ihm völlig fremd war, doch für einen beherzten Sprung zu einem der Bäume reichte das Licht noch gerade so aus.
    Der Baum, auf dem das Tsukmæ nun saß, hatte eine recht glatte Rinde, so etwas hatte es bisher noch nicht gesehen, wo es herkam. Äste gab es im unteren Bereich keine, doch weiter oben war eine ausladende Baumkrone zu sehen. Das Tsukmæ beschloss, dort hinaufzuklettern, denn nach unten wollte es nun nicht mehr, und an Ort und Stelle bleiben konnte es nicht.
    Oben angekommen, ruhte sich das kleine Tier erst einmal aus, das Herz raste von dem langen Aufstieg und der Aufregung über die kleine Gestalt, die ihn von dem Steinwesen vertrieben hatte. Dann erkundete es sein neues Zuhause erst einmal. Die Äste verliefen seltsam geradlinig vom Stamm weg, und als das Tsukmæ auf einem dieser Äste entlanglief, entdeckte es an dessen Ende eine große Frucht, mindestens so groß wie es selbst. Es schnupperte daran; es roch verlockend. Dann versuchte das Tierchen, ein kleines Stück davon anzunagen. Es wagte sich noch ein kleines Stückchen weiter hinaus, kratzte mit seinen kleinen Zähnchen an der vorderen Kante der Frucht herum, bis es plötzlich innehielt. Tieren sagt man ja einen gewissen Sinn nach, mit dem sie Gefahr spüren ... und in genau diesem Moment beschlich dem Tsukmæ ein äußerst unwohles Gefühl. Es konnte jedoch nicht feststellen, woran dies lag. Argwöhnisch schnupperte es wieder in den Wind hinein, doch als es ein leises Knirschen und Knacken unter seinen Füßen verspürte, war es bereits zu spät. Im nächsten Augenblick wurde die Welt weggerissen, und mit einem lauten Knall explodierte die Frucht unter den Füßen des Tsukmæ und schleuderte es hinaus in die Nacht.
    ***
    Tirrkass döste ein wenig an einen Baum gelehnt, der am Rande ihres Lagers stand. Seine großen Ohren lauschten auch ohne seine hundertprozentige Aufmerksamkeit auf jedes Geräusch, das vor ihm aus dem Wald ertönte. Über ihm knallten von Zeit zu Zeit die Früchte der Srektul-Bäume, wenn der Überdruck in ihnen zu groß wurde und sie ihre pfeilförmigen Samen weit hinaus in die Landschaft schleuderten. Tirrkass hatte sich aber schon daran gewöhnt, jedes Jahr in dieser Jahreszeit konnte man sie hören.
    Seine Gedanken wanderten zurück zu dem gestrigen Tag, als er ein kleines Duell mit einem jungen Kerl, gerade erst zwei Jahre in ihrem Stamm, ausfocht. Tirrkass musste schmunzeln - der Arme hatte keine Chance gehabt und muss wohl noch ein Weile an sich arbeiten, bis er ihn darin schlagen konnte, die 3000 Schritt durch Wald, Feld und Wasser in Rekordzeit zurückzulegen. Tirrkass reckte sich ein wenig, eigentlich weniger aufgrund von Müdigkeit, sondern mehr, um das Arbeiten seiner nur leicht ziehenden Muskeln besser zu spüren. Da vermeinte er plötzlich, ein unerwartetes Geräusch zu hören, und hob den Kopf hoch hinauf, um seine Ohren in alle Richtungen zu drehen. Er lauschte angestrengt, doch das Geräusch wiederholte sich nicht, und auch seine feine Nase nahm keine unbekannte Witterung auf. Dennoch blieb er misstrauisch eine Weile aufrecht stehen, seine Aufmerksamkeit war geweckt. Nichts geschah, nur der Wind heulte leise durch die Baumwipfel über ihm.
    Doch gerade, als er sich nach einiger Zeit wieder etwas bequemer an den Baumstamm lehnen wollte, ertönte von der anderen Seite des Lagers mit einem Mal ein lautes Jaulen, das jäh abbrach. Ohne auch nur einen Moment nachzudenken, schoss Tirrkass los, seine Instinkte bestimmten nun sein Handeln, und in halsbrecherischen Tempo rannte er, seine lange Waffe in der Hand, durch das Lager. Von rechts und von links stießen weitere Wachposten zu ihm, auch sie wussten sofort, was dies zu bedeuten hatte, und ohne dass weitere Verständigung nötig war, stürmten sie zur anderen Seite des Dorfes, heiser knurrend, hechelnd. Gegen Ende leitete sie der lauter werdende Tumult den Weg, mit einem gewaltigen Satz sprang Tirrkass über eine kleine Reihe von struppigen Büschen, die sich durch das Dorf zog, und landete direkt drei Schritt weit vor einem gewaltigen nachtgrauen Koloss, der breitbeinig und mit offenen Armen seinen Weg versperrte. Mit einem verblüfften Jaulen warf sich Tirrkass zur Seite und entging im allerletzten Moment der herabsausenden Faust, die mit der Wucht von Felsbrocken seinen Schädel zerschmettert hätte, verlor dabei jedoch seine Waffe, eine lange Schwertlanze mit großer, gezackter Klinge. Doch er hatte Glück, der Troll setzte ihm nicht nach, sondern wandte sich sofort zur anderen Seite, wo ein weiterer Ork mit einem markerschütternden Schrei heranstürmte, die scharfe Klinge hoch erhoben. Der Troll bewegte seine Hand so schnell, dass das Auge es kaum zu erkennen vermochte, und viel schneller, als man es den grauen, sonst so behäbigen Riesen zutraute. Die Waffe traf auf den Arm des Trolls, drang tief ein, aber wurde dann weit weggeschleudert, während der angreifende Ork, Tirrkass erkannte ihn als Kraitall, einen Schmied des Dorfes, zwischen die Arme des Trolls geriet. Ein letzter Schrei erstarb in berstenden und krachenden Knochen, als der Troll den Leib des Orks in seinen Armen schlicht zerquetschte. Tirrkass stöhnte auf, es drehte sich ihm fast der Magen um, doch wie von ferner Hand gesteuert griff er seine auf dem Boden liegende Waffe und sprang dem Troll entgegen, der ihm nun den Rücken zuwandte und Anstalten machte, den Kampfplatz mit Kraitall in seinen Armen wieder zu verlassen. Mit einem Keuchen warf er seine Lanze auf den Rücken des Trolls, die Klinge drang eine Handbreit in die ledrige, graue Haut ein, doch der Troll wankte nicht einmal, er wischte nur wie nach einer lästigen Fliege nach hinten, traf Tirrkass am Oberkörper, warf ihn mehrere Schritt weit weg und stampfte einfach weiter. Ein weiterer Wachposten sprang ihn von der Seite an, versetzte dem Riesen noch eine Wunde und musste mit seinem Leben dafür bezahlen. Tirrkass blickte sich wie betäubt um, sein Brustkorb schien von heißen Eisen durchbohrt zu werden, es machte Mühe, seine Lungen mit Atem zu füllen. Das Kampfgetümmel tobte um ihn herum weiter, heiseres Gebrüll und scharfe Kommandos schallten über den Platz, während die Trolle völlig schweigsam und unhörbar ihren tödlichen Weg durch die gegen sie anbrandenden Angreifer bahnten. Die ersten Orks kamen mit Fackeln herbeigeeilt, und brennende Pfeile schossen durch die Luft und bohrten sich in die Trolle, die bereits wieder auf dem Rückzug waren, jeder mit ein oder zwei der Dorfbewohner in ihren Armen. Feuer war das einzige, was diese Riesen noch am ehesten beeindruckte.
    Der Blick Tirrkass' trübte sich, die Geräusche wurden leiser. Er versuchte mit letzter Willenskraft, aufzustehen, er konnte nicht einfach nur zusehen, musste doch seine Kampfeskraft beweisen, durfte nicht tatenlos bleiben, doch eine rote Welle von Schmerzen überrollte seinen Kopf, dann wurde es Nacht um ihn.
    ***
    Tiefes Schwarz lag über den Farnen und Sträuchern zu Füßen der großen Srektul-Bäume. Alles Leben im Wald verharrte, während das Kampfgeschrei weit entfernt im Wald ertönte. Doch der Tumult verklang, und mit einem Mal wackelten die Zweige eines Farns, und eine spitze, lange Schnauze kam zum Vorschein. Das Tsukmæ schüttelte verwundert seinen pelzigen Kopf, wie um den Schmerz zu vertreiben, der sich zwischen seinen langen Ohren breit gemacht hatte, nachdem es auf so unsanfte Weise von seinem Aussichtsplatz hoch droben über den Wipfeln katapultiert wurde. Es war weit hinaus in die Nacht geflogen, hatte sich mehrfach um seine eigene Achse gedreht, bis es endlich die Orientierung wiederfand, als die Erde sein Gewicht wieder unbarmherzig nach unten zog. Seine Ohren spannten sich im Fallwind, und halb betäubt durch den lauten Knall segelte das Tier zu Boden, rasselte durch Äste und Zweige und war nicht in der Lage, sich irgendwo festzukrallen, bis sein gebremster Sturz schließlich in der weichen Farnschicht am Waldboden sein Ende fand. Hier blieb es liegen, mit rasendem Herz, nicht verstehend, was hier um ihn herum vorging, und wartete reglos ab.
    Erst, als die seltsamen Geräusche in der Ferne verklangen, und ganz langsam und vorsichtig die anderen Tiere des Waldes sich regten, schüttelte das Tsukmæ seine Starre ab und krabbelte aus seinem Versteck, um sofort die knorrige Rinde eines jungen Baumes hochzuklettern. Es hielt nicht an, bis es in sicherer Höhe einen Ast erreichte, kauerte sich dort in die Astgabel und starrte hinaus in die Nacht. Allmählich fiel die Angst wieder von ihm ab. Es schüttelte sein seidiges Fell, in dem sich Schmutz, kleine Rindenstückchen und Ästchen von seinem Sturz vefangen hatten, und schon hatte es die schlimmen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit wieder fast vergessen. Es reckte seinen kleinen Kopf in die Höhe, und beschloss, der Welt um es herum seinen Unmut über solch ungehörigen Dinge kundzutun, öffnete seine lange Schnauze und stieß ein langes, leicht zorniges Zwitschern aus, das die Nacht durchschallte.

  • 5
    Das hohe Trillern brachte Daikon zurück in die Wirklichkeit. Das hörte sich fast nach einem Tcilp an, dachte er bei sich, während er seinen Kopf nach oben drehte, um in den Baumwipfeln das Tierchen zu entdecken. Doch die Dunkelheit zwischen den Ästen verbarg es gut, während es weiterhin in gleicher penetranter Lautstärke sein Lied in den Wald hinauspfiff.
    Daikon fror. Der Wind heulte unverändert von Südwest nach Nordost durch das Tal und schüttelte die Büsche. Im Nordtal ging das ganze Jahr über Wind, beinahe immer von den Wäldern in die Ebene, aber gegen Jahresende wurde er besonders schneidend. Bald schon würde der erste Schnee fallen. Daikon spürte seine Finger nicht mehr, als er in seinem Bündel nach dem kleinen Fläschchen suchte. Der scharfe Schnaps rann durch seinen Hals und breitete sich langsam und angenehm warm in seinem Magen aus.
    Der Mantel, auf dem er lag, schützte ihn vor der Nässe, aber die Kälte des Bodens kroch trotzdem unangenehm unter seine Kleidung. Und dieser verfluchte Wind!
    Vor seinem Gesicht glomm das harzige Zündstäbchen unbeeindruckt vor sich hin. Wegen des Rauchs musste er sich keine Sorgen machen, der Wind trug ihn von der Arbeitskolonne weg. Zwölf Gefangene in einfacher Kleidung, mit Schaufeln. Zwei bewaffnete Legionäre, die sich eng in ihre Mäntel wickelten. Ein hünenhafter rothaariger Soldat und ein zierlicher Kletainos mit schwarzem Helmbusch, die Waffen lässig über der Schulter. Hin und wieder trug der Wind Gesprächsfetzen zu Daikon. Die beiden redeten belangloses Zeug und waren nicht gerade aufmerksam in ihren Bewachungsauftrag vertieft. Wahrscheinlich handelte es sich bei den Gefangenen um Taschendiebe, Zechpreller oder ähnliches, verurteilt zu ein paar Tagen Zwangsarbeit. So jemand lief nicht weg. Es war das Risiko nicht wert, erschossen zu werden. Besonders nicht bei zwei kostenlosen Mahlzeiten am Tag.
    Daikon stützte die schwere Jagdbüchse auf seinen linken Unterarm und visierte die Brust des Offiziers an. Der Legionär trug das alte Jeltenwijk-Gewehr. Das erhöhte die Aussichten, unbeschadet davonzukommen, erheblich. Bis der Soldat seine Waffe schussbereit hatte, konnte Daikon längst in den Büschen verschwunden sein. Von der Balmuha, die der Kletainos am Gürtel trug, ging vielleicht eine Gefahr aus, aber der Offizier würde eben derjenige sein, der nicht mehr würde schießen können.
    Unglaublich, wie wenig Anstrengung nötig war, um ein Menschenleben zu beenden! Nur den Lauf ausrichten. Den Finger krümmen, etwas Druck...! Das laute Klicken jagte Daikon einen gewaltigen Schrecken durch die Glieder. Ohne es zu merken, hatte der den Abzug betätigt. Der Hahn war in die Pfanne geschlagen, aber kein Schuss hatte sich gelöst. Wie auch, die Lunte war erloschen. Langsam beruhigte sich sein Herzschlag wieder. Hätte ein kurzes Stück Wollschnur gebrannt, wäre der Kletainos jetzt tot. Daikon schauderte. Es war leicht, ein Leben zu nehmen, und so unendlich schwer, darüber nachzudenken. Er hätte lachen mögen. Noch nie hatte er jemanden getötet, obwohl man ihn doch gerade dazu ausgebildet hatte. Nur dass er sich während dieser Ausbildung nicht im Traum hätte vorstellen können, dass sein erstes Opfer diese Uniform tragen würde. Ungeachtet der düsteren Gedanken seines Platznachbarn erhob der Tcilp wieder seine Stimme und ließ hohe, pfeifenähnliche Töne vernehmen. Der Wind heulte leise um die Felsen. Die Gefangenen der Arbeitskolonne kamen bei ihrer Aufgabe, den Wassergraben längs des Weges zu reinigen, nur langsam voran. Daikon dachte nach.
    Daikon war Norjsk. Seiner Herkunft nach. Und es gab eine Zeit, da war er Reniier. Seinem Herzen nach. Geboren und aufgewachsen in Olskot, hatte er die Südländer nicht als Besatzer begriffen. Er hatte seine Eltern nie verstanden, die ständig von dem Tag der Befreiung sprachen und ihm, sobald er alt genug war, erzählten, wie stolz er darauf sein konnte, ein aufrechter Norjsk zu sein. Sein Vater hatte einmal gesagt: "Eine große Zeit wird kommen, mein Sohn, für dich und deine Kinder, wenn die Feinde erst abgezogen und wir frei sind." Er hatte ihm nicht widersprochen. Und das, obwohl seine Eltern gar nicht wissen konnten, wie es war ohne die Reniier im Land. Großvater erzählte oft Geschichten, wie er und die übrigen Männer der Familie den gut gerüsteten Legionen mit der Axt in der Faust entgegengetreten waren. Damals. Als Daikons Eltern zu Welt kamen, war ihre Heimat bereits Teil des Reiches gewesen, und dies bestimmt nicht zu ihrem Schaden.
    Daikon wusste, dass er jeden Tag auf einer gepflasterten Straße in die Stadt ging, dass das Wasser, das bis direkt vor das Haus floss, aus einer Leitung kam, gebaut von Reniiern. Seine Familie wollte das alles nicht sehen. Immer und immer mehr war er sich sicher, dass sie sich alle glücklich schätzen konnten, Teil des Reiches zu sein. Obwohl er sich von Fremden fernhalten sollte, verkehrte er viel mit den Händlern und Handwerkern, die von überall her in die aufblühende Stadt strömten. Und er kam zu der Überzeugung: Er war freier Bürger des Reiches, ein Reniier, wie die Bewohner der großen Städte im Süden, die er so gerne einmal sehen würde.
    Immer wenn eine Abteilung im Gleichschritt durch die Straßen patrouillierte, hatte er als kleiner Junge dagestanden und ihre Ausrüstung bestaunt. Die Gewehre über der Schulter, den Säbel an der Seite, die bronzenen, in der Sonne blitzenden Helme und den farbigen Helmbusch der Offiziere. Als Daikon sechzehn wurde, besuchte der Souvros höchstpersönlich das Protektorat Norjsk. Seine souveräne Exzellenz in Olskot! König Dmidai erwies ihm die Ehre, er kreuzte die Arme vor der Brust und verneigte sich, während das einfache Volk vor dem Herrscher auf die Knie fiel. Der Souvros nannte Dmidai "meinen treusten Tyros und guten Freund" und küsste ihn auf die Stirn. Die Begeisterung der Umstehenden hatte keine Grenzen mehr gekannt. Daikon war überwältigt: König Dmidai, der verehrte Herrscher aller Norjsk, Nachfahre der großen Ahnenreihe von Nordland, als Tyros des reniischen Reiches! Auf Augenhöhe mit den Provinzherren des Südens!
    Von da an war es klar: Der König ein Edler des Kretio Reniis, jeder Gemeine ein freier Bürger des Imperiums. Daikon wusste, dass er seinem Herrn und dem Reich dienen wollte. Die Beamtenschule des Hofes in Olskot hatte ihn nicht gewollt, die Provinz verfügte über ausreichend Schreiber und Verwalter. Und so war er im Sommer 1943 p.b.m. in den Sold des Souvros getreten. Obwohl das Legionskastell von Olskot nicht weit von seinem Elternhaus entfernt lag, hatte er von diesem Tag an kein Mitglied seiner Familie mehr zu Gesicht bekommen. Er war jetzt ein Volksverräter.
    Legionär Daikon Slek. In einer gerade geschneiderten Uniform, der erste Appell auf dem großen Platz. Es folgten sechs harte Monate der Infanterieausbildung. Legionär Slek war ein durchschnittlicher Soldat, ein guter Schütze, diszipliniert und trinkfest. Er fand Freunde unter seinen Kameraden, und an dem Abend bevor ihre Ausbildung offiziell beendet war, leerten sie gemeinsam einige Schläuche Wein. Daikon wusste nicht mehr, wessen Idee es eigentlich gewesen war, in die Ställe einzudringen und etwas mit den Pferden herumzualbern.
    Möglicherweise seine eigene. Auf jeden Fall hatten sie, betrunken wie sie waren, ohne an die Konsequenzen zu denken, eines der Tiere von seinem Stellplatz geholt. Dann hatte er sich auf den Rücken des Pferdes geschwungen, ohne Sattel und Zeug. Natürlich war der Wallach störrisch geworden, hatte versucht seine Last, die eindeutig nicht sein gewohnter Reiter war, abzuwerfen. Daikon hatte sich am Hals des Pferdes festgeklammert und auf es eingeredet. Es hatte sich beruhigt und ihn geduldet.
    Als dann plötzlich der Stallmeister auftauchte, hatten die Kameraden blitzschnell einen taktischen Rückzug mit anschließender Deckungssuche durchgeführt, die ihrem Ausbilder ein anerkennendes Nicken abgerungen hätte. Daikon saß natürlich immer noch auf dem Pferd, und musste eine lautstarke Schimpftirade über sich ergehen lassen, bevor er angewiesen wurde, das Tier in den Stall zu bringen und dem Offizier zum Kommandanten zu folgen. Als er durch den Schreck beinahe wieder nüchtern geworden im Ordonanzzimmer wartete, während der Stallmeister mit dem Kommandanten sprach, war Daikon noch der festen Überzeugung, dass man ihn auspeitschen würde. Als man ihn dann hereinbat und er die beinahe freundlichen Gesichtsausdrücke der beiden Offiziere wahrnahm, dachte er, dass er vielleicht doch nur Mist würde schaufeln müssen.
    Am nächsten Morgen verließ er das Kastell mit seiner ganzen Habe und einem Verlegungsbefehl im Gepäck. Kavallerieschule des Reiches in Idringo. Der Stallmeister hatte hoch beeindruckt geschildert, wie Daikon wie angewachsen auf dem durchgehenden Pferd gesessen und es wieder zur Ruhe gebracht hatte. Daraufhin hatte er vor dem Kommandanten das ganze Spiel wiederholen müssen und auch dieser hatte sich beeindruckt gezeigt. Ein Soldat mit einem natürlichen Verständnis für Reittiere, ein solches Talent durfte die Legion seiner Meinung nach nicht verschwenden.
    Daikon, der Pferde nur vom Sehen kannte, begann seine Legionärsausbildung von neuem. Bald zeigte sich, dass er mit jedem Tier, das man ihm zwischen die Schenkel gab, umgehen konnte, als wäre er auf dessen Rücken aufgewachsen. Ein Norjsk, der ritt wie ein steppenbewohnender Srik. Einer der Ausbilder berichtete ihm von diesem Reitervolk, das der Legende nach im Sattel zur Welt kommt und dort auch stirbt.
    Es zeigte sich aber auch, dass Daikon als Kavallerist nichts taugte. Egal wie gewandt er auch im Sattel war, er war nicht in der Lage, vom Rücken des Tieres aus einen treffsicheren Schuss abzugeben, vom Sturmangriff gar nicht zu sprechen. So wurde er zum schnellen Kurier der Legion. Nach dem Ende seiner Ausbildung war er stolz, sich den roten Helmbusch eines Unteroffiziers aufstecken zu dürfen, und wurde im Rang eines Kletainos als Botenreiter in die siebte Division nach Njestal übernommen. Er war glücklich zu dieser Zeit. Der Sold machte nicht reich, war aber ganz solide. Er führte ein gutes Leben, stellte Nachrichten für den nahe gelegenen Marinehafen zu, nahm an Manövern teil und besuchte hin und wieder mit einigen Kameraden das Bordell in der nahen Stadt. So war es wahrlich eine Freude, seinem Land zu dienen.
    Es hätte ewig so weitergehen können. Vielleicht hätte er sich einmal freiwillig für eines der zahlreichen, immer wieder aufflammenden Scharmützel im Süden des Imperiums gemeldet und wäre auf diese Weise auch einmal seinem Traum nahe gewesen - den großen Städten, Brenlis vielleicht, oder Hileysot. Botenreiter konnte man an der Front gewiss immer brauchen.
    Hätte... wäre... würde... so war es aber nicht gekommen.
    Zwei Jahre nach Beginn dieser schönen Zeit waren zwei Kuriere der Legion in die Festung geritten. Der eine von Süden, der andere etwas später aus Südosten. Kurz darauf hatten Daikon und Jetai, ein kleiner, muffig wirkender Südländer, das Kastell verlassen, um sich auf den Weg nach Olskot zu machen, wo die Umschläge, die jetzt in ihren Unterarmfutteralen ruhten, dem Standortkommandanten persönlich zu übergeben waren. Ein doppelt vorliegender Befehl, zu überbringen von zwei Boten, war in Friedenszeiten nur bei höchster Wichtigkeit üblich. Die Vorschriften verlangten in diesem Fall, dass beide Kuriere getrennte Routen nahmen. Jetai wählte den direkten Weg über die befestigte Reichstraße, währen Daikon einem kurzen Umweg über den südlichen Pass nehmen sollte.
    Als die Botenreiter in Njestal eingetroffen waren, hatte es schon gedämmert. Jetzt, als Daikon im schnellen Trab über den ausgetretenen Pfad eilte, war es vollkommen dunkel. Er vertraute darauf, dass sein Pferd mit seinen schärferen Sinnen seinen Weg alleine fand. Er ritt einen ausdauernden Braunen ohne großes Temperament. Njest-Kavallerie-Dreiundzwanzig, ein unscheinbares, aber zuverlässiges Tier. Seit es ihm vor einigen Wochen zugeteilt worden war, hatten sie sich angefreundet.
    Offensichtlich waren die Sinne des Reittiers doch nicht so gut wie gedacht. Bevor er überhaupt merkte, was geschah, flog Daikon quer über den Weg. Ein dorniger Busch fing ihn vergleichsweise sanft auf. Während er sich benommen aufrappelte und einige Dornen aus seinem Gesicht pflückte, wälzte sich Dreiundzwanzig auf der Erde und wieherte vor Schmerzen. Da er nichts sehen konnte, tastete Daikon die Fesseln des Pferdes ab und stellte sofort fest, dass Dreiundzwanzig mit dem linken vorderen Huf an etwas hängen geblieben oder über etwas gestolpert war. Die Fessel schwoll an und wurde warm, das Pferd zuckte zurück, sobald er etwas fester zugriff.
    Daikon hatte noch nie soviel geflucht wie in dieser Nacht. Es dauerte bis Monduntergang, bis Dreiundzwanzig mit Hilfe wieder aufstehen konnte und vorsichtig humpelte. Am Morgen erreichten sie die Handelsstation am Südpass, wo Daikon das Pferdebein eingehender untersuchte. Auf diesem Pferd kam er auf jeden Fall keine Meile weiter. Wahrscheinlich war es überhaupt nicht mehr zu verwenden. Daikon überlegte, ob er eine Nachricht nach Olskot oder Njest schicken sollte, entschied sich aber dagegen. Jetai hatte zu diesem Zeitpunkt sicher bereits sein Ziel erreicht, und man wunderte sich, warum der zweite Bote ausblieb. Mit Sicherheit würde man ein oder zwei Legionäre auf die Suche nach ihm schicken. Jetai kannte seine Route und wusste, dass, wenn etwas Außerplanmäßiges geschah, die Handelsstation sein erster Anlaufpunkt sein würde.
    Er verfluchte die Bürokratie der Legion und alle ihre sinnlosen Vorschriften. Dass ein eiliger Befehl nicht auf dem üblichen Postweg, sondern per Kurier befördert wurde, war ihm klar. Die Regelung der Doppelboten auf getrennten Wegen wurde in Friedenszeiten nur befolgt, um für Manöver und Ernstfall kein nachlässiges Verhalten einreißen zu lassen.
    Dann setzte er sich in die zu dieser frühen Zeit recht leere Taverne der Station und trank einen Becher Wein nach dem anderen. Ob aus Ärger über dumme Befehle, Trauer um Dreiundzwanzig, den im Kastell wahrscheinlich der Abdecker erwartete, oder aus Frust, wusste er später nicht mehr. Vermutlich etwas von allem. Als er der Meinung war, jetzt betrunken genug zu sein, zog er sich an einen Ecktisch der Taverne zurück. Zusammengesunken auf der Bank, fiel ihm ein, was er vergessen hatte. Die Dienstvorschriften besagten eindeutig, dass für den Fall, dass eine Nachricht nicht überbracht werden konnte, dass entsprechende Schriftstück sofort zu vernichten war. Der gewachste Umschlag steckte immer noch in dem Unteramtfutteral unter dem Ärmel seiner Uniformtoga. Ärgerlich riss er sich das ganze Behältnis vom Arm und wollte gerade aufstehen, um es dem Herdfeuer zu übergeben, da kam ihm der Gedanke, doch einfach nachzusehen, wofür man ihn auf einen sinnlosen Ritt geschickt hatte, für den wahrscheinlich ein gutes Pferd sterben musste. Niemand würde es je erfahren, wenn er einfach den Umschlag öffnete und später verbrannte. Er brach das Siegel der zweiten Division, das den Brief verschloss, mit dem Dolch. Er enthielt neben einem zusammengefalteten Bogen Papier einen weiteren kleinen Umschlag. Das Papier enthielt einige Worte von Großathor der zweiten Division an den Standortkommandanten von Olskot, die lediglich besagten, dass der beiliegende Umschlag am Morgen des siebten Tages des Erntemonats zu öffnen sei. Der kleinere Umschlag trug ein Siegel, dass Daikon in dieser Form noch nicht gesehen hatte, aber trotzdem gleich erkannte. Erheblich größer war es auf jedem Feldzeichen der Legion zu sehen. Das Wappen seiner souveränen Majestät höchstpersönlich. Erregt riss er den Umschlag auf und entfaltete das darin enthaltene, blütenweiße Stück Papier.
    "Ich, Souvros Flaikos dij Ilvusi, souveräner Imperator des Kretio Reniis, König von Blem und Eteilien, ex officio Vorsitzender des Rates der Freien Stadt Brenlis ..."
    Daikons Blick glitt über die endlose Reihe von Titeln, die beinahe das halbe Blatt einnahmen, um dann auf der eigentlichen Nachricht zu verweilen.
    "... befehle hiermit: Der Tyros des Reniischen Reiches, König Dmidai von Nordland, residierend in Olskot, ist am frühen Morgen des achten Tages des Erntemonats des Jahres Eintausendneunhundertachtundvierzig p.b.m. zu verhaften und in dem Legionskastell besagter Stadt festzusetzen. Bis zum Eintreffen weiterer Befehle ist ihm zuvorkommende Behandlung zu gewähren, sein Status als Gefangener jedoch nicht anzutasten.
    In Folge obenstehender Actio ist mit Unruhen unter der Bevölkerung der zentralen Bezirke der Reichsprovinz Nordland zu rechnen. Der Großathor der siebten Division ist angewiesen und ermächtigt, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Aufstände zu vermeiden. Für die Disziplin unter Legionären nordländischer Abstammung sind in diesem Zusammenhang die jeweiligen Standortkommandanten verantwortlich.
    Das Bürgerrecht von im Blute rein nordländischen Personen, mit Ausnahme solcher, die im Dienste der Legion stehen, ruht vom Abend des obengenannten Tages an..."
    Von diesem Zeitpunkt an war Daikon Slik fahnenflüchtig. Für ihn brach ein ganzes Weltbild zusammen. Seine Familie hatte stets Recht gehabt. Er war ein Norjsk, kein Reniier. Die Fremden in seinem Land waren immer Besatzer gewesen. Ihre vermeintliche Uneigennützigkeit gehörte nur zu ihrem Plan, wirtschaftlich das Beste aus einem Land zu holen, das ihnen nicht gehörte. Die Freundschaft des Souvros zu seinem "guten Freund" nur eine Farce. Kaum war er der Meinung, das Vertrauen des Volkes zu besitzen, stieß er ihn vom Thron, um einen ihm gefälligen Nachfolger einzusetzen. Die Reniier waren Ausbeuter, denen das Wohlergehen des Norjsk-Volkes vollkommen egal war. Und in falschverstandenem Patriotismus und Zusammengehörigkeitsgefühl war er ihnen gefolgt.
    Daikon wandte sich nach Osten, zur Grenze des herrenlosen Gebietes, weit weg von Olskot und Njest. Der Rest seines letzten Soldes reichte für einige neue Kleider und Vorräte für den Marsch. Im Osten von Nordland fand er Anstellung bei einem Großbauern als Erntehelfer. Dank seiner Führungsqualitäten war er nach zwei Monden Aufseher über die gesamte Erntemannschaft auf den Gerstenfeldern. Von dem in Olskot stattfindenden Schauprozess gegen Dmidai hörte er nur gerüchteweise von Reisenden. Man klagte den König an, Gelder des Reiches, bestimmt für den Ausbau der Pässe über das Nordgebirge, zu seinem persönlichen Nutzen veruntreut zu haben. Dmidai wurde aller Ämter und Würden enthoben und zur Arbeit in den Salzminen von Ultha verurteilt. Weit weg, im Süden, wo er auf sein Volk keinen Einfluss mehr nehmen konnte.
    In Daikon wuchs die Überzeugung, dass es nicht richtig war, sich zu verstecken. Man musste etwas unternehmen. Von selber gehen würden die Südländer sicher nicht.
    Aufstände und großer Widerstand hielten sich in Nordland freilich in Grenzen. Zwar gab es kaum ein Mitglied des Volkes, das mit der Behandlung des verehrten Königs einverstanden war, aber warum sollte man sich gegen eine Armee erheben, die man niemals besiegen konnte? Dem Einzelnen ging es nicht schlecht, nicht wenige betrachteten die Reniier gar als wirtschaftlichen Segen, ganz so, wie auch Daikon einmal gedacht hatte.
    Nein, offener Kampf kam nicht in Frage. Er musste es so angehen, wie die großen Führer der nordländischen Stämme schon vor Jahrhunderten gekämpft hatten: Wenn man den Feind nicht besiegen konnte, musste man ihn halt durch zahlreiche Nadelstiche schwächen. Dass er real damit nicht wirklich etwas erreichen würde, war nicht wichtig, es ging ums Prinzip.
    Sich die schwere Büchse und die passende Ausrüstung für eine kleine Jagd zu leihen, war nicht schwierig gewesen. Man vertraute einem zuverlässigen Vorarbeiter ohne Bedenken teures Gerät an, wenn man sicher war, dass er mit einem schönen Braten heimkommen würde.
    Die Taktik der Nadelstiche. Ein kleiner Stich nach dem anderen. Ein Schuss, ein Soldat. Die Truppe in Angst versetzen. Es ging um das Prinzip, alles für die Freiheit des Volkes zu tun, was möglich war. Die Arbeitskolonne war ein einleuchtendes, naheliegendes Ziel gewesen. Erneut riss das Zwitschern Daikon aus seinen Grübeleien. Keine Elle von seinem Gesicht entfernt saß ein kleiner grauer Tcilp auf einem Ast und stieß mit Inbrunst die schnelle Lautfolge hervor, die seiner Art ihren Namen eingebracht hatte. Daikon drehte leicht den Kopf, um den Vogel besser im Blick zu haben. Das Tier verstummte kurz, sah ihn misstrauisch an, nur um dann mit gleicher Lautstärke seinen Versuch, ein Weibchen anzulocken, wiederaufzunehmen.
    Daikon fror noch immer. Der Wind wehte um die Felsen und verursachte dabei ein ekelhaft pfeifendes Geräusch. Die Sonne näherte sich dem Rand des Tals. Er wusste nicht, wie lange er hier jetzt schon lag, aber das Zündstäbchen war schon fast völlig heruntergebrannt. Wie lange brannte so ein Ding? Einen Achteltag? Länger?
    Jetzt, wo sie sich im Schatten befanden, schaufelten die Gefangenen schneller, um sich warm zu halten. Die Schubkarre quietschte. Daikon visierte wieder den Unteroffizier an. Es konnte gar nicht so schwer sein. Er hatte hunderte Male geschossen. Er war ein guter Schütze, ganz sicher. Nicht nur seine Ausbildung, sondern auch ein großer Erfolg bei der Jagd sprachen dafür. Er konzentrierte sich. So einfach. Und so sinnlos.
    Wenn er nicht jetzt schoss, würde er es gar nicht mehr tun. Die Lunte glühte sofort hell auf, als er sie mit dem Zündstäbchen berührte. Er schüttelte die taub gewordenen Beine, um sicherzugehen, dass sie ihn nicht im Stich lassen würden, wenn er aufsprang, um um sein Leben zu rennen. Er würde nur das Gewehr mitnehmen, das Bündel enthielt nichts Wertvolles. Der Lauf ruhte sicher auf einem kopfgroßen Felsbrocken.
    Wie er es gelernt hatte, schätzte Daikon noch einmal die Entfernung ab und zielte auf die Stelle, wo der Brustpanzer des Unteroffiziers in den roten Kragen des Umhangs überging. Er drückte die Waffe fest an die Schulter. Sinnlos. Die beiden Legionäre unterhielten sich über südländische Frauen. Der Wind trug ihr Gespräch klar verständlich zu ihm hinüber. Frauen, das war auch das Hauptgesprächsthema bei seiner Ausbildung gewesen, unter den Kameraden. Nein, nicht Kameraden, Besatzern.
