[Gemeinschaftsprojekt] WBO 2008

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    Namenloses Bauwerk
    © Gomeck


    In Aikatun, einem Kaiserreich auf dem Nordkontinent, gibt es nach dem Glauben der Bewohner eine Vielzahl von Göttern, die alle gleichberechtigt nebeneinander verehrt werden. Einer dieser Götter ist Ke-Anum, der Gott des Holzes. Seinem Herrschungsbereich werden vor allem die Wälder zugeschrieben, doch auch ein jeder, der in irgendeiner Form mit Holz zu tun hat, sei es der Zimmermann oder der Fischer mit seinem Boot, richtet regelmäßig seine Ehrerbietung aus. Auf dem Land findet man in der Regel kleinere Schreine in den angrenzenden Wäldern, in großen Städten jedoch gibt es stets auch einen oder mehrere Tempel zu Ehren von Ke-Anum. Diese haben meist einen rechteckigen Grundschnitt von unterschiedlicher Größe, doch in der Regel etwa 12 Mannslängen in der Breite und 8 Mannslängen in der Tiefe.* Die Wände sind im Innern mit zahlreichen, zum Teil gewaltigen Holzreliefs bedeckt, im Innenbereich allerdings gibt es kaum Wände, sondern vor allem verzierte Säulen, die die Bäume des Waldes symbolisieren sollen, so dass die Innenräume der Tempel wie ein Wald aus Säulen anmutet. Es gibt in diesen Tempeln keinen Bereich, der besonders heilig zu bezeichnen wäre, die Gläubigen und Priester verrichten ihre Verehrungen irgendwo zwischen den Säulen.


    Vor etwa 180 Jahren herrschte ein Kaiser mit Namen Maikamatsum-Si é Sukatar über das Reich - das "Si" in seine Namen bedeutete "Der Vierte", denn er war der vierte seiner Blutslinie, und es war Brauch, dies im Namen fortzuführen. Er führte sein Reich mit harter Hand und verschaffte sich eine stabile Position zwischen den umgebenden Staaten, die seine starke Armee fürchteten. Das führte zu einer Phase des Friedens und Wohlstandes, und er war beliebt beim Volk.


    Doch mit der Zeit verfiel Maikamatsum-Si einer Droge, die sich "Keimakau" nannte, was soviel hieß wie "Das dritte Auge". Keimakau sagte man nach, Visionen hervorzurufen, gerade bei Priestern mancher Gottheiten war sie daher sehr begehrt. Nach einer Phase der Halluzinationen, die meist nur kurz dauerte, schloß sich dann aber eine Phase des positiven Hochgefühls an, die meist einen ganzen Tag anhielt, wobei die Wirkung kontinuierlich nachließ. In dieser Zeit des Hochgefühls war man außerdem ungemein kreativ und impulsiv, wobei die Ratio, die Vernunft, in gleichem Maße abnahm.


    Die Substanz selbst, ein gelbliches Pulver, das man in Wasser oder Alkohol auflöste, wurde aus einer Pflanze gewonnen, die man nur in Trekkamar* fand, und auch dort war sie sehr selten. So war es nicht verwunderlich, dass Keimakau sehr teuer war.


    Doch für Kaiser Maikamatsum-Si war dies selbstverständlich kein ausschlaggebendes Argument, um die Finanzlage seines Reiches stand es gut. Und so gewöhnte er es sich an, zunächst gelegentlich und später immer häufiger Gebrauch von Keimakau zu machen, bis er sich schließlich in einer permanenten emotionalen Hochphase befand, unterbrochen von gelegentlichen Höhepunkten, in denen er halluzinierend in seinem Bett lag.
    Während dieser Zeit der geistigen Umnachtung beschloss Maikamatsum-Si, ein Zeichen für die Nachkommen zu setzen, und wie wäre dies besser möglich als mit einem monumentalen sakralen Bau, der alles überragen sollte, was es bis dahin gegeben hatte. Seine Entscheidung fiel auf Ke-Anum, dem Gott des Holzes, der unter den vielen Göttern als einer der mächtigeren Götter galt. Ihm zu Ehren wollte er einen besonders prächtiger Tempel bauen! Er bestellte den besten Architekten des Landes zu sich, einen bereits älteren Keniau namens Niatuam é Salukesh, und unterbreitete ihm sein Vorhaben: der Tempel sollte nicht nur dreimal so hoch sein wie der höchste bis dato gebaute Tempel, er sollte dennoch filigran und zart in seinem Aussehen und darüber hinaus auch noch komplett auf Säulen errichtet sein, so dass die Bevölkerung unter ihm umhergehen kann wie in einem Wald. Der Architekt versuchte mit all seiner Überzeugungskraft, seinem Kaiser diesen Wunsch auszureden, doch vergeblich, er beharrte darauf, und er hatte eindeutig die stärkeren Argumente - der Architekt sah sich mit einem Mal damit konfrontiert, entweder das wahnwitzige Projekt zu wagen oder aber eiligst aus dem Land zu flüchten, um dem Henkersbeil zu entgehen. Der Architekt hatte jedoch Frau und Kinder und war zudem nicht sehr wagemutig, und so willigte er ein - und begann eiligst mit den Bauarbeiten.


    Der Bau machte zunächst gute Fortschritte, zügig war das Bau-Areal mit einer Vielzahl schlanker, schön anzusehender Säulen bedeckt, insgesamt 216 an der Zahl, in einem Abstand von gut zweieinhalb Mannslängen. Anschließend wurde darauf das erste Geschoß errichtet. Doch mit der Höhe des Baus stiegen selbstverständlich auch die Kosten bald in ungeahnte Höhen.


    Doch nicht nur der Architekt, sondern auch der gesamte Hofstab des Kaisers litt unter dessen Einfällen, die immer seltsamere Blüten trieb, je weiter er der Droge verfiel. Doch eines Tages gelang es seinem Hofarzt, dem Keniau Sarra é Leshakul, zu ihm durchzudringen, nachdem er unter Todesgefahr heimlich die Keimakau-Vorräte, die der Kaiser immer in seinen privaten Schlafgemächern aufbewahrte, immer mehr mit harmloseren Substanzen streckte. Schließlich gab Maikamatsum-Si dem Drängen seines Hofarztes nach, auf einem seiner Landsitze eine Entschlackungskur zu machen, da mit langsam klarerem Verstand dem Kaiser selbst klar wurde, dass die Staatsgeschäfte immer mehr litten.


    Zwei Monate später kam er aus seinem Landsitz zurück, zur Erleichterung vieler bei klarem Verstand und voller Tatendrang. Wenige Tage, nachdem er die Staatsgeschäfte wieder aufgenommen hatte, erreichte ihn jedoch die Meldung seines obersten Schatzmeisters, dass es um die Finanzen der Stadt nicht sehr rosig aussähe, solange an dem Bau des neuen Tempels zu Ehren des Ke-Anum weiter festgehalten würde. Diesen hatte der Kaiser völlig vergessen, und eilig besichtigte er die Baustelle, wo der Tempel inzwischen schon stattliche 7 Stockwerke emporragte, die sich nach oben hin immer mehr verjüngten. Zwar gefiel ihm, was er sah - die Säulen waren schlank und mit filigranen Stuckarbeiten versehen, die Wände der Stockwerke darüber mit vielen hohen Fenstern und zahlreichen Außengalerien versehen, an denen kunstvolle Figuren die Ecken zierten - Doch er war im Grunde sehr klug, und so sah er, dass die Vollendung dieses Baus die Kassen der Stadt sprengen würde, und außerdem gab es an den Ostgrenzen des Landes einen aufkeimenden Konflikt mit dem Nachbarland Saam Tey (ebenfalls hervorgerufen durch eine seiner spontanen Ideen während seines Deliriums), so daß er steigende Kosten im Militärbereich nicht mehr ausschließen konnte.


    Er hielt sich allerdings nicht mit schlechtem Gewissen und Gefühlen des Mitleids auf und löste das Problem auf wahrhaft kaiserliche Art und Weise: er ließ den Architekten und seine Baumeister zu sich rufen, behauptete frei heraus, der Architekt sei wahnsinnig geworden und hatte entgegen seiner Anweisungen die Baupläne verändert, und ließ sie allesamt in den Kerker werfen, wo sie Jahre später tatsächlich irre wurden und schließlich vor Schwäche starben.


    Der unvollendete Tempel ist bis heute, 180 Jahre später, immer noch das höchste Gebäude der Stadt, und es wird auch tatsächlich als Tempel genutzt, allerdings in abnehmendem Maße, da manche Säulen im inneren Bereich inzwischen beachtliche Risse aufweisen. Die oberen Stockwerke des Gebäudes wurden irgendwann allerdings von diversen Sitauel-Clans* besetzt, die von dort eine hervorragende Sicht auf die Stadt hatten; nach anfänglichen Widerständen seitens der Priester hatte man dann die Clans dort wohnen lassen, da ohnehin niemand der Keniauel dort oben Dienst verrichten wollte.


    * Keniau: Großkatzenartiger Hexapode


    * Mannslänge: Ein Keniau wird etwa 2m lang, dies wird mit einer Mannslänge bezeichnet.


    * Trekkamar: verhältnismäßig schmale Landbrücke zwischen dem Nord- und Südkontinent, tropisch bis subtropisch.


    * Sitauel: Fliegende Hexapoden, ca. 80cm hoch.

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    Der Aurog-Tempel zu Trûrg
    © Moordrache


    Prolog:


    In einer Welt, deren Bewohner größtenteils der Meinung sind, dass sie auf einem kugelförmigen Planeten leben, obwohl dieser "Planet" tatsächlich etwa so viel mit einer Kugel gemeinsam hat wie ein Fladenbrot, in dieser Welt also leben gar wunderliche Völker. Auf den ersten Blick sehen sie den Bewohnern anderer Welten sehr ähnlich, doch der zweite Blick oder ein offenes Ohr offenbart meistens schon gewichtige Unterschiede. In aller Kürze seien hier nur die wenigen Völker, die in der nachfolgenden Abhandlung eine Rolle spielen, und ihre Besonderheiten genannt.
    Da sind etwa die Ôrgs. Zwar sehen sie mit dunkelgrüner bis schwarzer, lederartiger Haut, unteren Reißzähnen, die ebenso gut einem jungen Eber gehören könnten, und in ihrer typischen, leicht gedrungenen Körperhaltung eher wie gefährliche Krieger oder gar Räuber aus, doch in Wirklichkeit sind sie überwiegend die Friedlichkeit in Person und haben ihre Stärken in der – eher sinnfreien – Lyrik und im Philosophieren; auch so mancher Forscher, solange er dazu mehr denken als körperlich arbeiten muss, entstammt den Ôrgs.