    Daikon drückte ab, und die schwere Waffe schlug schmerzhaft gegen seine Schulter. Im gleichen Augenblick drehte sich das Ziel des Schusses nach den Gefangenen um. Daikon bekam nicht mehr mit, wie die murmelgroße Kugel in viel zu flachem Winkel auf den Harnisch des Kletainos traf, einen tiefe Spur im gehärteten Leder hinterließ und wirkungslos davonheulte. Er war schon auf den Beinen, warf sich herum und rannte. Er stolperte durch das spärliche Unterholz und fiel mehr in das kleine Waldstück, als dass er lief. Der Pfeil aus der Balmuha des Unteroffiziers, der sich bemerkenswert schnell wieder gefangen hatte, wurde von einigen Ästen abgelenkt und blieb zitternd in einem Baumstamm stecken. Zweige peitschten Daikon ins Gesicht, als er hakenschlagend durch den Baumbestand hetzte; das Gewehr hatte er nun doch liegen lassen. Dann hatte der Soldat seine Waffe schussbereit, zielte in seiner Hektik jedoch meilenweit an dem Fliehenden vorbei. Zwei Gefangene nutzten die Situation zur Flucht, was aber niemandem auffiel. Obwohl er den Attentäter mittlerweile aus den Augen verloren hatte, schoss auch der Kletainos. Das Echo von drei Schüssen hallte durch das Tal.

  • 6
    Etwa ein halbes Dutzend Büchsen krachte gleichzeitig, als die erste Sau durch das Gebüsch brach. Für einen Moment war das Gelärme der Treiber übertönt.
    "Meine zweite Büchse, Banesch."
    "Sehr wohl, Baron." Der Angesprochene schlug seine grüne Kotze zurück, um dem Baron eine Büchse zu reichen und die abgeschossene entgegenzunehmen. "Ein guter Schuss."
    "Ja, wird nicht leicht sein, festzustellen, wer denn nun getroffen hat."
    Banesch bereitete die Büchse für den nächsten Schuss vor, während der Baron bereits wieder anlegte und das nächste Wild erwartete. Welches auch nicht lange auf sich warten ließ. Prenet schien es gut mit ihnen zu meinen. Und auch die Wettergötter waren milde gestimmt, denn der Himmel über den letzten Streifen des Morgennebels versprach einen herrlichen Tag. Als schließlich die Treiber den Waldrand erreichten und Fürst Baschan das Ende der Jagd befahl, waren nicht weniger als zwei Dutzend Sauen erlegt, hinzu etliche Hasen und einige Rebhühner.
    "Lasst uns dem Prenet ein Dankopfer darbringen, bevor wir selbst uns an dem Lohn der Jagd laben."
    "Wohl gesprochen", war der einstimmige Jubel auf diese Worte des Fürsten. Die Herren der befreundeten Häuser des Fürsten und deren Jagdgehilfen beglückwünschten sich zu der erfolgreichen Jagd. Hörner gaben das Ende der Jagd bekannt, und das Signal zum Jagdschloss, dass man erfolgreich gewesen war.
    So zog die Gesellschaft frohgemut zum Schloss, voran der Fürst mit seinen Jägern, dahinter die Gesellen mit der erlegten Beute.
    "So religiös und opferfreudig wie heute kenne ich Fürst Baschan noch gar nicht", meinte Banesch während des Marsches zu Manum, einem alten Freund von ihm.
    "Sag mal, wo hast du denn gestern Abend beim Jagdsegen deine Augen gehabt? Wer würde nicht bei dieser Priesterin umgehend zum tiefsten Glauben bekehrt werden?", gab der verschmitzt zurück.
    "Die ist Priesterin? Ich dachte schon, der Fürst hätte seine neueste Flamme zur Vorbeterin gemacht."
    Manum musste lachen bei diesem Gedanken. "Das schließt sich doch nicht aus. Kann schon sein, dass sie den besten Schlafplatz im Schloss hat. Neben dem Fürsten."
    "Nun, dafür würde ich auch so einige Opfer bringen", warf ein daneben gehender Knecht ein.
    Mit diesem und ähnlichen amüsanten Themen war der Weg zum Jagdschloss schnell zurückgelegt.
    Mit einem Hornsignal wurde die Gruppe gegen Mittag am Jagdschloss begrüßt. Die Jäger ihrerseits antworteten mit einer Erfolg verkündenden Melodie. Eine Schar Diener des Fürsten nahm die Jagdbeute entgegen, um sie für das abendliche Festmahl zu bereiten. Die hohen Herren begaben sich in den geschmückten Innenhof, während die Jagdgehilfen die Waffen versorgten und beim Ausweiden des Wildes halfen.
    "Zeigst du mir, wie das geht?" Banesch hatte gerade ein gerupftes Rebhuhn in der Hand, als er so angesprochen wurde. Hinter ihm stand eine junge Frau in der Robe Prenets, jedoch zu jung, um Priesterin zu sein.
    "Gerne. Doch sagt, wie kommt es, dass eine Anhängerin Prenets einen einfachen Gehilfen fragen muss?"
    "Ich bin Novizin im Tempel. Dass das Schicksal mich zu Prenet führen würde, war nicht abzusehen. Die Priesterin nahm mich mit, um das Handwerk unseres Herrn zu erlernen." Es war ihr sichtlich etwas peinlich, wie sie sich vor Banesch rechtfertigte. Und Banesch wusste sehr wohl, dass sie dies nicht nötig hatte, ihn im Gegenteil für die Unverschämtheit seiner Frage zur Verantwortung ziehen konnte. Selbst wenn sie bis zum Vortag Sklavin gewesen wäre, so war sie nun einem Gott geweiht, und er nur ein einfacher Handlanger des Barons.
    "Nun, so seht her. Zunächst wird hier der After herausgetrennt, damit sich dann das Gescheide herausziehen lässt." Banesch ging routiniert den Vorgang des Ausweidens durch. Innerlich amüsiert beobachtete er, wie die Tempelgehilfin sich vergebens mühte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihr der noch ungewohnte Anblick frischer Innereien zu schaffen machte. Gleichzeitig bemühte er sich, dabei fachmännisch zu bleiben. Durch nichts in der Welt wollte er ihr noch einen Grund geben, auf ihn wütend zu sein, hatte er sie doch bereits zuvor durch seine unbedachte Frage beschämt. "So. Nun hängen wir sie da drüben auf. Die Innereien kommen gleich in die Küche."
    Die Novizin versuchte, mit einem Lächeln ihre Beklommenheit zu überspielen. "Wird das bei allen Tieren so gemacht?"
    "Es gibt einige Unterschiede. Schon wegen der Größe kann man ja Schweine nicht mit einer Hand festhalten und mit der anderen ausnehmen. Doch bleiben wir erstmal bei dem Geflügel. Das kennt Ihr ja nun schon. Und keine Sorge, es wird mit jedem Mal einfacher." Für den letzten Kommentar hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen, kaum dass er ausgesprochen war. Doch die Tempelgehilfin hatte die Spitze nicht bemerkt oder ließ sich jedenfalls nichts anmerken. Schnell fuhr Banesch fort: "Nehmen wir nun dieses Rebhuhn. Da drüben ist heißes Wasser, damit es sich leicht rupfen lässt."
    Das Rupfen des Vogels ging ihr deutlich leichter von der Hand. Banesch schien es, sie hätten kaum damit angefangen, als der Vogel auch schon von seinen Federn befreit war. Als dann das Huhn ausgenommen werden konnte, hatte die Tempelgehilfin, bevor Banesch etwas sagen konnte das Messer in der Hand. Er wollte schon protestieren, überlegte es sich im letzten Moment dann doch anders.
    "Wie wird das Messer hier jetzt nochmal angesetzt?"
    "Lasst Euch helfen. Das Huhn nehmt Ihr so in die eine Hand, das Messer ..." Banesch griff nach dem Messer, um ihre Hand zu führen, doch als sich ihre Hände berührten, verstummte er. Auch die Tempelgehilfin zögerte einen Moment länger, als unbedingt nötig. Dann sah sie ihm in die Augen und fragte: "Und nun?"
    Banesch schluckte kräftig. Hoffentlich hatte er nicht schon wieder einen Fehler gemacht. Doch würde sie ihn dann so ansehen? Da wurde ihm bewusst, dass auch er sie anstarrte. Abrupt wandte er sich ab. "Verzeiht. Wie Ihr den Schnitt genau ansetzt, ist eigentlich gar nicht so wichtig, ich meine, der Darm soll nicht angeschnitten werden, also ..."
    "Lass doch diese Förmlichkeiten sein. Mein Name ist Dhaskhat."
    Nun war Banesch gänzlich verwirrt. Durfte er so weit gehen, eine geweihte Person mit ihrem Namen anzusprechen? Doch sie bot es ihm ja an. Also war es wohl richtig.
    "Ja, Gewei... Dhaskhat. Ich bin Banesch. Einfacher Jagdgehilfe." Er wusste nicht mehr zu sagen.
    "Gut, Jagdgehilfe Banesch, was hältst du davon, wenn wir beide nun das Huhn fertigmachen und uns dann unter die Gesellschaft mischen?"
    "Aber... ich weiß nicht, ob ich das kann. Hier ist noch einiges zu tun."
    "Du bist für heute von der Arbeit hier befreit. Den Rest des Tages arbeitest du für mich, Banesch."
    "Sehr wohl, Herrin", antwortete Banesch im Reflex. Doch dann sah er Dhaskhat schmunzeln.
    "Wir hatten uns doch auf eine einfachere Anrede geeinigt."
    "Ja, aber es ist so ungewohnt. Ihr... du stehst so unendlich weit über mir. Die meisten der hohen Herren hier müssten dir gehorchen. Es ist seltsam, dich mit Namen anzureden."
    "Banesch, ich bin keine Priesterin, sondern eine einfache Novizin. Es ist noch ein weiter Weg, bis mir die hohen Herren hier irgendwie verpflichtet wären. Außerdem kannst du den Namen ruhig verwenden, wenn du mit mir redest."
    "Ja, aber wir sollten uns jetzt wirklich dem Rebhuhn zuwenden." Banesch versuchte, auf vertrautere Themen zurückzukommen. Für ihn war alles Geheiligte in so unerreichbarer Ferne. Diese Tempeldienerin machte ihn nervös. Doch sie sah ihn nun auffordernd an.
    "Dhaskhat."
    "Na also. So schwer ist es doch gar nicht. Wie wird das Messer hier gleich nochmal angesetzt?"
    Der Rest des Vogels war schnell ausgenommen. Banesch konzentrierte sich auf sein Handwerk. Dies war ihm ein wesentlich sicherer Boden, als die Schaukel, auf die ihn Dhaskhat zuvor geführt hatte. Als sie fertig waren, wollte er sich schon nach weiteren Arbeiten umsehen, als ihn Dhaskhat zurückhielt.
    "Banesch, du wolltest mich doch der Jagdgesellschaft vorstellen."
    "Ach richtig, ja. Dann wollen wir mal los."
    "Du hattest mich doch nicht schon vergessen, obwohl ich neben dir stehe?"
    "Vergessen? Nein, ich ..." Wie meinte sie das? "... es ist nur, ich ..."
    "Komm schon. Die Herrschaften warten nicht auf uns."
    ***
    Fürst Baschan hatte keine Kosten gescheut, seine Gäste zu unterhalten. Musiker und Gaukler aus ganz Drankan waren im Schlosshof versammelt. Banesch kannte die Feste des Fürsten, doch dies war weit mehr als eine Jagdfeierlichkeit. Er fragte sich, was wohl der wirkliche Grund für dieses Fest war. Der Innenhof des Schlosses war Jägern und deren Gefolge vorbehalten, doch draußen frönte auch gemeines Volk der vielseitigen Unterhaltung.
    Drinnen im Schlosshof war man ebenso erstaunt über den Umfang dieser Festivität. Niemand schien dies erwartet zu haben, und keiner der Noblen wusste, was den Fürsten veranlasst hatte, so weit über seine schon sonst nicht geringe Manier hinauszugehen. Wild wurde spekuliert, über Geburten, doch war der Fürst nicht verheiratet. Von einer Siegesfeier wurde geredet, doch wusste niemand, mit wem der allseits beliebte Fürst Baschan in einer Fehde läge. Der Fürst selbst wusste diesbezüglichen Fragen geschickt auszuweichen und die Gespräche in seiner unmittelbaren Umgebung auf andere Themen zu bringen.
    Banesch gewöhnte sich allmählich an seine hohe Begleiterin. Niemand nahm Anstoß daran, dass er sich für sie von seiner Arbeit entfernt hatte, ja es schien, dass ihr Rang auf ihn abfärbte. Einige der Noblen, die ihn sonst kaum wahrgenommen hätten, ließen sich bereitwillig auf ein Gespräch ein. Nur von einigen seiner Standesgenossen bekam er neidische Seitenblicke.
    Anfangs fragte Dhaskhat Banesch nach solchen Gesprächen immer wieder nach der Bedeutung einzelner Begriffe und Phrasen, doch beteiligte sie sich im Laufe des Tages immer mehr an der Unterhaltung. Sie hatte keine Scheu, die ihr vorher noch unbekannten Worte selbst zu verwenden. Zunächst erschrak Banesch, wenn sie dabei Fehler machte. Doch nachdem die Noblen keine davon ernst nahmen, sah auch Banesch diese lockerer und wies sie nur danach, wenn keiner zuhörte, kurz darauf hin.
    "Dhaskhat, niemand hier scheint deine Unkenntnis der Jagd zu bemerken."
    "Niemand erwartet von einer Novizin, sich auszukennen."
    "Jeder hier weiss, dass du Novizin bist? Warum stelle ich dich jedem vor, wenn dich ohnehin jeder kennt?"
    "Sie kennen mich nicht, Banesch. Aber mein Stand ist mir deutlich anzusehen." Ein breites Grinsen zierte nun ihr Gesicht. "Besonders viel scheinst Du über die Tempelgebräuche nicht zu wissen."
    "Nun, ich kenne die Farben Prenets. Und ich weiß, dass solche Roben nur von seinen Geweihten getragen werden. Aber im Großen und Ganzen war es das schon."
    "Diese einfache Robe ist die einer Novizin. Sie ist gänzlich aus zwei Stücken Stoff gefertigt, ohne sonstigen Schnörksel. Dass ich auch sonst keinen Schmuck trage, gibt einen weiteren Hinweis. Wenn du nach Bernst kommst, kann ich dir die Unterschiede und Feinheiten hierbei zeigen."
    "Nach Bernst? Ich weiss nicht, ob mein Herr mir das erlaubt."
    "Fragen wir ihn doch einfach. Wer ist eigentlich dein Herr?"
    "Baron Sandad. Er unterhält sich dort drüben mit Graf Ebrast."
    "Na dann mal los. Warum hast du mich eigentlich ihm noch nicht vorgestellt?"
    "Es waren so viele wichtige Leute im Weg, und, nun ja, ich sollte doch beim Fang sein."
    "Das wird er schon wissen, dass du das nicht mehr bist, Banesch. Wir haben uns ja nun nicht unbedingt versteckt. Dann sorge mal dafür, dass er auch weiß, mit wem du unterwegs bist."
    Bei dem Baron angekommen, ergriff Banesch wie sonst das Wort. "Graf Ebrast, Baron Sandad, Herr, darf ich Euch Dhaskhat, Geweihte des Prenet zu Bernst, vorstellen."
    "Sehr erfreut, edle Dame. Ja, Banesch, ich hörte bereits, dass du eine hübsche Geweihte deiner Arbeit vorziehst. Ich kann es dir nicht verübeln."
    "Baron, ich habe mir erlaubt, Euren Gehilfen für heute in meine Dienste zu stellen. Ich brauchte jemanden, der diese Gesellschaft kennt."
    "Nun, der Fang kommt gewiss auch ohne Banesch zurecht. Wird er Euren Ansprüchen gerecht?"
    "Sehr gut, Baron. Ich wäre erfreut, Euch bald im Tempel zu Bernst willkommen heißen zu können."
    Der Baron sah die beiden einen Moment mit einem Grinsen an. "Wie könnte ich einer Dienerin Prenets etwas abschlagen. Es ist ohnehin Zeit, den alten Baron Dafdanam in Bernst aufzusuchen."
    "So werde ich euch dort erwarten." Dhaskhat musste das Grinsen des Barons bemerkt haben. Doch ließ sie sich nichts anmerken.
    "Aber erschöpft den Jungen heute nicht zu sehr. Für morgen habe ich eine Jagd mit Graf Umfid am Rothstockfels vereinbart. Da brauche ich ihn."
    "Mit Umfid, Baron?" Banesch konnte diesen arroganten Grafen nicht ausstehen.
    "Mit Graf Umfid. Ich pflege eine gute Beziehung zu seinem Haus und hoffe, dass du dich zu benehmen weißt."
    Später, als Banesch und Dhaskhat wieder unter sich waren, fragte Dhaskhat: "Wer ist dieser Umfid?"
    "Ein Graf aus Westerboch. Ich kann ihn nicht ausstehen. Er hat es scheinbar nötig, ständig allen zu zeigen, dass er etwas besseres ist."
    "Wie dem auch sei, lass uns das Fest heute noch genießen. Ich will mich etwas hinsetzen. Besorgst du uns etwas zu trinken?"
    "Natürlich, Dhaskhat. Ich bin sofort wieder da."
    Als Banesch mit zwei Krügen des schlosseigenen Bräu zurückkehrte, sah er Dhaskhat bei Graf Umfid stehen. Zum ersten Mal an diesem Tag sah er Zorn in den Augen der Geweihten blitzen. Schnell schritt er näher.
    "Ach, da ist ja der Schwerenöter auch schon wieder."
    "Graf Umfid, es steht euch kein Urteil darüber an, wen ich hier in meine Dienste stelle."
    "Euch beiden ist deutlich anzusehen, dass er kaum der Dienstbote ist. Da hilft es auch nicht, ihn Bier holen zu schicken, um den Schein zu wahren. Gedenkt Eurer Religion und Eures Standes. Novizin."
    "Ich bin mir beides sehr wohl bewusst. Und daher in dem vollen Wissen darum, mir diese Reden nicht weiter anhören zu müssen. Gehabt Euch wohl."
    "Wie auch immer. Ich werde nicht zusehen, wie in meiner Gegenwart der Name Prenets beschmutzt wird." Umfid wandte sich ab.
    Wortlos ergriff Dhaskhat einen der beiden Krüge. Erst nach einigen tiefen Schlucken sprach sie: "Was bildet sich dieser Mensch eigentlich ein? Will er mich über die Lehren Prenets und meine Ordensregeln belehren?"
    "Ja, das will er tatsächlich. Umfid lässt nichts anderes gelten, als was er selbst für richtig hält."
    "Wie kann ein Mensch so starr sein? Seinen Reden nach kennt er kaum einen Bruchteil des Prenetliedes."
    "Ich bin mir sicher, er hat zwei Verse gehört, die ihm gefallen, und sich darauf selbst den Rest zusammengedichtet."
    Dhaskhat nahm einen weiteren Schluck. "Nun dann, lassen wir uns von ihm nicht den Tag verderben. Bis zum abendlichen Bankett sind es noch ein paar Stunden. Wollen wir uns draußen unter das Volk mischen?"
    "Was auch immer du willst. Ich bin nur der Knecht."
    Darauf lachte die Tempelgeweihte laut auf. "Wie zufrieden bist du eigentlich mit deiner Schülerin?"
    Um ein Haar hätte sich Banesch an seinem Getränk verschluckt. "Meine Schülerin?"
    "Du bringst mir doch den ganzen Tag die schönsten Dinge bei. Lassen wir das. Sehen wir uns doch mal draußen um."
    ***
    Im Außenbereich des Schlosses hatte das bunte Treiben nochmals deutlich zugenommen. Schwertschlucker, Jongleure, Feuerschlucker und Zauberer aller Arten unterhielten das Publikum. Auf einer zentral gelegenen Bühne wechselten sich verschiedene Darsteller ab, nacheinander ihre Darbietung zu präsentieren. Als Banesch und Dhaskhat auf den Platz traten, war dort gerade ein Clown mit einer sehr jungen Gehilfin, die er immer wieder in ihrer Gestalt als weiße Taube auf Botenflüge schickte, die sie jedesmal auf dümmliche Weise vermasselte. Einen Großteil der Attraktion dieser Darbietung machte es wohl aus, dass sie sich jedesmal vorne auf der Bühne zurückverwandelte, einige Momente brauchte, bis sie bemerkte, dass sie nichts anhatte, bevor sie sich erschrocken hinter eine Trennwand flüchtete.
    "Dhaskhat, darf ich fragen, was eigentlich dein Tier ist?"
    "Fragen darfst du. Ja, ich bin als Rothirsch geboren."
    "Rotwild?"
    "Bist du nun enttäuscht?"
    "Nein. Nur nicht gerade, was ich bei einer Priesterin des Jägers erwartet hätte."
    "Nun ja, die höchsten Priesterränge sind mir damit verschlossen. Dafür bin ich auf der falschen Seite der Jagd. Doch ich werde das Beste aus dem, was mir zur Verfügung steht, machen. Darf ich nun auch erfahren, was du bist?"
    "Natürlich. Ich bin ein Luchs."
    "Wirklich? Damit bist du einfacher Jagdgehilfe im Dienst eines Barons?" Sie hielt kurz inne. "Muss ich jetzt Angst vor dir haben?"
    "Natürlich nicht. Ein ausgewachsenes Rotwild kann doch kein Luchs angehen." Dann lachte er sie an. "Ich werde dich vor anderen Räubern hier beschützen."
    "Na, da fühle ich mich doch gleich viel sicherer. Aber für dich müsste sich doch etwas Besseres finden lassen als die Arbeit als einfacher Jagdknecht?" Die Taube flog dicht genug an den beiden vorbei, dass sie Dhaskhat beinahe streifte. Der Clown auf der Bühne setzte zu einer umständlichen Entschuldigungsrede an, die aber keiner von beiden wirklich beachtete.
    "Ich weiß nicht. Meine Familie sind einfache Bauern, meist Nutzvieh. Ich bin nicht der erste Luchs in der Familie meines Vaters, aber es kommt sehr selten vor. Das direkte Gefolge des Barons ist bereits ein großer Aufstieg für mich."
    "Weißt du was, du kommst ja sowieso bald nach Bernst, da reden wir darüber weiter."
    Der Rest des Tages verging vergnüglich ohne weitere Zwischenfälle. Banesch erwischte sich immer öfter dabei, wie er den Standesunterschied zwischen ihnen zu vergessen begann. Doch Dhaskhat hatte dafür jedesmal nur ein Lachen übrig.
    Zur abendlichen Tafel bestand die Tempelgehilfin darauf, dass er an der Tafel der Jäger neben ihr saß. Dies trug ihnen einen stechenden Blick von Umfid ein, doch beide waren sich darüber einig, diesen nicht zu beachten. Die Tafel eröffnete Fürst Baschan mit einer Rede.
    "Meine Freunde. Ihr alle habt wohl bemerkt, dass der heutige Tag die Ereignisse einer Jagd bei weitem übersteigt. Viele eurer Spekulationen darüber drangen an mein Ohr. Einige, die mich innerlich belustigten, und die es wert machten, die Ursache bis jetzt verborgen zu halten. Andere haben es wohl erraten, und, meine Freunde, ich will es euch nun nicht mehr verschweigen. Nun, auch vor einem Mann wie mir macht das Alter nicht halt, und einige mögen wohl schon die Nase gerümpft haben, was mich davon abhielte, meinen Stammeshalterpflichten Folge zu leisten. Nun, ich kann euch beruhigen. Denn im frühen Sommer dieses Jahres führten mich die Pflichten meines Standes nach Bernst, und dort fand ich die Frau, die meinen Sinnen gefällt. Ich fragte sie, und sie willigte ein, mein Fürstentum mit mir zu teilen. Ihr alle werdet es nun schon erraten haben. Niemand geringerer als die Priesterin Nareshat wird sich in auf den Tag genau einem halben Jahr mit mir vermählen."
    Die letzten Worte dieser Rede gingen bereits in lautem Jubel und Glückwunschzurufen unter.
    "Die beiden geben wirklich ein hübsches Paar ab. Hast du davon gewusst?", wandte sich Banesch an seine Begleiterin.
    "Nun, in Bernst war es unübersehbar, dass die beiden sich nahe stehen. Aber gewusst, dass dies hier die Verlobungsfeier ist, habe ich nicht." Sie kicherte. "Ein halbes Jahr? Dann erwartet sie wohl schon ein Kind von ihm?"
    "Wenn du mal Priesterin bist, Dhaskhat, wirst du dir dann auch einen Fürsten angeln?"
    Wiederum lachte die Angesprochene. "Nein. Nein, die Priesterin ist eine Berglöwin, ich kann nicht einmal davon träumen, ihr jemals gleichzukommen."
    Auch das abendliche Mahl ging schließlich zu Ende. Manchem der Noblen missfiel es dann doch sichtlich, dass der Jagdgehilfe bei ihnen saß. Doch Dhaskhat ließ nicht zu, dass er sich einen anderen Platz suchte. Einmal ließ die Priesterin Dhaskhat zu sich kommen. Die beiden sahen während ihres Gespräches auffällig in Richtung Banesch. Doch was sie besprochen hatten, verriet Dhaskhat ihm nicht. Da nun augenfällig war, dass weder die Priesterin noch der Fürst etwas gegen seine Anwesenheit hatten, mussten sich auch die anderen fügen.
    Nach Abschluss des Mahles sagte Dhaskhat: "Ich will nun noch das Dankgebet zelebrieren. Kommst du mit in meine Kapelle?"
    "Ich wusste gar nicht, dass für dich eine eigene Kapelle hergerichtet ist. Ich dachte, du gehst nur der Priesterin bei den Messen zur Hand?"
    "Na, dann lass dich mal überraschen." Dhaskhat nahm Banesch bei der Hand und zog den verwirrten Gehilfen hinter sich her zum Hauptgebäude. Dort hinauf zu den Gästegemächern, wo sie eine der Türen öffnete. "Hier sind wir, mein Beschützer."
    "Aber... Geweihte, dies sind Eure Privatgemächer. Ich kann doch nicht ..."
    "Doch, kannst du. Du wolltest heute auf mich aufpassen, kleiner Luchs, also gib Obacht, dass niemand die Andacht stört. Und fang nicht wieder mit der förmlichen Anrede an."
    "Seid... bist du sicher, dass ich allein mit dir, in deinen Gemächern ...?"
    "Nun komm schon. Willst du vielleicht anfangen, mir wie dieser Umfid vorschreiben wollen, wen ich wann um mich haben darf?"
    Banesch ließ es dabei bewenden. Sein Ruf und Ansehen standen hier nicht auf dem Spiel. Doch hoffte er für Dhaskhat, dass sie wirklich wusste, was ihrem Stand gemäß war.
    Im Raum war tatsächlich ein Altar hergerichtet mit den Symbolen Prenets. "Setz dich und bete mit mir." Mit diesen Worten kniete Dhaskhat sich vor diesem nieder und begann die Anbetungszeremonie. Banesch hatte dieser Zeremonie schon öfters beigewohnt, doch nie so nahe am Altar, und nie... allein, mit der Priesterin. Ob sie wohl wusste, dass er weniger die Symbole Prenets, als ihren Körper beobachtete? Dass seine ungeteilte Aufmerksamkeit nicht Andacht war?
    Dhaskhat setzte sich nach der Zeremonie zu ihm. "Du kannst nun dein Gebet beenden", hauchte sie ihm ins Ohr.
    Ein Nicken war alles, wozu Banesch fähig war.
    "Jäger, du hast heute mein Herz erlegt. Nun nimm dir deine Beute."
    "Dhaskhat, meinst du nicht, dass der Standesunterschied doch zu groß ist?", versuchte Banesch einen schwachen Protest, doch seine Hände glitten bereits über ihren Körper.
    "Selbst wenn der Jäger ein Hase wäre, und der Fang ein wilder Stier, so gehörte ihm doch die ganze Beute. So will es der hohe Jäger", hauchte sie, während ihr Kleid über ihre Schulter rutschte, sie sich zurücklegte und ihn sanft mit sich zog. "Prenetlied, dritter Gesang, Vers 128 bis 130", fügte sie noch hinzu, bevor Banesch ihren Mund mit dem seinen schloss.
    Am nächsten Morgen standen beide noch vor Sonnenaufgang auf. Dhaskhat, um wie jeden Tag zum Morgengebet zurecht zu sein. Und für Banesch war ja heute wieder eine Jagd angesetzt. Der Rothstockfels war nicht die unmittelbare Umgebung des Jagdschlosses, und so musste man früh los, wollte man nicht die beste Jagdzeit verpassen. Die beiden verabschiedeten sich mit einem langen Kuss und versprachen sich ein baldiges Wiedersehen in Bernst.
    Die Jagdausrüstung des Barons war schnell hergerichtet. Banesch hatte sie bereits am Vortag versorgt, bevor er sich ans Ausweiden des Wildes gemacht hatte.
    "Na, die Nacht angenehm verbracht?" Samaschai, ein Knecht Umfids, grinste Banesch breit an. "Man hört so einiges über dich."
    Banesch grinste zurück. Glücklicherweise hatte Samaschai nicht den Charakter seines Herrn übernommen. "Allerdings sehr angenehm. Und die Gerüchte wirst du mir heute alle erzählen."
    "Nur, wenn du mir versprichst, zu sagen, was davon wahr ist. Und keine Ausflüchte oder Prahlereien."
    "Nun gut, nichts als die Wahrheit."
    Da kamen auch schon die zwei Jäger mit dem restlichen Gefolge. Zu Pferde ging es dann los. Auf dem Weg nahm der Baron seinen Jagdgehilfen zur Seite. "Banesch, du hast ja nun möglicherweise eine große Zukunft vor dir." Er sah ihm direkt in die Augen und fuhr dann ernst fort: "Wenn du hinausziehst in die Welt, mach meinem Haus Ehre."
    "Baron, heißt das, Ihr entlasst mich aus euren Diensten?"
    "Nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Ich verliere ungern einen fähigen Gehilfen. Doch ich werde dem Tempel in Bernst nicht widersprechen." Damit war diese Unterhaltung für den Baron beendet. Er kehrte zurück zu seiner Gesellschaft. Dass Umfid ihn gänzlich ignorierte, schien Banesch etwas seltsam, aber eigentlich war es ihm ganz recht. Bis zum Rothstockfels hatte Banesch mindestens vier Versionen der Ereignisse vom Vortag zu hören bekommen. Abwechselnd hatte er Dhaskhat vor wildem Raubzeug errettet, und sie ihn zum Priester gesalbt. Irgendjemand schien mitbekommen zu haben, wie sie ihn ihren Beschützer genannt hatte, und damit die Gerüchteküche zum Brodeln gebracht.
    Die Sonne war zur Hälfte über den Horizont gestiegen, als die Gruppe am Rothstockfelsen ankam. Die Jäger besprachen kurz, wo denn die größten Erfolgsaussichten bestünden, und zogen dann los. Die Jagdgehilfen blieben zurück. Ein Hornsignal würde ihnen künden, wenn sie gebraucht wurden. Bald knallten einige Schüsse, und es dauerte nicht lange, bis erst Samaschai und dann Banesch gerufen wurden. Banesch war überrascht, dass nicht der Baron, sondern Umfid ihn gerufen hatte.
    "Komm mit", sagte dieser knapp, "Samaschai ist kein guter Kletterer."
    Das war in diesem Gelände doch ein hinreichender Grund, ihn zu rufen, und Baneschs Misstrauen verflog so schnell, wie es gekommen war.
    Umfid führte in in eine Schlucht zu einem großen Wasserfall. "Da hinten."
    "Sehr wohl, Graf." Banesch sprang los, über die Steine am Fluss. Er drehte sich um, um nach der genauen Richtung zu fragen, da sah er, dass Graf Umfid auf ihn angelegt hatte.
    "Aber Graf Umfid, was hat das zu bedeuten?"
    "Ich lasse nicht zu, dass der Name des hohen Jägers beschmutzt wird."
    "Niemand hat seinen Namen beschmutzt. Ich weiss nicht, was Ihr wollt."
    "Prenet bedeutet Ehrlichkeit, Männlichkeit und Treue. Allein im Angesicht mit dem Wild. Nicht müßig auf leichten Festen süße Früchte pflücken, die einem in den Mund fallen. Mit der untreuen Hure werde ich später Zwiesprache halten, doch du bezahlst die Schande jetzt." Mit diesen Worten drückte er ab.
    Von der Wucht des Schrots umgerissen, fiel Banesch rückwärts in das Wasser. Halb betäubt sah er Umfid zu. Er wusste nicht, woher das Pferd plötzlich gekommen war, auf das der Graf seine Sachen verlud. Unfähig, sich zu bewegen oder einen Laut von sich zu geben, beobachtete er den Grafen, der das Pferd mit einem Klaps davonsprengte, ihm noch einen grimmigen Blick zu warf, sich dann in einen Habicht wandelte, um sich in die Lüfte zu schwingen. Das letzte was er sah, war wie der Graf über die Wipfel entschwand. Dann brachen ihm seine Augen, und nur noch erfüllt vom Tosen des Falles fühlte Banesch, wie der letzte Lebensfunke langsam durch die Einschusslöcher aus seinem Körper floss.

  • 7
    Das Rauschen des Wasserfalls war das Letzte, was er hörte, bevor er sein Bewusstsein verlor. Es war beruhigend und berauschend zugleich; eine wilde, unbezähmbare Kakophonie von hellen und dunklen Tönen. Dazu tanzten in der klaren Luft Abermillionen von kleinen Wassertropfen, in denen sich die Sonne funkelnd spiegelte.
    Zahlreiche kleine Vögel flogen immer wieder wild zwitschernd durch den aufgespannten Regenbogen, doch ihre Stimmen waren über dem Tosen der Wassermassen kaum mehr zu hören. Auch der Westwind musste sich gehörig anstrengen, dass er gehört wurde, aber gerade eben waren seine Mühen umsonst. Denn es war kein Mensch in der Nähe, der ihm Beachtung schenkte, und die Tiere des Waldes hörten ihm nicht mehr zu.
    Der einzige Mensch, der ihm hier oben ab und zu Gesellschaft leistete, war Ediz. Auch heute war er wieder gekommen, aber wie an vielen Tage zuvor hatte er sich in eine tiefe Bewusstlosigkeit geweint, aus der er ihn nicht aufwecken konnte.
    So trug er lediglich dessen leise Klagen über die Gipfel der Funkenberge hinaus in die Welt, bevor sie ungehört verklangen.
    Das glaubte der Westwind zumindest zuerst, denn für gewöhnlich war er hier oben ja alleine, aber heute sollte ihm jemand Gesellschaft leisten, von dessen Rasse er schon lange keinen mehr gesehen hatte.
    Fast unbemerkt legte sich der Gast auf seine Schwingen und ließ sich von ihm zu Ediz bringen.
    Erst als der schlanke Matill sich von ihm löste und es sich in den Baumkronen über Ediz gemütlich machte, wurde der Westwind seiner gewahr.
    Wie alle Vertreter seines Volkes besaß er spinnenseidenes Haar, das um sein schmales Gesicht trieb, als würde er - der Westwind - oder einer seiner Brüder ständig mit ihm spielen. Ein Paar unergründlich schwarzer Augen musterte Ediz neugierig, während der Matill mit seinen blassen Lippen eine leise Melodie anstimmte.
    Neugierig lauschte der Westwind dieser rätselhaften Musik, die er schon seit Generationen nicht mehr gehört hatte.
    Konnte es sein? War Ediz vielleicht gar nicht "stumm", wie alle befürchteten?
    Seit Jahren suchte er nach seinem eigenen Ton. Dem Ton, der ihm seinen endgültigen Namen geben würde und der ihm die Macht verlieh über dem Boden zu schweben, anstatt mühsam einen Fuß vor den anderen zu setzen.
    An manchen Tagen hatte es so ausgesehen, als hätte er ihn endlich gefunden. Er war wie all die anderen Jungen und Mädchen einige Handbreit über dem Boden geschwebt, doch schon bald darauf war er wieder zu Boden gestürzt. Es schien fast so, als wollte kein Ton ihn länger als wenige Wimpernschläge tragen.
    Doch als der Westwind jetzt die Melodie des Matills hörte, wusste er es besser.
    Es war nicht so, dass die Töne ihn nicht tragen wollten; vielmehr wollten sie ihn gemeinsam tragen.
    Ediz war nicht dazu bestimmt, nur einen Ton sein Eigen zu nennen - sie wollten ihm alle dienen. Gerade er hätte es früher erkennen müssen, doch auch sein Gedächtnis ließ ihn manchmal im Stich und bedurfte hin und wieder kleiner Anschubser. In diesem Fall war es der Matill gewesen, und im Bewusstsein, Ediz in Sicherheit zu wissen, machte sich der Westwind auf den Weg, um seinen Brüdern gleich die frohe Botschaft zu verkünden: ein neuer Yelin wandelte auf Anra'saris Boden!
    Ediz wusste nicht, wie lange er diesmal bewusstlos gewesen war, aber es konnte nicht so lange wie die letzten Tage gewesen sein, denn seine Muskeln waren kaum verspannt, und so konnte er sich mühelos aufrichten. Trotzdem fühlte er sich kraftlos und erschöpft, so dass er die ohnehin nur vagen Umrisse, die er mit seinen Augen sehen konnte, nur mehr als verschwommene Schatten wahrnahm.
    Wie so oft verfluchte er die seltsame Physiologie seines Volkes, die ihn dazu nötigte, die Stimme zu erheben, um nicht zu stolpern. Nur dank ihrer empfindlichen Echolote konnten die Yeli'navrem sich überhaupt einigermaßen sicher bewegen, denn ihre Augen waren viel zu schlecht, als dass sie Umrisse, die mehr als zwei Meter entfernt waren, hätten erkennen können.
    Doch Ediz hatte in den letzten drei Jahre angefangen, seine Stimme zu hassen, weil sie ihm nicht den Ton schenkte, der ihn zu einem richtigen Yeli'navrem gemacht hätte. Insofern schwieg er lieber, solange ihn die Lehrer nicht nötigten, es doch noch einmal zu versuchen.
    "Schon einmal daran gedacht, mehrere Töne gleichzeitig zu singen, kleiner Freund?"
    Ediz zuckte erschrocken zusammen und versuchte, mit seinem verschwommenen Blick etwas zu erkennen, doch da waren nur große und kleine Schatten um ihn herum.
    Er versuchte, seiner vom Weinen angestrengen Stimme einen Ton zu entlocken, um den Unbekannten ausmachen zu können, aber das Krächzen, das er zustande brachte, lieferte ihm nur Fragmente, mit denen er nichts anfangen konnte.
    "Warte, kleiner Freund - ich bringe dir Wasser!"
    Erneut hörte Ediz diese seltsame Stimme über das Tosen des Wasserfalls hinweg, als müsste sich sein Gegenüber nicht im Geringsten anstrengen, diesen zu übertönen.
    Verwirrt und ängstlich, aber auch ein bisschen neugierig, blieb Ediz, wo er war, und wartete; schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, den Felsen hinunterzustürzen.
    Schließlich berührte ihn wenige Augenblicke später etwas an der Schulter, bevor zusammengelegte Hände seine Lippen berührten. Klares, kühles Wasser benetzte seine Lippen, das Ediz dankend annahm. Gierig trank er die wenigen Schlucke, die sich in den Händen des Fremden befanden. Er wollte schon erneut versuchen, einen Ton anzustimmen, um sein Gegenüber endlich zu "sehen", als dieser ihm noch einmal die Hände voll mit Wasser anbot. Ediz trank sich deshalb erst einmal satt, konzentrierte sich dann aber letztendlich doch und erhob seine helle Stimme gen Himmel.
    Augenblicklich sah er eine große, schlanke Gestalt, dessen Geschlecht nicht auszumachen war; und das, obwohl sie keine Kleidung trug. Doch am außergewöhnlichsten waren die acht Tentakelarme, die diesem Wesen aus dem Rücken wuchsen und die es um die Äste des Baumes über ihm geschlungen hatte; sei es um sich zu stützen, sich festzuhalten oder aus keinem speziellen Grund.
    Ediz wusste es nicht.
    Aber Ediz wusste, dass es sich bei dem Fremden um einen Matill handelte - ein Kinelor der Luft, ein Kind von Idriskai.
    "Habe keine Angst, kleiner Freund. Der Westwind hat mir dein Leid zugeflüstert - deshalb bin ich hier. … Ich bin hier, um dir zu sagen, dass du außergewöhnlich bist. Du bist ein Yelin, kleiner Freund. Verfluche die Töne nicht länger, denn sie wollen dir alle dienen."
    Ediz war über diese Eröffnung so überrascht, dass er gar nicht bemerkte, wie sich der Matill nach seinen Worten von seinem Baum löste und wieder in den Himmel aufstieg. Er hatte seine Aufgabe erfüllt, und so kehrte er in sein Element - die Luft - zurück. Worte des Abschieds waren ihm fremd.
    Erst als sich Ediz von seinem Schrecken erholt hatte und auf seine Nachfrage keine Antwort mehr bekam, stimmte er erneut eine Melodie an und musste dann feststellen, dass der Matill nicht mehr da war.
    Hatte er alles nur geträumt, oder hatte er tatsächlich einen Matill gesehen?
    Und wenn er den Matill gesehen hatte, hatte er die Wahrheit gesprochen?
    War er wirklich ein Yelin - ein Meister der Töne? Ein Yeli'navrem, der jede Melodie hören konnte? Sowohl die der Tiere und Pflanzen, als auch die der Menschen? Konnte er sie wirklich ALLE hören und beeinflussen?
    Ediz war sich nicht sicher, ob dies wirklich zutreffen konnte. In den letzten drei Jahren hatte er alles gelernt, was ein Yeli'navrem wissen musste, und er wusste, dass der letzte Yelin vor mehreren Generationen geboren worden war und dieser schon mit vier oder fünf Jahren jede Melodie gehört hatte. Er selbst wurde in wenigen Tagen 10 und bis heute hatte er noch nicht ein einziges Mal auch nur seine eigene Melodie gehört.
    "Das muss ein Traum gewesen sein!", seufzte Ediz deshalb ungläubig, bevor er sich missmutig an den Abstieg machte. Er und ein Yelin? Welch lächerliche Vorstellung …
    Doch so lächerlich diese Vorstellung auch war und so sehr Ediz sich auch anstrengte, sie zu ignorieren, um nicht erneut enttäuscht zu werden, konnte er sie in den nächsten Tagen dennoch nicht vergessen.
    Ein Yelin zu sein, war der Traum eines jeden Yeli'navrem, sobald er zum ersten Mal seine Stimme dem Westwind anvertraute. Es bedeutete, jede Melodie zu kennen, die die Götter komponiert hatten. Es war eine Art von Unsterblichkeit, wie sie selbst die Etienne nicht erreichten, denn die Existenz eines Yelin wurde auf allen Kontinenten in den Annalen festgehalten, während die Etienne nur für sich blieben.
    Und außerdem hätte er dann einen Platz in Klipmel sicher, jener atemberaubenden Stadt an den Felswänden am Meer, die aus reiner Musik geschaffen worden war und die funkeln sollte wie das Perlmutt der kostbaren Perlen aus der Belosahr.
    Ediz wusste nicht, wie Perlen ausschauten, und er war auch noch nie in Klipmel gewesen, aber alle, die einmal dort gewesen waren, schwärmten von der Stadt der Wandler als das Schönste, was sie je gesehen hätten. Nur Edador - die Stadt in den Wolken - soll noch schöner sein.
    Bei all diesen Namen, Wundern und Schönheiten wurde Ediz ganz schwindlig, denn er wusste: sollte er wirklich ein Yelin sein, dann würde er all dies mit seinen eigenen "Augen" sehen können. Als "Stummer" würde er dagegen für den Rest seines Lebens in einem kleinen Haus am Rande von Latuhm sein Dasein fristen und von den meisten gemieden werden.
    Bei diesem Gedanken erschrak Ediz, denn es war das erste Mal, dass er sich dieser grausamen Konsequenz tatsächlich bewusst wurde; das erste Mal, dass er sein Schicksal zu Ende dachte, wenn er tatsächlich "stumm" sein sollte.
    Es durfte einfach nicht sein! Der Matill musste mit seinen Worten recht haben - er musste ein Yelin sein.
    Mit diesem Gedanken schoss er förmlich von seinem Bett hoch und rannte nach draußen zu den Lehrern. Seine Stimme erhob er dabei nicht, denn in den letzten drei Jahren hatte sich das Gelände der Tofalen-Schule nahezu vollständig in sein Gedächtnis gebrannt. Und zu dieser Tageszeit befanden sich fast alle Mitglieder der Schule draußen auf den Übungsplätzen, so dass er auch nicht Gefahr lief, mit jemand anderen zusammenzustoßen.
    Schwer atmend machte er erst bei den Übungsplätzen wieder halt und sog gierig die frische Luft in seine Lungen. Unter den stirnrunzelnden Blicken seiner Lehrer versuchte er sich zu beruhigen, denn mit aufgewühltem Geist gelang es für gewöhnlich keinem Yeli'navrem - und erst recht keinem Schüler - , sich auf seinen Ton zu konzentrieren, weshalb unruhige Geister von den Übungseinheiten ausgeschlossen wurden, um die anderen nicht zu stören.
    So konzentrierte sich Ediz auf sein Ziel und wurde fast augenblicklich zumindest so ruhig, dass ihn die Lehrer auf den Platz winkten. Mit klopfendem Herzen und einem leisen Singsang auf den Lippen, suchte er sich einen freien Platz und setzte sich auf den weichen Boden, der die Abstürze der Anfänger auffangen sollte.
    Während er noch seine richtige Sitzposition suchte, hörte er einige der Jüngeren immer wieder leise fluchend zu Boden stürzen und hoffte inständig, dass er dieses eine Mal nicht dabei sein würde.
    Schließlich richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und lauschte den Tönen der anderen, bevor er sich die Worte des Matills noch einmal ins Gedächtnis rief: Schon einmal daran gedacht, mehrere Töne gleichzeitig zu singen, kleiner Freund?
    Er hatte noch nie daran gedacht, und so wollte er heute zum ersten Mal versuchen, bewusst alle Töne zu hören und jeweils jenen auszuwählen, von dem er dachte, er wolle ihn jetzt tragen.
    Mit klarer Stimme sang er also den ersten Ton und schwebte schon wenige Augenblicke später in der Luft. Doch schon bald spürte er, wie schon viele Male zuvor, dass der Ton ihn bald fallen lassen würde und so suchte er sich einen neuen, anstatt krampfhaft an ihm fest zu halten.
    Und tatsächlich: es funktionierte!
    Immer und immer wieder sang Ediz einen neuen Ton und schwebte somit beständig ein paar Zentimeter über dem Boden. Voller Glück vergaß er die Welt um sich herum und spürte noch nicht einmal die Tränen, die ihm vor lauter Erleichterung die Wangen hinab liefen.
    Letzten Endes hörte er sogar endlich seine ureigenste Melodie; erst zaghaft, dann immer stärker werdend, drängte sie sich in sein Bewusstsein.
    Schließlich rauschte sie in seinem Blut und in seinen Ohren und wurde immer lauter. Die Harmonien wurden zu kreischenden Dissonanzen, als sich seine eigene Melodie mit denen der anderen vermischte. Keuchend verstummte er und hielt sich erschrocken die Ohren zu. Dass er dadurch auf den Boden fiel, spürte er in diesem Moment kaum, denn das Einzige, was er in diesem Moment wollte, war Stille. Doch diese wurde ihm nicht gewährt.
    Einmal die Barriere durchbrochen, war er zu jung und unwissend, um alle Melodien um sich herum aus seinem Bewusstsein auszusperren. Stattdessen prasselten sie auf ihn nieder, wie ein heftiger Hagelschauer, und ließen in seinem Kopf wirre Bilder der einzelnen Objekte und Personen zurück, von denen die Melodien stammten, die er hörte.
    Die Hände krampfhaft auf seine Ohren gepresst, zusammengekrümmt und mit einem gequälten Schrei in der Kehle, sank er letztendlich in eine erlösende Ohnmacht. Doch selbst in dieser konnte er die Melodien der anderen noch leise hören.
    Wie lange ihn die Melodien verfolgten, wusste Ediz nicht, doch auf einmal verstummten sie und ließen ihn erleichtert in einen tiefen und traumlosen Schlaf sinken.
    Das Nächste, was er bewusst hörte, war ein seltsames Rauschen. Es hatte einen hypnotischen Rhythmus, doch Ediz konnte sich nicht vorstellen, was es erzeugte, und in seinem Kopf formte sich seltsamerweise kein Bild davon.
    Beunruhigt setzte er sich auf und wollte der Sache auf den Grund gehen, als ihn eine starke Hand zurück auf das Bett drückte.
    "Du bist noch ziemlich schwach, Ediz; lass es langsam angehen", meinte eine tiefe, wohlklingende Stimme, die Ediz noch nie zuvor in seinem Leben gehört hatte.
    "Wer seid Ihr?", fragte er deshalb neugierig, während er gleichzeitig versuchte, etwas von seiner unmittelbaren Umgebung genauer zu erkennen. Doch das, was er verschwommen wahrnehmen konnte, half ihm nicht besonders weiter. Er wusste lediglich, dass er sich in diesem Raum noch nie zuvor jemals aufgehalten hatte.
    "Mein Name ist Go-Yalim. Ich wurde gerufen, als du in Tofalen zusammengebrochen bist. Wir haben dich nach Klipmel gebracht, damit du dich langsam daran gewöhnen kannst, dass du die Melodien aller Lebewesen hören kannst. Das Meer ist nah genug, dass es die Melodien anderer Lebewesen von dir abschirmt, bis du bereit bist, sie zu hören."
    Eine so umfassende Antwort hatte Ediz nicht erwartet, und so wusste er im ersten Moment nicht, was er sagen sollte. Er sollte in Klipmel sein? Wie hatten sie ihn hierher gebracht? Und warum konnte er sich an nichts erinnern? War er vielleicht so lange bewusstlos gewesen?
    Die Fragen schienen ihm ins Gesicht geschrieben zu sein, denn Go-Yalim beantwortete sie ihm, ohne dass er eine einzige davon laut gestellt hätte.
    "Deine Lehrer haben dich zur Sicherheit in einen leichten Schlaf gesungen. Nachdem sie erkannt haben, was du bist, schien ihnen das das Beste für dich zu sein. Danach haben sie nach uns geschickt und wir haben deinen Schlaf bis jetzt weiter aufrechterhalten, damit du nicht verrückt wirst. Es muss unerträglich sein, wenn man mit 10 Jahren zum ersten Mal und so plötzlich alle Melodien dieser Welt hören kann."
    "Dann … dann bin ich jetzt wirklich in Klipmel?", fragte Ediz, überwältigt von dieser Vorstellung, noch einmal sicherheitshalber nach.
    "Ja, das bist du, Ediz! Du bist in Klipmel und Gast in meinem Haus, bis du dir dein eigenes singen kannst", meinte Go-Yalim ruhig, doch in seiner Stimme hörte man das Lächeln heraus, das auf seinen Lippen lag.
    … sein eigenes Haus singen! Er würde eines Tages tatsächlich sein eigenes Haus singen können? Ediz war von dieser Vorstellung so überwältigt, dass er jede Höflichkeit vergaß und mit großen Augen forderte: "Ich will es sehen! Ich will die Stadt sehen."
    Zuerst schien Go-Yalim von dieser Vorstellung nicht besonders begeistert zu sein, doch dann stützte er den geschwächten Ediz und brachte ihn hinunter zum Strand, von wo aus Ediz den besten Blick auf die Stadt hatte.
    Ediz bohrte seine nackten Zehen in den ungewohnten weichen Sand unter sich, bevor er sein Gesicht hob und hinauf zu den Klippen starrte. Seine schwachen Augen ließen ihn nur ein schemenhaftes Glitzern wahrnehmen, doch als er seine Stimme erhob, um die Umrisse genauer zu erkennen, überwältigte ihn die Antwort.
    Auf sein Rufen hin antworteten ihm die Felsen stumm, wie sie es schon seit jeher getan hatten, doch die leuchtenden Häuser in den Klippenspalten antworteten ihm mit ihrer jeweils eigenen Melodie. Ein jedes von ihnen war von seinem Besitzer selbst erschaffen worden und war so lebendig wie er selbst. Sie alle waren verbunden mit Bändern der Freundschaft, die Stege zwischen den Häusern formten, um sich gefahrlos zwischen ihnen bewegen zu können. Auf einigen von ihnen standen Yeli'navrem, die ruhig zu ihm hinunter schauten und ihn stumm begrüßten, wohlwissend wer, bzw. was er war.
    Ediz nahm all diese Bilder gierig in sich auf, bevor er wieder verstummte.
    Es war seltsam, hier zu sein. Auch wenn er die Bäume in Tofalen nie so wahrnehmen hatte können wie die anderen Kinder, so hatten sie ihm dennoch, allein durch ihre Anwesenheit, einen gewissen Schutz geboten. Hier befand er sich dagegen unter freiem Himmel, und das Meer rauschte in seinen Ohren, so dass er meinte, er würde taub davon werden.
    Einzig allein der Wind in seinen Haaren war vertraut. Und wenn er sich anstrengte, konnte er auch seine Stimme hören. Sie wurde sogar deutlicher, als der Wind an Stärke zunahm.
    Zum ersten Mal in seinem Leben hörte Ediz das Pfeifen des Windes ohne das Rascheln der Blätter in den Bäumen.

  • 8
    Der Wind sauste und pfiff laut durch ein spaltbreit geöffnetes Fenster, als Schnellzunge die Palastapsis betrat. Der Türgriff rutschte ihm durch den starken Luftzug aus der Hand, und er konnte gerade noch verhindern, dass die Tür krachend ins Schloss fiel. Wer um alles in der Welt hatte denn da vergessen, nachts das Fenster zu schließen? Der Raum war entsprechend eiskalt. Schaudernd ging er hinüber und drückte es ganz ins Schloss. Sofort war der rasende Wind nur noch als gedämpftes Heulen zu vernehmen.
    Schnellzunge ging zum Herd hinüber und öffnete den Regler. Das Gas zischte aus den Düsen am Herdboden, und er hielt die Flamme des Feuermachers daran. Gleichmäßig stiegen die bläulichen Zungen nach oben. Anders als bei einem Feddungfeuer prasselte und knackte nichts, sprühten keine Funken. Das Feuer gehorchte demjenigen, der den kleinen Hebel an der Seite betätigte - ihm! Er war nun schon zwei Monde hier in Trutz, im Küchenbereich des Königspalastes, und noch immer faszinierte ihn die Gastechnik, die es daheim auf dem Hof seines Vaters nicht gegeben hatte.
    Er schwenkte den großen Kessel über die Flammen und begann, die über Nacht eingeweichten Rotkörner mit Milch und Gewürzen zum täglichen Frühstücksbrei für die Dienerschaft in seiner Apsis zu verkochen. Solange er derjenige war, der am kürzesten hier war, war das seine Aufgabe. Bisher tat er sie gern, auch wenn er dafür früher aufstehen musste. Er genoss es, die Küche so ganz für sich allein zu haben.
    Während er immer wieder umrührte, um zu verhindern, dass sich die Masse am Kesselboden festsetzte, holte er Schüsseln und Löffel aus dem Gesindeschrank und stellte sie auf den kleinen Tisch neben dem Herd. Dienstleister aßen im Stehen, alles musste schnell gehen. Auch das war Schnellzunge von zu Hause nicht gewohnt.
    Die große Uhr in der Mitte der halbrunden Außenwand schlug den Tagesbeginn. Schnellzunge schaute hinüber zu dem schlichten Eisenkasten mit dem emaillierten Zifferblatt, dann wanderte sein Blick kontrollierend durch den Raum. Wenn nicht alles blitzblank war, würde es Ärger vom Aufseher geben. Da, tatsächlich - unter dem Fenster lag etwas. Schnell ging er hinüber, um es aufzuheben, bevor die anderen kamen.
    Sein Herz setzte einen Moment aus, als ihm klar wurde, was da vor seinen Füßen auf den dunklen Fliesen lag. Seit er denken konnte, hatte er den Wunsch gehabt, einmal, nur ein einziges Mal, eine echte Pistole in der Hand halten zu können. Liebevoll schlossen sich jetzt seine Finger um den glattpolierten Griff aus echtem, massivem Holz, strichen über den ziselierten Lauf, berührten vorsichtig den Hahn - da belebte sich der Flur vor der Küchentür. Ohne nachzudenken steckte Schnellzunge die Waffe in die Tasche seines Kittels, zu all den anderen Dingen, die sich dort angesammelt hatten: seine Spülbürste, mehrere Wischlappen, der Feuermacher, ein Stück Schnur, ein Brotkanten.
    Dann begann der Arbeitstag. Hastig essen, hastig spülen, hastig backen, hastig kochen, braten, dünsten und anrühren, mit kostbaren Spezialitäten umgehen, die man selber nicht einmal probieren durfte, und wieder spülen, wischen und polieren bis endlich der Mittag da war, die Herrschaften ihr Mahl bekommen hatten und Schnellzunge eine kostbare Stunde Pause machen durfte.
    Heute war er selbst in seiner Pause hastig. Er rannte nach unten, in den Schlafraum, den er mit fünf anderen teilte, riss die gesteppte Jacke und seine alte grüne Mütze vom Haken und kletterte schon die schmale Treppe zum Vorratsboden hinauf, während er noch die Häkchen der Jacke schloss. Die Mütze steckte in der Jackentasche. Sie war so ausgeleiert, dass sie ihm über den kurzgeschnittenen Haaren immer ins Gesicht rutschte, darum wollte er sie erst aufsetzen, wenn er die Leiter tief in der dunkelsten Ecke des Bodens erklommen hatte. Es war noch nicht lange her, dass er diese Leiter und den kleinen Platz auf dem Dach der Apsis entdeckt hatte. Es war nicht sonderlich bequem dort, besonders jetzt im Nebelmond, wenn der Regen langsam eisig wurde, aber es war der einzige Platz, an dem er allein und ungestört war.
    Die Apsis war zwar nur halb so hoch wie der eigentliche Palastbau, aber sie war hoch genug, dass man von ihrem Dach aus über die Dachlandschaft der umliegenden Häuser hinwegsehen konnte wie über einen Strand voller spitzer Steine. Zumindest, solange man stand und sich nicht, wie Schnellzunge es jetzt tat, in dem Winkel verkroch, den der flache Helm des Anbaus mit dem Dachkranz des äußeren, niedrigeren Palastringes bildete.
    Es war kalt geworden in den letzten Tagen. Die ersten Schneestürme würden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Schnellzunge zog sich rasch die Mütze über die Ohren. An seine Handschuhe hatte er nicht gedacht, aber wie hätte er damit auch seinen Traum richtig untersuchen können? Ganz vorsichtig holte er die Pistole hervor. Sie sah ganz neu und glatt aus, kein Kratzer verunzierte das rotbraune Holz, und das gravierte Metall glänzte silbern. Der Hahn war wie der Kopf eines Renners gestaltet: mit geblecktem Gebiss und flatternder Mähne schaute er den Lauf entlang. Schnellzunge schob sich die rutschende Mütze aus dem Gesicht, um besser sehen zu können. Vorsichtig drückte er den Pferdekopf nach hinten. So spannte man die Pistole nur, davon schoss sie noch nicht. Schießen würde sie nur, wenn er den Abzughebel zurückziehen würde, und das hatte er natürlich nicht vor. Aber so tun konnte er. Da legte man den Finger hin…
    In diesem Augenblick fegte eine plötzliche Windbö ihm die Mütze vom Kopf. Schnellzunge zuckte zusammen, wollte die Mütze festhalten…
    Ein Schuss knallte laut über das Palastdach.
    Schnellzunges Ohren dröhnten. Die Pistole fiel aus seiner Hand und rutschte das Dach hinab in den Hof, wo sie mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufschlug.
    Schnellzunge starrte auf seine zitternden Hände. Er hatte geschossen! In welche Richtung hatte er die Pistole gehalten, was oder - oder wen hatte er getroffen? Da, nach links hatte der Lauf gezeigt.
    Er atmete tief durch. Dort war nichts. Es konnte nichts zu Schaden gekommen sein. Er schloss für einen Moment die Augen. Es war nichts passiert.
    Tief unter ihm klappten Türen. Schnelle Schritte knirschten auf dem Kies. Menschen sprachen, riefen, waren still und redeten wieder aufgeregt. Die Stimme des Aufsehers drang zu ihm durch. Sie drang immer durch.
    "Die Pistole des Königssohns! Sie muss hier vom Dach heruntergefallen sein. Der Dieb ist entweder tot oder noch da oben…"
    Dieb?
    Jetzt erst wurde Schnellzunge klar, dass eben doch etwas passiert war. Er hätte die Pistole sofort abgeben müssen. Und sie gehörte auch noch dem Königssohn. Niemand würde ihm glauben, dass er sie nicht hatte behalten wollen.
    Aber noch wussten sie ja nicht, wer hier saß! In fliegender Eile schlüpfte Schnellzunge durch die Dachluke, rutschte die Leiter so schnell hinab, dass er sich die Hände aufscheuerte, rannte zur Treppe, stürzte hinab in die Küche, fiel, rappelte sich wieder auf und humpelte zur Treppe zum Untergeschoss. Er hatte sie gerade erreicht, als zwei seiner Mitdiener zur Tür hereinkamen. Geistesgegenwärtig drehte Schnellzunge sich um, so dass es aussah, als käme er gerade herauf.
    "Was ist denn los? Was war das für ein Knall?" fragte er atemlos und war froh um das Dämmerlicht im Flur. Jeder würde sonst die Angst in seinem Gesicht lesen können.
    "Irgend so ein Trottel hat die Pistole des Königssohns geklaut. Ist noch da oben." Schon waren sie auf der Treppe zum Boden.
    Langsam ging Schnellzunge zur Tür. Er musste da hinaus, alles andere wäre verdächtig.
    Alle starrten ihm entgegen. Er brauchte nur einen kurzen Blick auf die schäbige grüne Mütze in der Hand des Aufsehers zu werfen, um zu wissen, dass seine Anstrengung umsonst gewesen war.
    ***
    Der Krieger, der ihn in die Zelle bringen sollte, in der er auf die Verhandlung warten würde, schien ein besonderes Vergnügen darin zu finden, ihm seinen Unwert besonders deutlich zu machen. Er führte ihn durch alle Flure in den oberen Stockwerken und zeigte ihm, wie komfortabel die Zellen hier ausgestattet waren, die für Bürger bestimmt waren. Wenn er Schnellzunge ansprach, benutzte er nie den Namen, sondern nannte ihn einfach nur "Dienstleister". Das Wort spuckte er verächtlich aus und warf dabei stolz immer wieder die langen Haare nach hinten. Er wirkte noch sehr jung, dabei war er mit Sicherheit älter als Schnellzunge, die Kriegerausbildung dauerte schließlich fünf Jahre.
    Mit einem spöttischen "Fühl dich wie zu Hause, Dienstleister!" schloss er schließlich die schwere Metalltür der kahlen, grauen Zelle im Untergeschoss hinter sich. Schnellzunge hatte das Gefühl, seine Beine könnten ihn nicht mehr halten. Es war kalt hier. Er ließ sich auf den aufgeplatzten Strohsack sinken, der die einzige Ausstattung des Raumes bildete, und starrte auf den schmutzigen Fußboden.
    Schnellzunge wusste, dass er dumm war, das war er schon in der Schule gewesen. Er hatte unverschämtes Glück gehabt, dass sein Onkel als einer der Dreißiger sich für ihn eingesetzt und ihm die angesehene Stellung im Palast vermittelt hatte, nachdem er bei allen Aufnahmeprüfungen versagt hatte. Man brauchte nicht besonders intelligent zu sein, um zu begreifen, dass das hier die Endstation seines Lebens war. Wenn er viel Glück hatte, würde er noch ein paar Jahre als Müllsammler oder Straßenkehrer arbeiten können. Wahrscheinlicher aber war, dass er in einer Zelle wie dieser langsam verrotten würde. Schließlich hatte er nicht nur ein Küchenmesser gestohlen, sondern die Pistole des Königssohnes. Jungrotstern war zwar erst fünfzehn, aber unter den Dienstleistern des Palastes schon jetzt für seine Arroganz und seinen Jähzorn berüchtigt, und er würde sicherlich persönlich für eine harte Bestrafung sorgen.
    Er legte sich zurück, das Stroh knisterte und stach, als wollte es ihn wie der junge Krieger noch mehr demütigen, und spürte jede Hoffnung mit den Tränen an seinen Schläfen herabrieseln.
    Langsam wurde das Licht, das durch den schmalen Fensterschlitz knapp unter der Zimmerdecke hereinkam, diffuser. Im Dämmerlicht wurde der Raum immer mehr zu einem alptraumhaften Kerker. Die Wände rückten näher und näher, die Stille begann in Schnellzunges Herz zu kriechen und dort zu einem unerträglichen Gewicht zu werden.
    Als es ganz dunkel war, versuchte er zu schlafen - die einzige Möglichkeit zu fliehen, die ihm blieb. Lange wälzte er sich auf dem schimmelig riechenden Stroh hin und her, ohne zur Ruhe zu kommen, aber irgendwann in der Nacht nickte er doch noch ein.
    Sein Schlaf war sehr leicht. Als die Tür sich mit leisem Knarren öffnete, wachte er sofort auf. Ein Luftzug wehte in die Zelle, wirbelte das lose herumliegende Stroh auf und trieb ihm Staub in die Augen, so dass der Mann an der Tür wegen der Tränenflüssigkeit nur noch ein verschleierter Schemen war.
    "Steh auf!". befahl der Schatten. Schnellzunge rieb sich die Augen und gehorchte.
    "Komm her!" Schnellzunge ging halb blind auf die Stimme zu. Seine Augen beruhigten sich nur langsam. Zwischen dem Blinzeln erkannte er nicht mehr, als dass der Mann schulterlange Locken hatte und keine Uniform trug. Jetzt schob er ihn aus der Zelle in den erleuchteten Gang.
    Schnellzunge fragte nicht, wohin er gebracht wurde. Willenlos ließ er sich aus dem Gefängnis führen. Er wagte nicht, sich nach seinem Begleiter umzudrehen, auch nicht, als die Wachen vor ihm salutierten. Vor dem Gebäude wartete eine kleine geschlossene Fedkutsche, von der dezent luxuriös verarbeiteten Art, wie sie Obere nutzten, die auf dem Weg zum Hurenviertel oder sonstigen heimlichen Aktivitäten nicht auffallen wollten. Sie stiegen ein, der Fremde lehnte sich im Sitz zurück, so dass sein Gesicht im Schatten blieb. Schnellzunge sah im Schein der Straßenlaterne nur die schlanken Hände auf den Knien liegen, dort wo die modische Hose einen anliegenden Einsatz hatte.
    Der Wagen fuhr an. Die weichen Hufe des Feds machten kein Geräusch auf dem Pflaster. Schnellzunge kam sich vor wie in einem Traum. Sein Begleiter sagte während der ganzen Fahrt durch das Gassengewirr der Altstadt kein Wort.
    Schließlich hielt die Kutsche. Sie befanden sich vor einem der typischen trutzischen Einzelhäuser. Es hatte nur wenig mehr als die Breite des Tores, durch das sie jetzt in den dahinter liegenden, unbeleuchteten Hof einfuhren. Immer noch schweigend stieg der Fremde aus und winkte Schnellzunge im Dämmerlicht, ihm zu folgen. Schnellzunge ging dem wehenden Mantelsaum nach, der ihm auf der schmalen Treppe nach oben den Weg zeigte.
    Als er durch die Tür trat, lag der Mantel über einem der Stühle an dem kleinen Tisch an einer Seite des Zimmers, und sein Besitzer zog gerade die Zündkette des zweiten Wandlichtes. Schnellzunge schloss die Tür hinter sich und ließ den Blick einmal durch den Raum wandern. Es war ein gemütlicher Wohnraum, edler eingerichtet, als man es bei der geringen Größe des Hauses erwarten würde. An einer Wand stand ein glänzend poliertes Holzschränkchen, dicke Teppiche bedeckten den Boden fast gänzlich, und die Fenster wurden von schweren roten Samtgardinen verhangen.
    Jetzt drehte der Mann sich um. Schnellzunge sah ihn an und schnappte erschrocken nach Luft. Hatte er vorhin noch gedacht, dass es nicht schlimmer kommen könnte? Das hier war schlimmer.
    Dieses ewig spöttische Lächeln in dem unregelmäßigen und doch anziehenden Gesicht mit der scharfen Nase kannte er. Jeder kannte es. Aber nur, wer im Palast lebte, wusste, dass der König große Anstrengungen unternahm, um die unnatürliche und widerwärtige Neigung seines Bruders zum eigenen Geschlecht vor der Öffentlichkeit zu verbergen, weil selbst er nicht wagte, das Gesetz bei ihm durchzusetzen…
    Schnellzunge war nicht klug, aber er hatte genug Phantasie, um sich vorzustellen, dass seine Notlage eine gute Gelegenheit für Dachspiel bot, ein rechteloses Opfer für seine sexuellen Spiele zu bekommen. In Panik griff er hinter sich nach dem Türriegel.
    "Bleib. Auf der Treppe steht sowieso mein Kutscher, an dem kommst du nicht vorbei." Die Stimme des Königsbruders klang so ruhig, als mache er eine Bemerkung über das Wetter. Dabei wich das süffisante Lächeln nicht aus seinem Gesicht.
    Schnellzunge fühlte sich wie ein Wandling vor dem Wolf. Sein Magen war ein verkrampfter Klumpen, und er war unfähig, irgendetwas zu tun oder zu denken.
    Dachspiel nickte ihn zum Tisch hin. "Setz dich."
    Schnellzunge ging auf zittrigen Beinen zu einem der Stühle und hockte sich auf die Kante.
    "Nun", sagte Dachspiel, der immer noch stand, "Dienstleister habe ich hier keine, darum darf ich dir selber etwas zu trinken anbieten - Saftling, Wasser, Tee?"
    Schnellzunge schluckte. Der Mann spielte mit ihm! "Nichts, danke", flüsterte er heiser.
    "Wie schade - ich hätte mich gern in die Kunst des Nichts-Könnens einweisen lassen. Es ist sicher eine schwere Aufgabe, einen Becher Wasser einzugießen, nicht wahr?"
    Er setzte sich. Das Lächeln blieb, während seine Augen Schnellzunge abtasteten.
    Schnellzunge fühlte sich, als wäre er bereits nackt. Er versuchte wegzusehen, aber es war, als fülle Dachspiels lüsterner Blick jeden Winkel des Raumes. Es gab kein Entkommen.
    "Verrätst du mir, warum du die Pistole meines unerfreulichen Neffen gestohlen hast, um dann auf dem Dach in die Luft zu schießen?"