    Oder die Trulle. Sie sind groß – etwa eineinhalb mal so groß wie Ôrgs – und von grobschlächtigem, kräftigem Körperbau, mit geheimnisvoller Herkunft und langer Lebenszeit – und sind vor allem sehr nervig, wenn sie Wildfremde zu "ihrem" Glauben bekehren wollen. Zu allem Übel scheint absolut jeder Trull einer anderen – sonderbaren – Gottheit anzuhängen.
    Im Folgenden nur eine Randnotiz sind die Tswerge, die etwas mehr als die halbe Größe von Ôrgs erreichen. Klein, bärtig und stämmig werden sie oft für zähe Kämpfer gehalten, die fast ihr ganzes Leben lang unterirdisch im Gebirge leben. Bei beiden Klischees ist das Gegenteil die Wahrheit, auch wenn ihre Häuser oft ein oder zwei Kellergeschosse mehr aufweisen als oberirdische Stockwerke.


    Das Wahrzeichen und seine Entstehung:


    In dieser nicht wirklich kugelförmigen Welt begab es sich vor vielen Jahren, dass sich ein Trull, dessen Name mit Ruydi überliefert ist, auf Wanderschaft machte – wie es so manche aus seinem Volk zu jener Zeit taten und viele auch heute noch tun –, um Angehörige anderer Völker von der Wichtigkeit "seiner" Gottheit zu überzeugen. Während seiner jahrelangen Wanderschaft war es Ruydi tatsächlich gelungen, etwas mehr als dreißig dauerhafte Gläubige zu gewinnen, was einer recht stolzen Zahl entspricht – für trullische Verhältnisse; einige begleiteten ihn sogar zeitweise auf seiner langen Wanderung. Aber auch seine treuesten Begleiter wurden irgendwann des dauernden Wanderpredigens müde. Nach und nach beschlossen diese, wieder sesshaft zu werden und unabhängig voneinander nur noch in ihrer neuen oder alten Heimat weitere Gläubige zu gewinnen. Drei von ihnen hatte Ruydi bis dahin zu Hohepriestern geweiht – nur eine geringe Stufe niedriger als er selbst, der sich neben 'Hohepriester' auch 'Oberster Gläubiger' nennen durfte; ungeachtet der Tatsache, dass er viele Jahrzehnte lang sowieso der einzige Gläubige seiner Gottheit war.


    Diesen drei Hohepriestern trug er auf, jeweils an ihrer neuen Wirkungsstätte einen Tempel zu errichten, welcher der Erhabenheit ihrer gemeinsamen Göttin gerecht werden würde. Da er dazu sehr genaue Vorstellungen hatte, gab er ihnen gewisse Regeln für jenes Bauwerk vor und fertigte sogar eine grobe Skizze an, die der beauftragte Architekt als Orientierung nutzen konnte.
    Jeweils etwa zwei Jahre nach Baubeginn war er zurückgekehrt – denn er war stets rastlos und hielt es nie lange an einem Ort aus –, um den neuen Tempel zu begutachten. Trotz einiger kleiner eigenwilliger Änderungen seiner Hohepriester an der Tempelausführung, die seine Regeln jedoch nicht verletzten, war er mit dem Ergebnis immer sehr zufrieden. Er vertraute seinen Hohepriestern so sehr, dass er hernach nie mehr zu ihren Wirkungsstätten zurückkehrte – er wollte vermeiden, dass sie dies als 'Kontrollbesuch' verstehen könnten.


    Viele Jahre später begab es sich, dass Ruydi einen weiteren seiner treuen Begleiter zum Hohepriester weihte. Die Weihezeremonie selbst war recht einfach gehalten, und doch rührte sie den neuen Hohepriester offensichtlich zu Tränen: Ein kräftiger Klaps mit Ruydis Bären- – Pardon: Trullpranke auf die Schulter seines Schülers und die heiligen Worte "So, jetzt bist du Hohepriester der Aurogodolufo. Mach was draus!" besiegelten den neuen Rang des Glücklichen. Vor Ergriffenheit blieb dem neuen Hohepriester sogar kurzzeitig die Luft weg.


    Dieser war ein Ôrg namens Ûro Glâbro. Er gehörte zu den relativ wenigen Ôrgs, die weder mit einer dichterischen Ader noch mit überragender Denk- und Konzentrationsfähigkeit gesegnet sind. Er war sicherlich nicht dumm, doch herausragende Eigenschaften waren ihm nicht in die Wiege gelegt worden. Um dem großen Druck seiner Familie einerseits und harter bäuerlicher Arbeit andererseits zu entgehen, war er schließlich Ruydi gefolgt, als dieser durch Ûros Heimatstadt Trûrg – eine der größten Ôrg-Städte überhaupt – gekommen war.


    Nun aber, einige Jahre nach jenem Entschluss und wenige Monate nach seiner denkwürdigen Weihe zum Hohepriester, kamen Ruydi und Ûro erstmals wieder nach Trûrg. Die Schmerzen in Ûros Schulter waren inzwischen endlich beinahe gänzlich verschwunden.


    Schon nach kurzem Aufenthalt wurde Ûro bewusst, dass sein Ansehen – jetzt als Hohepriester, wenn auch einer den Ôrgs unbekannten Göttin – schlagartig stark angestiegen war. Es dauerte nicht lange, da war beschlossen, dass Ûro in Trûrg bleiben würde statt weiter Ruydi zu begleiten. Auch diesmal trug der 'Oberste Gläubige' seinem Hohepriester auf, einen Tempel errichten zu lassen, legte ihm seine Vorstellungen und Regeln dar sowie händigte ihm zuletzt die Skizze des zukünftigen Bauwerks aus.


    Diese war schon durch viele Hände gegangen und hatte Ruydi stets auf seinen Reisen begleitet, nachdem er die drei fertigen Tempel begutachtet hatte; viele Falten und Knicke hatten daher ihre Spuren hinterlassen. Das Papyrus war zwar in zwei Teile zerrissen, die Zeichnung jedoch war noch gut erkennbar, und so sahen darin weder Ruydi noch Ûro ein Problem.
    Bereits am nächsten Tag machte Ûro sich auf die Suche nach einem geeigneten Architekten, den besten Steinmetzen der Stadt und nach wohlhabenden Trûrgern, die dazu bereit waren, ihm für die Finanzierung des Baus eine kleine Spende zukommen zu lassen. Ruydi dagegen setzte wieder einmal unverdrossen seine Wanderschaft fort.


    Etwas mehr als zwei Jahre darauf erreichte Ruydi abermals Trûrg, um sich den neuen Tempel anzusehen. Ruydi war es inzwischen gelungen, einen weiteren Bekehrten zu finden, einen Tswerg, der ihn nun begleitete. Bereits etwa eine halbe Stunde nach betreten der Stadt entdeckte der Trull durch Zufall seinen Hohepriester, als dieser auf einem kleinen Platz eine Predigt hielt. Gegen Ende machte Ûro die Zuhörer auf den neuen Tempel aufmerksam und lud sie zur Einweihungsfeier ein, die in wenigen Tagen stattfinden und wo er, Ûro, fortan seine Predigten halten würde. Ruydi war erfreut, war er doch offensichtlich genau zum richtigen Zeitpunkt zurückgekehrt.
    An dieser Stelle wollen wir diesem denkwürdigen Zusammentreffen etwas eingehender folgen. Der exakte Wortlaut ist leider nicht absolut bis ins Einzelne überliefert, weshalb hier teils auf Vermutungen zurückgegriffen werden muss, aber aller Wahrscheinlichkeit nach dürften die Ereignisse und Gespräche zumindest sehr ähnlich wie nachfolgend geschildert stattgefunden haben.


    Als sich die Menge – etwa fünf Ôrgs und ein Tswerg, der sich vermutlich nur verirrt hatte – nach Ûros Predigt aufzulösen begonnen hatte, ging der Trull auf Ûro zu und begrüßte ihn erfreut:
    "Aurogodolufos segensreicher Segen!" – dies war der rituelle Gruß unter Priestern eben jener Göttin, auf diese Idee war Ruydi schon immer besonders stolz gewesen – "Wie ich höre, komme ich gerade zur rechten Zeit, Hohepriester Ûro." Wieder einmal seine gewaltige Körperkraft unterschätzend ergriff er Ûros Hand und schüttelte und drückte sie so heftig, dass der Ôrg schmerzhaft wieder an seine größten Leiden während seiner Wanderjahre erinnert wurde.


    Mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht – was Ruydi vermutlich eher als in der Öffentlichkeit mühsam unterdrückte Freude deutete – antwortete Ûro, nachdem er wieder zu Luft gekommen war: "Aurogodolufos segensreicher Segen! Ja, der Tempel ist gerade erst fertig geworden, es fehlen nur noch einige Ausschmückungen im Inneren. Du wirst sicher begeistert sein, Oberster Gläubiger Ruydi."
    "Ich weiß jetzt schon, dass ich das sein werde. Aber genug der Förmlichkeiten. Ûro, wo ist der Tempel? Ich möchte ihn so schnell wie möglich sehen! – Oh, warte, dies ist Schorsch, habe ihn unterwegs getroffen. Er lernt schnell und wird sicher bald Priester werden."
    Ûro schüttelte dem Tswerg die Hand. "Willkommen in Trûrg. Noch kein Priester also?"
    "Nein, daher einfach nur: Tach!"
    "Hm, vom 'Clan der Gewellten Bärte', richtig?"
    "Oh, ein Ôrg, der sich mit Tswergen-Clans auskennt!" rief Schorsch erstaunt aus. "Ja, richtig vermutet, zumindest ehemals Gewellte-Bärte, aber der Bart bleibt trotzdem so. Tradition."
    "Auf unserer gemeinsamen Wanderschaft sind Ruydi und ich öfters auch durch Tswergen-Gebiet gekommen. Ist die Clan-Küche immernoch so... ähm..."
    Schorsch winkte ab. "Natürlich. Was denkst du denn, weshalb ich den Clan verlassen habe? Ich hasse Pfefferminzsoße!"
    Dies entlockte Ûro ein verständnisvolles Lächeln, doch Ruydi wurde ungeduldig und unterbrach die Beiden:
    "Schluss jetzt damit, ihr könnt euch auch später noch kennenlernen! Wo ist der Tempel?! Jetzt!"
    "Gleich hier um die Ecke. Der Standort ist nicht ganz optimal, nur an einem kleinen Platz, aber praktisch im Herzen der Stadt. Fast jeder kommt hier mindestens alle paar Tage vorbei."
    "Gut, lass uns hingehen."
    "Gehen wir durch die Gassen; ist schneller, als der Hauptstraße zu folgen."


    So ging Ûro durch einige verwinkelte, schmalen Gassen voran, während Ruydi und der Tswerg ihm schweigend folgten.
    Kurz darauf erreichten sie den neuen Tempel an einer seiner Seitenwände. Ringsum standen andere Gebäude recht dicht am Tempel, lediglich nach vorne öffnete sich ein kleiner Platz, den selbst der kleinwüchsige Schorsch mit einem guten Dutzend Schritten hätte überqueren können. Da es schon Abend und daher dunkel geworden war, hielten sie sich nicht mit langem Bestaunen der Fassade auf, von der wegen der Dunkelheit und Enge ohnehin nicht viele Details erkennbar waren, sondern gingen gleich ins Innere.


    Den Eingang bildete eine zweiflügelige, über fünf Schritt hohe und fast ebenso breite Eichentür, die sich trotzdem erstaunlich leicht öffnen ließ, aber nach der Einweihung tagsüber meistens ohnehin offenstehen würde. Das Holz war mit zahlreichen geschnitzten, reliefartigen Verzierungen geschmückt, die hauptsächlich Äpfel in allen möglichen Variationen und Größen darstellten; selbst die bronzenen Türknäufe waren in Apfelform gehalten. Auch der nur aufgemalte Torbogen, der die Tür einrahmte, stellte zahlreiche Äpfel dar.
    Eilig entzündete Ûro im Tempel mehrere Kerzen, was einige Zeit dauerte, bevor Ruydi den Eingang durchschritt und das Innere in Augenschein nahm. Trotz der etwas dürftigen Beleuchtung entlockte der Anblick Ruydi ein zufriedenes Grunzen nach Trull-Art.


    Nach dem Eingang öffnete sich vor dem 'Obersten Gläubigen' eine säulenlose und annähernd quadratische Halle mit einer Seitenlänge von etwa neun Trull-Längen [9 'TL' = ca. 20 m] – keine gewaltigen Ausmaße, aber trotz ihrer Körpergröße haben Trulle andere Vorstellungen von idealen Tempel-Dimensionen, als man ihnen vielleicht zutrauen würde.


    Den Boden bedeckte ein lückenloses Mosaik aus hauptsächlich gelben bis gelblich-braunen und gelblich-grauen Steinchen, die in unregelmäßigen Abständen und mit weichen Übergängen jedoch aus roten und rot-braunen Steinen gebildeten Flecken wichen. Abgesehen von den unförmigen roten Flecken etwa in der Größe von Wagenrädern und größer war kein bestimmtes Muster erkennbar, die verschiedenen Gelbtöne gingen fließend ineinander über. Knapp jenseits der Hallenmitte gegenüber der Tür führten drei Stufen auf eine kreisrunde steinerne Plattform, die ebenso vom Mosaik bedeckt war und auf der eine Art Altar stand: Er hatte die Form eines Apfels – eines gelben Apfels mit roten Flecken. Nichtmal der Apfelstiel in der Mitte war vergessen worden; er diente als leicht krummer Kerzenhalter.


    Die Wände wiesen kein Mosaik auf, waren aber in genau den gleichen Gelbtönen gehalten und mit großen rötlichen Flecken versehen worden. Durch den bemalten Stuck wirkten die Farben weniger glänzend als das Bodenmosaik, dafür aber auch weicher und wärmer.


    Die 'Ecken' der Halle waren, wie es sein sollte, stark abgerundet, da nach Ruydis Regeln keine 'harten Ecken' den Tempel entweihen durften, wie er es nannte. Nahezu alles musste 'apfelrund' sein, auch die Kanten der Treppenstufen zum Altar waren stark abgerundet, und sogar die Wände waren im untersten knapp kniehohen Bereich stark verbreitert und zur Hallenmitte und zum Boden hin abgerundet.
    Die Wände, die unmittelbar oberhalb der abgerundeten Verdickung immerhin noch nahezu zwei Schritt dick waren, erstreckten sich mehrere Troll-Längen in die Höhe, wo sie allmählich dünner wurden, bevor sie der Decke begegneten, die im schummrigen Kerzenlicht aber im Moment kaum erkennbar war.


    Die übrige Einrichtung war sehr einfach gehalten. Sitzgelegenheiten gab es keine. Entlang den Wänden – der Wandrundungen am Boden wegen etwa in jeweils einem Schritt Abstand zu ihnen – reihten sich etwa zwei Dutzend bronzene Kerzenständer auf, von denen jeder drei dicke Kerzen trug. Auch die gut trullhohen Kerzenständer deuteten mit schwungvollen Bögen und Schnörkeln Apfelrundungen an.
    "In den vier Tempel-Ecken – ähm, Rundecken, Rundungen... naja, du weißt, was ich meine – werden noch die Holzpfosten in Apfelform platziert, auf denen dann die echten Äpfel liegen. Die werden aber erst übermorgen geliefert – die Pfosten, meine ich", erklärte Ûro, als er einen kritischen Blick des Trulls bemerkte, der sich damit auch gleich zufriedenzugeben schien.


    "Sehr gut", urteilte dieser schließlich nach einem weiteren längeren Rundblick, "aber es ist jetzt leider doch schon zu dunkel, um den Tempel in seiner ganzen Pracht genießen zu können; trotz der Kerzen. Aber morgen ist auch noch ein Tag, Aurogodolufo sei gepriesen! – Oh, und sag nicht Pfosten, es sind immerhin Aurogodolufos heilige Tempeläpfel! Das solltest Du inzwischen wissen."
    Ûros gemurmeltes "Jaja" war zum Glück so leise, dass Ruydi es überhörte. "Ihr seid sicher müde", lenkte der Ôrg dennoch sicherheitshalber vom Thema ab. "Wollt ihr nicht ins Nebengebäude und schlafen gehen?"
    Wie auf Kommando gähnte Ruydi ausgiebig. "Guter Gedanke!" Er wollte bereits umdrehen und den Tempel verlassen, als Ûro ihn zurückhielt:
    "Nicht da lang, wir können durch den Tempel durchgehen."
    "Durch den Tempel?" fragte Ruydi verwundert. "Ich bin zwar ein Trull, aber durch Wände gehen kann ich trotzdem nicht..."
    "Ist auch nicht nötig, ich habe da eine Tür einbauen lassen. Kommt mit..."
    Tatsächlich befand sich schräg gegenüber des eigentlichen Eingangs eine gut getarnte kleinere Tür, die, obwohl sie aus Holz bestand, in Farbe und Struktur sehr gründlich der umgebenden Wand angepasst worden war, so dass man sie nur erkennen konnte, wenn man sehr genau hinsah oder direkt davor stand.


    "Davon war in meinen Regeln aber nicht die Rede...", monierte der Trull halbherzig, ging aber dennoch als Erster durch die Tür, ohne einen weiteren Kommentar dazu abzugeben.
    Das – natürlich gelbe – Nebengebäude bestand im wesentlichen aus einem Lagerraum, einer kleinen Küche, zwei einfachen kombinierten Wohn- und Büroräumen für im Tempel tätige Priester – im Normalfall war natürlich Ûro der Einzige – und drei Kammern mit Betten für Gäste, wie es nun Ruydi und Schorsch waren.


    Ein markerschütterndes Brüllen zerriss die morgendliche Stille des darauffolgenden frühen Tages. Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, erhellte aber bereits den Himmel und weite Teile der Stadt.
    Das entsetzte Brüllen aus dem Tempel war längst verklungen, als Ûro hektisch und zugleich noch schlaftrunken denselben durch die Hintertür betrat und beinahe in den wie angewurzelt dastehenden und nach oben starrenden Trull gerannt wäre.


    "Wasnlos?" fragte Ûro, ein Gähnen unterdrückend. Da er keine Antwort erhielt, folgte er einfach Ruydis Blick, konnte aber nichts Außergewöhnliches erkennen.
    Seitlich hoch über dem Eingang der Vorderwand saßen zwei große, fast kreisrunde Fenster, deren Formen natürlich an Äpfel erinnerten, mit dickem, milchigem Glas, das einen minimalen, kaum wahrnehmbaren Gelbstich aufwies. Wäre das Glas stärker gelb gefärbt gewesen, hätte man kaum das Rot der Flecken als solches erkennen können. Dadurch war das Innere des Tempels nun wesentlich besser beleuchtet als am Vorabend.
    Von den hoch aufragenden Wänden wölbte sich die Decke zur Tempelmitte hin nach unten, von der ihr mittlerster Bereich wiederum leicht nach oben gestülpt war – es dürfte unnötig sein zu erwähnen, dass die Deckenwölbung stark an einen gelben Apfel erinnerte, wobei die Apfeloberseite jedoch nach unten zeigte. Natürlich waren weder die roten Flecken noch der Stiel vergessen worden, auch wenn der nur durch einen kurzen Stumpen angedeutet wurde. An der niedrigsten Stelle befand sich die Decke immernoch gut dreieinhalb Trull-Längen über dem Boden, während die Wände etwa doppelt so weit in die Höhe ragten, bevor sie sich mit dem Decken-Apfel vereinigten.
    "Achso, ja", begann Ûro, der nun zu verstehen glaubte, "die Deckenwölbung musste etwas niedriger ausgeführt werden und die Wände dafür höher. Der Architekt meinte, die Wände hätten sie sonst nicht tragen können, irgendwo müsse die Decke ja aufliegen; dabei hat er schon das leichteste steinähnliche Material verwendet, das er finden konnte. Deshalb steht der Apfel – also das Dach – auch etwas über, aber ich finde, der Tempel sieht dadurch von außen noch besser aus als auf deiner Zeichnung."