    "Ich wollte sie zurückgeben… nur ansehen", murmelte Schnellzunge und begann sich zu wünschen, der Mann würde endlich mit dem anfangen, was er tun wollte. Alles war besser als die Angst davor.
    "Nur ansehen, ach so." Das Leder des Stuhles knarrte leise, als sich Dachspiel lässig zurücklehnte und die Beine ausstreckte. "Wusstest wohl nicht, dass das Ding zum Schießen da ist, was?"
    Schnellzunge wollte "doch" sagen, aber es kam nur ein Krächzen heraus, und er versuchte es nicht noch einmal.
    "Hm", machte Dachspiel und strich sich die Haare hinters Ohr, "Unsere Unterhaltung ist recht einseitig, findest du nicht?"
    Diesmal öffnete Schnellzunge nicht einmal den Mund. Er hatte keine Lust auf diese Spielchen. Sollte der Königsbruder doch gleich über ihn herfallen, damit es endlich vorbei war.
    "Nun, dann schlage ich dir mal ein Thema vor: Was klatscht man denn so über mich in den Apsiden?"
    Schnellzunge presste die Lippen aufeinander. Was sollte das nun wieder?
    "Na los, ich will alles hören!" Dachspiel lehnte sich vor und stützte die Hände an die Tischkante.
    Was wollte er hören? Heldengeschichten? Dass man ihn für seine Extravaganzen heimlich bewunderte? Wahrscheinlich wollte er sich in seinem schlechten Ruf sonnen. Den Gefallen würde ihm Schnellzunge nicht tun. Eine unerwartete Wut stieg in ihm auf. Er hob den Kopf und schaute seinem Gegner in die Augen. Das hier war seine Chance, sich im Voraus für die Gewalt zu rächen, die ihm angetan werden würde. Er hatte nichts mehr zu verlieren.
    "Es heißt, Ihr treibt es nicht nur mit Männern, sondern auch mit Tieren", begann er und wunderte sich selber, wie klar und kräftig seine Stimme klang. "Ihr sollt es sogar beim Königssohn versucht haben, und der hat sich nur mit seinem Dolch retten können. Ihr habt eine sehr schmerzhafte Geschlechtskrankheit, eine, die man nur kriegt, wenn man es mit Männern tut, und die übertragt Ihr auf Eure Geliebten. Die meisten krepieren irgendwann dran. Ihr seid schuld daran, dass die Hochzeit zwischen der Königsschwester und dem Turmherrn in Turming nicht zustande kam, und darum müssen wir jetzt einen Krieg fürchten. Ihr schleicht Euch nachts durch den Palast und belauscht die Räte, die Günstlinge, ja sogar den König, um Material für schmierige Intrigen und Erpressungen zu bekommen. Eure Liebhaber liefert Ihr oft genug selbst ans Messer, damit sie nichts von Euren schmutzigen Geheimnissen verraten können. An Weiser Raumherz Leichthands Tod seid Ihr auch schuld. Ihr habt keine Freunde, und Ihr werdet auch nie welche haben. Euer Bruder hasst Euch, denn Ihr bringt das Königshaus in Verruf. Ihr habt mehr Feinde als Ihr zählen könnt, aber weil Ihr der Königsbruder seid, hat sich bisher keiner an Euch rangewagt. Aber man flüstert schon, dass Ihr Euch mit dem letzten Wortgefecht mit Kriegsrat Nachtbraue Viermesser übernommen habt und dass Ihr die Jahrfeuertage nicht überleben werdet. Vielleicht geht Ihr aber auch schon vorher an der Krankheit zugrunde, oder eins der Pferde, mit denen Ihr es tun wollt, tritt Euch zu Tode. Da wäre wohl niemand traurig."
    Dachspiels Hände umklammerten den Tisch sehr fest.
    "Das mit Jungrotstern ist allerliebst", sagte er und verzog den Mund, aber das Lächeln war längst aus seinem Gesicht verschwunden und kehrte durch diese Bewegung nicht zurück. "Als ob irgendjemand dem kleinen Ekel auch nur auf Armlänge näherkommen wollte…"
    Er stand mit einem solchen Ruck auf, dass der Stuhl umfiel. Das Möbelstück blieb unbeachtet liegen.
    Schnellzunge kauerte sich instinktiv zusammen. Jetzt war der Augenblick gekommen. Die Wut verflog so schnell wie die Angst wiederkehrte. Wahrscheinlich hatte er es sich durch seine Rede noch schlimmer gemacht.
    Dachspiel flüsterte etwas vor sich hin. "Raumherz…" verstand Schnellzunge, dann sprach der Königsbruder laut: "Danke für deine Ehrlichkeit, - Schnellzunge."
    Er benutzte seinen Namen? Schnellzunge schaute überrascht auf. Dachspiel schien sehr blass.
    "Es war interessant. Schmerzhaft, aber interessant. Auch wenn einiges davon einer ziemlich schmutzigen Phantasie entsprungen zu sein scheint." Ein Anflug des ironischen Lächelns kehrte zurück. "Deinen Namen trägst du jedenfalls zu Recht. Dummerweise wirst du ihn in Zukunft nicht mehr brauchen."
    Schnellzunge erschrak. Er war wirklich dumm gewesen - natürlich würde Dachspiel ihn töten. Nach dem, was er ihm ins Gesicht geworfen hatte, war das sogar irgendwie verständlich. Er sah sich gehetzt um, aber es gab immer noch keinen Ausweg.
    "He!" Dachspiels Stimme zwang seine Augen zurück. Der Königsbruder schüttelte den Kopf. "Du glaubst tatsächlich, ich sei so eine Art menschliches Monster, was? Mein Verstand, ich bringe niemanden um, weil er mir Bosheiten entgegenschleudert, und - falls dich das auch noch beunruhigt - ich gehe auch nicht mit jedem dahergelaufenen Dienstleister ins Bett. Schon gar nicht, wenn er so mickrig ist wie du." Langsam kehrten seine Gesichtszüge wieder in das gewohnte Muster zurück.
    Schnellzunge starrte ihn ungläubig an. Warum hatte er ihn dann aus dem Gefängnis geholt?
    "Was ich sagen wollte, war, dass du in Zukunft Pfeiflauf Rennerohr heißen wirst. Den Namen habe ich nämlich in dem Empfehlungsschreiben benutzt, mit dem du dich in am besten in Landing um eine Stelle bemühen solltest, möglichst weit weg von hier. Die Geschichte zu diesem bescheuerten Namen kannst du dir selber ausdenken." An dieser Stelle verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. Schnellzunge mochte dieses Grinsen nicht. Er verstand nicht, was hier gerade vor sich ging.
    "Komm!" Dachspiel warf sich den Mantel um. Dann packte Schnellzunge am Arm und zog ihn zur Tür hinaus. Auf der Treppe wartete der breitschultrige Kutscher. Er übernahm den Widerstrebenden, schob ihn zu dem immer noch abfahrbereit stehenden Fedwagen hinüber und schubste ihn hinein. Dachspiel stieg zu, und bevor Schnellzunge sich aufrappeln und wieder aussteigen konnte, fuhr die Kutsche an.
    "Wohin bringt Ihr mich?", fragte Schnellzunge und versuchte, die Panik aus seiner Stimme zu vertreiben. Er traute diesem Mann keinen Fingerbreit über den Weg, egal was er auch sagen mochte.
    "Rate mal", erwiderte Dachspiel. Sein Gesicht lag wieder im Schatten, aber das pure Vergnügen an der Situation war in seiner Stimme gut genug zu hören.
    "Ich will das nicht raten!"
    "Dann lass dich überraschen."
    Schnellzunge schwieg. Was gab es auch noch zu sagen?
    Die Vorhänge der Kutsche waren geschlossen. Schnellzunge hatte bereits auf der letzten Fahrt jede Orientierung verloren, jetzt bemühte er sich gar nicht erst, sie wiederzufinden. Er konnte sowieso nichts tun.
    Es dauerte allerdings nicht lange, bis es doch einen Anhaltspunkt für ihn gab: Ein immer stärker werdendes Rauschen drang durch die Vorhänge. Sie waren also in Flussnähe. Die Kutsche hielt, Dachspiel stieg aus.
    "Na komm schon, Pfeiflauf!", rief er. Langsam kletterte Schnellzunge aus dem Wagen. Sie waren tatsächlich direkt am Ufer des Krafte, knapp unterhalb der Stelle, an der die neuen Wasserräder der Drucker ihren unermüdlichen Dienst taten. Am Flussrand lag ein dunklerer Schatten auf dem im Mondlicht glitzernden Wasser. Eine Gestalt hob sich daraus empor und rief leise "Dach?" zu ihnen hinüber.
    "Genau der", rief Dachspiel ebenso leise zurück. Dann wandte er sich Schnellzunge zu. "Erzfuß, einer meiner ehemaligen Liebhaber, die nicht an dieser sagenhaften tödlichen Krankheit umgekommen sind. Er wird dich nach Süden bringen, ins Tieftal. Am Greiferfelsen steigst du hinauf, und von da aus musst du dich allein durchschlagen. Am besten gehst du an der Küste entlang, die Leute da sind nicht sehr neugierig."
    Er drückte ihm etwas in die Hand, das sich wie ein kleiner Geldbeutel anfühlte, und schob ihn zu dem Boot hinüber.
    Schnellzunge stolperte hinein, wie vor den Kopf geschlagen, und trat in Wasser.
    "Hat etwas reingeregnet", erklärte der Mann im Boot, von dem Schnellzunge immer noch nicht viel erkennen konnte, und drückte ihm einen großen Becher in die Hand, "Hier, schöpf mal."
    Mechanisch begann er, das Wasser aus dem Bootsboden zu schaufeln.
    "Mach's gut, Pfeiflauf, und spiel nicht mehr mit Pistolen", hörte er noch vom Ufer, dann füllte nur noch das Rauschen des mächtigen Flusses und das Platschen des Wassers, das er über Bord schüttete, seine Ohren. Als er noch einmal zum Ufer hinübersah, war die Fedkutsche verschwunden.

  • 9
    Rikon Severan überquerte gerade die Straße, als er hinter sich ein platschendes Geräusch hörte, das das stetige Rauschen des großen Flusses im Hintergrund überlagerte. Ein rätselhafter Laut, über den er lieber nicht nachdenken wollte. Doch sein von der langen Wanderung und dem Stress der letzten Tage überreiztes Gehirn hatte mal wieder nichts Besseres zu tun, als die Herkunft des Geräusches in allen Einzelheiten zu ergründen. Es hatte nach einer Flüssigkeit geklungen, die entweder auf die schlammige Straße oder in das Wasser des Flusses Chen geschüttet wurde. Ja, vermutlich hatte da jemand seinen Nachttopf ausgeleert. Oder Essensreste entsorgt, was sogar noch schlimmer wäre, zumindest, wenn man sich bewusst war, dass die Leute in dieser Gegend sehr wenig zu essen hatten und Reste erst dann wegwarfen, wenn diese völlig verschimmelt waren und von Ungeziefer wimmelten. Rikon würgte. Wie konnten die Bewohner dieser Stadt es hier nur aushalten? Gut, wenn man in Dreck, Gestank und Schmutzwasser aufgewachsen war, gewöhnte man sich wahrscheinlich daran. Oder wurde einfach ein Teil davon, wie die meisten hier. Der Name der Stadt - Sossáta ("Schlange") - war jedenfalls sehr bezeichnend. Rikon zog das Tuch, das er sich vor Nase und Mund gebunden hatte, fester zusammen und versuchte nicht an die Zusammensetzung der Schlammpfütze zu denken, durch die er gerade watete, wobei etwas von dem weichen Untergrund unangenehm in seinem linken Schuh kleben blieb. Diese verdammten Sandalen! Hätte er es sich doch nur geleistet, für dieses eine Mal ein Pferd zu mieten! Dann hätte er jetzt reiten können und sich nicht so die Füße schmutzig machen müssen. Andererseits hätte selbst das wahrscheinlich mehr Probleme verursacht als gelöst. Die hässlichen, scharfzähnigen Biester, die sein Volk als "Pferde" bezeichnete, waren sowieso gefährlich und kaum zu bändigen. Bestimmt hätte das Reittier ihn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit abgeworfen und anschließend bei lebendigem Leibe verspeist…
    Ah, da war es ja! Rikon machte vor einer leicht schief in ihrem Rahmen hängenden Haustür Halt, auf der eine reichlich verblasste 29 und zusätzlich, wie im Westen üblich, das Zeichen für die Silbe "Di" in Hochschrift geschrieben stand. Ein Namensschild war dort allerdings nicht angebracht. Rikon klopfte. Hoffentlich war er hier richtig - diese verwitterten Holzhäuser sahen alle gleich aus. Wenn er in das falsche ging, würde er vermutlich von irgendeinem wütenden Bauernsohn mit einem Schlachtermesser in der Hand wieder hinausgejagt werden. Vielleicht würde man ihm sogar faules Obst nachwerfen. Oder einen Nachttopf…
    "Komm rein!", dröhnte eine verschlafene Stimme (es war später Nachmittag) aus den Tiefen des Hauses, woraufhin Rikon die Tür öffnete und eintreten wollte. In diesem Moment heulte plötzlich ein Windstoß durch die Straße, riss Rikon die Tür aus der Hand und schlug sie wieder zu. Ärgerlich griff er erneut nach dem dicken Metallknauf, drehte ihn und musste sich diesmal ordentlich gegen die Tür stemmen, um sie aufzubekommen. Schließlich schaffte er es und betrat eine Art Hausflur, eng und düster wie ein zu klein geratener Viehstall. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er Regale mit unordentlich gestapelter Ober- und Unterbekleidung, Bettzeug, staubigen Keramikschalen und Gefäßen erkennen sowie die Hausherrin, Avra Báraley, die weiter hinten wartend an einen Türrahmen gelehnt dastand. Sie trug ein seltsames, einteiliges Kleidungsstück, offenbar eins dieser neumodischen Dinger, die eine Kombination aus Unterwäsche und Schlafanzug darstellten.
    "Du musst diesser dürre, schwarzhaarige, ziemlisch eingebildete Händler ssein, den man mir beschrieben hat", begrüßte sie ihn, den Blick fest auf den dunkelroten Lederbeutel geheftet, den Rikon bei sich trug. Es war ein Geldbeutel, heute allerdings mit etwas ganz Anderem, Illegalem gefüllt: 537 Beeren des Brisk-Strauches, sorgfältig in Tiffa-Wolle gepackt, damit sie nicht zerquetscht wurden. Rikon hatte sie von jemandem erhalten, der sich selbst als "Zwischenlagerer" (verdächtiger ging es ja wohl kaum) bezeichnete, zum Weiterverkauf an Avra, die sie entweder behalten oder Gastwirten zum Kauf anbieten würde, die die Beeren dann wiederum roh oder in Form von Brisksaft teuer, inoffiziell und nicht ganz legal an ihre Gäste ausschenkten. Wie dem auch sei - nach Abschluss des Handels mit Avra würde sich in Rikons Beutel jedenfalls wieder das befinden, was eigentlich hineingehörte, nämlich Geld, und zwar nicht wenig davon. Darauf freute er sich bereits.
    Rikon folgte Avra in einen Raum, der offensichtlich ihr Schlafzimmer war. Er hatte sich schon bei Betreten des Hauses gefragt, was sich in diesem Raum wohl befinden mochte, das Avra dazu veranlasste, Kleidungsstücke und Bettzeug auf dem Flur zu lagern statt in den Schlafzimmerschränken. Nun sah er es: Die Frau war eine Sammlerin, eine von diesen Verrückten, die all ihr Geld für völlig nutzlose Gegenstände ausgaben, nur um sie überall auf Regale und Schränke zu stellen, wo sie vor allem Staub fingen und Platz wegnahmen. Bei Avra waren es Skulpturen - ganze Horden mehr oder weniger unansehnlicher Darstellungen größtenteils unbekleideter Menschen aus Metall oder gebranntem Ton. Abgesehen von einem schwer wirkenden Barethholztisch und dem schmuddeligen Bett waren sämtliche Flächen und Ecken des Zimmers von ihnen bevölkert. Rikons Blick blieb an einer Figur hängen, die eine sich unmöglich verrenkende sehr schöne (und sehr nackte) junge Frau zeigte und gleichzeitig als Räucherkerzenhalter diente. Das in diese seltsame Halterung gesteckte Kerzchen bemühte sich sehr, gegen den durch das geöffnete Fenster hereinwehenden Gestank anzuräuchern. Der Geruch des Rauchs war süßlich und betäubend; bald hatte Rikon das Gefühl, kaum mehr atmen zu können.
    Avra raffte währenddessen einen auf dem Boden liegenden Berg Kleidung zusammen und begann sich vor seinen Augen umzuziehen. Rikon beobachtete sie, leicht verwirrt angesichts der Tatsache, dass die Frau sich ihm bedenkenlos nackt zeigte. Nicht, dass ihn das sonderlich interessierte. Er hatte eine Geliebte in Abéssey. Und zwei in Tavera. Das war anstrengend genug. Erst recht, dafür zu sorgen, dass sie nichts voneinander erfuhren.
    Außerdem waren sie wesentlich hübscher als Avra. Die aus Abéssey hatte sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit der Räucherkerzen-Figur auf dem Schrank…
    "Hast du die Ware?", riss ihn die Frau, die nun vollständig bekleidet (Beinwärmer aus grauer Wolle, löchriges Halstuch, sackförmiges Kleid) vor ihm stand, aus seinen Gedanken. Sie lehnte sich an den Holztisch und trommelte ungeduldig mit den Krallen ihrer rechten Hand auf die Tischplatte, derart heftig, dass Rikons eigene Krallen allein von dem Anblick wehtaten.
    Rikon nickte und sie setzten sich an den Tisch, um über den Preis zu verhandeln. Avra sprach die meiste Zeit: Sie wollte genau wissen, ob die Beeren in einwandfreiem Zustand waren, wer davon wusste, wo Rikon die Ware bekommen, wie er sie transportiert, wer ihn möglicherweise gesehen hatte. Ihr Hochsprache-Akzent - mit scharfem S und rollendem R - wurde im Laufe der Zeit immer stärker. Rikon fand, dass sie übertrieb; ja, der Handel mit Brisk konnte gefährlich sein, er wurde jedoch meist stillschweigend von der Armee geduldet. Die Soldaten mochten das Zeug schließlich auch.
    Zwischendurch stand Avra einmal auf, entzündete eine Öllampe und schloss das Fenster, nachdem ein Windstoß ihr den Zettel, auf dem sie wichtige Einzelheiten des Handels zu notieren schien, beinahe aus der Hand gerissen hätte. Rikon hoffte, dass sie auch die Räucherkerze löschen würde, bevor die Luft im Zimmer endgültig nicht mehr atembar war, aber den Gefallen tat sie ihm nicht.
    Unterdessen hörte Rikon ihr nur halb zu und war in Gedanken damit beschäftigt, sie zu betrachten und von Kopf bis Fuß zu beurteilen. Sie gefiel ihm nicht. Sie war größer als er selbst, grobknochig, nicht gerade gutaussehend. Ihre Zähne waren sogar für die einer Assé erstaunlich lang und an den Spitzen so abgenutzt, dass sie eher an die Zähne einer Ratte erinnerten. Ihr Fell, das idealerweise dicht und gleichmäßig sein sollte, wirkte fransig und wies einige kahle Stellen auf. Dass sie sich bestimmt schon längere Zeit nicht mehr gewaschen hatte, musste er ihr allerdings zugute halten angesichts der Qualität des Wassers in dieser Stadt. Wenn man sich hier wusch, wurde man wahrscheinlich nur schmutziger, da half auch keine Seife. Sich von Räucherkerzen einnebeln zu lassen, bis man sich selbst nicht mehr roch, war zweifellos eine bessere Idee.
    Zum Schluss stellte Rikon Avra noch einige Fragen (die sie vage bis überhaupt nicht beantwortete), sie einigten sich nach einer kurzen, lustlosen Diskussion auf einen Preis, mit dem Rikon leben konnte, verabschiedeten sich ("Mach, dass du rauskommst, isch habe Wischtigeres zu tun." - "Gern - Sressa, bis hoffentlich nicht allzu bald.") und gingen auseinander.
    Rikon verließ das Haus, froh darüber, endlich dem süßlich-rauchigen Geruch von Avras Schlafzimmer entkommen zu sein. Doch kaum dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte, schlug ihm wieder der Gestank der Straße entgegen und er wünschte sich beinahe die Räucherkerze zurück. Er zog das Tuch wieder vor sein Gesicht. Zwar wusste er genau, dass er deshalb angestarrt wurde und freche Kinder sich über ihn lustig machten, aber das war ihm egal. Hauptsache, er fing sich in dieser abstoßenden Umgebung nicht irgendeine Krankheit ein. Es war doch kaum zu glauben - hier stapfte er durch die von Morast bedeckten Wege einer stinkenden Stadt, die den Namen eines schuppigen Kriechtiers hatte und verkaufte Drogen an eine abgehalfterte Frau, die wahrscheinlich früher einmal eine drittklassige Hure gewesen war. Ich hätte ruhig ein paar von den Brisk-Beeren für mich selbst abzweigen sollen, dachte er. Damit wäre Vieles leichter zu ertragen gewesen.
    Zu allem Überfluss spielte nun auch noch das Wetter verrückt. Der Wind, den er vorhin schon einmal zu spüren bekommen hatte, machte Anstalten, sich zu einem echten Sturm auszuwachsen. Zudem setzte ein äußerst heftiger Regen ein. Kieselsteingroße Tropfen prasselten lautstark auf die Dächer und wuschen wochenalte Schichten von Staub und Sand und was-auch-immer herunter, so dass wahre Sturzbäche bräunlich verfärbten Wassers aus den Regenrinnen zu fließen begannen. Rikons alter Erzfeind, der Gemeine Straßenmatsch, verwandelte sich augenblicklich in eine dickflüssige, knöcheltiefe Brühe und dann in etwas, das nur noch mit den Worten "schleimig, klebrig und unglaublich ekelhaft" zu beschreiben war. Rikon blickte seufzend gen Himmel und sah zu seiner endgültigen Verzweiflung, wie sich eine turmrabenschwarze Wolke riesigen Ausmaßes von Westen her vor die Sonne schob. Lange, weiß lodernde Blitze zuckten daraus hervor.
    Die Stadtbewohner wussten offenbar Bescheid und hatten sich vor dem drohenden Gewitter rechtzeitig in ihren Häusern verkrochen. Niemand war mehr draußen zu sehen. Rikon zögerte kurz und überlegte, ob er zurückgehen und Avra darum bitten sollte, ihm für die Dauer des Unwetters Unterschlupf zu gewähren, entschied sich dann aber dagegen. Wer konnte wissen, was Fräulein Rattenzahn von ihm als Gegenleistung verlangen würde? Ich will nach Hause, dachte Rikon mutlos und begann zu rennen, seinen Geldbeutel fest an sich gepresst. Als er die Abzweigung nach links in Richtung Fluss nahm, rutschte er das erste Mal aus, fiel hin und landete der Länge nach im Dreck. Fluchend rappelte er sich auf, versuchte den Schmutz mit der Hand abzuwischen und verteilte ihn damit nur. Ihm wurde schlecht. Er riss sich das alberne Tuch, das glücklicherweise wenigstens Teile seines Gesichts vor dem Schlamm geschützt hatte, vom Hals, benutzte es als Waschlappen und warf es anschließend weg. Was er wenig später bei seinem nächsten Sturz bitterlich bereute, denn diesmal bekam er den Dreck auch noch in den Mund. Rikon schüttelte sich und kämpfte würgend gegen aufkommenden Brechreiz an. Schwer atmend auf dem Boden liegend und abscheulich schmeckenden Schlamm ausspuckend wartete er darauf, dass der Regen ihn halbwegs sauber wusch. Er konnte den Fluss von hier aus schon sehen. Der Wind zerrte kräftig an seiner klitschnassen Kleidung, als er aufstand und weiter lief. Der Himmel war inzwischen so düster, dass man kaum noch etwas sehen konnte. Rikon blieb kurz stehen und zog seine Sandalen aus. Ja, barfuß kam er viel besser vorwärts. Er musste sich schnellstmöglich in Sicherheit bringen, wenn er nicht vom Blitz getroffen oder vom Sturm davongeweht werden wollte. Die Schuhe ließ er einfach auf der Straße stehen.
    Endlich erreichte Rikon den Fluss Chen und überquerte ihn mittels einer breiten, glitschigen Holzbrücke. Sein Ziel war die kleine Gaststätte an der Südseite des Flusses, in der es sicher trocken, warm und ungefährlich war. Notfalls würde er dort sogar etwas essen oder trinken, wenn man ihn nur hineinließ…
    Ein unbeschreiblich starker Windstoß, wie Rikon noch nie einen erlebt hatte, erfasste ihn mitten auf der Brücke. Hilflos versuchte er dagegen anzukämpfen, fand jedoch keinen Halt auf den rutschigen Brettern und wurde wie von einer unsichtbaren Hand gegen das metallene Brückengeländer gedrückt, an dem er sich panisch festzukrallen versuchte. Es half nichts. Mit irgendwie lächerlicher Langsamkeit sackte er unter dem Geländer durch, dem schäumenden und brodelnden Gewässer entgegen. Rikon schrie, zappelte verzweifelt und konnte sich doch nicht retten. Ungläubig starrte er seine Füße an, die er plötzlich mit ungewöhnlicher Klarheit wenige Meter über der Wasseroberfläche hängen sah. Er konnte sogar erkennen, wie im Licht der zuckenden Blitze Regenwasser über sein verschmutztes Fell rann, Spuren der Sauberkeit darauf hinterließ, dann an seinen Krallen hinablief und in den Fluss tropfte.
    Gleich sterbe ich, dachte er nur. Ausgerechnet im Chen, dem mit Abstand dreckigsten und verseuchtesten Fluss Meriankas, muss ich ertrinken. Womit habe ich das nur verdient?
    Im buchstäblich allerletzten Moment, gerade als seine Hände mit einem quietschenden Geräusch endgültig vom Geländer abrutschten, packte jemand Rikon am Kragen (wobei dieser beinahe erdrosselt wurde und durch die langen Krallen seines Retters erhebliche Kratzspuren im Nacken davontrug) und zog ihn ausgesprochen unsanft auf die Brücke zurück. Es war Avra. Sie hatte sich selbst mit einem Seil am gegenüberliegenden Geländer gesichert und Rikon das Leben gerettet. Jetzt musste sie sich nur noch an dem Seil zurückhangeln, gegen den Sturm ankämpfend und zusätzlich behindert durch Rikons Gewicht, der sich ziemlich nutzlos keuchend an ihr festklammerte. Erstaunlich kräftig für eine Frau, dachte er. Zum Glück ließ der Wind in diesem Augenblick ein wenig nach.
    Endlich hatten sie es geschafft. Ächzend zerrte Avra Rikon von der Brücke herunter.
    "Los jetzt, steh schon auf, du bist doch nischt gelähmt", brüllte sie gegen den heulenden Wind an.
    Rikon gehorchte. "Vielen Dank, vielen, vielen Dank", brachte er stotternd hervor und fiel Avra erleichtert um den Hals, bis diese ihn empört wegstieß. "Vielen Dank", sagte er noch einmal. "Aber… woher wusstest du…?"
    "Isch hab's geahnt", gab Avra mürrisch zurück, spuckte ihm eine Ladung Dreck vor die Füße und ließ dabei ihre langen Zähne sehen. Dann grinste sie und klopfte Rikon freundschaftlich auf die Schulter (ein so harter Schlag, dass er davon einen Hustenanfall bekam). Sie streckte die Hand aus und deutete auf ein kleines Gebäude, vor dem ein Schild, das aus einer dicken Holzscheibe bestand und an einer hölzernen Vorrichtung befestigt war, im Wind schaukelte. "Éla Taryet" lautete die Aufschrift. Rikon kam sich außerordentlich dumm vor, als ihm aufging, dass "Goldener Vogel" nur der Name einer Kneipe sein konnte, die also ganz in der Nähe lag und ihm vorher nur nicht aufgefallen war. Den Versuch, bei dem Sturm die Brücke zu überqueren, um die Gaststätte auf der anderen Seite des Flusses zu erreichen, hätte er sich demzufolge von vornherein sparen können…
    "Na, was meinst du? Lust auf einen Bescher Briskssaft?", fragte Avra lachend. "Du könntest mir ja einen ausgeben, wenn du sso dankbar bist. Das wäre mir wesentlisch lieber als deine Klammerei."
    Rikon nickte nur, konnte sich aber noch immer nicht überwinden, Avras Handgelenk loszulassen, während sie sich auf den Weg zu der Gaststätte machten, wo sie endlich vor den Unbilden des Wetters geschützt sein würden. Vielleicht, dachte er, war Avra doch gar nicht so schlecht. Vom Wesen her, versteht sich. Und, ach, so hässlich war sie eigentlich auch nicht.
    Schweigend gingen sie nebeneinander her, Retterin und Geretteter, beide lächelnd - die eine noch immer belustigt, der andere immer noch erleichtert -, kehrten Straßenschmutz und Gewitter den Rücken zu und freuten sich auf einen Becher Brisksaft (oder zwei oder drei), während der Fluss vor sich hin brodelte, selbst die Ratten sich in den hintersten Ecken verkrochen und das Kneipenschild polternd gegen seine hölzerne Halterung klapperte.

  • 10
    Laut klappernd krachte das Astbündel zu Boden. Ngaui, der sich verzweifelt festkrallte, um ihm nicht zu folgen, schaute mit weit aufgerissenen Augen auf das, was ihn mit solcher Wucht beim Hausbau unterbrochen hatte.
    Das vielgliedrige Etwas lag zappelnd am Rande der Bauplattform des Korbhausbaums, die durch den Aufprall gefährlich ins Schwanken geraten war.
    Immer weiter rutschte es auf den Abgrund zu, versuchte panisch, den Sturz zu verhindern. Erst im letzten Moment erlangte es mit wild flatternden Flügeln das Gleichgewicht zurück.
    Es hob den Kopf und stieß ein scharfes Zischen aus. Ngaui sah mahlende Mandibeln und fauchte erschrocken. Rasch flüchtete er die Baumrippen des Gshiedernbaums empor, bis dicht unter die Stelle, wo sie zur Hausspitze zusammengebunden waren.
    Dort lagen zugeschnittene Astgabeln wie die im Bündel, das Ngaui beim Aufprall von den Schultern gerissen worden war. Eine davon packte er und fühlte sich gleich etwas sicherer. Damit konnte er sich das Rieseninsekt notfalls vom Leib halten.
    Die Spitze des Korbbaums schwankte stark im Wind. Während der halbwüchsige Tshaerd sich langsam von dem Schreck erholte, wurde ihm klar, daß es genau so eine Windböe gewesen sein musste, die das seltsame Wesen auf ihn geschleudert hatte. Vielleicht hatte es ihn gar nicht absichtlich gerammt?
    Neugierde regte sich in ihm.
    Auf den zweiten Blick wirkte das Insekt nicht mehr so bedrohlich, obwohl es halb so groß war wie er. Gerade erst war es damit fertig, seine Gliedmaßen auseinanderzusortieren, und begann nun eifrig, seine Fühler zu putzen. Das gab Ngaui Zeit, es sich genauer anzuschauen.
    Die Segmente des honigfarbenen Körperpanzers schimmerten an den Verengungen in mattem Perlmutt, und die durchscheinenden Flügel hatten einen leichten Grünstich. Einer davon hing schlaff herab. Es mußte sich beim Aufprall verletzt haben.
    Ngauis Musterung war dem Wesen nicht entgangen. Es hielt inne und richtete den Oberkörper auf. Die Facettenaugen glänzten in warmem Dunkelbraun. Obwohl die starren Augen keinerlei Blickrichtung erkennen ließen, spürte Ngaui, dass sein Gegenüber ihn aufmerksam beobachtete.
    Erst jetzt bemerkte er die gedrillten Schnüre um den Oberkörper des Wesens, die eine Reihe kleiner Säckchen vor dem Brustpanzer fixierten.
    "Hroih, sei mir gegrüßt", sagte er versuchsweise. "Was bist du für ein Wesen? Ein Tier bist du nicht, oder?"
    Es legte den Kopf schief, zeigte aber keine weitere Reaktion. Ermutigt wollte Ngaui einen Schritt nach vorne tun – und zuckte zurück, als es drohend zischte.
    "Schon gut, alles gut!" Ngauis Herz pochte wild. Das Insekt hob langsam den rechten oberen Arm. Kein Angriff also. Was dann? Eine Warnung? Ein Gruß? "Oh."
    Er hielt noch immer den Ast in der rechten Handpfote.
    "Also gut, ich leg ihn weg. Aber wehe, du greifst dann an!" Er bückte sich, bemüht, keine rasche Bewegung zu machen, und legte den Ast nieder. "So. Siehst du?"
    Weil ihm einfiel, dass seine Körpergröße vielleicht groß und bedrohlich wirken mochte, blieb er in der Hocke und kroch langsam auf Handpfoten und Füßen näher.
    Kein Zischen. Die Fühler des Wesens bebten leise.
    Dann hob es erneut die Arme und nestelte an den Schnüren herum. Kurz darauf hatte es einen der kleinen Beutel gelöst, setzte ihn auf dem Boden ab und schob ihn Ngaui hin.
    "Für mich?" Zögernd griff Ngaui danach, bereit, seine Handpfote jederzeit zurückziehen.
    Kein Zischen. Der Beutel war aus Leder, so dünn geschabt, dass es schon fast Pergament war. Er enthielt eine körnige Substanz, die Ngaui hellbraun entgegenschimmerte, als er den Verschluß aufzog. Neugierig nahm er ein paar Körnchen zwischen die Finger und leckte daran. Süß. Ähnlich wie Honig, aber mit seltsamem Beigeschmack. Der dicke Maukasirup, den Vaters Nestbruder Mrraga von den Bäumen zapfte, schmeckte auf andere Weise süß, aber Ngaui entschied, dass er dieses braune Zeug lieber mochte.
    "Danke!" Er steckte es in eine Tasche seines Lendenschurzes, während er fieberhaft überlegte, was er bloß als Gegengabe schenken konnte. Er hatte doch nichts dabei! Naja, seinen Fußring, aber da war seine Stammesabkunft eingeschnitzt - außerdem hatte das Wesen keinen geeigneten Fuß. Der Lendenschurz war sein ältester, mittlerweile staubig und harzverklebt, nur ein paar Bastfasern zum Hausbau in den Taschen. Er tastete darin herum und fühlte etwas Hartes, Dünnes. Sein Glücksbringer! Er hatte ihn heute Morgen abgenommen, um ihn nicht aus Versehen mit Harz zu beschmutzen. Ja, den konnte er ihm schenken.
    Er hatte ihn selbst aus den Federn und Knochen seines ersten selbsterlegten Waiadlers gemacht, ein Ast und Eierschalenstückchen von dessen Horst waren auch mit drin, zusammen mit ein paar verflochtenen Strähnen von Ngauis Kopffell. Und er hatte ihn am heiligen See ins Wasser getaucht und um Goëls Segen gebeten. Ein Insekt konnte doch sicher auch Mut, Stärke und einen guten Partner fürs erste eigene Gelege brauchen.
    "Sieh mal, mein Glücksbringer. Das ist zum Umhängen, wie dein Beutel. Warte, ich zeigs dir. So."
    Er legte die Ohren an, zog sich die Schnur mit dem Amulett demonstrativ über den Kopf, nahm sie wieder ab und hielt sie dem fremden Wesen hin. Es zirpte wieder, doch diesmal klang es anders, hell und kurz. Dann beugte es sich ein wenig vor und legte seine Fühler eng an.
    Ngaui stockte der Atem. Vorsichtig hob er die Schnur auseinander und streifte sie dem Insekt über den Kopf, wobei er sehr darauf achtete, die Fühler nicht zu berühren. Er beugte sich ebenfalls vor, um die Schnur so zu verknoten, dass sie nicht abrutschen konnte - und erstarrte, als er plötzlich eine leichte Berührung auf seinem Gesichtsfell spürte. Die beiden Fühler hatten sich entrollt und sich auf sein Gesicht gesenkt, um es vorsichtig abzutasten.
    "Das kitzelt", flüsterte er. Seine Schnurrhaare zuckten, als ihm der fremde Körperduft des Wesens in die Nase stieg. Es roch nach Staub und einem Hauch von Honig.
    Ngaui gab seiner Neugierde nach, ließ die Schnur los und berührte sachte mit der Handpfote den Panzer. Das Chitin war glatt unter seinen streichelnden Fingern. Es fühlte sich ein bisschen warm an.
    Das Insekt hob einen Arm und stupste nach ihm. Die winzigen Härchen und Häkchen der fingerartigen Armspitze ziepten ein wenig in seinem Fell.
    Es stieß ein leises Trillern aus, berührte sich mit den Fühlern im Gesicht, und gab einen Schwall von Sirr- und Klicklauten von sich. Erst als es die gleiche Folge zum dritten Mal wiederholte und ihn erneut anstupste, begriff Ngaui.
    "Du willst wissen, wie ich heiße? Ngaui. Ng-au-i."
    Es stieß einen Laut aus, der wie Nkkkrrrriiii klang, und wiederholte die vorige Lautfolge. Srrrrkkkkk war alles, was Ngaui zwischen all den Klicklauten verstand. "Srrk?" Besser bekam er die ungewohnte Sprechweise nicht hin. Srrk trillerte wieder.
    Beide waren nun sicher, dass vom anderen keine Gefahr drohte.
    "Am besten, ich bringe dich ins Dorf, hm? Die Ältesten wissen vielleicht, wie wir dir helfen können. Mit deinem Flügel da kommst du ja nicht weit, wo immer du hinwillst."
    Ngaui überlegte angestrengt, wie er seinen neuen Freund nach unten bringen konnte. Tragen kam nicht in Frage, dafür sah Srrk zu schwer aus. Aber vielleicht…
    Er nahm einen großen Korb mit feuchten Rindenstreifen, kippte sie aus und band ein Seil am Henkel fest. Das müsste klappen.
    "Steig da rein, dann lasse ich dich hinunter." Er zog den Korb demonstrativ ein paar Mal rauf und runter. Das Insektenwesen trillerte wieder und machte sich zu Ngauis großer Überraschung flink und geschickt an den Abstieg. So viel zu Flügeln. Es war zwar verletzt, aber keinesfalls hilflos. Ngaui musste sich eingestehen, dass er Srrk wohl unterschätzt hatte.
    Das Insekt wartete unten auf ihn, und Ngaui lachte. "Also schön. Komm. Und bleib dicht bei mir, damit dich keiner für eine Gefahr hält."
    Es folgte ihm, diesmal ohne eigene Wege zu gehen.
    ***
    Ngaui führte Srrk ein Stück durch den Wald bis zum Bach, in dessen Nähe das Dorf lag. Im Gegensatz zur neuen Gshiedernpflanzung, in die die Tshaerd nach und nach umziehen würden, waren die wenige Meter auseinanderstehenden Korbhäuser bereits vor langer Zeit geflochten worden.
    Die Rundwände waren mit Moos bewachsen, sie lagen im Schatten der dichtbelaubten Äste, welche die Gshiedern am Leben hielten. Einige der Häuser waren mit Stegästen miteinander verbunden. Sorgsam gerichtete Alicherpflanzen verbanden die Häuser miteinander, ihre Luftwurzeln waren genau da zu Säulen hinunter in den Boden gewachsen, wo der Dorfbaumlenker es gewollt hatte. Glimmranken wanden sich an ihnen empor - sie ermöglichten es, sich auch nachts zu orientieren.
    Ngaui hielt sich dicht bei Srrk und kündigte ihr Kommen durch Rufe an.
    "Hrrooiih! Hier kommt Ngaui mit einem Freund, den wir noch nicht kennen!"
    Viele Paare, die den im Frühjahr geschlüpften Nachwuchs stillen mussten, waren im Dorf, ebenso Hüter für die Nestlinge vom letzten Jahr. Sie alle kamen neugierig zwischen den Hausbäumen hervor, um sich Ngaui und seinem Gast zu nähern.
    Einige fingen bei Srrks Anblick die Kinder ab, die ihm wie immer entgegentollten. Andere, darunter sein Vater Gorrga, griffen alarmiert nach ihren Speeren.
    "Ngaui!"
    "Hroih, Deddah Gorrga! Senkt die Speere!" Ngaui hob beide Hände um zu zeigen, dass er nicht bedroht wurde. "Das ist Srrk, und er tut keinem was."
    Das Insekt war dicht bei Ngaui stehengeblieben und zischte leise, verstummte aber sofort, als Ngauis Vater und die anderen zögernd die Waffen senkten.
    "Sieht aus wie Néchalidenbrut, wenn du mich fragst", murrte Ndjaua. "Bäumekahlfresser, jawohl." Ihr Gesichtsfell sträubte sich voller Abscheu. Kein Wunder, fielen Néchaschwärme doch oft in ihre Maukapflanzung ein.
    Ngaui stellte sich schützend vor Srrk.
    "Das ist kein Nécha, sondern ein Insektenwesen mit Verstand! Ich hatte mich zuerst auch erschrocken, aber Srrk ist friedlich. Er hat mir von sich aus ein Gastgeschenk gemacht. Seht ihr?"
    Er hob den Beutel hoch. Nun trat Gorrga vor.
    "Ist gut, Ngaui, wir glauben dir ja. Wir werden das Tshachad einberufen. Voshyrr Jngarr und die Ältesten wissen sicher was das für ein Wesen ist."
    ***
    Der Rat tagte unter der schattenspendenen Laubkrone des alten Versammlungsbaumes. Eine leichte Brise nahm der Schwüle des Sommertages ihre Kraft und trug das begeisterte Jauchzen der im Fluss badenden Halbwüchsigen auf die Dorflichtung.
    An jedem anderen Tag wäre Ngaui auch unter ihnen gewesen. Doch heute war kein normaler Tag, heute durfte er im Kreis der Erwachsenen sitzen.
    Er hatte soeben berichtet, wie er Srrk begegnet war.
    "Es scheint unsere Sprache nicht zu verstehen", bemerkte Gorrga bedauernd, sah zu dem Insektenwesen hinüber und zwirbelte nachdenklich sein Kinnfell.
    Srrk ließ sich davon nicht stören.
    Er tunkte einen eben ausgefahrenen Saugrüssel mit sichtlichem Genuss in eine Schale Maukasirup. Leises Schlürfen durchdrang die Stille. Jngarr, der als Voshyrr dem Ältestenrat des Dorfes vorstand, ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Der silberfellige Alte sprach erst, als er das Gehörte bedacht hatte.
    "Ein Tiraali. Ja, er kann nur ein Tiraali sein."
    "Ich habe von ihnen gehört", nickte Gorrga, der seit wenigen Sterntänzen auch zum Tshachad gehörte. "Sie leben in den baumlosen Wüsten weit im Süden, graben ihre Dörfer in Felsen hinein."
    Jngarr rieb sich die Nase. "So weit in den grünen Landen sieht man ihresgleichen selten. Und dann auch noch ein Nestling? Äußerst merkwürdig."
    "Woher weißt du, dass Srrk ein Nestling ist, Voshyrr Jngarr?", fragte Ngaui neugierig.
    Die Schnurrhaare des silberfelligen Alten zuckten. "Erwachsene Tiraali sind zu groß zum Fliegen. Und so fremd er auch aussieht, er stürzt sich mit der gleichen Inbrunst auf Süßes wie gewisse Nestlinge, die ich kenne."
    Ngaui sah zu Srrk hinüber, der erst jetzt Interesse an einigen Bratenscheiben zu zeigen begann. Seine Fühler zuckten ab und zu, ansonsten schien er im Moment mit sich und der Welt zufrieden.
    "Ich frage mich, wie er hierherkommt", sinnierte Gorrga. "Was meinst du, Jngarr?"
    "Durch den Sturm vielleicht. Tiraali verlassen ihre Wüste selten."
    Aungwhrr, eine der Ältesten, zupfte nachdenklich an ihren Ohren. "Ein Sturm der solche Kraft hat? Nein, davon hätten wir mehr spüren müssen als ein paar geknickte Äste. Ich sage, er wurde erst hier im Wald abgetrieben."
    "Tiraali sind Schwarmwesen, ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ausgerechnet einen einzelnen Nestling alleine losschicken." Ngaui spürte kurz Gorrgas Blick auf sich ruhen.
    "Das ist auch meine Meinung." Jngarr nickte. "Ich werde Boten an die anderen Dörfer in der Nähe schicken. Sie sollen nach weiteren Tiraali Ausschau halten, Gorrga, und ich will daß du dir ein paar Jäger nimmst und dasselbe tust. Erkundet die Gegend südlich der neuen Dorfbaustelle. Vielleicht findet ihr dort Hinweise auf Tiraali, ansonsten erwarte ich euch morgen im Lauf des Tages zurück."
    "Was passiert jetzt mit Srrk?", wollte Ngaui wissen.
    "Er darf solange hierbleiben, bis wir seine Leute gefunden haben."
    ***
    Mitten in der Nacht wachte Ngaui durch ein Kratzen an der Haustür auf. Er dachte zuerst, es sei Gorrga, der doch noch mit den Jägern heimgekehrt war.
    Doch dann hörte er leises Tschirpen. Srrk.
    Schlaftrunken tappte er zum Eingang, löste die Halteknoten und stieß die Tür auf.
    "Müssen Tiraali nicht schlafen?", murmelte Ngaui und gähnte.
    Srrk wirkte kein bisschen müde - im Gegenteil.
    Er drängte an ihm vorbei ins Innere und begann rastlos zwischen Tür und Schlafmatte auf und ab zu staksen. Dabei putzte er mit seinen Vorderarmen in schneller Folge über seine Mandibeln und stieß einen Schwall von Klicklauten aus. Sogar seine Flügel zuckten.
    "Hey, was ist denn?"
    Sein Gast zirpte wieder, wackelte mit den Fühlern und blieb dicht vor ihm stehen. Er reckte Kopf und Fühler nach Ngauis Gesicht und versuchte, ihn dort zu berühren. Ngaui verstand nicht, warum, aber als Srrk nicht damit aufhörte, ging er endlich in die Hocke.
    Srrk trillerte ein leises Nkkkrrrriiii und senkte beide Fühler auf sein Gesicht. Ngauis Haut begann seltsam zu prickeln - dann schnappte er erschrocken nach Luft.
    Ein Flackern! In seinem Kopf!
    Sein Herz klopfte, er war nun hellwach. Da war etwas in seinem Geist gewesen! Etwas Seltsames, kaum Greifbares. Wie ein Flirren, das man aus den Augenwinkeln sieht…
    "Das war Magie, Srrk! Du hast Magie benutzt?!"
    Srrk wiegte den Kopf, gab ein Stakkato aus Klicklauten von sich und beugte sich erneut zu ihm vor. Diesmal war Ngaui auf das Gefühl vorbereitet.
    Ein Schauer winziger Bilder rieselte in sein Bewusstsein, umfloss ihn in seltsam verzerrten Mustern. Sein Gehirn versuchte, die fremdartigen Impulse in eine ihm verständliche Form zu zwingen. Hinter seiner Stirn begann es schmerzhaft zu pochen, dann hatte er einen Moment lang das Gefühl, sein Geist selbst würde sich biegen. Endlich begriff er, wie die Muster sich überlappten, und ein Bild stürzte ihm entgegen.
    :Stein über Wipfeldünen:
    Ngaui blinzelte. Einen Moment lang war er selbst das Bild gewesen, ein ausgewachsener Tiraali, der aus Facettenaugen einen Berg betrachtete, welcher inselgleich aus einem Meer von Baumkronen ragte. Der Eindruck war seltsam blass. Es musste eine Erinnerung sein, die nicht Srrk selbst gehörte. Und doch erkannte Ngaui den Berg.
    Fassungslos starrte er Srrk an.
    "Das ist der Hrauhrau, der Adlerberg! Da habe ich meinen ersten Wai gefangen – du trägst sein Amulett."
    ?Stein über Wipfeldünen?
    "Ja, ich weiß wo das ist. Der Hrauhrau, im Osten."
    Der Tiraali zirpte mehrmals und umtänzelte Ngaui, so gut es in der Enge des Korbhauszimmers eben ging. Offensichtlich freute er sich, dass sein Freund ihn verstand.
    Ngaui war es so schwindlig, dass er sich setzen musste. Sein Kopf schien einem Bienennest als Stock zu dienen, und jede Biene sah aus wie Srrk.
    Da der Tiraali sich nun verstanden wusste, war er noch viel aufgedrehter als zuvor. Er schickte Ngaui gleich eine weitere Bildfolge.
    !Ngaui und Srrk Stein über Wipfeldünen!
    "Weißt du, wie weit das ist? Das geht nicht! Ngaui und Srrk werden schön hier im Dorf bleiben." Ngaui zeigte unmissverständlich mit dem Finger zu Boden. "Wir können morgen ja mal Voshyrr Jngarr fragen, ob er – hey…!"
    Srrk schlüpfte an ihm vorbei, huschte den Eingangssteg hinunter und lief ein Stück auf den Wald zu. Dann drehte er um, eilte zurück zum Steg und zirpte.
    Ngaui stand im Türrahmen und verschränkte die Arme. So musste sich Deddah Gorrga manchmal fühlen. Dass ein Insekt ein solcher Dickschädel sein konnte!
    "Nein, Srrk! Es ist mitten in der Nacht!"
    Nkkkrrrriiii.
    Srrks Panzer schimmerte im Mondlicht. Er winkte auffordernd mit den Vorderarmen, dann drehte er sich um und hielt auf den Waldrand zu. Die Dunkelheit verschluckte ihn.
    Einen Moment lang zögerte Ngaui.
    Sollte er ihn einfach gehen lassen? Vielleicht kam er ja zurück, wenn er merkte, dass Ngaui nicht folgte. Andererseits … Srrk war sein Gast, er war für ihn verantwortlich. Seine Handpfote umkrampfte den Beutel mit dem Honigzucker, den er immer noch bei sich trug. Er konnte seinen Stamm nicht enttäuschen und die Gastpflicht verletzen, indem er Srrk ohne Schutz in den Wald ließ. Er musste ihn zurückholen.
    Leise schimpfend schlüpfte er in seinen Überwurf und stopfte ein paar Stücke Trockenbrot hinein. Dann schnallte er hastig sein Messer um und griff nach seinem Speer.
    Mit einem Satz sprang er aus dem Korbhaus, federte auf dem Boden ab und taumelte kurz, weil ihm immer noch schwindlig war. Dann rannte er los, um Srrk zurückzuholen.
    ***
    "Wir werden mächtig Ärger kriegen", stellte Ngaui fest und tauchte sein erhitztes Gesicht in den Bach. "Und es ist ganz allein deine Schuld."
    Er hätte am liebsten gebadet, aber dazu hatte es ein gewisses Insekt viel zu eilig.
    So schüttelte er sich nur das Wasser aus dem Fell und sah zu Srrk hinüber. Der tschirpte vor sich hin, als ginge ihn das gar nichts an, tauchte seinen Saugrüssel ins Wasser und trank geräuschvoll.
    ***
    Es war die erste richtige Pause, seit Ngaui es aufgegeben hatte, Srrk zur Umkehr zu bewegen. Der nächtliche Marsch war nicht gerade angenehm gewesen. Auch nicht, nachdem Ngaui Srrk eingeholt und ihn auf einen der Glimmrankenpfade Richtung Nordosten gelotst hatte, auf dem die lumineszierenden Pflanzen ein bisschen Orientierung boten. Vor ein paar Stunden waren sie dann nach Osten abgebogen.
    Ngaui wusch das kleine Büschel Kräuter und essbarer Blätter, das er während des Marschs gesammelt hatte. Er stopfte es zwischen zwei Scheiben Brot und biss hungrig ab. Es dauerte nicht lange, bis Srrk zum Aufbruch drängte. Ngaui seufzte, zupfte sich ein paar Kletten aus dem Fell und übernahm wieder die Führung.
    ***
    Sie marschierten bis kurz vor Sonnenuntergang, als auch Srrk, der den ganzen Tag lang ständig um Ngaui herumgewuselt war, Anzeichen von Erschöpfung zeigte. Ngaui fand den Lagerplatz, den er von seinen früheren Jagdausflügen mit Gorrga kannte. Ein kleines Feuer würde die Mücken fernhalten.
    Einer der Bäume trug ein paar Büschel Wipfelkorn. Als Ngaui mit einer Handvoll Körner und zwei grüngesprenkelten Khwijji-Eiern wieder von ihm herunterkletterte, war der Tiraali verschwunden. Kurz darauf tauchte er wieder auf, ein noch schwach zuckendes Nécha-Insekt in den Armen. Es war fast halb so groß wie Srrk selbst.
    "Du jagst Néchaliden?", wunderte sich Ngaui. "Wenn Ndjaua dich jetzt sehen könnte, würde sie nicht mehr über dich schimpfen!"
    Srrks Mandibeln klackten. Mit Rüssel und Fühlern tastete er seine Beute ab und drehte sie fachmännisch in Position. Der Néchapanzer knackte, als er ihn aufbiss und zu saugen begann.
    Ngaui benutzte sein Messer, um seinerseits Löcher in die Khwijji-Eier zu stechen. Einträchtig saßen die beiden am Feuer und saugten an ihrem jeweiligen Abendessen. Erst im Morgengrauen zogen sie wieder weiter.
    ***
    !Ngaui und Srrk Stein über Wipfeldünen!
    "Ja, da sind wir. Sieh mal dort, in diesen Steilwänden nisten die Wai."
    Der allgegenwärtige Wald hatte es nicht überall geschafft, den Inselberg mit einem Teppich aus Grün zu überziehen. Es gab viele schroffe Flanken und bröckelnde Steilhänge, die nur spärlich mit Gras, Moos und Flechten bewachsen waren. Die Waiadler liebten den Ort wegen der Aufwinde, und Ngauis Volk schätzte die Waijagd als glückverheißende Mutprobe – ansonsten war der Hrauhrau für sie nicht von Bedeutung.
    "Was jetzt, Srrk – was willst du hier?"
    Das schien sein Insektenfreund selbst nicht so genau zu wissen. Immerhin übernahm er die Führung und lotste Ngaui über eine Stunde lang erst an der Steilwand entlang, und dann im Zickzack den Berg hinauf. Anfangs stieß er dabei gelegentlich noch Klicklaute aus, aber sie verstummten bald, als würde er sich stark auf etwas konzentrieren.
    Ngaui legte den Kopf in den Nacken und blinzelte gegen die Sonne an.
    Der diesige Morgennebel hatte sich aufgelöst, und gab den Blick auf den kahlen Gipfel des Hraurhau frei. Dort oben zog ein Wai seine Kreise im endlosen Blau. Der Wind trug seine heiseres Kreischen heran.
    Als die Sonne im Zenit stand, erreichten sie einen flach ansteigenden Felshang auf halber Höhe. Außer ein paar Felsbuckeln und spärlicher Vegetation gab es hier nichts, und doch wuselte Srrk eifrig hierhin und dorthin, blieb stehen, schwenkte unschlüssig den Kopf hin und her und krabbelte abrupt in die Gegenrichtung, um nach ein paar Schritten wieder kehrt zu machen.
    Ngaui wurde das nach einer Weile zu bunt. Er lehnte sich gegen einen dick mit Trugmoos überwucherten Felsbrocken, aß von seinem Brot und schloss die Augen.
    Er musste wohl eingedöst sein, denn als er erwachte, hatte der Wind ein wenig aufgefrischt, und die Sonne versteckte sich hinter einem luftigen Wolkenschleier.
    Er gähnte, stand auf und streckte sich. "Srrk! Wo bist du denn?"
    Nkkkrrrriiii.
    Das kam von der Rückseite eines Felsbuckels. Ngaui fühlte sich erleichtert. Einen Moment lang hatte er befürchtet, der Tiraali sei alleine weitergezogen.
    Schon im Näherkommen hörte er scharrende Geräusche. Sie verstummten, als Srrk sein Tun unterbrach und ihm ein Stück entgegenkam.
    Der Tiraali war von oben bis unten mit ockergrauem Staub bedeckt. Sein Panzer wirkte stumpf und dreckig, nur wenig von der Honigfarbe schimmerte noch durch. Das einzig Glänzende an Srrk waren nunmehr seine großen, dunklen Augen.
    Er tänzelte aufgeregt um Ngaui herum, stieß dabei schnelle abgehackte Klicktiraden aus und stupste ihn, damit er sich beeilte. Den Grund für die Aufregung sah Ngaui, als er die Rückseite des Felsbuckels erreichte. "Was in Goëls Namen…?!"
    Mitten im Fels gähnte ein Loch. Ringsherum lagen kleine Erdhaufen, die größten von ihnen kniehoch – und jetzt wurde Ngaui auch klar, warum sein Freund so schmutzig war: Er hatte ein Loch gegraben. Ngaui bückte sich, um es näher zu untersuchen.
    Nein, erkannte er, Srrk hatte das Loch nicht gegraben, sondern es wieder freigelegt!
    Die baumstumpfdicke Öffnung war achteckig in den Fels hineingehauen, das war gut zu erkennen, auch wenn die Ecken mit Flugerde verstopft waren. Der Wind musste sie über viele Jahre hinweg hier angesammelt haben. Ngaui bückte sich und versuchte, mehr zu erkennen. Der Gang verlor sich nach und nach in der Dunkelheit.
    Er kroch eine Armlänge weit hinein, ließ seine Handflächen über die schmirgelglatte Oberfläche streichen und schloss die Augen. Es roch staubig trocken, nicht nach Schimmel oder Moder. Seine Schnurrhaare bebten, er meinte, einen leichten Luftzug zu spüren. Wer immer diesen Gang angelegt hatte, war ein großartiger Steinhauer gewesen.
    Sie graben ihre Dörfer in Felsen, hatte Deddah gesagt.
    Ngaui wandte den Kopf und sah Srrk mit großen Augen an.
    "Ein Tiraali-Dorf! Hier war mal eins eurer Dörfer, hab ich recht? Das hast du gesucht!"
    Ngauis Gedanken überschlugen sich. Deddah Gorrga sagte, dass Tshaerd schon seit vielen hundert Sterntänzen in diesem Wald wohnten. Keine Lied, keine Geschichte, die er kannte, erzählte von einem Tiraalidorf im Adlerberg.
    "Das muss ja ewig her sein", murmelte er beeindruckt. Kein Wunder, dass die Erinnerung, die Srrk ihm gezeigt hatte, so undeutlich gewesen war. Die Tiraali mußten ein furchtbar gutes Gedächtnis haben!
    Ngaui starrte neugierig in die dunkle Öffnung hinein. Sie würden Licht brauchen.
    "Hör mal, Srrk, ich bin gleich zurück. Warte hier."
    Als er sicher war, dass der Tiraali den Sinn seiner Worte verstanden hatte, sah er sich am Rand des Geröllfelds um und fand verdorrte Büsche, aus deren Geäst er drei schenkellange Knüppel schlug.
    Dann kehrte er zu dem Felsen zurück, wo er eingenickt war. Das Trugmoos, echtem Moos täuschend ähnlich, bildete dicke Polster auf ihm. Vorsichtig drückte er die Messerspitze durch die grüne Deckschicht und prüfte die Dicke des verholzten, harzigen Gewebes darunter. Die älteren Schichten waren so fest miteinander verwachsen, dass er die Klinge nur schwer wieder frei bekam.
    Mühsam schnitt er Klumpen davon heraus und zurrte alles mit abgeschälten Rindenstreifen zu drei ganz passablen Fackeln zusammen. Ein paar Klumpen nahm er als Reserve mit, falls die Erkundung länger dauerte.
    Es konnte losgehen!
    ***
    Staub, Staub, und noch viel mehr Staub.
    Schon nach wenigen Metern hatte Ngauis Pelz eine graubraune Tarnfarbe angenommen, und seine Nase juckte. Er hustete, hielt die knisternde Fackel eine Armeslänge auf Abstand und war heilfroh, dass der Gang sich nach ein paar Metern weitete und er nicht mehr kriechen musste. Es ging in sanftem Winkel bergab. Das kleine Achteck aus Tageslicht war bereits hinter ihnen verschwunden.
    Srrk krabbelte neben ihm in die Kugel aus Licht, die seine Fackel der Finsternis abtrotzte.
    "Also ich verstehe nicht, was unter der Erde so toll sein soll", meinte Ngaui und nieste. Das Fackellicht tanzte über Boden und Wände und verdrängte die Schatten in Ecken und Ritzen. Außerhalb davon war nichts als schwarze Finsternis.
    "Egal, wie ihr hier mal für Licht gesorgt habt – es funktioniert schon lange nicht mehr."
    Wenn er ehrlich war, sagte er das nur, um seine eigene Stimme zu hören. Nicht einmal nachts im Wald bei Regen war es so stockdunkel, und ihm fehlten die Geräusche.
    Srrk hatte keine Scheu, sich hier unten zu bewegen. Er blieb zwar immer am Rand des Lichtscheins, aber nur eben geradeso. Er schien genau zu wissen, wohin er wollte. Ngaui markierte trotzdem jede Abbiegung mit einem Rußfleck. Er wollte sich hier auf keinen Fall verlaufen.
    Sie kamen durch eine Reihe von Kammern, viele davon achteckig und mit mehreren abzweigenden Gängen. In einigen waren direkt aus dem Fels netzartige Stützstrukturen herausgemeißelt worden, andere waren mit seltsamen Mosaiken geschmückt.
    Die bröckeligen Spuren von Alter und Verfall waren überall, aber je weiter sie vordrangen, desto stärker wurde Ngauis Verdacht, dass es sich hier um eine riesige aufgegebene Baustelle handelte. Es gab viele Bereiche, die nur grob behauen waren oder sonstwie unfertig wirkten.
    In einem Raum stand sogar eine bereits halb aus Stein gehauene Tiraalistatue. Als Ngaui bewundernd um sie herumging, knirschte es plötzlich unter seinen Füßen.
    Erschrocken fauchend sprang er zurück. Srrk hörte es, kam heran, trillerte und stocherte mit einem Vorderarm in dem brüchigen Zeug herum, in das Ngaui getreten war.
    Abrupt zog er den Arm zurück und stieß ein Geräusch aus, das Ngaui noch nie von ihm gehört hatte, eine Art tiefes, vibrierendes Schnarren. Da wurde ihm klar, dass dies die uralte Panzerschale eines toten Tiraali sein musste.
    "Tut mir leid", sagte er leise. Was dieser Dorfbaustelle wohl zugestoßen war?
    Als sie einmal wussten, worauf sie zu achten hatten, machten sie auf ihrem weiteren Weg noch mehr solcher Chitinhäufchen aus. Srrk blieb bei jedem kurz stehen und schnarrte.
    Inzwischen war Ngauis zweite Fackel schon weit heruntergebrannt. Was Srrk auch suchen mochte, hoffentlich fanden sie es bald!
    Je tiefer sie kamen, desto feuchter wurde es, und desto seltener wurden die erhaltenen Tiraali-Überreste. Srrks Trauer wurde bald wieder von seinem Entdeckergeist verdrängt. Natürliche, unbefestigte Höhlen gingen nahtlos in die Baustellen über und warfen das verzerrte Echo seines aufgeregten Zirpens zurück. Es schien aus allen Richtungen auf sie einzustürzen. Die Luft roch muffig und die Wände schwitzten Wasser. Ngauis Kehle wurde eng, als er an die schweren Gesteinsmassen über ihnen dachte.
    Das Vorwärtskommen wurde immer schwieriger. Ngaui war zwar schwindelfrei, aber unter Tage mit einem aufgedrehten Begleiter an schlüpfrigen Felsen entlangzuklettern, war nicht dasselbe wie Baumsteigen. Er sehnte sich nach Sonnenlicht und frischer Luft.
    "Mach doch mal langsam!", keuchte er. "Ich muss uns neue Fackeln basteln."
    Ngaui steckte die dritte Fackel mit der verlöschenden zweiten an und steckte sie in eine schmale Ritze, um die Hände frei zu haben. Er breitete die Trugmoosbrocken vor sich aus und überlegte, ob es vielleicht doch für vier Fackeln reichte.
    NKKKRRRIIIIII, NKKKRRRIIIIII.
    Ngaui schoss hoch und flog förmlich in die Richtung, aus der das kam. "Srrk!"
    Überall war rutschende Erde, lockerer, uralter Aushub der Baustelle, und Srrk mittendrin! Er fand keinen Halt mehr, kämpfte darum, nicht zu versinken, nicht mit der Gerölllawine in das gierige Schwarz des Abgrunds gerissen zu werden, und kreischte panisch immer wieder Ngauis Namen.
    "Ich komme! Halt durch!", schrie Ngaui.
    Er presste sich dicht an die Felswand und beugte sich so weit vor, wie er wagte. Er schaffte es, eines der zappelnden Gliedmaßen zu packen, doch Srrk keilte weiter nach allen Seiten aus, und er musste ihn mit der anderen Hand an den Zuckerbeutel-Schnüren packen. Mit aller Kraft riss er seinen Freund aus der Gefahrenzone heraus auf sicheren Fels.
    Keuchend sah er, wie Srrk zittrig wieder auf die Beine kam. Es schien ihm nichts zu fehlen. Als Ngaui jedoch am Fels entlang zu ihm klettern wollte, gab etwas unter seinen Füßen nach und er verlor das Gleichgewicht. Einen Moment lang ruderte er noch mit den Armen, dann stürzte er schreiend in die Dunkelheit.
    ***
    Leises Zirpen stahl sich hinunter in den dunklen ruhigen Ort, wo er losgelöst von aller Zeit geschlafen hatte. Er folgte ihm nach oben, um zu sehen, wo es herkam.
    Ngauis Augenlider flatterten.
    Hrrrriiii. Nkkkrrrriiii.
    "Hroih, Srrk…"
    Srrks Kopf war nur eine dunkle Silhouette vor hellem Licht. Ngaui schloss geblendet die Augen. Da waren Schmerzen, aber ganz weit weg. Sie störten ihn nicht. Es war warm. Es war trocken. Vogelzwitschern drang an seine Ohren.
    Und die Hand, die seine Ohren kraulte, gehörte auf keinen Fall Srrk.
    "Deddah?"
    Das Kraulen verstärkte sich. "Wenn du je wieder sowas Leichtsinniges machst, lass ich dich Harzkratzen, bis keine Bäume mehr da sind, verstanden?"
    "Mhm." Ngaui schlief bereits wieder ein.
    Als er das nächste Mal erwachte, war er alleine im Zelt. Sonnenlicht schien durch die offene Eingangsklappe. Es war ein schönes Zelt aus dickem, hellem Stoff, und das Webmuster erinnerte ihn an die Stützstreben im Tiraalidorf.
    Draußen war einiges los. Tshaerd riefen einander zu, dazwischen klickten und zirpten Tiraali. Es roch nach Holzrauch und bratendem Fleisch.
    Ngauis Neugier siegte. Er mußte herausfinden, was passiert war!
    Als er sich aufrichtete, tat ihm alles weh. Er stöhnte leise auf und sah an sich hinab. Sein rechter Arm war verbunden und geschient, er hatte Schürfwunden und Prellungen. Unter seinem Fell zeichnete sich ein Schattenspiel aus blauen Flecken ab.
    Ein weiterer Schatten flitzte am Zelteingang vorbei. "Srrk?"
    Der Schatten stockte, machte kehrt und stakste freudig zirpend herein. Irgendetwas an ihm kam Ngaui merkwürdig vor, aber er kam nicht drauf, was es war.
    Srrk huschte zu Ngaui auf die Schlafmatte und drückte ihm vorsichtig seine Fühler ins Gesicht. Ngaui hatte sich schon fast an diese fremde Sprechweise gewöhnt, und ihm wurde davon nicht mehr so leicht schwindlig. Trotzdem war er froh, zu sitzen.
    Sein Freund schickte ihm heute einen wahren Blättersturm aus Bildern. Diesmal spürte Ngaui, dass diese Eindrücke mehr waren als bloße Bilder. Wie Blattadern waren Emotionen hineingewoben, die er vorher nie bemerkt hatte.
    Srrk zeigte ihm, was passiert war.
    Er hatte sich die Fackel zwischen die Mandibeln geklemmt und war zu Ngaui hinabgeklettert, der bewusstlos in einem Erdhaufen lag. Immer noch rieselte Erde von oben herab und drohte ihn zu verschütten. Srrk erinnerte sich an eigenen Schmerz, doch die Bilder zeigten, wie er versuchte, Ngaui auszugraben. Da war das so lang entbehrte Gefühl von Nähe, das schnell stärker wurde. Freude und Kummer zugleich, Ngaui reglos daliegend, sich nähernder Fackelschein. Tiraali, die Ngaui ausgruben und Srrk beruhigend zusummten. Das Gefühl von Trost und Nähe, von Hoffnung, als ein Tiraali Ngaui auf den Rücken nahm und durch die natürlichen Höhlen hinaustrug, wo sie wenig später auf Gorrgas Suchtrupp trafen, der den Spuren der Tiraali bis hierher gefolgt war. Dann Ngaui im Zelt, und das Eintreffen weiterer Neuankömmlinge aus dem Dorf, mit Voshyrr Jngarr an der Spitze. Der Bilderstrom verebbte.
    Ngaui blinzelte, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. "Danke, dass du mir das gezeigt hast."
    Er lächelte und stutzte plötzlich. Erst jetzt wurde ihm klar, was an seinem Freund nicht stimmte. "Oh nein, Srrk…!"
    Die Flügel fehlten. Da waren nur noch zwei verkrustete Stummel.
    Mit der gesunden Hand strich er über Srrks zerschrammten Panzer. Er war wieder glänzend, und eine Art Lack versiegelte die schartigen Stellen.
    :Srrk stützt Ngaui:Ngaui stützt Srrk:
    Der vergnügte Unterton tröstete Ngaui ein wenig.
    "Genau. Ich war lang genug hier drin. Lass uns rausgehen."
    Deddah Gorrga stand mit dem Voshyrr und einem Tiraali auf der Lichtung. Als er Ngaui aus dem Zelt kommen sah, kam er her. "Hroih, du bist ja wach!"
    "Hroih, Deddah…" Ngaui war abgelenkt. Er starrte den Tiraali mit offenem Mund an.
    Er war dreimal so groß wie Srrk, mindestens! Sein Panzer war mit einem Muster aus bunten Lacktröpfchen verziert, und er hatte wie Srrk eine Reihe kleiner Säckchen umhängen. Aber das Seltsamste an ihm war das riesige grüne Farnbüschel auf dem Rücken. Erst als sie sich bewegten, erkannte er, dass es stark zerzauselte Flügel waren. Kein Wunder, dass sie mit denen nicht fliegen konnten!
    Vor lauter Schauen merkte er fast gar nicht, wie Gorrga leise lachte und ihn mit sich zog.
    "Das ist Tssissk, eines von Srrks Elternteilen, wenn ich es richtig verstanden habe. Er führt die Forscher an, die herausfinden wollen, was hier vor tausend Jahren passiert ist."