    Endlich löste Ruydi den starren Blick von der Decke und sah den Ôrg an, mit nicht weniger Entsetzen in den Augen als zuvor. "Steht über? Decke muss aufliegen? Aber das würde sie doch... Was hast du getan?" In Ruydis Augen blitzte für einen kurzen Moment sowas wie Aggressivität auf, äußerlich blieb er jedoch erstaunlich ruhig.


    "Iiich?? Nichts! Sooo schlimm kann das doch nicht sein mit dem Dach... ich meine, es ist ja schon eine recht eigenwillige Konstruktion. Ich war froh, überhaupt einen Architekten gefunden zu haben, der den Auftrag übernehmen wollte..."


    "Ja, verstehst du denn nicht...?" Ruydi hielt inne und sein Blick wirkte plötzlich abwesend, als wäre ihm ein Gedanke gekommen. Dann sprang er ohne Vorwarnung mit wenigen, aber gewaltigen Schritten zur Eichentür, riss sie auf und rannte ins Freie.


    Erst auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes blieb er stehen und wagte es, sich umzudrehen. Was er sah, ließ ihn erneut erstarren. Könnten Trulle Tränen vergießen, er hätte jetzt bitterlich geweint. So blieb es bei einem tiefen Seufzen.


    Vor der gelben Tempelfassade mit den beiden großen Fenstern, die von außen deutlich gelber wirkten als von innen, ragte etwa sieben Schritte links und rechts vom Eingang je eine – erstaunlicherweise nicht gelbe sondern weiße – glattpolierte Säule etwa fünf Trull-Längen in die Höhe. Ihre Aufgabe bestand jedoch nicht darin, ein Vordach oder etwas ähnliches zu tragen, sondern deren Kronen waren stark verbreitert und – wen erstaunt es? – als Äpfel nachgebildet worden. Diese waren dann natürlich doch wieder im üblichen Gelbton mit roten Flecken gestaltet worden.


    Wo die Tempelwände zu enden schienen, ragte das eigenwillige Dach weit über den Tempelgrundriss hinaus, über den Seitengassen berührte es beinahe die benachbarten Gebäude. Nach oben hin setzte sich die Wölbung aus dem Tempel-Inneren fort, bis sie schließlich gut drei Troll-Längen höher senkrecht nach oben endete. Dachte man sich die Tempelwände als durchsichtig, war das Dach also wie ein in der Mitte quer durchgeschnittener Apfel, der mit der Schnittfläche nach oben auf die vier Wände gestülpt worden war und in der Mitte sozusagen durchhing. Die "Schnittfläche" war von Ruydis Position am Boden aus natürlich nicht zu sehen.
    Endlich kam auch Ûro aus dem Tempel und ging zum Trull, der sein Unglück immer noch nicht begreifen konnte. "Sieht doch gar nicht so schlimm aus, fast genauso wie auf der Zeichnung." Ûro hielt seinem Obersten Gläubigen die Skizze hin, die er wohl inzwischen aus dem Nebengebäude geholt haben musste.


    Ruydi genügte ein kurzer Blick, um zu verstehen. "Falschrum", murmelte er nur.


    "Was?"
    "Dem Architekten hast Du meine Zeichnung auch so gezeigt wie mir jetzt?" fragte er statt einer Erklärung.
    "Äh... ja...?"


    Ruydi nickte resignierend, bevor er Ûro ansah. "Du hast die beiden Teile falschrum zusammengehalten. Das Dach – die Kuppel – gehört andersrum hin, mit der Wölbung nach oben."
    Ûro sah sich die in zwei Teile zerlegte Zeichnung genauer an, schließlich machte sich Erkenntnis in seinen Gesichtszügen breit und er drehte den kleineren Teil nun um. Der relativ glatte Knick, wodurch das Papyrus zerrissen war, ging nun genau zwischen der gezeichneten Kuppel und den unteren Tempelwänden durch. Unglücklicherweise hatte Ruydi einst die ganze Größe des Papyrusblattes ausgenutzt und die apfelförmige Kuppel bis an den oberen Rand gezeichnet, so dass deren Ausrichtung auf dem abgerissenen Teil nur schwer zu erkennen gewesen war.


    Es wurde bereits erwähnt, dass Ûro nicht mit dem allergrößten geistigen Talent gesegnet worden war. Vielleicht war es sogar doch noch geringer, als gedacht... Weshalb auch immer, irgendwie war er nie auf den Gedanken gekommen, dass das Dach eine Kuppel sein sollte sondern hatte es für eine sonderbare Konstruktion gehalten, was ihn angesichts der ausgefallenen Religionslehre des Trulls aber nicht verwundert hatte. Außerdem hatte Ûro nie die drei anderen Tempel gesehen.


    "Vielleicht hättest du besser einen Tswerg beauftragen sollen", meinte da Schorsch, der inzwischen unbemerkt dazugekommen war und sich den Plan in Ûros Händen nun ansah. "Wir kennen uns mit solchen Dingen offensichtlich besser aus als Ôrgs... – Trotzdem sehr erstaunlich, dass die Wände nicht einfach zur Seite kippen..."
    Doch Ûro beachtete ihn nicht weiter. "Immerhin ist das Dach hohl wie es sich für eine Kuppel gehört, es wäre sonst sowieso viel zu schwer gewesen, aber halt auch oben offen... Außerdem sieht man ja noch, dass es einen Apfel... ups, den heiligen Apfel der Aurogodolufo darstellen soll... naja, zumindest von innen...", versuchte er stattdessen Ruydi zu beruhigen.
    "Nur ein halber Apfel..." Ruydi war noch immer schwer enttäuscht, ja, geschockt über den Anblick. Langsam und sichtlich lustlos begann er, sich dem Tempel wieder zu nähern. "... nicht zu übersehen, halber Apfel...", murmelte er.


    "Naja, aber ein Apfel... Ich bin mir sicher, Aurogodolufo ist damit ebenso zufrieden wie mit dem ursprünglichen Entwurf." Ûro schöpfte weiter Hoffnung, Ruydi doch noch davon überzeugen zu können, dass alles gar nicht so schlimm war.


    "Nein, kann sie nicht, Aurogodolufo ist die Göttin der gelben Äpfel mit roten Flecken. Hast Du das schon vergessen?"
    "Aber das Dach ist doch gelb und hat rote Flecken...!"


    Ruydi erreichte gerade eine der Säulen vor dem Tempel und blieb stehen. Er schüttelte den Kopf. "Aber es ist deutlich ein halber Apfel. Gott der halbierten Äpfel ist Oulaguromaru, nicht Aurogodolufo. Und Bokoi ist sein Oberster Gläubiger. – Ich kann Bokoi nicht ausstehen, ist total eingebildet. Aber mal ganz ehrlich: Wer braucht schon einen Gott der halbierten Äpfel?!" Er sah Ûro und Schorsch an, die ihm gefolgt waren, erkannte in beider Augen aber nur Unverständnis. "Bokoi würde wahrscheinlich einen Tempel für Oulaguromaru sogar genau so aussehen lassen, wie den hier, zumindest das Dach." Er zeigte auf das Bauwerk schräg hinter ihm. Doch dann brach die ganze aufgestaute Wut aus ihm heraus: "Und das kann nicht sein!" brüllte er. "Ein Aurogodolufo-Tempel genauso wie ein Oulaguromaru-Tempel? Niemals!"
    Mit dem letzten Wort schlug er mit der Faust heftig – extrem heftig – gegen die Säule, an der er stand, die daraufhin trotz ihres sicherlich beachtlichen Gewichts bedrohlich wackelte. Trotz des gewaltigen Fausthiebs und harten Gesteins schien Ruydi keinerlei Schmerz zu spüren, er sah wie gelähmt dem nun folgenden Schauspiel zu.


    Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Säule sich dazu entschloss, der Schwerkraft nachzugeben und langsam umzukippen. Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig:
    Während die erste Säule unter den entsetzten Blicken des Trulls und seiner beiden Begleiter genau gegen den Fuß der zweiten stieß und auch diese dadurch wiederum zu wanken und schließlich zu kippen begann, kamen drei Ôrgs um jene (übrigens auch außen stark abgerundete) Tempel-Ecke, die der zweiten Säule am nächsten war.


    "Vorsicht!" rief Ûro mit wedelnden Armen, als er die Gefahr erkannt hatte; die drei Ôrgs schienen den Lärm der ersten gefallenen Säule nicht bemerkt zu haben und wunderten sich nur ein wenig über die staubige Luft. "Weg da!"
    Die Drei erfassten die heikle Situation jedoch zu spät und konnten der nun krachend und komischerweise sehr rasch niederstürzenden zweiten Säule nicht mehr ausweichen.
    Nachdem sich der Staub gelegt hatte, sah Schorsch nach den Dreien, kam jedoch kopfschüttelnd mit betrübter Mine zurück. "Nichts mehr zu machen..."
    Schließlich fand auch Ûro wieder aus der Schockstarre heraus. "Das waren ausgerechnet der Architekt und die beiden Baumeister, die den Tempelbau geleitet haben... Was für eine Tragödie!"
    "Na, die Falschen hat's dann ja nicht erwischt", meinte der Tswerg trocken, aber für die anderen kaum hörbar.


    "Was... was machen wir jetzt...?" Ûro wandte sich hilfesuchend um – doch Ruydi war spurlos verschwunden.


    Epilog:
    Heute, vierzig Jahre nach dem Bau des – falschen? – Tempels, wird er noch immer genutzt, sogar mehr, als jemals zuvor. Der Eingang wird nun von zwei steinernen, etwa ôrghohen Äpfeln flankiert – ohne Säulen, diese wurden nicht wieder aufgestellt. Andere Veränderungen wurden kaum vorgenommen. Lediglich führt inzwischen eine schmale Treppe von einer der Seitengassen aus über das niedrige Nebengebäude und die Tempelrückseite zum Dach hoch.


    Alljährlich sammelt sich im offenen Dach wie in einem großen Becken vor allem im Frühjahr das Regenwasser, denn die auf dem Kopf stehende Kuppel besitzt ja keinen Abfluss. Es hatte nicht lange gedauert, bis die Jugend der Stadt das Tempeldach auf ihre ganz eigene Weise zu nutzen verstand – nämlich als erfrischendes Schwimmbecken im heißen Sommer. Um gefährliche Kletterpartien zu vermeiden, wurde dann auch irgendwann die Treppe gebaut sowie im Innern der Kuppel Leitern angebracht, die von außen nicht zu sehen sind. Nach dem Sommer ist das Wasser zwar gewöhnlich fast vollständig verdunstet, aber dadurch bietet sich auch eine gute Gelegenheit, das Becken, ähm, Dach zu säubern.


    Im Innern hält Ûro – gelegentlich unterstützt von Schorsch – jedoch nach wie vor beinahe täglich seine Predigten, bei schönem Wetter auch manchmal auf dem Vorplatz oder sogar oben am Beckenrand. Das gegenüberliegende Gebäude ist vor einigen Jahren abgerissen worden, so dass sich hier nun deutlich mehr Leute versammeln können.


    Geweiht ist der Tempel inzwischen allerdings Aurog, der Göttin der gelben Äpfel mit roten Flecken und der sommerlichen Erfrischung. Diese kleine Änderung hat sich Ûro erlaubt – einerseits als Notlösung, damit der Tempel nicht durch die badende Jugend entweiht wird, und andereseits weil die meisten Ôrg den langen und komplizierten Namen sowieso weder sich merken noch ihn unfallfrei aussprechen können.
    Durch die auffällige und besondere Bauweise, Farbgebung sowie Nutzung ist der Aurog-Tempel mittlerweile zum – wenn auch nicht ganz offiziellen – Wahrzeichen der Stadt Trûrg geworden. Kaum ein Reisender lässt sich einen Besuch dieses kuriosen Bauwerks entgehen, die Jugend im Sommer schon gar nicht.


    Ruydis Schicksal dagegen ist ungewiss. Er wurde nie mehr in Trûrg oder sonst irgendwo gesehen. Ûro vermutet, dass er sich ins Land der Trulle zurückgezogen hat. Aber wer weiß, vielleicht taucht er ja doch eines Tages wieder auf – oder hoffentlich besser nicht: Den erneuten Schock würde selbst der hartgesottenste Trull vermutlich nicht überleben.

  • << WBO 2008
    Das Großelternritual der Nham-Stämme
    © Ehana


    In der Vorzeit wurde die Ebene um den Oberlauf des Flusses Nham noch von einer Vielzahl an kleineren und größeren Stämmen besiedelt. Entsprechend vielfältig zeigten sich die verschiedenen Glaubensrichtungen, die man dort vorfand. Zu den bedeutendsten dieser Religionen gehörte ein Dreigötterglaube, der vor allem im Nordwesten der Ebene verbreitet war. Er widmete sich der Verehrung der drei Gottheiten Adevan (männlich), Kiveira (weiblich) und Savai (geschlechtslos, für das Unbekannte, Mysteriöse stehend). Sie wurde unter anderem in dem Stamm praktiziert, dem Lerathar Dhim, der spätere Gründer des Oremh-Reichs, entstammte. Als der Lebensraum der Stämme zunehmend von der Expansion der Dvaper-Hochkultur im Südosten bedroht wurde, entstand unter Führung von Dhims Vater ein Verteidigungspakt der Stämme, dem es schließlich gelang, die Aggressoren zurückzutreiben. In der Überzeugung, dass nur die Gemeinschaft den Frieden in der Ebene würde wahren können, entstand ein zunächst lockerer Stammesverbund, dessen Vorsitz Dhim selbst übertragen wurde, nachdem sein Vater bei den Kampfhandlungen ums Leben gekommen war. Mit der Zeit verfestigten sich die Strukturen dieses losen Zusammenschlusses, und das heutige Oremh-Reich entstand. Mit der wichtigen Rolle, die Dhim und seinem Stamm bei all diesen Entwicklungen zukam, verbreitete sich auch ihre Religion zunehmend im Tal und gleichsam auch das mit ihr verbundene Weltbild, das seit jeher große Bedeutung dafür hat, wie Familienstrukturen und Abstammung in der Gesellschaft zunächst der jeweiligen Stämme, später der Oremh gesehen werden. Kein Wunder also, dass es eine Vielzahl von religiösen Ritualen und Zeremonien gibt, die auf bestimmte Abschnitte im (Familien-)Leben einer Person abzielen. Eines der ungewöhnlichsten, das man sonst bei keinem Volk findet, ist dabei das sogenannte Großelternritual.


    Wie bereits erwähnt, ist der Hintergrund dieses Rituals das komplexe Verständnis der Stämme – und später der Oremh – von Abstammung. Ihrem Weltbild zufolge trägt jeder eine Art „Reserve-Abbild“ seines shemá, seines „Inneren“, in sich. Dieses „Innere“ ist etwas, das andere Völker als „Seele“ bezeichnen würden – ein von den Göttern verliehender Zustand des Belebtseins, des Denkens und Fühlens, der den Menschen von den Tieren unterscheidet. Wird nun ein Kind gezeugt, verschmilzt ein Teil des shemá-Abbilds des Vaters mit einem Teil desjenigen der Mutter, woraus sich das shemá des Kindes bildet. Nun wird das shemá einer Person nicht als einheitliches, gleichmäßiges Etwas angesehen, sondern bildlich als Zusammenballung aus den verschiedenen Charaktereigenschaften einer Person. Entsprechend stellt man sich den Prozess des Übergangs auf den Nachwuchs so vor, dass beim ersten Kind noch jeweils das vollständige Eltern-shemá zur Verfügung steht, aus dem Teile auf das Kind übergehen können. Beim nächsten Geschwister fehlt bereits ein Teil, es steht also nicht mehr der vollständige Eltern-Charakter zur Auswahl. Während man nicht direkt daran glaubt, dass nur die besten verfügbaren shemá-Teile, also Charakterzüge und Eigenschaften, auf ein Kind übergehen, gelten im Endeffekt dennoch Erstgeborene als besonders befähigt und wertvoll, weil bei ihnen noch das vollständige Eltern-shemá zur Verfügung stand und daher die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass sie nur das Beste an Wesenszügen ihrer Eltern mitbekommen haben. Als Resultat dieser Vorstellung werden Erstgeborene seit jeher in vielerlei Belangen gegenüber ihren jüngeren Geschwistern bevorzugt, und die von einem Erstgeborenen ausgehende Stammlinie seiner Nachkommen wird als die Familienlinie angesehen. Daraus hat sich auch die Thronfolgeregelung des späteren Oremh-Reichs entwickelt, nach der primär die von Dhims ältestem Sohn ausgehende direkte Linie weiterverfolgt wurde und man erst dann auf seine jüngeren Brüder zurückgegriffen hat, als es in der ersten Linie keine Nachkommen mehr gab.


    Ob das Eltern-shemá „richtig“ auf ein Kind übergegangen ist, erfährt man jedoch erst, wenn Letzteres ebenfalls Nachwuchs in die Welt setzt und damit beweist, dass sein von den Eltern erhaltener shemá-Teil zur Fortplanzung taugt – nichts gilt den Nham-Stämmen als größeres Zeichen von Unglück und Missfallen der Götter als Unfruchtbarkeit. Entsprechend ist ein wichtiger Moment im Leben eines jeden der, wenn man das erste Mal Großvater oder -mutter wird, denn damit gilt die eigene Stammlinie als etabliert und fortführungsfähig. Bei der Geburt des ersten Enkels – wobei gleichgültig ist, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt – findet daher ein besonderes Ritual statt, nämlich bereits erwähntes Großelternritual.


    Es vollzieht sich wie folgt:


    Frühmorgens am Tag, der auf die Geburt des ersten Enkels folgt, kommt die Familie des Betroffenen noch vor Sonnenaufgang im nächstgelegenen Tempel der drei Götter zusammen, dazu jeweils ein Vertreter des örtlichen Magistrats sowie ein beliebiger anderer Ortsbewohner als symbolischer Zeuge. Die Tempel des Dreigötterglaubens der Oremh zeichnen sich durch ihre charakteristisch runde Bauform aus, die sie von allen anderen Oremh-Gebäuden unterscheidet. In der Mitte, unter der großen Kuppel, ist ein großer Kreis aus Messingeinlagen in den Boden eingelassen, der vom Durchmesser her etwas kleiner ist als die Kuppel. Auf diesem Kreis stehen in gleichmäßigen Abständen drei große, ebenfalls runde Steintröge mit Brennmaterial. Zu Beginn des Rituals stellen sich die frischgebackenen Großeltern in die Mitte des Kreises. Die restlichen Familienmitglieder und die Zeugen gruppieren sich darum, dürfen aber auf keinen Fall den Messingkreis betreten. Nachdem sämtliche Fenster des Tempels verschlossen wurden, werden die Eingänge des Tempels abgesperrt und alle sonstigen Lichter gelöscht. Es ist nun vollkommen dunkel.