    "Woher weißt du das?"
    "Sieh selbst."
    Tssissk begann mit einem Vorderarm Zeichen in den sandigen Boden zu kratzen. Ngaui trat näher heran. Es waren keine Tshaerd-Buchstaben.
    "Er kann die Menschensprache?"
    "Ziemlich gut sogar. Srrk versteht sie übrigens auch - er kann bloß nicht schreiben. Dein ungeduldiger Freund wusste, dass er seine Leute beim Hrauhrau wiederfinden würde, und ehe wir auf die Idee mit anderen Sprachen kamen, wart ihr schon unterwegs dahin. Dort hat Srrk wohl gespürt, dass sein Deddah und die anderen schon in den Berg eingedrungen waren, und wollte so schnell wie möglich zu ihnen."
    Ngaui drehte sich zu Srrk um, und diesmal benutzte er die Menschensprache.
    "Gib’s zu, du hast mir das bloß nicht gesagt, damit ich dir nicht widersprechen kann."
    Srrk putzte mit Hingabe seine Mandibeln, doch dann gab er es auf und zirpte fröhlich.
    Gorrgas Ohren stellten sich auf. "Er spricht mit dir?"
    "Naja, nicht direkt. Er legt mir seine Fühler ins Gesicht und dann kommen Bilder."
    Srrks Deddah zirpte und begann zu schreiben.
    "Das ist ein seltenes Talent, was du da hast", las Voshyrr Jngarr vor. "Tssissk fragt, ob du der Ha’ani der Tiraali sein willst, während sie hier sind – er meint wohl eine Art Mittelsmann."
    Ngaui sah Gorrga an. "Darf ich?"
    Der tauschte einen langen Blick mit Jngarr und nickte schließlich. "Wenn du willst. Aber denk daran, es ist eine verantwortungsvolle Aufgabe. Keine Dummheiten diesmal, klar?"
    Ngaui beteuerte so eifrig seine Ernsthaftigkeit, daß Jngarrs Schnurrhaare belustigt zuckten. "Wenn das so ist, Ha’ani Ngaui, dann fang gleich mal an und lade unsere Gäste zum Abendessen ein."
    ***
    Die ersten Sterne öffneten ihre Augen und wurden wie Ngaui Zeugen des seltsamsten Tanzes, den die Waldlichtung je gesehen hatte.
    Die Tiraali jagten umschwärmt von ihren Nestlingen in wirbelnden Formationen ums Feuer, untermalt von einem stakkatoartigen Kanon aus Klicklauten. Die schimmernden Lichtreflexe auf den blankpolierten Panzern hatten etwas beinahe Hypnotisches.
    Srrk achtete vor allem auf die Nestlinge, die - in respektvollem Abstand zum Feuer - gewagte Manöver flogen. Ngaui tätschelte ihm mitfühlend den Panzer.
    "Du würdest gern mitmachen, was? Es ist sicher schlimm so ohne Flügel."
    Srrk schnarrte, trillerte dann aber und wackelte mit den Fühlern.
    :Flügel weg: Flügel klein: Flügel groß:
    "Oh, ach so!" Kein Wunder daß Srrk sich scheinbar so gut damit abfand. "Das ist praktisch - bei uns wachsen Körperteile nicht einfach nach."
    Der Tiraali summte leise, und stupste ganz sanft Ngauis verletzten Arm an. Als er ihm ein Bild von einem einarmigen Ngaui schickte, schüttelte sich dieser und winkte ab.
    "Nein, das heilt auch so zusammen. Mach dir keine Sorgen."
    Er sah, dass Srrk immer noch das Amulett trug. Irgendwie hatte es die ganzen Strapazen unbeschadet überstanden - wie sich das für einen gesegneten Glücksbringer gehörte. Er hatte ganze Arbeit geleistet!
    Ngaui sah an sich herunter, auf das Amulett, mit dem die Finger seiner gesunden Hand schon die ganze Zeit spielten. Tssissk hatte es in Srrks Auftrag für ihn gefertigt.
    Es war ein münzgroßes Teilstück von Srrks Flügelhaut, mit einer dicken Schicht aus durchsichtigem Lack versiegelt und einem winzigen Scheibchen von Srrks honigfarbenem Körperpanzer in der Mitte.
    Die Tiraali beendeten ihren Tanz mit einem eleganten Ausfächern ihrer zerzisselten Flügel und huschten dann vom Platz. Ngaui rückte zur Seite, um ein paar Tshaerd durchzulassen, die den Tanz des erfolgreichen Jägers zeigen wollten. Einige hatten Flöten dabei, Onkel Mrraga sogar sein geliebtes Tambourin. Singen würden sie alle.
    Während die Tänzer in Position gingen und Onkel Mrraga schon den Takt anschlug, beugte sich Ngaui zu Srrk hinüber.
    "Ich bin froh, dass der Sturm dich zu mir getrieben hat."
    Nkkkrrrriiii.
    Die Flöten begannen zu spielen, Ngaui und die anderen fielen singend ein. Ein Windstoß wehte über die Lichtung, Funken stoben vom Feuer auf. Sie erhoben sich zusammen mit der lebhaften Musik in die Lüfte. Der Schall trug weit an diesem Abend.

  • 11
    Kreischende Flöten, näselnde Tröten, gellende Fanfaren, scheppernde Schellen, Rasseln und Schnarren erklingen aus den Rängen, durchmischt vom an- und abschwellenden Gemurmel tausender Stimmen. Hin und wieder erheben sich vereinzelte Sprechchöre und gegrölte Gesänge, rhythmisches Klatschen, sogar das eine oder andere Tanzritual aus der Masse hervor, doch all dies ist nur ein leises Rauschen in den Ohren von Hri. Ein heißer Wind flattert in den unzähligen Bannern, braust die Ränge hinunter bis in die Arena und wirbelt rostroten Staub auf und zerrt auch an Hris Gewand. Ja, diesen Wind bemerkt sie! Sie genießt die wilden Liebkosungen dieser roten, wütenden unbändigen Kraft und spürt deutlich die göttliche Anwesenheit ihres Herrn Tahat, während sie - Selbstsicherheit und Zuversicht mit jeder einzelnen Sehne ihres geschmeidigen Körpers ausdrückend - bis zur Mitte der Arena schreitet.
    Die Menge hat sie erkannt und ein begeistertes "HRIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII!" ertönt aus tausenden Kehlen. Oh ja, dieses Geräusch lässt ihre Wahrnehmung jetzt zu ihr durchdringen. Diese armen Seelen dort auf den Rängen - sie lechzen danach, ihre Heldin zu sehen, ihr Idol, das sie bewundern und verehren können, weil ihnen in ihrem richtigen Leben jeglicher Halt und jegliches Ziel fehlt. Und all diese armseligen Kreaturen gehören in diesem Augenblick ihr allein. In einer fließenden Bewegung zieht sie ihr Chutarr aus seiner Scheide, die sie auf den Rücken geschnallt hat. Die fein verzierte Klinge, die in ihrer Form so sehr einer ihrer eigenen Klauen ähnelt, ist ein Teil ihres Körpers, ihre beste Freundin, ein Teil ihrer Seele. Sie reckt das Chutarr in den Wind und brüllt der Menge ihre ganze Verachtung entgegen. Natürlich verstehen sie nicht, was sie meint. Sie jubeln umso begeisterter, beeindruckt von dieser Zurschaustellung von Kraft und Entschlossenheit ihres Lieblings. Sie wissen genau: Hat eine Chaurr einmal ihre Klinge gezogen, so darf sie erst wieder in die Scheide zurückgesteckt werden, wenn Blut geflossen ist. Und die Menge ist begierig darauf, "ihre" Hri Blut vergießen zu sehen.
    Ja, sie ist die Hri dieser Menge, nur der Verehrung durch die Massen hat sie diesen Namen zu verdanken. Ohne diesen ehrenvollen Kampfnamen wäre sie nicht mehr als "Die Dritte von Fünf, aus der achtunddreißigsten Rotte der Kaserne Chasuum, Kämpferin zur Ehre unseres Göttlichen Herrn". Wer sich keinen Namen macht, wird niemals mehr sein als solch eine nüchterne Nummer, und wäre man dann tatsächlich noch "Kämpferin zur Ehre unseres Göttlichen Herrn"?
    Hri hat ihrem Göttlichen Herrn Ehre bereitet und zum Dank einen geachteten und gefürchteten Namen verliehen bekommen. Hri, die Stürmische. Und Tahat schickt zu Ehren dieses Namens einen heißen roten Wind hier in diese Arena, der seine Hri ruppig umspielt, an ihren Ohren zupft, über ihr kurzes Fell streicht. Und Hri genießt diese Liebkosung, würde am liebsten wohlig knurren, und sie denkt an den stattlichen Krieger aus der fünfundvierzigsten Rotte, mit dem sie sich beim letzten Blutmondfest knurrend und leidenschaftlich ineinander festgebissen über den harten Lehmboden der Kaserne wälzte. Er hat sie nicht nach ihrem Namen gefragt und sie sich nicht für den seinen interessiert, doch beim nächsten Fest, wenn ihre Rotte wieder mit den Männern zusammentreffen darf, wird sie ihn fragen. Und vielleicht gelingt es ihnen ja dann, dafür zu sorgen, dass sie neue Kämpfer zu Ehren Tahats zur Welt bringen wird. Doch bevor sich tatsächlich ein genussvolles Grollen aus ihrer Kehle davonstiehlt, reißt sie sich zusammen. Sie ist nicht hier, um schmachtend Träumen nachzuhängen. Sie hat gehört, dass Menschen so etwas andauernd tun, und man sieht ja, was aus diesen Menschen geworden ist. Da sitzen sie und jubeln einem Idol zu, weil sie zu schwach sind, selbst Großes zu vollbringen. Wer Träumen nachhängt, lebt nicht im Hier und Jetzt, ist schwach und kann leicht überrumpelt werden. Und all dieser Tand, all diese Ablenkungen, mit denen sie ihr Dasein vergeblich auszufüllen versuchen: Reichtum, Müßiggang, Völlerei... Dient alles nur dazu, das Leben sinnlos zu vertun. Sie verstehen einfach nicht, dass dieses Leben eine Prüfung ist und dass Tahat diejenigen reich belohnen wird, welche die harte Prüfung gemeistert haben. Wozu also all diese Reichtümer ansammeln und sich mit Vergänglichem abgeben, wenn man doch die Ewigkeit erlangen kann?
    Während sie noch vom Wind liebkost wird und ihr Chutarr für die Menge in die Luft reckt, gehen ihr diese Gedanken durch den Kopf, doch als sich am entgegengesetzten Ende der Arena etwas tut, wischt sie ihre Grübeleien zur Seite. Ihr Geist ist rein und klar, auf ihren Gegner ausgerichtet, wer oder was auch immer der Gegner sein wird.
    Das eisenbeschlagene Tor öffnet sich und der nachtdunkle Schlund dahinter spuckt eine Gestalt aus, die jetzt merkwürdig gekrümmt, trippelnd, zaghaft sichernd näher kommt: Voll aufgerichtet vielleicht bis an Hris oberstes Brustpaar reichend, mit einem riesigen schmutziggelben, von Warzen und Knötchen besetzten Schnabel, kleinen listig dreinblickenden Augen, struppigen Borsten auf dem Kopf, vier weit ausgestreckten Armen und einem peitschenden Greifschwanz ausgestattet, tastet sich dort ein wahrer Ausbund an Hässlichkeit zu ihr heran. Gehüllt in zerfetzte dreckstarrende Lumpen, mit Schnittwunden an den Armen und Beinen und an der Stirn, aus denen sich klebriges schwarzes Blut zähflüssig herausquält.
    Das kann doch wohl nicht ihr Ernst sein, denkt sich Hri. Einer von diesem widerlichen Tekumir-Pack, das im übelsten Unrat der dreckigsten Gassen lebt! Einer dieser feigen, hinterhältigen Diebe! Eines der niedersten, unwürdigsten und jämmerlichsten Geschöpfe der Welt soll ausgerechnet ihr Gegner sein? Will man sie beleidigen? Es ist doch nun wirklich unter ihrer Würde, die Hinrichtung irgendeines unseligen auf der Straße aufgelesenen Taschendiebes oder Müllwühlers zu vollstrecken. Sicherlich, die Tekumir sind zähe Burschen und sie weiß auch um ihre besonderen Eigenschaften, die sie im Kampf zu unbequemen Gegnern machen. Sie weiß ganz genau, warum ihr Gegner schon jetzt aus vielen kleinen Wunden sein schwarzes sirupartiges Blut fließen lässt, aber sie - Hri, den Lebling der Massen - ausgerechnet gegen ein solches ... Ding in den Kampf zu schicken, das hat einfach keinen Stil.
    Auch das Publikum ist aufgebracht, buht und pfeift diese gedrungene hässliche Gestalt gnadenlos aus. Die Menge hat einen würdigeren Gegner erwartet. Und selbst wenn, den völlig unwahrscheinlichen Fall mal angenommen, dieser Halunke den Kampf gegen Hri gewinnen sollte, die Menge wird niemals einem Tekumir zujubeln oder ihn als Idol verehren. Diese Kampfpaarung muss ein Irrtum sein, oder ist nur als kleine Aufwärmübung für Hri gedacht, bevor dann der richtige Gegner kommt. Grimmig fletscht Hri die Zähne und springt geschmeidig ihrem Opfer entgegen. Diese Farce will sie so schnell wie möglich hinter sich bringen.
    Der Tekumir ist hager und ausgemergelt, trägt in seinen vier Händen billige Obsidianklingen, die das erste Ziel von Hris Angriffen werden sollen. Auch wenn es nur harmlose Waffen sind, so sind es doch immerhin vier Stück und Hri hat nun wirklich keine Lust, sich ihr Fell von einer dreckigen Tekumirklinge anritzen zu lassen und brandige Wunden zu bekommen.
    Blitzschnell wirbelt ihr Chutarr vor dem warzigen Schnabel des Tekumir herum, eine seiner Klingen splittert leise in der Hand, die Hiebe der restlichen drei Klingen wischen ins Leere.
    Sein schwarzes Blut ist inzwischen zu einer pechglänzenden Schicht geronnen, die ihm einen gewissen Schutz vor weiteren Wunden bietet. Nur nicht weitere Wunden zufügen, je mehr er blutet, desto unverwundbarer ist er, denkt sich Hri und schlägt mit der flachen Seite ihres Chutarr nach seinem Kopf. Der Tekumir taucht blitzschnell ab, stampft mit den Füßen kräftig in den Sand der Arena, ein Windstoß wirbelt den Staub auf und kurzzeitig ist Hris Sicht getrübt. Da! Brennender Schmerz durchzuckt ihr linkes Bein. Ein Aufschrei gellt durchs Publikum. Dieser Bastard! Reflexartig schießt ihre Klinge blind nach hinten. Ein Zischen, ein reißendes Geräusch, und sie spürt etwas Warmes, Klebriges auf ihren Rücken spritzen. Sie wirbelt herum und gerät ins Wanken, denn ihr linkes Bein will ihr nicht mehr so recht gehorchen. Ihren Sturz fängt sie mit einer geschmeidigen Rolle ab, die sie von ihrem Gegner wegbefördert. In Sekundenbruchteilen sieht sie, wie dem Tekumir aus einer klaffenden Wunde an der Flanke ein Schwall klebrigen Blutes quillt. Entsetzt beobachtet sie, wie seine vier Arme die klebrige Masse über seinen Körper verschmieren. Verdammt, genau das wollte sie eigentlich vermeiden.
    Den Schmerz im linken Bein ignorierend stemmt sie sich auf, stößt sich mit dem rechten Bein ab und segelt mit einem langgezogenen Sprung über den Tekumir hinweg, rammt ihm dabei den Knauf ihres Chutarr in den Kopf, bevor sie sich zusammenkrümmt und abrollt. Begeisterter Applaus und Jubelschreie erschallen von den Rängen, doch Hri nimmt sie nicht wahr. Ungläubig starrt sie auf das Obsidianmesser, das aus den Rippen knapp unterhalb ihrer Zitzen hervorragt. Mit quälender Langsamkeit breitet sich um den Einstich eine dunkelrote Blüte ihres Blutes aus, die schnell Adern und Verzweigungen in ihrem Fell bildet. Natürlich schützen die wenigen Lederriemen ihrer Kleidung, die ihr noch den letzten Rest von Züchtigkeit bewahren, nicht vor Verletzungen, ebenso wie die bunten Stoffbänder, die keinerlei Sinn und Zweck haben, als effektvoll im Wind zu flattern. Man hat ihr gesagt, die Menschen wollten sie am liebsten so spärlich bekleidet sehen. Hri ist das vollkommen egal. Sie würde auch vollkommen nackt in die Arena ziehen, immer darauf bedacht, wegen des nicht vorhandenen Schutzes noch geschickter und geschmeidiger gegnerischen Angriffen zu entgehen.
    Einen solchen Treffer hat sie bisher noch nie erleiden müssen. Hat sie diesen Wicht unterschätzt? Sie fühlt den heißen Wind, wie er ihr unerbittlich den rauen Sand ins Gesicht bläst. Doch was macht ihr Gegner? Ihr Hieb auf seinen Kopf hat gesessen, er liegt regungslos im Staub. Bewegt er sich noch? Atmet er? Der Wind wirbelt Sand umher und zerrt an seinen Lumpen, dazu schreit und brüllt die Menge so laut, dass Hri nicht genau erkennen kann, ob er sich noch regt. Schwer atmend kriecht sie vorsichtig auf dieses stinkende schwarz-klebrige Lumpenbündel zu. Bei jeder Bewegung schickt die Wunde in ihrer Seite Wellen des Schmerzes durch ihren Körper, doch Hri ignoriert sie, ebenso wie das Gebrüll und Gejohle der Menge. Ihr Blickfeld verengt sich vollkommen auf ihren Gegner, in ihren Ohren klingt nur noch ein fernes Rauschen. Es gibt nur noch sie, den Tekumir und den Wind. Hri ist herangekrochen, ihr Kopf schwebt kurz über dem seinen. Sein Schnabel ist leicht geöffnet, die hässlichen gelben Augen starren stumpf ins Leere.
    Hri greift nach ihrem Chutarr, um diese unerfreuliche Angelegenheit endlich zu einem Ende zu bringen, da durchfährt ein eisiger Schauer ihren Rücken. Der Wind hat gedreht. Wie kann es sein, dass der Wind auf einmal so kalt geworden ist? Ihr scheint es, als zöge er sämtliche Wärme aus ihr heraus, den Rücken entlang nach oben, aus ihrem Kopf heraus. Als die Wärme ihre Ohren verlässt, durchläuft ein Dröhnen Hris Kopf, sie bekommt keine Luft mehr und ihr Blick verschwimmt. Hat sie wirklich wahrgenommen, wie im selben Augenblick das Leben in den Blick des Tekumir zurückkehrte? Sie sieht immer weniger, doch ja, tatsächlich, da durchfährt ihn ein Ruck.
    Hri nimmt nur noch schemenhaft wahr, wie er sich aufrappelt und zwei seiner Obsidianmesser in ihren Hals gräbt. Sie nimmt den Aufschrei der Menge wahr. Doch sie schreien nicht ihren Namen. Was rufen sie da? Diesen Namen hat sie noch nie gehört. Die Menge wird sich doch wohl nicht von ihrer Heldin abgewandt haben? Wie kann man nur einem Tekumir zujubeln? Jeder hasst die Tekumir! Hat die Menge sie am Ende gar nicht wirklich geliebt und verehrt? Hat sie als Idol nicht viel getaugt? Hat sie die Menge enttäuscht, die ihr jetzt all ihre Zuneigung entzieht?
    Sie hat die Menge enttäuscht, sie hat Tahat enttäuscht durch ihre Überheblichkeit und ihre allzu große Selbstsicherheit. Und Tahat hat sie mit seinem Wind bestraft.
    Nein, das kann nicht sein. Sie hat Tahats Ehre beschützt und gottgefällig gelebt. Tahat wird sie jetzt zu sich rufen und sie für ihre Leiden und ihr Darben im Diesseits belohnen. Doch warum hat er ein solch ehrloses Ende für sie auserkoren? Und wo sind die leuchtenden freudig singenden Vögel, von denen man erzählt, sie würden die gefallenen Kämpfer ins friedliche und fröhliche Jenseits geleiten? Sie sieht nichts und spürt nichts mehr.
    Ist ihr Schicksal Tahat etwa gleichgültig? Hat sie mit ihrem Tod ihren Zweck erfüllt und es erfolgt gar keine Belohnung? Lebt ein ganzes Volk im Glauben an die Lüge, von einem Gott auserwählt zu sein? Und sind die Chaurr für diesen Gott nichts weiter als ein nützliches Werkzeug? Sie hat Entbehrungen und Schmerzen auf sich genommen und auf jegliche Bequemlichkeit und Freude verzichtet, im festen Glauben, all dies nach dem Tode zu erlangen. Hri bedauert, dass sie nie nach dem Namen dieses stattlichen Kriegers gefragt hat, damals...
    Die Menge johlt und schreit und tobt begeistert.

  • 12
    Firas hatte die Finte zu spät erkannt. Der Tritt seines Gegners traf ihn voll in die Seite, riss ihn von den Füßen; hart fiel er zu Boden. Die Menge schrie auf, teils vor Freude, teils vor Wut. Sein Gegner blickte grinsend auf ihn herab. "Bleib liegen, und es ist vorbei!", riet er ihm, und wahrscheinlich meinte er es nicht einmal böse.
    Aufgeben? Nein! Hastig kam Firas wieder auf die Füße, und nur, wer ihn gut kannte, sah, dass es ihm nicht leicht gefallen war. Aber er dachte jetzt nicht an die Schmerzen, sondern nur an den Sieg. Aufgeben? Niemals! Er würde seinen Stamm, die Luchsschatten-Ishia, hier beim Sommertreffen mit den Leuten vom Grasmeer nicht enttäuschen.
    Die beiden Gegner begannen sich wieder lauernd zu umkreisen. Firas war ein schmaler Bursche. Dies war erst sein vierzehnter Sommer, und bis er seine volle Größe und Kraft erreichte, würden wohl noch ein paar Jahre vergehen. Sein Gegner dagegen war knapp zehn Jahre älter als er, und nicht nur größer, sondern auch schwerer und deutlich breiter in den Schultern. Ein ungleicher Kampf! Aber Firas war im letzten Herbst in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen worden, auf sein eigenes Betreiben hin ein Jahr früher als üblich. Jetzt gab es keine Schonfrist mehr für ihn. Er wollte erwachsen sein? Dann durfte er keine Rücksicht mehr erwarten. Sicher, die Jäger seines Stammes hätten seinem Drängen nicht nachgegeben, wenn er nicht schon als Jüngling außergewöhnliche Zähigkeit und großen Mut bewiesen hätte. Doch der Kampf blieb ungleich, und gerade das ließ die Leute so begeistert mitfiebern. Denn Kraft war nicht alles in einem Duell der Ishia.
    Firas beachtete das Schreien der Menge nicht. Für ihn gab es nur noch seinen Gegner. Wo lagen seine Schwächen? Wie konnte er ihn besiegen? Alles schien gegen ihn zu sprechen, aber Firas war nicht gewillt, sich den Tatsachen zu beugen. Irgendetwas musste es doch geben! Dem anderen wurde die Warterei zu lange. Wieder stürzte er sich in den Kampf, und Firas musste ausweichen. Die Schläge abzublocken war keine gute Idee, das hatte er schon schmerzhaft lernen müssen. Immerhin war er flinker als sein Gegner, doch wie lange noch? Blut rann von einer aufgeplatzten Augenbraue über seine Wange, lief mit jedem keuchenden Atemzug in seinen Mund. Wütend wischte er es mit dem Handrücken weg. Er musste sich stellen, jetzt sofort. Wieder stürzte sich sein Gegner auf ihn, und Firas musste zurückweichen. Verdammt, war denn gegen den gar kein Ankommen? Da endlich sah er eine Lücke. Er täuschte einen Schlag gegen die Magengegend an, gab sich den Anschein, als wolle er alle Kraft hineinlegen. Doch in den Augen des anderen konnte er lesen, dass der die Finte erkannt hatte. Statt den Schlag abzuwehren, der doch nicht kommen würde, schien er lieber auf den tatsächlichen Angriff lauern zu wollen. Dann eben keine Finte! Firas' Mundwinkel kräuselten sich in einem schwachen Grinsen, als er mit voller Kraft zuschlug. Sein Gegner sackte in sich zusammen. Nicht einmal genug Luft für einen Schrei war ihm geblieben. Wie ein Sperber stürzte Firas sich auf ihn, riss ihn zu Boden, und verdrehte ihm die Arme so auf dem Rücken, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als still liegen zu bleiben.
    "Gibst du auf?", zischte Firas ihm ins Ohr.
    Es dauerte eine Zeit, bis sein Gegner genug Luft bekam, um zu sprechen, aber vielleicht musste er sich auch zuerst von dem Schock erholen, von einem halben Knaben besiegt worden zu sein. "Du hast gewonnen", brachte er schließlich über die Lippen, und auch wenn Bitterkeit in seiner Stimme lag, sprach er doch laut genug, dass ihn alle hören konnten. Die Luchsschatten brachen in Jubel aus, doch die Grasmeer-Leute schwiegen.
    Firas genoss noch einen kurzen Moment, dass sein Gegner ihm hilflos ausgeliefert war, dann erhob er sich und half dem anderen sogar, aufzustehen. Noch einmal sahen sich die beiden in die Augen.
    "Du hast gut gekämpft!", gestand der andere schließlich ein. "Ich dachte, ich hätte leichtes Spiel mit dir, aber ich habe mich getäuscht."
    "Danke!" Firas biss sich auf die Lippen, um seine Freude über das Lob nicht zu zeigen.
    Der andere grinste. "Aber ich warne dich. Noch einmal unterschätze ich dich nicht!"
    Es war ein Spaß und doch lag auch Ernst darin. Sollten sich die beiden Stämme jemals im echten Kampf gegenüberstehen, würde Firas sich in Acht nehmen müssen. Aber es blieb ihm keine Zeit mehr, solchen Gedanken nachzuhängen, denn nun drängten seine Freunde und Verwandten heran, um den jungen Sieger zu beglückwünschen, und wenig später kamen die Grasmeer-Leute dazu. Es war ja nur ein freundschaftlicher Wettkampf gewesen, und auch wenn sie lieber ihren eigenen Mann siegen gesehen hätten, war es doch ein guter Kampf gewesen, und sie wussten Können und Wagnis anzuerkennen.
    Da drängte sich ein kleiner Junge nach vorne, blieb dann aber plötzlich wie von Ehrfurcht gepackt stehen.
    Lachend zog Firas ihn zu sich heran, legte ihm den Arm um die Schulter. "Hast du etwa Angst vor mir?", neckte er den Kleinen.
    Der drückte sich nur eng an seinen großen Bruder. "Ich hab den ganzen Kampf beobachtet!", sprudelte es aus ihm heraus. "Wenn ich so groß bin wie du, dann will ich auch so gut sein."
    Firas lächelte, als der Kleine ihn voller Ernst ansah. "Das wirst du - wenn du immer schön fleißig übst!"
    "Ach, du klingst schon so wie Vater."
    "Vielleicht, weil er recht hat? Aber jetzt lauf, Shay, ich will noch mit ein paar Leuten reden."
    Maulend zog der Kleine ab.
    Später am Abend fanden sich die jungen Jäger - Männer wie Frauen - beider Stämme auf einem Hügel außerhalb des Lagers ein, wie sie es jeden Abend seit Beginn des Treffens getan hatten. Weiter oben stand der große Stein, dem schon seit Anbeginn der Zeiten magische Kräfte zugeschrieben wurden. Vier Gesichter blickten in die vier Himmelrichtungen, Gesichter, die keinem Menschen glichen, den Firas jemals gesehen hätte. Es hieß, dass in dem Stein vier mächtige Geister wohnten. Deswegen wurde das Lager beim Sommertreffen immer ein Stück weit entfernt aufgeschlagen. Nur für die jungen Leute war es so etwas wie eine Mutprobe, sich im Schatten des Steins zu treffen - aber ganz trauten sie sich dann doch nicht hin.
    Bei aller Rivalität war es schon lange her, dass es Krieg zwischen den Grasmeer-Ishia und den Luchsschatten gegeben hatte, und so genossen die jungen Leute die Gelegenheit, Zeit miteinander zu verbringen, alte Freundschaften von vergangenen Treffen wieder aufzunehmen und vielleicht auch die einen oder anderen zarten Bande zu knüpfen. Hier und da sah man, wie einer einem anderen die langen Haare zu kunstvollen Frisuren flocht, und oft steckte mehr dahinter als reine Freundschaft. Das Gespräch drehte sich zuerst um die Ereignisse des Treffens - auch der Kampf vom Nachmittag wurde ausgiebig besprochen, und Firas konnte sich noch einmal in der Bewunderung seiner Kameraden sonnen - , doch allmählich wandte man sich mehr der Zukunft zu.
    "Habt ihr euch schon überlegt, was ihr diesen Sommer machen wollt?", fragte einer der Grassmeer-Krieger.
    Mani, die trotz ihrer Jugend bei den Luchschatten schon einiges an Ansehen genoss, zuckte die Achseln. "Nichts Bestimmtes. Vielleicht den einen oder anderen Überfall."
    "Habt ihr schon ein Ziel ins Auge gefasst?"
    Sie schüttelte den Kopf. "Nein, und ihr?"
    "Auch noch nichts Bestimmtes. Wir werden sehen."
    Jetzt mischte Firas sich ein. "Was ist mit dem Dorf am Dreistrudelbach? Dort soll sich im letzten Winter ein Eisenschnitzer niedergelassen haben."
    Zustimmendes Gemurmel war die Antwort. Eisenschnitzer, das war das Wort, das die Ishia für einen Schmied gebrauchten. Sie, denen selbst die Kenntnisse fehlten, wie man Metalle bearbeitete, wussten die Erzeugnisse dieser Handwerker durchaus zu schätzen. Aber die einzige Möglichkeit, an sie zu kommen, war ein Überfall. Die Völker, die südlich der Ishia lebten, hätten wahnsinnig sein müssen, wenn sie ihren Erzfeinden Waffen freiwillig überlassen hätten. Ein Eisenschnitzer - ja, das war ein lohnendes Ziel.
    Mani aber unterbrach die Gedankenspiele mit einer wegwerfenden Geste. "Vergiss es! Kutosh und Ikda waren erst vor ein paar Wochen dort. Die Schlammschaufler sind vorsichtig geworden. Sie wissen, was wir planen, und haben eine große Anzahl ihrer Krieger dorthin geschickt. Sie sollen sich sogar steinerne Hütten gebaut haben. Über das Thema wurde gesprochen, und wir waren uns alle einig, dass ein Angriff dort unmöglich ist - zumindest dieses Jahr!"
    Für die anderen war das Thema damit erledigt, doch Firas ließ nicht locker. "Ich habe selbst gehört, was die beiden berichtet haben, aber ich denke trotzdem, dass ein Angriff erfolgreich sein könnte."
    "So? Denkst du?" Mani war sichtlich verärgert. "So wie du gedacht hast, einen Krieger im Zweikampf herausfordern zu können, der deutlich stärker ist als du?"
    "Ich hab gewonnen, oder nicht?"
    "Du warst nicht schlecht, ja. Aber es war nur Glück, dass du überhaupt so lange durchgehalten hast."
    "Glück. Pah!"
    "Mach erstmal bei ein paar Raubzügen mit, dann gestehe ich dir eine eigene Meinung zu. Jetzt aber kann es dir nicht schaden, einmal auf die erfahreneren Krieger zu hören. Es geht nicht, schlag es dir aus dem Kopf!"
    "So unerfahren bin ich jetzt auch nicht…"
    "Du?" Mani lachte spöttisch. "Du warst doch noch nie bei einem Überfall dabei. Du kennst nur die Jagd!"
    "Was macht das für einen Unterschied, ob man sich an ein Reh anschleicht oder an einen Menschen?"
    "Dass Rehe nur selten bewaffnet sind!"
    Ein paar der anderen lachten, und Mani nutzte ihre Gunst, um Firas in seine Schranken zu verweisen. "Eigentlich bist du ja sowieso noch zu jung. Statt einen Überfall zu planen, solltest du noch mit den Kindern spielen. Dein Vater sollte dir eine Tracht Prügel verpassen - wegen Dummheit!"
    Firas kochte vor Wut. "Mein Vater hat mir gar nichts mehr zu sagen. Ich bin ein Krieger, genau wie du!"
    Mani wischte seinen Zorn mit einer nachlässigen Geste beiseite. "Ja, leider."
    Wieder hatte sie die Lacher auf ihrer Seite!
    Firas erhob sich von seinem Platz. Er zog die Augenbraue hoch, ein arrogantes Grinsen auf den Lippen. "Ja, lacht ihr nur. Aber ich werde derjenige sein, der bald eiserne Pfeilspitzen besitzt. Ihr werdet es schon noch sehen. Es hat ja auch keiner geglaubt, dass ich den Kampf heute gewinnen würde, nicht wahr?"
    Er wandte sich zum Gehen, doch Sukuay, einer der Grasmeer-Leute, rief ihn zurück.
    "Moment mal, Firas, willst du den Eisenschnitzer wirklich überfallen?"
    Firas grinste. "Naja, es ist schon recht riskant…" sagte er gedehnt.
    "Hast du schon einen Plan?"
    "Sagen wir, ich habe eine Idee… für einen echten Plan müsste ich mir die Gegend erst mal ansehen. Allerdings bräuchte ich schon ein paar gute Krieger, um das durchzuziehen…"
    "Nimmst du mich mit?" Sukuay war auf einmal Feuer und Flamme.
    "Klar!"
    "Ich komme auch mit!"
    "Und ich!"
    "Und ich!"
    Firas grinste Mani an. "Willst du auch mitkommen? Natürlich unter meiner Führung…"
    Mani schnaubte nur und drehte sich zu einer Freundin an. Sie war zu stolz, um den Hügel zu verlassen, doch sprach sie den ganzen Abend kein Wort mehr, während hinter ihr lebhaft diskutiert wurde.
    Zwei Wochen später starrte Firas missmutig hinüber zum Dorf des Eisenschnitzers. Gleich nach dem Ende des Sommertreffens waren sie aufgebrochen, fünf Krieger der Luchsschatten, zwei Grasmeerleute, aber keiner von ihnen älter als 17 Sommer. Firas war der jüngste unter ihnen, natürlich, aber bis jetzt hatten sie seine Befehle akzeptiert. Er hatte die Idee gehabt, er war der Anführer. Nur leider hatte er bis jetzt noch keinen Erfolg gehabt. Schon seit vier Tagen waren sie nun hier!
    Im Morgengrauen hatten sie den ersten Versuch gewagt. Doch wie Kutosh und Ikda berichtet hatten, hatten die Schlammschaufler eines ihrer befestigten Lager direkt neben dem Dorf errichtet, mit einer Mauer aus Stein. Wichtiger aber war der Turm, der sich am höchsten Punkt erhob. Schnell hatten sie lernen müssen, dass er immer besetzt war. Kaum hatten sie den schützenden Wald verlassen, wurden sie entdeckt, rief die eherne Glocke, die dort oben hing, mit dröhnenden Schlägen die Soldaten herbei - und dann war jeder Angriff zwecklos, angesichts der himmelhohen Übermacht ihrer Gegner von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Nicht einmal des Nachts waren sie nahe genug herangekommen.