    Inzwischen haben sich drei Priester jeweils hinter einen der Steintröge gestellt. Der erste beginnt die Zeremonie, indem er einen religiösen Gesang anstimmt und dabei das Brennmaterial in seinem Steintrog ansteckt. Über die Kohlen ist ein bestimmtes Pulver gestreut, das bei sich der Berührung mit Feuer schlagartig entzündet und gleichzeitig die Flamme verfärbt. Meist beginnt man mit Violett. Ist das erste Feuer entzündet, fällt der zweite Priester in den Gesang mit ein und entfacht gleichsam seinen Trog, der in einer anderen Farbe brennt, meist Orange. Das Ganze wiederholt sich mit dem dritten Priester, dessen Flamme zumeist grün brennt. Die Flammen in den unterschiedlichen Farben sollen selbstredend Adevan, Kiveira und Savai repräsentieren, wobei keiner der drei Gottheiten eine bestimmte Farbe zugeordnet ist. Brennen alle drei Flammen, stimmt der Rest der Anwesenden in den Gesang mit ein und führt ihn fort. Gleichzeitig lässt sich einer der Priester von der Mutter des eben geborenen Enkels das Kind geben und übergibt es den Großeltern in der Mitte des Kreises, so dass beide es festhalten. Da das ganze Spektakel für ein Neugeborenes sehr aufreibend ist, ist die Zeremonie verhältnismäßig kurz. Haben die Großeltern das Kind in der Hand, verstummt der gemeinsame Gesang. Die Priester stellen sich um die Großeltern – jeweils in einer Linie mit ihrem Trog – und fallen in ein Gebet ein, das um den Segen der Götter für das Neugeborene bittet und dass dem Kind eines Tages ebenso vergönnt sein werde, die Stammlinie fortzuführen. Anschließend wird das Kind zur Mutter zurückgebracht. Der Magistratsvertreter und der symbolische Zeuge werden gebeten, in die Mitte zu treten und mit den Großeltern einen kleinen Kreis zu bilden. Die Priester – immer noch in der Dreiecksformation verharrend – erbitten erneut den Segen der Götter über die neue Stammlinie und stellen gleichzeitig ihre Anerkennung sowohl vor den Göttern als auch nach dem Recht des Stammes beziehungsweise des Oremh-Reichs fest. Wenn alles glatt läuft und die Menge des Brennmaterials in den Trögen genau abgemessen wurde, erlöschen im Anschluss an die zweite Anrufung die Flammen. Damit endet das Ritual. Die Familie verlässt den Tempel, um den Tag festlich mit einem gemeinsamen Mahl zu begrüßen. Dieses findet im kleinen Kreis statt, denn für die Oremh ist das Essen in der Öffentlichkeit etwas sehr Unangenehmes, das es, wann immer möglich, zu vermeiden gilt. In der Zwischenzeit verkünden der Magistratsvertreter und der symbolische Zeuge das freudige Ereignis in der Stadt, so dass Freunde und Bekannte die Familie beschenken und für das Wohlergehen des Kindes beten können. Es ist auch das Großelternritual, über das die Geburt eines erstgeborenen Kindes offiziell im Ort bekannt gemacht wird, und nicht etwa ein direkt mit dem Kind zusammenhängender Festakt.


    Entsprechend groß ist die Bedeutung, die dem Großelternritual zukommt. Für die frischgebackenen Großeltern stellt es die offizielle Anerkennung ihrer Stammlinie dar, für das Kind einen von den Göttern besonders gesegneten Start ins Leben. Bisweilen kommt es jedoch vor, dass das Ritual nicht durchgeführt werden kann, gerade wenn die Eltern des Neugeborenen und die betroffenen Großeltern nicht an einem Ort leben. Es gibt zwar keine festgelegte zeitliche Grenze, innerhalb derer das Ritual stattfinden muss – oben genannter Morgen nach der Geburt des Kindes bezieht sich nur auf den Fall, dass sich die Großeltern und Eltern zum Zeitpunkt der Geburt am gleichen Ort aufhalten – , doch wird es nicht mehr durchgeführt, wenn ein zweiter Enkel – Mehrlingsgeburten natürlich ausgenommen – auf die Welt kam, bevor die Großeltern mit dem Rest der Familie zusammenkommen konnten, oder wenn das Kind bereits einen Mondgleichstand (300 Tage, ein Oremh-Jahr) alt ist. Für Fälle, in denen die gesamte Familie an einem Ort ist, aber nicht rechtzeitig ein Dreigötter-Tempel erreicht werden kann – etwa, wenn alle im Ausland leben, was vor der nayodischen Besatzung des Oremh-Reichs nur selten vorkam –, gibt es die Möglichkeit eines einfachen Ersatzrituals, das ohne Tempel, Priester und farbige Flammen auskommt: Man verdonnert einfach drei Personen, die mit dem Ablauf und den Gesängen vertraut sind, sich in einem Kreis aufzustellen und drei Feuer zu entzünden. In früheren Zeiten, als die Stämme noch weniger sesshaften Lebensformen nachgingen als die heutigen Oremh, wurde das Ritual schließlich auch nicht in der beschriebenen modernen Form, sondern unter freiem Himmel abgehalten. Priester und Feuer hat es jedoch stets gegeben. Meist nützt aber auch die Ersatzform nichts. Den Beteiligten bleibt dann nichts anderes übrig, als auf das Ritual zu verzichten. Solche Kinder gelten nicht gerade als Günstlinge der Götter, womit sie dann einfach leben müssen. Für die Großeltern ist das Fehlen des Rituals natürlich auch äußerst beschämend und eine große Enttäuschung. Die Anerkennung ihrer Stammlinie wird zwar auch durchgeführt, aber nur in bürokratisch-offizieller Hinsicht, also mit einer entsprechenden Eintragung in den offiziellen Verzeichnissen und Stammbäumen. Frauen, bei denen die Möglichkeit besteht, dass sie mit einem Erstgeborenen schwanger sind, werden also meist besonders umsorgt und von weiten Reisen abgehalten, um sicherzugehen, dass das Großelternritual stattfinden kann. Auch ist es ein ungeschriebenes Gebot in einer jeden Familie, dass die Familienplanung einer Generation so abgestimmt wird, dass auf die Geburt eines ersten Enkels nicht innerhalb weniger Monate ein weiterer folgt.


    Aussprache: E und a sind kurz, die Betonung des Worts liegt auf der zweiten Silbe, deshalb der Akzent auf dem a. Die letzte Silbe wird also im Endeffekt so gesprochen, als käme nach dem a noch ein Konsonant, wobei ein solcher natürlich nicht gesprochen, sondern der Luftstrom nach dem Vokal abrupt gestoppt wird.

  • << WBO 2008
    Die Zeremonie der Brutmeisterschaft
    © Gerrit


    Zuerst ein paar Kurzinfos zum Volk der Gatuna, die zum Verständnis der Zeremonie beitragen sollen.


    Die Gatuna sind ein nichtmenschliches Volk. Um eine einfache Vorstellung von ihnen zu gewinnen, kann man sie sich einfach als Schildkrötenmenschen vorstellen.
    Sie leben in unterseeischen Nestern und kennen keine Familien. Alle befruchteten Eier werden in den Bruthöhlen abgelegt. Für Aufzucht und Erziehung des Nachwuchses sind dann die Brutmeister zuständig.
    Was bei den Menschen der Familienname ist, ist bei den Gatuna der Brutname, welcher sich einfach vom Namen des Brutmeisters ableitet, von dem man erzogen wurde.
    Die Brutmeister sind gleichzeitig am ehesten das, was man Priester nennen könnte. Ihre Worte gelten als von Lutaka, dem Schöpfer der Gatuna, inspiriert.


    Die Zeremonie der Brutmeisterschaft


    Das Leben der Gatuna ist sehr gefährlich, weswegen nur sehr wenige das Anbrechen ihres letzten Lebensdrittels, mit ungefähr 200 Jahren, erleben.
    Dieses letzte Lebensdrittel zeichnet sich durch ein langsames Nachlassen der körperlichen Kräfte ebenso aus wie durch die versiegende Fruchtbarkeit.
    Für diejenigen, welche aber solange überleben, wird die Zeremonie der Brutmeisterschaft abgehalten.


    Wie eigentlich alle Zeremonien der Gatuna, zeichnet sich auch die Zeremonie der Brutmeisterschaft durch große Schlichtheit und Länge aus.
    Sie besteht darin, dass der Gatuna, welcher seinen dritten Lebensabschnitt begonnen hat, mit drei Brutmeistern zusammen in eine heilige Kammer geht. Dort findet eine Art Prüfung statt. Der Prüfling hat vor den Brutmeistern sein ganzes Leben auszubreiten und sich all ihren Fragen zu stellen. Dazu gehören nicht nur reine Wissensfragen sondern auch sehr viele Fragen die darauf abzielen die geistige Reife und Beweglichkeit des Prüflings zu bestimmen.
    Nach dieser Prüfung, die meist mehrere Wochen dauert, gibt jeder der drei Brutmeister seine Stimme ab, ob der Prüfling zum Brutmeister geeignet ist.
    Erhält der Prüfling keine Stimme, wird er aus dem Nest verbannt, was normalerweise einem Todesurteil gleichkommt.


    Bei nur einer Stimme wird er zwar Brutmeister mit allen Rechten und Pflichten, aber seine Brut wird seinen Namen nicht weitertragen, da er als minderwertig im Ansehen bei Lutaka, dem Gott der Gatuna, gilt.
    Mit zwei Stimmen wird der Prüfling zu einem vollwertigen Brutmeister, dessen Name mit Stolz von seiner Brut getragen werden wird.


    Tritt der seltene Fall ein, dass ein Prüfling tatsächlich alle drei Stimmen erhält, so wird er damit gleichzeitig Mitglied des Hohen Nestrates und bestimmt ab jetzt das Schicksal des Nestes mit.

  • << WBO 2008
    Xyto, der Glitzersteinschleifer
    © Moordrache


    "Fánya! Es ist Zeit für's Bettchen!"


    "Ja, Mama", kam die Antwort auch promt aus der Wasch-Ecke; etwas lauter, als nötig gewesen wäre. "Bin fast fertiiig."


    "Das freut mich." Chiva, Fányas Mutter, zupfte die Decke des kleinen Bettes zurecht und wartete darauf, dass ihre Tochter erscheinen würde.


    Ihr 'Zimmer' befand sich in einem Seitenflügel des kleinen und doch geräumigen Holzhauses, so dass hier von den Geräuschen, die üblicherweise in der Küche und anderen Räumen anfallen, nicht viel mitzukriegen war, trotz der Tatsache, dass keine Tür Fányas Zimmer vom Rest des Hauses abtrennte. In ihrem Dorf war es völlig unüblich, die einzelnen Zimmer mit Türen zu versehen. Wozu auch? Eine Haustür reichte ja. Alles andere war unnötiger Luxus.
    "Bin daa-aa!" rief Fánya, noch während sie um die Ecke gestürmt kam und beinahe in ihre Mutter gerannt wäre. Ihr Zimmer war nicht groß und bot neben dem Bett kaum mehr Platz als zum Umdrehen nötig war, aber es war ihres! "Bin auch riiichtig müde", fuhr sie fort, scheinbar, ohne sich des Beinahe-Unfalls bewusst zu sein, und strich mit der freien Hand ihr hellblaues Nachthemdchen glatt, das vom kurzen Spurt ein wenig durcheinander gewirbelt worden war. Die andere Hand hielt ein braunes Stofftier, von dem kaum noch zu erkennen war, was es einst darstellen sollte – vielleicht ein Kaninchen (mit inzwischen fehlenden Ohren) oder einen Hamster –, aber es war natürlich ihr Liebling. Mit schiefgelegtem Kopf sah sie ihre Mutter an, als würde irgend etwas fehlen.


    Chiva lächelte. "Das ist auch kein Wunder, du hast einen anstrengenden Tag hinter Dir."


    "Ooooh ja!" Die Backen aufblähend wischte sie sich imaginären Schweiß von der Stirn, kletterte schließlich ins Bett und legte sich hin – nicht, ohne sich nacheinander über beide an zu kurz geratene Gänsefedern erinnernde Ohren zu streichen, erst links, dann rechts, als müssten sie vor dem Schlafen nochmal geglättet werden. Ihr ganz persönliches Abendritual.


    Chiva zog die Bettdecke bis unter Fányas Kinn. "Und morgen wird es nochmal ein anstrengender Tag. Deshalb schlaf jetzt schön und sammel deine Kräfte."
    Fánya verzog ihr Gesichtchen, dass ihr Widerwille unverkennbar wurde. Schließlich sah sie mit beinahe flehender Miene ihre Mutter an. "Müssen wir wirklich zu Onkel Xyto?"
    "Wir haben es ihm versprochen. Und Versprechen hält man ein, das weißt du doch."
    "Ja... aber er mag mich doch gar nicht..."


    "Wie kommst du denn darauf?" Chiva war sichtlich überrascht. "Natürlich mag er dich."
    "Tut er nicht." Ihr Schmollmund sprach Bände. "Er hat mich noch nie gemocht. – Nie!"
    Nun war es an Chiva, die ihren Kopf schieflegte und Fánya verwundert ansah. Unvermittelt stupste sie spielerisch Fányas Näschen mit ihrem Zeigefinger und ließ kurz darauf ihre eigene Nase zu einer Art Knolle wachsen, die farblich entfernt an eine schrumpelige Pflaume erinnerte, um sie einen Augenblick später zu einem dürren und krummen Gürkchen werden zu lassen.
    Fánya lachte, aus ihren Augen leuchtete die pure Freude. Aber fast sofort wich diese wieder einer betrübten Miene. "Genau sowas macht er nie..."
    "Ah." Chiva ahnte, woher der Wind wehte. Ihre Nase war noch immer ein Gürkchen, jetzt jedoch aschgrau wie ihr übriges Gesicht, nicht mehr grünlich. "Und deshalb glaubst du, Onkel Xyto mag dich nicht?"
    Fánya zögerte, nickte dann nachdrücklich.


    "Das ist Blödsinn." Chiva lächelte noch immer, aber ihr Blick verriet, wie ernst sie es meinte. "Weißt du... er..." - sie suchte nach den richtigen Worten - "...Onkel Xyto kann das nicht. Nicht mehr."
    Fányas Augen wurden groß vor Verwunderung. Sie brauchte einige Augenblicke, um das zu verarbeiten. "Was? - Aber... im Dorf kann das jeder... sogar die Alten. Nur die Kinder noch nicht, so wie ich..." Wieder machte sich Trübsinn in ihrem Gesicht breit, diesmal aber eher, weil sie ihr Gesicht noch nicht so lustig verändern kann wie ihre Mutter. Wie alle Gyx, die sie kannte. Mit einer Ausnahme, wie sie jetzt wusste, aber kaum glauben mochte...
    Chiva seufzte. "Ja, jeder kann das, auch Onkel Xyto konnte das mal, aber jetzt nicht mehr. Es ist eine sehr traurige Geschichte..."
    "Was ist passiert? Erzähl sie mir... Biiiiddee!" Ein Welpenblick wäre nur halb so überzeugend gewesen wie Fányas bettelnde Augen.
    Nochmal seufzte Chiva. Sie wusste, dass ihre Tochter keine Ruhe geben würde, ehe sie nicht alles gehört hatte, was sie hören wollte. "Na gut, aber du musst mir versprechen, gleich danach zu schlafen!"
    "Versprochen! Und Versprechen muss man halten!" erklärte sie feierlich, um gleich darauf gespannt auf die Erzählung ihrer Mutter zu warten.
    Die setzte sich auf die Bettkante neben ihre Tochter und begann: "Es war vor etwa fünf Jahren mitten in der Trockenzeit..."
    "Oh, da war ich noch gar nicht auf der Welt", unterbrach Fánya ihre Mutter.


    "Ja." Chiva nahm die Unterbrechung recht gelassen, sie war sowas gewohnt. "Deshalb kennst Du Onkel Xyto auch nicht anders, du bist ja erst drei."
    "Fast vier!"


    "Das dauert doch noch fast ein halbes Jahr bis dahin."


    "Trotzdem, fast vier." Fánya setzte ihren Dickkopf durch und machte das durch einen – wie sie hoffte – wild entschlossenen Blick deutlich.
    "Naja, jedenfalls vor fünf Jahren ging Onkel Xyto seiner täglichen Arbeit nach und ahnte nichts Böses..."


    "Was macht Onkel Xyto eigentlich?" kam die nächste Unterbrechung. "Ich hab ihn noch nie irgendwas machen gesehen. Alle anderen Erwachsenen machen dauernd irgendwas und haben keine Zeit zum Spielen. Onkel Xyto macht nichts, aber er spielt auch nicht mit mir... naja, kann er ja nicht, nicht so gut wie andere..." Bei dem Gedanken, dass ihr Onkel nicht so tolle 'Grimassen' schneiden kann wie alle anderen Gyx, wurde sie wieder etwas traurig.
    "Nein, das kann er nicht... Er hadert zu sehr mit seinem Schicksal..." Chiva bemerkte, dass ihre Tochter damit nichts anzufangen wusste, und versuchte es anders: "Er ist mindestens genauso traurig wie du, dass er sich nicht mehr wandeln kann. Das macht ihn ständig schlecht gelaunt. Du hättest ihn vor vier oder fünf Jahren erleben müssen, da war er richtig verzweifelt... Aber ich sollte es der Reihe nach erzählen.
    Wo war ich? Ahja... Damals jedenfalls..."


    Fánya zupfte zaghaft am Arm ihrer Mutter.


    "Was?"


    "Was ist denn jetzt seine... äh, Arbeit?"


    "Achso, er hat Glitzersteine geschliffen. Du kennst doch die Glitzersteine, die Papa im großen Zimmer an der Wand festgemacht hat. Die sind von deinem Onkel, die hat er uns vor Jahren geschenkt."
    Fányas Augen schienen fast zu Melonen anzuwachsen. "Onkel Xyto macht Glitzersteine? Dann muss er ja reeeiich sein!"


    Chiva lachte kurz und herzlich auf. "Nein. Glitzersteine kann man nicht machen, die werden von den Dnompfen in ihren Bergen gefunden. Onkel Xyto hat sie nur geschliffen, sie verschönert, so dass sie schön glitzern und leuchten, wenn man sie ins Licht hält. Wenn die Dnompfe sie finden, sind sie nicht so schön, sie glänzen nichtmal richtig und sind meistens auch etwas unförmig.


    Aber er war einer der besten Glitzersteinschleifer, die es je gab – und wahrscheinlich wird es auch für lange Zeit keinen besseren geben. Jahrelang hat er, als er noch jung war, bei den damals besten Schleifern gelernt, er zog sogar bis in die Städte am Stillen Meer – das ist wirklich weit weg von hier, man muss viele Tage wandern, bis man dort ist –, denn dort hatten sich seinerzeit die berühmtesten Glitzersteinschleifer niedergelassen. Und selbst das hat ihm nicht gereicht und er ging dann noch in den Norden zu den Dnompfen. Dort lernte Onkel Xyto einige Tricks und Schliffe, die allen anderen Gyx unbekannt waren."


    "Dompfe, Mama? Das sind die komischen Käuze, die manchmal in unser Dorf kommen, so komisch reden und bald wieder gehen?"


    "Dnompfe. Ja, genau die. Die so komisch reden. Sie bringen rohe Glitzersteine, also solche, die noch geschliffen werden müssen. Und noch andere Sachen, die wir gut gebrauchen können, wie Werkzeuge. Dafür bekommen sie von uns vor allem Nahrung, Wolle und Leder, manchmal auch fertige Kleidung."


    "Hö? Können die das nicht selber machen? Ich mein', wir können das doch auch – und die haben auch Hände..."


    "Natürlich können die das. Aber sie leben ja in den Bergen oder zumindest in den Tälern dort. Da ist nicht viel Platz für Äcker und Weiden, an den Berghängen wächst nicht viel. Da holen sie von uns und von anderen Gyx, was ihnen fehlt. Dafür geben sie uns, was wir nicht so gut herstellen können – und eben auch Glitzersteine."


    "Oh, dann sind die ja gar nicht so dumm, wie ich gedacht habe..."


    "Hm, kann man so sagen... Aber wenn du mich noch oft unterbrichst, bin ich erst morgen früh mit erzählen fertig und du kannst dein Versprechen nicht halten; weißt du noch?"


    Fánya erschrak. "Huch, dass ich sofort schlafe, wenn du die Geschichte erzählt hast. Aber wenn es schon hell ist..."