    Brütende Hitze lag über dem Land und verstärkte die gereizte Stimmung in ihrem kleinen Lager noch. Firas musste sich schleunigst etwas einfallen lassen, wollte er nicht vor zwei Stämmen das Gesicht verlieren. Doch es war wohl schon zu spät, denn eben erhob sich Sukuay und kam herüber zu ihm. Die anderen sahen ihm skeptisch nach. Ob er schon mit ihnen gesprochen hatte? Firas starrte lieber wieder hinüber zu dem Dorf, das nun scheinbar vollkommen friedlich in der Mittagshitze lag.
    "Was ist jetzt mit deiner Idee?", kam Sukuay ohne Umschweife zur Sache. "Die anderen glauben nicht mehr daran. Sie sagen, du hättest dich nur wichtig machen wollen."
    Firas starrte ihn wütend an, sagte aber nichts. Der besänftigende Tonfall des anderen ärgerte ihn.
    "Ich denke, du hast wirklich daran geglaubt, das hier schaffen zu können. Aber es ging eben nicht. Wenn du meinen Rat annimmst, dann gib es besser gleich zu. Je länger du die anderen hinhältst, desto wütender werden sie sein."
    "Aufgeben? Lehren uns die alten Lieder nicht, dass es eine Schande ist, aufzugeben?"
    Sukuay verzog das Gesicht als hätte er etwas Verdorbenes gegessen. "Auch du wirst noch lernen, dass zwischen dem, was die Lieder erzählen, und dem wirklichen Leben ein Unterschied ist."
    "Das werde ich nicht! Das will ich gar nicht lernen!" Firas machte eine verächtliche Handbewegung, doch Sukuay lächelte nur.
    "Ja, vielleicht wirst du das tatsächlich nicht!" Er seufzte. "Trotzdem sollten wir jetzt aufbrechen, wenn wir den Unterschlupf am Hummelberg noch erreichen wollen, bevor das Gewitter losbricht. Der Himmel sieht übel aus."
    "Was sagst du da?"
    Sukuay sah ihn an, als hätte er einen Geistesschwachen vor sich. "Da drüben, der Himmel. Wir haben hier bald ein Unwetter, wie man es selten sieht."
    Tatsächlich hatte der Himmel eine schmutzig gelbe Farbe angenommen. Dunkle Wolken türmten sich am Horizont.
    "Ja, du hast recht…" Firas ließ nachdenklich den Blick wandern.
    "Also sage ich den anderen, dass wir aufbrechen?"
    "Was? Nein, natürlich nicht!"
    "Aber du hast doch gerade…"
    "Hol sie her! Ich werde euch sagen, was wir machen!"
    Wenige Augenblicke später jagte Firas, tief über den Hals seines Pferdes gebeugt, nach Norden davon. Schon beugten die ersten Windstöße das Gras. Ihm blieb wenig Zeit. Sollte sein Plan funktionieren, musste er den Feuerpinienwald auf der anderen Seite des Dorfes erreicht haben, wenn das Gewitter kam - und niemand durfte ihn dabei sehen!
    Im Westen zuckte der erste Blitz nieder, und Firas zählte nervös die Sekunden bis zum Donner. Es waren weniger als gehofft, viel weniger. Aber konnte er es wagen, jetzt schon den Bogen zu schlagen? War er schon weit genug vom Dorf entfernt? Kurzentschlossen riss er sein Pferd herum, ließ es nun im weiten Bogen nach Westen jagen, den schwarzen Wolkentürmen entgegen!
    Als er endlich den Feuerpinienwald erreichte, hatte sich eine vorzeitige Nacht über das Land gelegt. Ein geisterhaftes Dämmerlicht war alles, was geblieben war, doch immer öfter erhellte der Schein eines Blitzes für ein Augenzwinkern die Welt in schmerzhafter Klarheit. Fauchende Böen peitschten durch die ausgetrocknete Steppe.
    Mit fliegenden Fingern band Firas sein Pferd an einem der ersten Bäume fest. Nervös riss es den Kopf hoch, verdrehte die Augen, bis das Weiße zu sehen war, doch Firas hatte nur kurz Zeit, um ihm beruhigend die Hand auf die Nüstern zu legen, ihm ein paar besänftigende Worte zuzuflüstern. Es half - ein bisschen - aber mehr konnte er im Moment nicht tun. Er rannte durch das kleine Wäldchen, bis er den anderen Rand erreichte. Hatte ihn jemand gesehen? Nein, die Glocke blieb stumm! Doch wieviel Zeit blieb ihm noch? Er konnte es nicht sagen! Ständig, so schien es ihm, standen nun zwei oder drei Blitze gleichzeitig am Himmel, und der Donner war in ein einziges, anhaltendes Krachen übergegangen. Doch noch konnte er keine Blitze jenseits des Dorfes sehen. Ein bisschen noch! Firas lächelte. Das war wirklich ein Gewitter, wie man es selten erlebte, und es hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können. 'Du hattest nur Glück!', meinte er Manis spöttische Stimme zu hören. "Na und?", rief er gegen den Sturm. "Immerhin bin ich hier, um dieses Glück zu nutzen, und du nicht!" Doch halt, bevor er seinen Sieg auskosten konnte, musste er noch tun, wofür er gekommen war!
    Hastig öffnete er den Behälter an seinem Gürtel, wo auf feuchtem Zunder ein Stück Kohle vom Lagerfeuer langsam vor sich hin glühte. Schnell häufte er ein paar trockene Nadeln auf, setzte sie mit der Kohle in Brand und wenig später hatte er eine improvisierte Fackel aus einem dicken Ast. Ein letzter Blick, ja, das Gewitter stand jetzt genau über ihm. Ein paar atemlose Momente wartete er noch, bis ein Blitz hinter dem Wald einschlug, dann hielt er die Fackel an eine der ausgetrockneten Pinien. Dicke Harztropfen tränkten die Rinde und sofort liefen bläuliche Flammen den Stamm hinauf. Schnell ging er zu einem zweiten Baum, einem dritten, einem vierten, doch als er sich dann umsah, stand der erste schon in lodernden Flammen, ein deutliches Signal für seine Kameraden. Ja, die Feuerpinie trug ihren Namen nicht zu unrecht. Einen Moment noch blieb er stehen, genoss den Augenblick des Triumphes, während schwarze Rauchschwaden auf das Dorf zutrieben, schon begannen, den Turm einzuhüllen. Jetzt hatte auch das Gras zwischen Dorf und Wäldchen Feuer gefangen. Die Turmwache würde andere Sorgen haben, als nach den jungen Ishia auszuspähen!
    Ein bedrohliches Knacken über ihm ließ ihn herumfahren. Wollte er hier noch lebend herauskommen, musste er sich beeilen. Auch so fühlte er sich halb geröstet, als er endlich sein Pferd wieder erreichte. Der Rauch nahm ihm die Luft, und von Hustkrämpfen geschüttelt gelang es ihm nicht, den Knoten zu lösen, mit dem er das Tier festgebunden hatte. Schließlich zog er sein Messer und schnitt die Riemen durch. Wenig später jagte er schon wieder über die Ebene, sog gierig die frische Luft ein. Die Zeit der Heimlichkeit war vorbei, und so ritt er auf direktem Weg zurück zu ihrem Lager.
    Als der Regen kam, hatte er den Weg schon halb zurückgelegt. Zuerst waren es nur ein paar dicke Tropfen, dann öffnete der Himmel seine Schleusen, und ein Wolkenbruch ging herab. Die Wassermassen würden das Feuer schnell löschen, aber das war jetzt egal, denn auf einmal erblickte er neben sich ein paar Reiter. Zwei, drei, sechs! Sie waren alle da! Sie trieben Vieh vor sich her, und jetzt konnte er auch die Säcke mit Beute erkennen, die über ihren Sätteln lagen. Sie hatten es geschafft! Jubelnd stimmte Firas in ihr Triumphgeheul ein, während hinter ihm endlich die Warnglocke ertönte. Zu spät! Zu spät! Zu spät! so hallte ihr Klagelaut über das Land!

  • 13
    Das Läuten der Glocken drang durch die kalte Luft zu Jaman hinüber. "Los jetzt!", schienen sie ihn anzuschreien, anzufeuern und anzutreiben.
    Menschen schrien wild durcheinander, vorwiegend Männer, die versuchten, das Feuer zu löschen. Das Glockengeläut sollte die Einwohner warnen. Vor dem Feuer, vor den Räubern, vor der Gefahr. Für Jaman war es nun lediglich ein Signal. Nur von weitem konnte er die Flammen am anderen Stadtende an den Häusern lecken sehen. Ein Haus war schon weitgehend in sich zusammengefallen, die Dachbalken lagen mitten im Raum und glühten weiter. Kurz verspürte Jaman Mitleid und begann zu hoffen, dass das Feuer nicht die ganze Stadt fraß. Doch schnell hatte er dieses Gefühl verdrängt. Man hatte es ihn jahrelang gelehrt, regelrecht eingeprügelt: Kein Mitleid. Niemals! Nur wer hart ist, wird überleben.
    Es sollte sein Signal sein. Die Ablenkung war geglückt. Bald würden alle Einwohner damit beschäftigt sein, die Flammen zu ersticken, und das würde seine Zeit dauern. Trotzdem musste er sich beeilen. Sein Auftraggeber würde keinen Fehler verzeihen. Und für ihn ging es nicht gerade um wenig. Wenn alles klappte, würde er fürstlich entlohnt werden und müsste sich erstmal keine Sorgen um sein weiteres Auskommen machen.
    "Wenn die Glocken läuten, musst du gehen. Dann werden bald alle auf den Beinen sein, und du musst diese Chance nutzen. Erlaub dir bloß keine Fehler, sonst wirst du dir wünschen, nie geboren worden zu sein!" Das hatte er gesagt. Chaer Pinti. Jaman ließ sich diesen Namen auf der Zunge zergehen. Nach den Motiven dieses Mannes brauchte man nicht lange zu fragen. Die Feindschaft zwischen Pinti und dem Kartografen Rhiav war öffentlich bekannt. Alle wussten, dass Kelvin Rhiav ein absolut störrischer und arroganter Eigenbrötler war, leider mit einem unleugbaren Talent. Und Chaer Pinti auf der anderen Seite, erzkonservativ und altehrwürdiger Gelehrter, der die alte Schule vergötterte. Zwei Personen trafen aufeinander, und zwei verschiedene Vorstellungen: Pintis Lehre von der Scheibe und Rhiavs Vorstellung von der Halbkugel. So gegensätzlich wie es nur geht.
    Jaman schüttelte diese Gedanken ab und versuchte, sich zu konzentrieren. Die Luft roch verbrannt, und der Himmel war schon verdeckt von dunklem Rauch. Er musste jetzt los, sonst würde es bald zu spät sein. Geschmeidig wie eine Katze löste er sich aus dem Häuserschatten, in dem er sich verborgen hatte, um abzuwarten. Stockfinster war es gewesen, und kalt, doch auch auf der Gasse war es nicht viel wärmer. Er musste nach links gehen, das wusste er, und dann bis zum letzten Haus, das direkt am Hügel lag. Dort wohnte Rhiav. Alleine, und nahe bei besagtem Hügel, von dem aus er jede Nacht die Sterne studierte. Jaman blickte bei diesem Gedanken nach oben, doch die Sterne waren nicht mehr zu sehen. Alles war voll Rauch, der vom anderen Ende der Stadt, wo das Feuer wütete, heranzog.
    Da es schon lange nach Mitternacht war, erwartete Jaman, dass sich Rhiav in seinem Haus aufhielt. Und weil der Himmel vom Rauch verdeckt war, könnte er ohnehin nicht die Sterne studieren. Außerdem hätte er Rhiav von seinem Beobachtungsposten aus gesehen, hätte dieser das Haus verlassen. Jaman lief weiter, immer darauf bedacht, dass ihn niemand sah. Immer wieder blieb er im Schatten stehen und wartete, um Begegnungen mit Fremden zu vermeiden, die ihn eventuell später wiedererkennen könnten.
    Er sah niemanden. Und niemand sah ihn. Er erblickte Rhiavs Haus und näherte sich von der hinteren Seite. Dort wucherten ein paar Büsche, und Jaman biss sich kräftig auf die Unterlippe, als ein trockener Stock unter seinem Tritt zerbrach. "Was für ein dummer Fehler, sowas wird noch dein Verhängnis!", schimpfte sich der Junge selbst, schlich aber gleich weiter. An den Büschen vorbei gelangte er lautlos zur Ecke des Hauses und sah in die Richtung des einzigen Fensters. Simple Fensterläden aus Holz verdeckten die Öffnung. Jaman kam langsam näher.
    Das Haus lag etwas abseits von den übrigen Gebäuden, die den Rand Tlahas bildeten. Es war still hier, das Geläut der Glocken war nicht mehr sehr intensiv zu hören. Der Rauch war aber schon bis hierher gezogen, es roch nach Feuer und verkohltem Holz. Jaman näherte sich den Fensterläden. Von drinnen drang kein Kerzenlicht nach draußen, kein Laut war zu hören, aber Jaman war sich eigentlich sicher, dass Rhiav hier war. Denn welchen Grund hätte er gehabt, sein Haus zu verlassen? Noch auf dem Hügel sein konnte er nicht, der Himmel war mittlerweile zu bedeckt, um noch Sternenkunde zu betreiben, und auch sonst war Rhiav niemand, der sich unter das gemeine Volk mischte. Er war den ganzen Tag nur mit seinen Lehren beschäftigt, da blieb keine Zeit, noch in Tlaha herumzulaufen.
    Jaman äugte vorsichtig durch ein Loch im Holz des rechten Fensterladens. Er sah nur Schwarz. Nichts zu hören, nicht zu sehen. Er lief an der Wand entlang und sah sich an der nächsten Ecke des Hauses wiederum um. Niemand war in der Nähe, er konnte sich also ungesehen ins Haus schleichen. Als er an der einfachen Holztür stand, zögerte er kurz. Er warf einen weiteren Blick in die Richtung der nächsten Häuser, dahin, wo das Feuer immer noch wütete, und zum Hügel. Es kam niemand. Er war hier ganz allein. "Das ist die Chance!", rüttelte sich Jaman selbst auf. "Jetzt geh endlich!"
    Mit vollkommen ruhiger Hand griff er zur Tür, obwohl er innerlich zitterte. Das Schloss war kein Hindernis für ihn. Er hatte oft genug geübt, wie man Schlösser öffnet, ohne Spuren der Gewalt zu hinterlassen. Vollkommene Dunkelheit umfing ihn, als er die Tür gerade soweit aufstieß, dass er sich hindurchzwängen konnte. Auf dem Tisch neben ihm konnte Jaman schemenhaft einen Kerzenständer ausmachen. Er holte seinen Zündstein aus der Tasche, atmete tief durch, und kurz darauf war er von einem weichen Schein umgeben. Er schloss die Tür.
    Und er hatte falsch gelegen, obwohl er sich so sicher gewesen war, Rhiav zu Hause anzutreffen. Das Haus war vollkommen verlassen. Die Tische frei, die vielen Truhen verschlossen. Das war genau das Bild, das Jaman erwartet hatte. Ihm war Rhiav als ein äußerst penibler Mensch beschrieben worden, der die Ordnung liebte.
    "Wie auch immer", murmelte Jaman sich zu und konzentrierte sich voll und ganz auf das, was ihm aufgetragen worden war. Die Schrift zu finden, mit der sich Rhiavs ketzerisches Gedankengut beweisen ließ. Es war immer noch vollkommen still draußen. Jaman wusste nicht genau, wo sich diese Schriften befanden. Aber wenn er seinem Gefühl trauen sollte, dann waren sie sicher nicht offensichtlich aufbewahrt.
    Ganz hinten in der dunkelsten Ecke stand eine schwere Holztruhe, die zwar nicht sehr wertvoll, aber stabil aussah. Sie war mit einem Schloss gesichert. Jaman zückte sein Messer und versuchte, das Schloss und damit die Truhe zu öffnen. "Verdammt!" Er fluchte laut, als er abrutschte und sich in die linke Hand schnitt. Das Blut ableckend, lauschte er, ob sich draußen etwas tat. Doch immer noch war es ruhig.
    Er versuchte es erneut. Nichts tat sich. So oft hatte er schon Schlösser geknackt, er hatte so viel Erfahrung, und jetzt sollte er an diesem einen lächerlichen Ding scheitern? Seine Stirn war schweißnass und das Blut an seiner Hand schon weitgehend trocken, als es endlich knackte und die Truhe sich vor ihm öffnete. Voller Erwartung hielt er die Luft an und schaute hinein. Leer. Die verdammte Truhe war vollkommen leer.
    In sich hinein fluchend drehte Jaman sich zu der nächstliegenden Truhe hin. Diesmal dauerte es nicht ganz so lange, bis das Schloss geöffnet war. Er riss den Deckel hoch und sah sich einem ganzen Haufen Karten gegenüber, die alle verschiedene Landschaften zeigten. Es war nicht das Schriftstück dabei, das er suchte. Also zur nächsten Truhe. Zwei waren noch verschlossen. Er entschied sich für die, die näher an der Tür stand, einfach aus Gefühl, und diesmal knackte er das Schloss bereits nach einem kurzen Augenblick.
    "Volltreffer!", dachte er. Die Truhe enthielt verschiedene Schriftstücke. Jetzt musste er nur noch das richtige finden. Jaman fühlte sich seinem Ziel ganz nahe. Er begann, eins nach dem anderen zu überfliegen. Er konnte zwar nicht besonders gut lesen, aber es reichte, um ein paar bestimmte Wörter zu entziffern, die eine Schrift als die Schrift entlarvte, die er mitnehmen sollte. Die ersten fünf waren allgemeine Texte, nicht das, was er brauchte. Jaman arbeitete sich durch und begann wieder zu schwitzen. Die Kerze direkt neben sich, musste er aufpassen, dass das Pergament kein Feuer fing. Trotzdem war es schwer, in so dunkler Umgebung zu lesen.
    Jaman las und las und fand einfach nicht das richtige. Dennoch faszinierten ihn die Texte, sie fesselten ihn und insgeheim fragte er sich, wieso Rhiav zum Ketzer abgestempelt werden sollte, wo doch seine Argumentationen so plausibel waren? Er verlor sich richtig in einem Stück; es fiel ihm schwer, alles zu verstehen, aber es klang so interessant, wen interessierte schon Chaer Pinti, der hatte keine Ahnung, diese ganzen Fanatiker nicht, und außerdem…
    Plötzlich hörte er Stimmen. Erschrocken fuhr Jaman hoch. Wie lange saß er nun schon hier und starrte auf den Text in seiner Hand? Die Kerze war schon fast heruntergebrannt. Dazu kamen nun Hufe, ein Reittier setze sich in Bewegung und es kam näher! Die einzigen, die solche Reittiere besitzen durften, waren der König und seine Bewacher, die Stadtwächter und ein paar Adlige. Jaman zitterte, als er leise weiterwühlte und die Schriften panisch überflog. Er spürte intuitiv, dass er sich dem näherte, dass er suchte. Das Hufgeklapper wurde lauter. Nur finden musste er es jetzt noch. Sie kamen näher. Sein Herz setzte aus, als er die Wörter las, die ihm Pinti eingebläut hatte. "Halbkugel", "mittige Erhebung", "keine Scheibe", "alles Lüge", "fanatische Spinner"… das musste es sein. Das Geräusch der Hufe war immer noch nicht verklungen, die Stimmen kamen jetzt am Haus vorbei. Jaman schloss die Augen. Wenn ihn jetzt jemand fand, war alles vorbei, vor allem, wenn ein Stadtwächter dabei war! Immerhin war er unerlaubt in ein fremdes Haus eingedrungen! Die Hufe waren betäubend laut, Jaman fühlte sich, als würde er mit dem Boden beben, innerlich sowie äußerlich. Sie kamen näher. Die Stimmen verstummten zwar, aber die Hufe nicht. Plötzlich entfernten sie sich, es wurde leiser. Jaman atmete auf. Noch immer dröhnten seine Ohren, doch Jamans Herzschlag beruhigte sich.
    Das Hufgeklapper war gerade so weit weg, dass Jaman es nicht mehr hören konnte. Da öffnete sich die Tür ruckartig und der Junge blickte direkt in die Augen Rhiavs. Nach einem Moment der absoluten Stille hörte er nur die entfernt in sich zusammenfallenden Häuser, Dächer, Holzbalken … die Stimme des Mannes kam nicht bei Jaman an. Er sah Rhiavs schreiende Mundbewegungen, doch in seinen Ohren tosten die Geräusche des Brandes … Balken brachen und Rhiav schrie ihn tonlos an.

  • 14
    Merval saß senkrecht auf seiner Schlafmatte und hatte Panik. Um ihn herum barsten hölzerne Zeltstangen, das Zeltleder stürzte auf ihn herab. Wie barsten Zeltstangen ohne Grund? Es musste sich um Magie handeln! Und was geschah mit der Felswand, an der das Zeltdorf stand? Zum Geräusch der berstenden Zeltstangen gesellte sich jenes herabstürzender Felsen.
    Was war mit Cadime, seiner Gemahlin, Kitas, seiner Erstgeborenen? Sie waren nicht im Zelt.
    Kein Laut war von den Mitgliedern des Stammes zu hören, niemand schrie, kein Kind weinte. Nur die Felsen polterten herab. Merval raffte sich auf, umschlang sich mit einem Bettdeckentuch und rannte aus dem Zelt. Die Felsen schienen sein Zelt nicht zu erreichen, es war zu weit in der Wüste.
    "Fürst Merval, unbekleidet und ängstlich … wie erbärmlich!"
    Merval drehte sich um und sah den Sprecher knapp vor seinem Zelt stehen. "Fürst Miga Selcai", stellte er bitter fest.
    "Ihr kennt mich also", sagte Selcai und trat näher. Seine türkisgrünen Haare glänzten im Mondlicht.
    Merval trat seinerseits näher. "Ich kenne Euch", bestätigte er.
    Selcai lächelte. "Ihr könnt weiterleben, Fürst Merval", sagte er, "jedoch nicht als Fürst."
    Merval zog die Brauen zusammen und entgegnete dem Blick der roten Augen: "Ihr wollt Eurem Stamm einen weiteren hinzufügen, doch das ist nicht so leicht, wie ihr hoffen mögt."
    "Aber es ist leicht, Miga Cadime und Kitas zu töten", flüsterte Selcai, "vergesst das nicht! Eure Gemahlin kann mir wenig entgegensetzen."
    Merval schloss die Augen. Lebten sie überhaupt noch?
    "Entscheidet! Cadime und Kitas oder die Fürstenwürde!"
    Und den Stamm Selcai zu überlassen? Aber doch … Merval hatte sich entschieden. "Cadime und Kitas", sagte er leise.
    "Dann unterzeichnet!", verlangte Selcai und reichte ihm Papier und Feder. Merval tat es. "Ich danke Euch!", sagte Selcai lächelnd, nahm entgegen, was ihn zum Fürsten der Schagon machte, und teleportierte sich fort.
    ***
    Merval lief zwischen zerstörten Zelten und Felsen umher, fand immer wieder zerschmetterte Körper. Doch Cadime und Kitas fand er nahezu unverletzt.
    "Cadime", flüsterte er und schüttelte sie, "Cadime, wir müssen gehen!"
    "Sie brauchen uns", verneinte Cadime.
    Merval schüttelte traurig den Kopf. "Der Fürst der Neltane war hier", sagte er, "ich bin jetzt kein Fürst mehr."
    Cadime griff sich an die Stirn. "Merval! Wer stellt sich ihm entgegen?", fragte sie. "Schon damals konnte er fast alles tun, was er wollte. Wie wird das jetzt, wo er nicht den kleinsten Fehler wiederholen wird?"
    "Wir können uns ihm entgegenstellen", sagte Merval, "nur sind wir jetzt hilflos. Wir sind in Gefahr, Cadime, wir müssen gehen!"
    Cadime setzte sich auf und achtete darauf, dass Kitas an ihrem Körper blieb. Dann musterte sie Merval mit ihren dunkelblauen Augen. "Zieh dich an, du bist fast nackt!", stellte sie fest. Gemeinsam gingen sie zum Zelt. "Du hast ihn gesehen", sagte Cadime dann, "wie sieht er aus?"
    "Wie man es sich erzählt", murmelte Merval, während er Hose und Hemd anzog. "Er sieht nicht wirklich ungewöhnlich aus, wenn man sachlich bleibt."
    "Nur weiß jeder, dass er es damals war, der die Insel unter seine Herrschaft bringen wollte", nickte Cadime. "Ich wurde damals von den anderen Kindern für meine Haarfarbe verspottet. Du weißt, deshalb sind meine Haare nun rot."
    Merval klopfte den Sand aus den Schuhen und schlüpfte hinein. Cadime legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Wohin sollen wir gehen?", fragte sie, "ich war noch nicht an vielen Orten."
    "Dinantera", sagte Merval.
    Cadime nickte und tippte mit der Fußspitze in den Sand.
    ***
    Merval sah sich in der Stadt um. Leuchtkugeln hingen an Seilen zwischen den teilweise vier oder gar fünf Stockwerke hohen Gebäuden. Hier in Dinantera hätte sein Stamm mehrfach Platz.
    Nein, nicht mehr sein Stamm … Selcais Stamm.
    Cadime sah ihn an. "Wir sind nicht sicher, Merval", sagte sie, "aber ich weiß einen Weg, wie wir uns verstecken können."
    "Welchen?", fragte Merval.
    Cadime lächelte und zog ihn hinter sich her. Merval folgte ihr, voller Staunen über all diese riesigen Bauten in der Hauptstadt von Varisaland. Schließlich standen die beiden vor einer breiten Brücke, die von Soldaten bewacht wurde. Cadime ging zu einem.
    "Verzeiht", sagte sie in der Sprache der Varisaländer. "Wir wünschen, den Bergbezirk zu betreten. Ist dies gestattet?"
    Der Wächter schlug sein Listenbuch auf und nahm die Feder hinter seinem Ohr hervor.
    "Ich trage den Namen Terea, dies ist Naerian und unsere Tochter heißt Anivi", erklärte Cadime. Der Wächter schrieb die Namen nieder und bedeutete ihr und Merval, die Brücke zu überqueren.
    "Sehr gesprächig", murmelte Merval.
    Cadime führte ihn die Straße entlang und trat schließlich in einen wild von allerlei Pflanzen durchrankten Park. "Wo sind wir hier?", flüsterte Merval. "Was ist das?" Cadime ging weiter, und wenig später erkannte Merval eine kleine Hütte.
    "Das ist das Haus von Miga Auris Meschesta", sagte sie leise, "oder vielmehr, es ist das Haus ihres Zauberkessels." Sie hob ihre Hand und berührte den in die Türe eingelassenen Kristallsplitter.
    Es dauerte nicht lange, und eine uralte, weißhaarige Frau öffnete die Türe. Sie trug den gelben Regenbogen, das Zeichen der Schmetterlingsfeen, auf der Stirn. Ihre gelben Augen musterten Cadime, Merval und Kitas. "Cadime, du bist ja erwachsen geworden!", stellte Meschesta entzückt fest. "Es ist so viele Jahre her!"
    "Miga Meschesta, ich war zwölf, als ich Euch zuletzt sah", sagte Cadime. "Dies sind mein Gemahl Merval und unsere Tochter Kitas."
    "Die kleine Kitas", murmelte Meschesta und strich dem Säugling über das Gesicht. "Sie ist ein sehr schönes Kind, ganz wie es ihre Mutter war." Die alte Magierin hob eine Braue und lächelte. "Aber du bist nicht deswegen mitten in der Nacht hier."
    "Nein, Miga Meschesta", seufzte Cadime. "Selcai nahm Merval die Fürstenwürde, wir suchen nun Schutz."
    "Ich bin erstaunt, dass Selcai ihn leben ließ", sagte Meschesta. "Doch es heißt, er wäre auch früher unberechenbar gewesen. Kommt herein!"
    Cadime und Merval folgten der Aufforderung und traten in die kleine Hütte. Meschesta griff in ein Regal und nahm drei kleine Flaschen heraus, eine öffnete sie sogleich. Einen kleinen Teil der Flüssigkeit zog sie in eine Pipette.
    Cadime öffnete Kitas' Mund mit einem Finger, und Meschesta ließ den Trank hineintropfen. Einen Augenblick lang geschah nichts, dann begann das Kind zu schrumpfen, und schließlich auch gelblich zu leuchten.
    Merval nahm eine der noch vollen Flaschen in die Hand. "Ich will so werden, wie Ihr, Miga Auris Meschesta", sagte er.
    Meschesta lächelte versonnen. "Einfach ist das nicht, Merval", flüsterte sie. "Hier ist kein Magier in der Lage, den Mondlichtgesang zu wirken, und ich glaube kaum, dass Ihr Selcai darum bitten könnt."
    Merval verzog das Gesicht und trank die Flasche leer, Cadime konnte nicht schnell genug reagieren.
    "Beiß die Zähne zusammen, Merval, das wird schmerzhaft", seufzte sie. "Ich heile dich dann." Sie legte den nun winzigen Säugling äußerst vorsichtig auf den Tisch und schlüpfte aus ihrem Hemd. Merval neben ihr schrumpfte schnell, am Rücken waren unter seinem mitschrumpfenden Hemd deutlich die zerknitternden Flügel zu sehen.
    "Hier, trink!", sagte Meschesta und drückte Cadime die letzte Flasche in die Hände, dann begann sie selbst, sich zu verwandeln. Cadime atmete tief durch und trank die Flasche leer. "Nun, Cadime, erzähl!", bat Meschesta. "Wann hast du deinen Abschluss gemacht?"
    "Das habe ich nicht", sagte Cadime, "ich bin nur eine Hexe, ich lerne ohne Lehrer."
    "Wenn du hier im dinanterischen Feenwald bleibst, werde ich dich unterrichten", versprach Meschesta.
    Cadime spürte das Prickeln in ihrem Rücken und auf ihrem Kopf, es wuchsen ihr Flügel und Fühler, ebenso wie Meschesta. Schließlich hatten beide Frauen ihre Verwandlung beendet und standen wie Merval am Boden der nun riesigen Hütte.
    Cadime half Merval aus seinem Hemd und heilte seine Flügel. Erst dann betrachtete sie ihn. Seine ehemals violetten Haare wiesen nun jenes Hellrot auf, das bei Schmetterlingsfeen so häufig war, und die gelben Augen seines Vaters brachten dessen Erbe der Schmetterlingsfeen zu diesen zurück. Doch trotz der Farben der Schmetterlingsfeen bewies das Zeichen auf seiner Stirn, die helle Gestalt mit ausgebreiteten Armen, dass er als Marcoova geboren war. Meschesta flatterte auf und kam kaum später mit Kitas auf den Armen zurück, Cadime nahm ihre Tochter entgegen.
    "Hier seid ihr sicher", sagte Meschesta, berührte Cadime und Merval und teleportierte sie auf einen der Bäume.
    ***
    Merval lag schlaflos in einer Astgabelung und starrte zwischen den Zweigen durch in den Himmel, der Wind pfiff durch die Bäume. Selcai hatte den ersten Schritt nach Norden getan, wie viele würden noch kommen? Jemand musste ihn doch aufhalten!
    Damals hatte sich ihm jeder unterworfen und diesmal würde es genauso sein, bis, wie damals, jemand etwas tat. Merval konnte nicht einfach warten, bis jemand etwas tat. Er selbst musste handeln. Selcai war mächtig, aber niemand war unsterblich.
    Merval setzte sich langsam auf und runzelte die Stirn. Er konnte nicht teleportieren. Wie brachte man also diese Flügel dazu, sich zu bewegen? Wie auf Kommando begannen die bunten Hautflügel zu vibrieren, und Merval spannte testweise verschiedene Rückenmuskeln an.
    "Was habt Ihr vor?", fragte Meschesta. Sie saß auf einem Zweig in der Nähe.
    "Ich kann nicht untätig sein", sagte Merval, "Selcai darf nicht herrschen!"
    "Nein, das darf er nicht", bestätigte Meschesta. "Aber könnt Ihr denn etwas tun?"
    "Das ist nicht die Frage", seufzte Merval, "ihn daran zu hindern, ist meine Pflicht!"
    "Es ist Eure Pflicht, Euch umbringen zu lassen?", fragte Meschesta.
    "Ihr sagtet, er ist unberechenbar", überlegte Merval. "Vielleicht bringt ein Angriff auf seinen Stolz ihn dazu, mich ohne Magie bezwingen zu wollen."
    "Dann könntet Ihr siegen", nickte Meschesta, "doch vielleicht nutzt er dennoch die Magie." Sie streckte ihre linke Hand aus und ließ kurz Flammen über die Fingerspitzen züngeln.
    "Wenn es gelingen kann, muss ich es versuchen", sagte Merval. "Bitte helft mir, ich muss ihn finden!"
    "Sucht bei Eurem Stamm!", lächelte Meschesta. "Ich werde auf Cadime und Kitas achten."
    Merval flatterte auf. "Ich bin winzig und im falschen Land, Miga Auris Meschesta", knurrte er, "ich brauche Hilfe, um dorthin zu gelangen!"
    "Es ist nur ein Berg zwischen uns und dem Stammesgebiet der Schagon", sagte Meschesta, "fliegt einfach!" Sie flatterte zu Merval und reichte ihm einen mit Wachs verschlossenen Fingerhut. "Darin ist der Rückverwandlungstrank."
    "Fliegen …", flüsterte Merval. "Miga! Sagt Cadime, dass ich nicht verborgen leben kann im Wissen, dass ich vielleicht etwas tun kann."
    "Warum sagt Ihr es ihr nicht selbst?", fragte Meschesta.
    "Sie würde mich aufhalten", sagte Merval. "Aber es geht mir nicht um mein Leben, nur Cadime und Kitas müssen in Sicherheit sein." Energisch erhob er sich in die Lüfte und drehte sich einmal im Wind. "Sagt ihr, dass ich sie liebe!" Dann umklammerte er den Fingerhut mit beiden Armen und flog gerade nach oben. Der kalte Wind der Nacht umspielte seine Flügel, doch instinktiv wusste der Verwandelte, wie er fliegen musste. Seine dünnen Hautflügel schlugen so schnell, dass er ihnen mit den Gedanken kaum mehr folgen konnte. Fast war es, als flogen die Flügel, ohne ihn zu brauchen.
    Merval tanzte als leuchtender Punkt über den Himmel, nutzte jeden Aufwind und jede Luftströmung in die richtige Richtung. Es war nur ein Berg zwischen Dinantera und dem Stammesgebiet der Schagon. Sachte war der erste Schein der aufgehenden Sonne am Horizont zu sehen, als Merval das Zeltlager erreichte, das er noch in dieser Nacht überstürzt verlassen hatte. Die Überlebenden des Steinschlags hatten sich außerhalb gesammelt und berieten. Doch Selcai war nirgends zu sehen.
    "Wo seid Ihr …", murmelte Merval und hielt in der Luft still, obgleich der Wüstenwind an ihm zog. Wo war Selcai? Ohne die Stammesmitglieder nutzte ihm die Fürstenwürde nichts. Aus den Augenwinkeln sah Merval ihn schließlich.
    Der Fürst stand auf der ersten felsigen Anhöhe und überblickte das Zeltlager und die Stammesmitglieder. Es dauerte nicht lange, bis ihm, obwohl er einfach nur dort stand, die ungeteilte Aufmerksamkeit aller zukam.
    Merval unterdessen flog einen kleinen Umweg und landete schließlich zwischen zwei Felsbrocken, kaum vierzehn Schritte von seinem Feind entfernt. Mit dem Daumen durchstach er die Wachsschicht und trank dann den Trank im Fingerhut.
    "Mitglieder des Marcoovastammes der Schagon!", rief Selcai. "Ihr alle kennt mich! Ich bin Fürst Miga Selcai der Neltane!"
    Merval warf sein Trinkgefäß von sich und ging um den Felsen herum.
    Selcai stand mit dem Rücken zu ihm. "Und nun bin ich auch euer Fürst!", verkündete er.
    Merval knirschte mit den Zähnen und atmete tief durch. "Das seid Ihr", bestätigte er dann, "durch eine Drohung habt Ihr diese Fürstenwürde erlangt!"
    Selcai drehte sich langsam um. "Ihr habt Mut", stellte er fest.
    "Ich habe keine Angst vor Euch!", sagte Merval.
    Selcai lachte leise. "Das solltet Ihr aber", flüsterte er und trat einen Schritt näher. In seiner linken Hand entflammte Feuer.
    "Ohne Magie seid Ihr ein kleiner Mann, Fürst Selcai!", erwiderte Merval spöttisch.
    Selcai ließ den Feuerball erlöschen. "Das glaubt Ihr?", lächelte er.
    Merval lächelte ebenso. Wie Meschesta gesagt hatte, Selcai war unberechenbar, und man verlor, wenn man das Wahrscheinliche erwartete. "Beweist mir, dass Ihr auch ohne Magie mächtig seid", sagte Merval ruhig.
    Selcai behielt sein Lächeln und trat noch zwei Schritte näher. "Das kann ich Euch beweisen!", hauchte er. Seine rechte Faust schnellte vor, Merval blockte mit dem Unterarm. Mit einem Griff hatte der ehemalige Fürst seinen Gegner auf den Boden gezwungen.
    "Das könnt Ihr?", fragte er spöttisch und zog seinen Dolch.
    Selcai lächelte immer noch und lenkte den folgenden Stich mit dem eigenen Dolch ab. Zwar trug er eine tiefe Wunde an der Seite davon, doch Merval konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Selcai dies geplant hatte.
    Und dieser Eindruck bestätigte sich. Selcai hebelte ihn von den Füßen, trotz Erfahrung in diesem Gelände verlor Merval den festen Stand. Kaum später stand der Tyrann selbst über Merval, lächelnd wie zuvor. "Das kann ich!", sagte er ruhig. Lässig zupfte er an seinem weißen Hemd und betrachtete den Blutfleck. Merval biss sich auf die Lippen und rutschte rückwärts, bis er möglichst gefahrlos aufstehen konnte. Wie unberechenbar Selcai wirklich war, erkannte er erst jetzt, als dieser den Dolch einfach fallen ließ und ohne diesen angriff. Merval, noch bewaffnet, konnte sich dennoch kaum richtig verteidigen. Wie töricht war er gewesen, anzunehmen, dass er einen Mann besiegen konnte, der mehr als dreimal so alt war wie er selbst und doch nur halb so alt aussah!
    Nur langsam kam Merval zu Bewusstsein, dass er am Abgrund stand. Und Selcai, als wäre er gnädig, hörte auf zu kämpfen.
    "Ihr, Merval, seid ein Narr!", knurrte er und gab ihm den letzten Stoß beinahe sanft. Merval starrte in Selcais kalte Augen und seufzte lautlos. Sein Mut hatte ihm nur eines gebracht, den sicheren Tod. Der Felsboden unter seinen Füßen hielt ihn nicht mehr, Merval fiel.
    Und er schrie, als wolle er die ganze Insel warnen.
    Selcai lächelte nur auf den Sterbenden herab.

  • 15
    Der Schrei halte über die weite Ödnis der Ginnara. Adrev verharrte still, starrte in die Dunkelheit und horchte. Der Schrei schien noch eine Ewigkeit in seinen Ohren nachzuklingen.
    Draußen hörte er den Wind heulend um das Zelt wehen. In den letzten Wochen hatte kaum ein Lüftchen über die Ebenen geweht, jetzt aber zog und zerrte er an dem Zelt. Unter dem Heulen des Windes konnte er die Wachen draußen reden hören - er konnte noch nicht lange geschlafen haben, sonst wären die Gespräche längst verstummt. Zwei, vielleicht drei Stunden, länger nicht.
    Vorsichtig befreite er sich von den Fellen, unter denen er lag, und tastete nach seinem Mantel, zog ihn über, schlüpfte in seine Stiefel und ging nach draußen.
    Der kalte Wind blies ihm ins Gesicht, als er die Zeltplane beiseite schlug. Fröstelnd schlang er den Mantel fester um sich und trat nach draußen. Abrupt verstummten die Gespräche. Das Feuer brannte noch hell - Eine Stunde, korrigierte sich Adrev in Gedanken, wenn überhaupt. Gidran und Rond saßen am Feuer, die anderen beiden drehten wohl gerade ihre Runde ums Lager.
    "Was war das für ein Schrei?", fragte Adrev mit strenger Stimme und wand sich dabei den beiden Wachen zu.
    Ihre Blicke verrieten ihm, dass sie nichts gehört hatten, und einen Moment fürchtete er schon, den Schrei nur geträumt zu haben. Es gab nichts Schlimmeres, als sich vor seinen Männern zu blamieren.
    Da antwortete Cô'pga'dere: "Insda'ie schreit. Tut weh." Dabei klopfte er auf seine Brust. "Ist wütend", fuhr er dann nach einer bedeutungsschweren Pause fort, "schlechtes Omen." Dabei schüttelte er bedauernd den Kopf.
    Cô'pga'dere saß etwas abseits, außerhalb des Scheins des Feuers, so dass Adrev ihn bisher nicht bemerkt hatte. Sein langes blondes Haar war zu vielen dünnen Zöpfen geflochten, die ihm ins Gesicht hingen. Sein hoher Wuchs und sein langes Gesicht mit der schmalen Nase und den kräftigen Wangenknochen wiesen ihn als einer der Côtai aus, als einer der Wilden, die in den Landen westlich von hier zu Hause waren. Darüber konnte auch seine Kleidung nicht hinweg täuschen, mit der er seine Abstammung zu überdecken versuchte. Cô'pga'dere war ihr Führer auf dem Weg nach Liun. Er war ein ruhiger, nachdenklicher Mann und sprach nicht mehr als nötig. Obwohl er jetzt schon fast einen ganzen Mond mit ihnen unterwegs war, hatte er noch immer keinen Kontakt zu den anderen gefunden. Adrev mochte ihn nicht.
    Er gab Cô'pga'dere einen Grunzer als Antwort, warf noch einen Blick in die Runde und ging wieder zurück in sein Zelt. Dieser Schrei machte ihm mehr Sorgen, als er sich eingestehen wollte. Sie waren mitten in der Einöde. Außer ihnen war weit und breit kein Mensch. Adrev wusste nicht, wer oder was dieser Insda'ie sein sollte, von dem Cô'pga'dere gesprochen hatte, aber der Gedanke, dass sie die Wut eines Geistes auf sich gezogen haben könnten, ließ einen eiskalten Schauder seinen Rücken hinunter laufen. Tausend Geschichten schossen ihm durch den Kopf von Leuten, die sich mit Geistern angelegt hatten, und keine hatte ein gutes Ende. Was immer dieser Schrei auch zu bedeuten hatte, hier musste er Cô'pga'dere zustimmen: Schlechtes Omen.
    Am nächsten Morgen hatte der Wind noch weiter zugenommen. Ohne Unterlass blies er ihnen aus Nordwesten entgegen und machte ihre Reise entlang der westlichen Ausläufer des Edacoan Revên1 Richtung Norden noch beschwerlicher, als sie eh schon war. Bald mussten sie die Cargavez, die fruchtbaren Ebenen südlich von Liun erreichen. Fruchtbar, dachte Adrev verächtlich, wenigstens fruchtbarer als dieses verfluchte Land, dessen gelbes vertrocknetes Gras seit Wochen das einzige war, das ihre Pferde zu essen bekamen. Sollen sie erst einmal die Ebenen erreicht haben, dann würde es nicht mehr lange dauern, bis sie Liun erreichen.
    Sie waren nach Norden aufgebrochen, weil Adrevs Herr, der Vaicje von Aidenra, Adrev angewiesen hatte, sich mit dessen Handelspartnern in Liun zu treffen - es ging natürlich wieder mal ums Gold. Seine Goldminen waren alles, was Liun zu bieten hatte, aber es hatte aus dem kleinen Dorf am Rande der Zivilisation eine reiche Handelsstadt gemacht.
    Sie waren jetzt schon seit über einem Mond unterwegs, und Adrev spürte jeden Tag dieser Reise in seinen Knochen - er wurde zu alt für solche Sachen. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum der Vaicje ihn geschickt hatte, und keinen der Jüngeren wie Vjer oder Mircord. Andererseits war dieser Auftrag eine große Ehre für ihn, wenn man bedachte dass er …
    "Herr, seht dort!" Die aufgeregte Stimme des Soldaten riss Adrev aus seinen Gedanken. Der Soldat - Darjin war sein Name - war kurz hinter Adrev geritten und zeigte nun aufgeregt nach Westen. Zunächst konnte Adrev nichts erkennen, aber nach kurzer Zeit entdeckte er eine kleine Staubwolke am westlichen Horizont. "Cunas Kleid!" Das konnte nicht wahr sein.
    Das konnte nur ein Reitertrupp sein, aber sie waren noch weit außerhalb von Liuns Grenzen. Das bedeutete, dass es sich nur um Côtai handeln konnte, aber so weit im Osten? Vielleicht, überlegte Adrev, waren sie auf dem Weg zu den Dörfern in der Cargavez, um ihre Wintervorräte mit den Tieren der Bauern dort aufzubessern. Adrev hoffte nur, dass man sie nicht gesehen hatte und in Ruhe ließ. Mit ihrem Tross hatten sie keine Möglichkeit, den Reitern zu entkommen, und auch wenn er nicht den geringsten Zweifel daran hegte, dass sie einen Kampf gegen diese Wilden gewinnen würden, so würde der Sieg doch große Verluste auf ihrer Seite fordern. Nein, ein Kampf konnte wirklich nicht in ihrem Interesse sein.
    "Ho, schneller, Männer, schneller! Ihr habt eure Beine nicht zum Ausruhen bekommen, also benutzt sie!", rief er über die Köpfe seiner Männer hinweg, um sie anzuspornen, und lenkte sein Pferd nach Osten, um den Nomaden auszuweichen. Der ganze Trupp hinter ihm fiel in einen leichten Trab. Er betete zu Fire, dass ihnen dieser Kampf erspart bliebe.
    Die Sonne stand hoch am Himmel, als Adrev sich schließlich eingestand, dass der Reitertrupp sie entdeckt und die Verfolgung aufgenommen hatte. Die Staubwolke hinter ihnen war schon bedeutend näher gekommen, und hin und wieder konnte Adrev ein Pferd mit Reiter aus ihr hervorblitzen sehen. Bei ihrem Tempo konnte es nicht mehr als zwei Stunden dauern, bis man sie eingeholt hatte - es hatte keinen Sinn, weiter zu fliehen.
    Adrev riss seinen Arm in die Höhe. Um seinen Trupp zum Stehen zu kriegen. "Fertigmachen zum Gefecht! Marschgepäck abgelegt und in Linie angetreten! Arlez zu mir!", brüllte er nun seine Befehle.
    Arlez, ein großer breitschultriger Mann, wendete seinen braunen Hengst und ritt auf Adrev zu. Er trug ein altes Kettenhemd ekioner Machart, das von einem grün-weißem Wappenrock überdeckt wurde, der ihn als Rjen - als Feldweibel - auswies.
    Als Arlez bei ihm angekommen war, fragte Adrev ihn abrupt: "Was denkst du?"
    Nachdem dieser kurz seinen Blick über das Land und den Hügel schweifen lies, auf dem sie standen, antwortete Arlez: "Der Platz ist nicht sonderlich gut, aber wir werden hier keinen besseren finden. Wir haben den Wind im Rücken, das wird uns etwas helfen. Wir werden Blut lassen müssen, aber letztendlich sind es nur Wilde. Sie sollten kein allzu großes Problem sein."
    Adrev nickte, die Antwort entsprach seinen eigenen Einschätzungen, und er hatte keine andere erwartet. Allerdings war er nicht ganz so optimistisch wie Arlez, was den Ausgang der Schlacht anging. Keiner von ihnen hatte je gegen die Côtai gekämpft, und keiner kannte ihre Taktiken. Es würde mehr als etwas Blut auf ihrer Seite fließen, bevor sie weiterziehen konnten.
    Nachdem er Arlez noch instruiert hatte, sich um den Tross zu kümmern, lenkte Adrev sein Pferd auf die Soldaten zu, um ihnen Anweisungen für die nun folgende Schlacht zu geben.
    ***
    Mit donnernden Hufen stürmten die Pferde der Côtai auf sie zu. Gleich würden sie da sein. Ein Gebrüll erhob sich unter ihnen. Surrend flogen Pfeile auf die Reisenden zu. Adrev riss sein Rundschild hoch, da schlugen auch schon die ersten Pfeile ein. Ein Pfeil durchschlug sein Schild und trat keine Handbreit von seinem Arm aus dem Holz heraus. Neben sich hörte er die Schreie der Getroffenen. Als der Pfeilhagel vorüber war, ließ er sein Schild wieder sinken. Die Côtai waren fast da.
    "Speere auf!", brüllte er über die Köpfe seiner Soldaten, die mit der Präzision langjähriger Erfahrung gleichzeitig ihre Speere hoben und so einen fast undurchdringlichen Wall erzeugten. Davon scheinbar beeindruckt rasten die Côtai weiter auf sie zu. Adrev glaubte nicht, dass sie in der Lange wären, diesen aussichtslosen Angriff abzubrechen. Es schien sich mehr um eine wilde Meute zu handeln als um eine organisierte Gruppe, aber ehrlich gesagt hatte er nichts anderes erwartet.
    Seine Einschätzung sollte ihn trügen. Kurz bevor die Meute die Soldaten erreichte, schwenkte sie plötzlich zu beiden Seiten ab und ritt seitlich an ihnen vorbei, schleuderte ihre Speere und überrumpelte so die Soldaten, die ihre Kraft auf einen Frontalangriff der Côtai ausgerichtet hatten. Adrev verfluchte sich innerlich für seine Leichtfertigkeit und ebenso ihren Mangel an Bogenschützen, aber er würde die Verluste, die sie ihnen zugefügt hatten, mit Zins und Zinseszins aufrechnen. Adrev brüllte seine Instruktionen, und die Côtai kamen zurück. Sie ritten noch ein paar Wellen, aber nun waren die Adrevs Soldaten besser vorbereitet und konnten den Angriffen besser standhalten, und es gelang ihnen trotz ihrer gezwungenermaßen passiven Stellung, den Côtai einige schmerzhafte Verluste zuzufügen. Als die Côtai nach zwei minder erfolgreichen Angriffen gewendet hatten und wieder auf sie zustürmten, verbreiterten sie mit einem Male ihre Front.
    Bei den bisherigen Angriffen hatten sie die angreifbare Front möglichst klein gehalten, um den wenigen Bogenschützen, über die Adrev verfügte, keine Angriffsfläche zu bieten, doch jetzt fächerten sie sich weit auf, so dass ihre Front deutlich breiter wurde als die von Adrevs Truppe.
    Zum ersten Mal meinte Adrev, nun in der gleichförmigen Masse der Reiter auch ihren Anführer ausmachen zu können. Er ritt jetzt in der ersten Reihe der Côtai und preschte auf die Speerwand der Soldaten los. Adrev war schleierhaft, wie er ihn vorher hatte übersehen können, stach er doch durch seinen hohen, mit einem Pferdeschweif besetzen Lederhelm und die bunten, im Wind flatternden Bänder an seiner Kleidung unter den anderen hervor.
    Diese Erkenntnis hatte Adrev nur einen Augenblick gekostet, doch dieser Augenblick sollte vielleicht die Schlacht entscheiden, denn so merkte Adrev einen Augenblick zu spät, dass die Reiter an den äußeren Seiten ihre Bögen spannten, während die Reiter in der Mitte weiter mit gezückten Speeren auf sie zugaloppierten.
    Als Adrev der Situation gewahr wurde, öffnete er den Mund, um neue Instruktionen zu verteilen, doch bevor er auch nur einen Befehl rufen konnte, gingen schon die Pfeile auf sie nieder und die Soldaten rissen ihre Schilde zum Schutz hoch. Kaum waren die Pfeile auf sie niedergegangen, da waren die Côtai auch schon über ihnen und durchbrachen ihre Reihen.
    Adrev brüllte Befehle, doch keiner hörte ihn im nun herrschenden Chaos. Mit einem Mal waren sie auch bei ihm angelangt. Ein Reiter mit wutverzerrtem Gesicht ritt, eine große längliche Keule schwingend, direkt auf ihn zu.
    Adrev riss sein Schild hoch, doch er war zu langsam und die Keule des Reiters fuhr auf seinen Kopf nieder und nur der Tatsache, dass er im letzten Moment versuchte, seinen Kopf wegzudrehen, war zu verdanken, dass sie ihn nicht mit voller Wucht traf, sondern nur seine Schläfe streifte. Adrevs Kopf wurde von der Wucht des Schlages nach hinten geschleudert und plötzlich wurde alles schwarz um ihn.
    Die ganze Welt schien zu beben, und mit jeder Erschütterung breitete sich der Schmerz in Adrevs Kopf weiter aus, so dass er schier davon zu platzen schien.
    Die Welt war schwarz und schien nur aus ihm und seinem Schmerz zu bestehen und den sich ständig wiederholenden Erschütterungen. Er versuchte, sich zu bewegen, doch er schien keine Kontrolle über seine Glieder zu haben. Er versuchte, die Augen zu öffnen, doch sie gehorchten seinen Befehlen nicht. Nach scheinbar endloser Zeit begannen sich andere Wahrnehmungen durch die Mauer aus Schmerz zu bahnen.
    Er hörte Geräusche, wie dumpfe Schläge - sie schienen seltsam vertraut, doch er konnte sie nicht einordnen -.und weit entfernte Stimmen. Dann roch er etwas, einen strengen, doch angenehmen Geruch. Auch dieser war vertraut.
    Es roch nach Pferd. Und mit einem Mal konnte er auch die Geräusche wieder zuordnen. Es waren Hufschläge von Pferden.
    Langsam kam die Erinnerung zurück, Der Kampf, der Reiter. Ihr Götter!
    Die Erschütterungen, das ständige Auf und Ab hatten nicht aufgehört, und doch gelang es Adrev mehr und mehr, den Schmerz zumindest soweit ignorieren, dass er sich auf andere Sachen konzentrieren konnte.
    Nachdem er noch eine Zeit geruht hatte und die langsam wiederkehrenden Wahrnehmungen auf sich wirken ließ, versuchte er sich aufzurichten, doch seine Arme versagten ihren Dienst. Er brauchte einige Zeit, bis er realisierte, dass dies nicht an seiner Schwäche lag, sondern an der Tatsache, dass seine Hände gefesselt waren.
    Mühsam öffnete er die Augen.
    Er lag rücklings auf einem Pferd, die Arme auf den Rücken gebunden. Das erste was er sah, war der Kopf eines Pferdes, nur wenige Handbreit von seinem Kopf entfernt. Auf dem Pferd saß ein Hüne von einem Mann. Die blonden Haare waren, wie bei den Côtai üblich, zu zwei dicken Zöpfen geflochten und mit den restlichen Haaren nach hinten gebunden worden. Sein Gesicht war blutverschmiert, obwohl er offensichtlich nicht verletzt war.
    Als der Côtai merkte, dass Adrev zu sich gekommen war, verzog er seinen Mund zu einem hochmütigen Grinsen und warf ihm ein paar Worte entgegen.
    Die Sprache der Côtai klang hart in Adrevs Ohren. Er hatte sie ein paar Mal gehört, wenn Cô'pga'dere in seine Sprache verfiel, und hatte sie damals schon nicht gemocht. Es war die primitive und ungehobelte Sprache eines verabscheuungswürdigen Menschenschlages. Jetzt, aus dem Munde dieses Barbaren, klang sie ihm wie das geifernde Knurren eines Hundes, der einem anderen einen alten Knochen abspenstig machen wollte.
    Seufzend schloss Adrev wieder seine Augen. Er wusste nicht, wie er die Schlacht überlebt hatte, aber er war offensichtlich ein Gefangener, und so sehr ihm dass missfiel, er konnte doch im Moment nichts unternehmen. Auch fühlte er sich viel zu schwach, um auch nur über die Möglichkeiten, die sich ihm vielleicht böten, nachzudenken.
    ***
    Als Adrev das nächste Mal zu sich kam, war es dunkel um ihn. Die Schmerzen im Kopf hatten etwas abgenommen. Der etwas zweifelhafte Vorteil davon war, dass sein linkes Bein nun angefangen hatte zu schmerzen. Adrev spähte in die Dunkelheit, doch er konnte nichts erkennen. Er horchte. Draußen pfiff der Wind um das Zelt, ansonsten war alles ruhig.
    Wahrscheinlich war er in einem Zelt im Lager der Côtai. Er saß auf dem nackten Erdboden und war mit Stricken an einen Pfahl gebunden worden. Adrev versuchte, sich zu bewegen, doch die Seile, mit denen er gefesselt war, ließen ihm keinen Spielraum. Seufzend lehnte er sich an den Pfahl.
    Was in Fires Namen war nur schiefgelaufen? So nahe am Gebirge hätten sie gar nicht auf Côtai stoßen dürfen! Und sie hätten schon gar nicht die Dreistigkeit haben dürfen, mit so eindeutig kriegerischer Absicht so weit ins Land einzudringen! - Andererseits, gestand sich er ein, hatte er wohl den Mut und das kriegerische Können dieser Wilden unterschätzt. Die Leichtigkeit, mit der sie seinen sicher geglaubten Sieg in eine vernichtende Niederlage umgewandelt hatten, ließ ihn vor Scham erröten. Aber, bei allen Göttern, sollte er noch einmal die Gelegenheit bekommen, dann würde er diesen Barbaren zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt war! Im Moment war er vielleicht der Gefangene dieser Bestien, aber ihm würde die Flucht gelingen, das schwor er sich.
    ***
    Adrev erwachte, als die Zeltplane mit einem Ruck beiseite geschoben wurde und ein mit einem Speer bewaffneter blondhaariger Hüne eintrat. Ihm folgte eine junge, ebenfalls blonde Frau. Beide trugen einfache, aus Wildleder genähte Kleidung, die mit Perlen verziert und, im Falle der Frau, mit roten und gelben Mustern bestickt war. Der Mann blieb ein paar Schritt vor ihm stehen und senkte seinen Speer, so dass dessen Spitze vor Adrevs Kehle zum Stehen kam. Adrev bemerkte, dass er einen großen Dolch bei sich trug, den er offensichtlich einem von Adrevs Leuten abgenommen haben musste.
    Die Frau kniete sich vor ihm nieder und begutachtete sein Bein. Jetzt, da die Sonne am Himmel stand und durch den offenen Zelteingang hineinschien, konnte er sehen, dass sein gesamter Oberschenkel verbunden worden war. - Wenigstens hatten sie anscheinend nicht die Absicht, ihn hier jämmerlich verrecken zu lassen.
    Inzwischen hatte die Frau ihn von dem Verband befreit, und er sah nun, dass sein gesamter Oberschenkel von oben bis unten aufgerissen war und das Fleisch hervor trat. Die Frau hatte nun eine seltsam gelbliche Paste aus einem Beutel hervorgeholt und begann, sie auf seinem Bein zu verteilen. Die Salbe brannte wie tausend Feuer, aber Adrev verzog keine Miene. Er würde ihnen kein Anzeichen von Schwäche geben.
    Nachdem die Salbe verteilt war, holte die Frau zwei Knochen von jeweils ungefähr einer halben Elle hervor und begann, diese rhythmisch über seinem Bein zusammenzuschlagen, während sie einen monotonen Singsang anstimmte.
    Adrev beobachtete das Geschehen mit wachsendem Unbehagen und blickte sich ängstlich im Zelt um. Er erinnerte sich an diese Sache, die Cô'pga'dere gesagt hatte. Sie sei wütend.
    Was war, wenn er Recht gehabt hatte? Er hatte genug Geschichten über die Côtai gehört, dass sie dunkle Geister riefen und mit ihnen schwarze Pakte eingingen. Ein Abend in einer belieben Taverne in Aidenra oder irgendwo im Umland, und man hörte genug solcher Geschichten. Wenn nur die Hälfte von ihnen wahr waren - und daran hatte Adrev nicht den geringsten Zweifel - dann waren die Côtai die verderbtesten Menschen, von denen er je gehört hatte.
    Er war wirklich kein Mensch, dem man leicht Angst einjagen konnte. Aber er würde lieber alleine gegen 100 schwer bewaffnete Männer kämpfen, als auch nur einem Geist gegenüberzustehen. Es hieß, sie würden einen dazu bringen, dass man sich selbst verstümmelte oder ungeheuerliche Gräueltaten beging. Er erinnerte sich an die Geschichte von einem Geist, der jahrelang die Menschen in einem Dorf gequält hatte. Immer nachts bei Nebel hatte er sie geholt, hatte ihnen nur kurz in die Augen geblickt, und dann hatten sie ihre ganze Familie umgebracht. Danach hatte der Geist sie losgelassen, aber sie wurden von den Geistern der Ermordeten und ihren eigenen Schuldgefühlen so lange verfolgt, bis sie sich schließlich selbst umbrachten. Nein, mit Geistern war wahrlich nicht zu spaßen.
    Die Frau fuhr noch eine Weile mit ihren Beschwörungen fort, aber es schien nichts zu passieren. Nach einiger Zeit hörte sie auf, dann blickte sie Adrev - zum ersten Mal, seit sie das Zelt betreten hatte - in die Augen und sagte einige Worte, die (obwohl er sie selbstverständlich nicht verstand) für Adrev bedrohlich und unheilsschwanger klangen. Dann beugte sich vor und fuhr mit ihrem Zeige- und Mittelfinger zweimal mit starkem Druck über seine Stirn. Danach drehte sie sich abrupt um und verließ das Zelt, gefolgt von dem Hünen.
    Die nächsten Stunden vergingen quälend langsam. Er fragte sich, was diese Hexe wohl gemacht hatte, und ertappte sich bei dem Gedanken, dass er es bevorzugt hätte, wenn seine Befürchtungen eingetreten und irgendein Geist erschienen wäre, dann hätte er nun zumindest Gewissheit, doch er verbot sich solche Gedankengänge und verbannte sie aus seinem Kopf.
    Nach einigen Stunden kamen zwei Männer zu ihm. Sie befreiten ihn vom Pfahl, fesselten seine Hände aber wieder sofort und führten ihn nach draußen, wobei sie Adrev gezwungenermaßen stützen mussten, da er aufgrund seines Beines kaum laufen konnte.
    Der Anblick, der sich ihm dort bot, überraschte ihn. Das Lager schien eher ein Dorf zu sein. Er sah an die zwanzig Rundhäuser, die anscheinend anstatt mit Holz mit Filz verkleidet worden waren. Daneben gab es noch eine Handvoll etwas kleinerer Zelte, die aus Tierhäuten gefertigt worden waren, wie das Zelt, in dem man ihn untergebracht hatte. Das eigentlich Verwunderliche aber war, dass die Côtai anscheinend gerade dabei waren, eben diese Rundhäuser abzubauen und auf kleine, lange, zweirädrige Wagen zu verladen.
    Seine beiden Begleiter führten Adrev hin zu einem alten abgestorbenen Baum und bedeuteten ihm, dort stehenzubleiben. Von dieser Stelle hatte Adrev einen recht guten Überblick über das Lager und war erstaunt, wie schnell der Abbau vonstatten ging, auch wenn der Abbau der großen Filzplanen durch den immer noch heftig wehenden Wind teilweise deutlich erschwert wurde.
    Nach kurzer Zeit war das Holzgestell, das die Rundhäuser aufrecht gehalten hatte, auf die kleinen Karren verladen und die verschiedenen Planen, die Wände und Dach gebildet hatten, auf Pferde verteilt. Vorräte, Werkzeuge, Felle und Hausrat wurden verstaut. Eine große Herde von Pferden, die etwas abseits gegrast hatte, wurde von mehreren Reitern zusammengetrieben.
    Schließlich, als nahezu alles verstaut war, wurde er zu einer alten Stute geführt, die ihre besten Tage schon lange hinter sich gebracht hatte, und man deute ihm, aufzusitzen. Seine Begleiter saßen ebenfalls auf, auch wenn ihre Pferde von ungleich besserer Statur waren.
    Adrev vermutete, dass die Reise weiter nach Westen gehen sollte, hinein in die Amacara, die westliche Steppe, die die Côtai ihr Zuhause nannten, und damit weiter weg von dem Einfluss Liuns. Nun, das war an sich nicht weiter verwunderlich, was Adrev allerdings beschäftigte, war die Eile, die sie an den Tag legten. Er hätte erwartet, dass sie - da sich das Lager doch sicher ein ganzes Stück abseits von potenziellen Kampfgebieten befand - sich die Zeit nehmen würden, damit die Tiere sich erholen und die Verwundeten auskuriert werden konnten. Die Tatsache, dass sie es so eilig hatten, konnte nur heißen, dass sie verfolgt wurden - wahrscheinlich von einer Grenzpatrouille Liuns, schlussfolgerte Adrev.
    Das war seine Chance. Wenn er es irgendwie schaffte, sich von dem Trupp zu lösen, ohne dass sie sein Verschwinden sofort bemerkten, so hatte er einerseits eine gute Chance, auf die Patrouille zu stoßen, wenn sie den Spuren der Côtai folgten, und andererseits war - selbst wenn er nicht auf die Patrouille stoßen sollte - die Wahrscheinlichkeit, dass die Côtai zurückreiten würden, um ihn zu holen, doch sehr gering, wo sie doch einen Verfolger im Rücken hatten.
    Der Ritt nach Westen war für Adrev sehr leidvoll. Zum einen hatte sich sein Kopf noch nicht von dem Treffer, den er bei der Schlacht erhalten hatte, erholt, und jede Erschütterung bereitete ihm Schmerzen, und zum zweiten scheuerte beim Ritt seine Beinwunde die ganze Zeit am Körper des Pferdes, wodurch diese wieder aufriss. Dennoch versuchte Adrev, sich nichts anmerken zu lassen, und wartete auf eine Gelegenheit, sich unbemerkt davonzustehlen.
    Die Dämmerung kam früh, und der Wind hatte zum Abend hin weiter zugenommen und blies ihnen jetzt mit ganzer Kraft ins Gesicht. Adrev kniff die Augen zusammen und versuchte, den pochenden Schmerz hinter seiner Schläfe zu ignorieren.
    Da hörte er das entsetzte Wiehern einiger Pferde hinter sich, gefolgt von einigen gebrüllten Befehlen.
    Adrev drehte sich um. Offenbar waren einige der Pferde aus der Herde, die hinter ihnen hergetrieben wurde, durch irgendetwas erschreckt worden. Die Treiber, die dafür sorgten, dass die Herde zusammenblieb, versuchte, die Pferde zu beruhigen, doch da stürmten schon die ersten Pferde los und suchten ihr Heil in der Flucht. Sofort war Adrev hellwach.
    Kaum waren die ersten Pferde losgeprescht, war auch schon die ganze Herde in Bewegung. Laut donnerten ihre Hufe über den harten Boden der Steppe, als die Herde direkt in den Zug der Côtai stürmte. Verzweifelt versuchten diese, die aufgebrachten Pferde unter Kontrolle zu bringen oder wenigstens die eigenen Güter zu schützen. Doch es war vergebens. Die Herde galoppierte weiter und riss dabei Wagen um und trampelte jene nieder, die ihr im Weg standen. Auch einige der Reiter verloren die Kontrolle über ihre Pferde und wurden mitgerissen in den flüchtenden Strom. Auch Adrevs Stute wurde nervös und begann, unruhig von einem Bein aufs andere zu treten, während um sie herum das Chaos ausbrach. Plötzlich bäumte sie sich wiehernd auf, und Adrev, der sich aufgrund seines verletzten Beines nicht halten konnte, landete unsanft auf der Erde.
    Im ersten Moment drehte sich alles um ihn, und erst nach ein paar Momenten gelang es ihm, sich wieder soweit zu fangen, dass er sich orientieren konnte.
    In diesem Moment trat der Huf eines Pferdes nur wenige Fingerbreit vor seinem Gesicht auf den Boden. Eilig raffte er sich auf und versuchte dabei möglichst gut, die aufkommenden Schwindelgefühle zu ignorieren. Zweimal stolperte er über einen Côtai, der leblos am Boden lag, doch schließlich gelang es ihm, aus dem Tumult zu entkommen.
    Jedoch in dem Moment, in dem er meinte, sicher zu sein, hörte er, wie eine Stimme hinter ihm etwas sagte, und spürte seine feste Hand auf der Schulter.
    Er drehte sich um, und hinter ihm stand einer der beiden Wachen, die ihn den ganzen Weg eskortiert hatten.
    Adrev hatte keine Ahnung, wie der Kerl in dem Durcheinander bemerkt hatte, dass er entwischt war, aber letztendlich war das auch egal. Er dachte nicht lange nach, sondern packte den Mann an den Armen und rammte ihm sein gesundes Bein ins Gemächt.
    Der Mann, sichtlich unvorbereitet, sackte in sich zusammen, und Adrev nutzte die Gelegenheit, noch mal nachzutreten. Doch zu seiner Überraschung hatte sich sein Gegner schon wieder soweit gefangen, dass er in der Lage war, Adrevs Tritt mit seinen Händen abzufangen und festzuhalten. Der Griff war nicht fest und normalerweise hätte sich Adrev wohl ohne Probleme aus ihm befreit, aber heute stand er auf einem schwer verletzten Bein, und das konnte die unerwartete Gewichtsverlagerung nicht auffangen. Kaum dass sich Adrev versah, lag er auch schon auf dem Boden.
    Der Côtai richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. Ein hasserfülltes Blitzen lag in seinen Augen, als er ein langes Messer zückte, das hinten in seinem Gürtel gesteckt hatte. Auch Adrev kam langsam wieder auf die Beine.
    Er stand kaum, da griff der Côtai ihn auch schon an. Mit Mühe konnte er ausweichen, indem er sich zur Seite warf und den Stich ins Leere gehen ließ. Innerlich verfluchte er sein verletztes Bein, das ihn im Moment mehr hinderte als nützte.
    Adrev wollte sich gerade aufrichten, da durchzuckte ein stechender Schmerz seinen rechten Arm und ließ ihn unter dem Gewicht von Adrevs Körper zusammensacken. In seinem rechten Oberarm steckte das Messer des Côtai, das dieser zielsicher geworfen hatte. Plötzlich war der Côtai über ihm und schlug wild auf den nun beinahe hilflosen Adrev ein.
    Adrev merkte, wie ihm langsam die Sinne schwanden. Er war schon längst nicht mehr in der Lage, sich zu wehren, dennoch schlug der Côtai immer weiter auf ihn ein. Trotzdem schien der Schmerz nicht zu-, sondern abzunehmen, so als würde sein Körper den Schmerz nicht mehr wahrnehmen, so als wäre es gar nicht sein Schmerz, sondern der Schmerz jemand anderes. Die Welt um ihn herum schien irgendwie weiter wegzurücken. Die Bilder wirkten weit entfernt und unecht, die Geräusche klangen dumpf.
    Alles verblasste.
    Alles war so weit weg.
    Der Hufschlag der Pferde rückte in immer weitere Ferne, bis er schließlich verstummte, genauso wie das Wiehern und die Rufe der Côtai.
    Und am Ende verstummte sogar der Wind.

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