    "...wäre es schon Zeit zum Aufstehen. Genau." Chiva grinste ein wenig. "Deshalb erzähle ich jetzt schnell zu Ende, damit du noch genug Schlaf hast für den morgigen Tag.
    Also, wie gesagt war Onkel Xyto der beste Glitzersteinschleifer weit und breit. Er war durch seine besondere Art des Schleifens, die er bei den Dnompfen gelernt hatte, schon kurz davor, berühmter zu werden als seine einstigen Lehrer am Stillen Meer, als ihn vor etwa fünf Jahren ein schweres Unglück traf. Und zwar auf den Hinterkopf. In Form eines schweren Holzbalkens..."


    "Aua." Fánya verzog das Gesicht, als sie sich den Schmerz vorstellte. Da sie sich vor einigen Tagen heftig den Kopf gestoßen hatte, war die Erinnerung daran noch sehr ausgeprägt. Unbewusst rieb sie sich den Hinterkopf. "Was hatte er denn mit einem Holzbalken zu tun, wenn er Glitzersteine schön macht?" Dann erst fiel ihr wieder ein, dass sie ihre Mutter nicht mehr unterbrechen sollte, und sie presste erschrocken die Lippen zusammen.
    "Er gar nichts. Sein Nachbar aber hat sein Haus ausgebaut. Was Xyto da verloren hatte, weiß ich auch nicht – und er kann sich bis heute auch an nichts genaues erinnern. Beim Bauen geriet irgend eine Konstruktion ins Kippen und genau da musste Xyto 'rumstehen. Wahrscheinlich haben ihn sogar gleich mehrere Balken getroffen. Er kann den Göttern danken, dass er überhaupt noch lebt.
    Als er nach dem Unglück irgendwann endlich wieder zu Bewusstsein kam, konnte er sich an nichts erinnern, das mit dem Unfall zu tun hatte oder kurz davor geschehen war. Das schien nicht weiter schlimm zu sein, schließlich erinnert man sich an sowas eh nicht gerne.


    Aber einige Zeit später hat er gemerkt, dass er nicht mehr in der Lage war, sich zu wandeln. Er hat alles mögliche versucht, aber nichtmal die kleinste Veränderung an seiner Nase oder seinen Ohren konnte er bewirken, geschweige denn sonst irgendwas. Und er war immer so stolz darauf gewesen, als einziger im Dorf seine Augen violett verfärben zu können. Und er konnte die lustigsten Nasen machen, und die farbenfrohsten."
    "Ooooch", maulte Fánya halbherzig, "voll gemein vom Holzbalken! Jetzt kann ich das gar nicht mehr sehen... Armer Onkel", ergänzte sie noch schnell, um nicht zu eigennützig zu wirken.
    "Ja, wirklich armer Xyto", seufzte Chiva. "Er war todunglücklich darüber und nach einiger Zeit völlig verzweifelt. Er konnte nichts anderes mehr tun, als zu überlegen, wie er seine Wandlungsfähigkeit zurückerlangen könnte. Aber bis heute hat keiner seiner zahllosen Versuche geklappt. Kein Heiler konnte ihm helfen. Er hat sich sogar absichtlich auf den Kopf schlagen lassen, in der Hoffnung, die Wirkung des Holzbalkens so rückgängig machen zu können. Aber außer großen Beulen und noch größeren Kopfschmerzen hat ihm das nichts eingebracht.


    Inzwischen hat er es wohl aufgegeben, aber er trauert immernoch seinen Fähigkeiten nach. Er kann sich auch nicht mehr auf seine Arbeit als Glitzersteinschleifer konzentrieren. Jedesmal, wenn er es versuchte, hat ihn seine Sehnsucht nach irgend einer Regung an seiner Nase oder seinen Ohren so abgelenkt, dass er den Glitzerstein verdorben hat und wegwerfen musste. Verlernt hat er das Schleifen bestimmt nicht. Er sagt selbst, dass er noch jeden nötigen Handgriff genau kennt. Aber er kriegt es nicht mehr so hin wie früher.


    Fremde Gyx, die von seinem Geschick gehört hatten, kamen sogar im Laufe der letzten Jahre und hatten ihm teilweise beinahe ein Vermögen geboten, damit er ihnen den einen oder anderen ganz besonderen Glitzerstein schleifen sollte. Aber er hat immer abgelehnt, weil er wusste, dass er die Steine verhunzen würde. Ich glaube, er blockiert sich selbst, ohne dass es ihm bewusst ist.
    Aber wer weiß schon, was in einem Gyx vor sich geht, der sich nicht mehr wandeln kann. Er ist bestimmt der Erste seit vielen Generationen. Und es muss wirklich furchtbar sein. Ich kann's mir kaum vorstellen..."
    Fánya dachte an ihren Onkel und sah ihn vor sich, wie sie ihn bisher kannte. Der im Vergleich zu vielen anderen Gyx etwas kleingewachsene Mann mit breitem Kopf und kantigem Gesicht, das etwas dunkler grau war als das ihrer Mutter, leicht zotteligem, kurzem Haar in kaum beschreibbarer bräunlich-grauer Farbe und mit seinen dunkelgrünen Augen, die immer so traurig und lustlos blickten. Zumindest wusste sie jetzt, weshalb ihr Onkel immer so schlecht gelaunt war, – und glaubte, es verstehen zu können. Seine Nase ähnelte eher einem knorrigen Zweig von einer alten Eiche, und seine Ohren glichen verzwirbelten Bohnenranken, die irgendwer blass-gelb eingefärbt hatte. Ob ihr Onkel nun seine natürliche Gestalt hatte oder seine letzte Wandlung von vor dem Unfall 'eingefroren' wurde, wusste Fánya nicht, sie wagte aber auch nicht, ihre Mutter danach zu fragen. Normalerweise fragte man keinen Gyx nach seiner wahren Gestalt, niemals.


    Wie mochte er wohl vor dem Unfall ausgesehen haben mit seinen manchmal violetten Augen? Sie versuchte ihn sich vorzustellen und konnte nicht verhindern, dass ihr Onkel in ihrem geistigen Bild ständig die Nase veränderte, mal zu einer Gurke wie zuvor ihre Mutter, mal zu einem Taubenei, dann verformte sie sich zu einer knallroten Kirsche, die sich in einen blau schillernden Schleimtropfen verwandelte, um schließlich zu einer kleinen, silbrigen, leicht schiefen Pyramide mit grünen Farbtupfern zu werden. Unter anderen Umständen hätte sie bei dieser Vorstellung laut aufgelacht, doch danach war ihr im Moment nicht zumute.
    'Jetzt kann er all das nicht mehr, vielleicht nie wieder...', dachte sie traurig. 'Und alles nur wegen dem dummen Balken!'
    Dann kam ihr plötzlich ein neuer Gedanke und sie sog erschrocken die Luft ein und starrte ihre Mutter an, die bisher Fánya interessiert und mitfühlend betrachtet und vielleicht selbst auch an Xyto gedacht hatte.
    "Was ist, Schatz?" fragte sie besorgt.


    Es dauerte einige Atemzüge, bis Fánya registrierte, dass ihre Mutter sie angesprochen hatte. Tränen begannen in ihren Augen zu schimmern. "Ich... was ist... wenn..." Endlich konnte sie in die Augen ihrer Mutter sehen, und da sprudelte es aus ihr heraus: "Hab mir doch auch'n Kopf gestoß'n, vor'npaar Ta-haa-haaaagn..."


    Der Rest ging in hemmungslosem Schluchzen unter, während Chiva ihre Tochter umarmte und tröstend an sich drückte.
    "Sch-sch... Ganz ruhig, Fánya. Es hat sicher sehr wehgetan, aber so schlimm wie bei Onkel Xyto war es nicht. Onkel Xyto hatte wochenlang Kopfschmerzen nach dem Unfall, und als er bewusstlos dalag, hat er sogar am Kopf geblutet. Du hast ja nichtmal 'ne richtige Beule abgekriegt. Sch-sch..."


    Es dauerte natürlich trotzdem einige Zeit, bis sich Fánya wieder beruhigt hatte.


    "Du wirst deine Wandlungsfähigkeit noch entwickeln, glaub mir. Und es dauert nicht mehr lang, ganz sicher."
    Fánya versuchte sich zu beherrschen, wischte sich ein, zwei Tränen aus den Augen und schniefte einmal ausgiebig. "Das sagst du nur, um mich zu beruhigen."


    "Nein, wirklich nicht." Chiva überlegte einen Augenblick und lächelte dann. "Ich... Gestern hattest Du deine erste spontane kleine Wandlung, du hast es selbst aber nicht gemerkt. Deine Ohren waren für ein paar Atemzüge blau-grün und etwas kürzer."


    "Eeehrlich?" Fánya schwankte zwischen Trübsinn über ihre Befürchtung von gerade eben, Freude über die Eröffnung ihrer Mutter und Misstrauen, ob dies nicht doch nur ein Trick war, sie zu beruhigen; diese Schwankungen spiegelten sich auch in ihrem Gesicht wider. Schließlich entschied sie sich zu einem vorwurfsvollen Blick. "Wa-warum hast du nichts gesagt?!"
    "Übermorgen hätte ich es dir gesagt. Ich wollte nicht, dass Du es morgen vielleicht gegenüber Onkel Xyto erwähnst und dabei um ihn herumhüpfst und -tanzt. Es würde ihn vermutlich noch tiefer in Verzweiflung sinken lassen als ohnehin schon."


    "Aha." Fánya nickte und machte das ernsthafteste Gesicht, zu dem sie fähig war. "Keine Angst, ich werde nichts zu Onkel Xyto sagen. Jetzt weiß ich ja, was mit ihm los ist." Ohne Übergang legte sich plötzlich ein strahlendes Grinsen über ihr Gesicht, ihre Augen schienen zu leuchten. "Und ich hab wirklich meine Ohren gewandelt?"


    "Ja, wirklich", lachte Chiva.


    "Juchuu-huuu, bald bin ich eine richtige Gyx!"


    "Ja, aber hab Geduld. Du musst erst noch lernen, deine Wandlungen bewusst einzusetzen. – Aber jetzt schlaf schön. Du hast es versprochen!" mahnte ihre Mutter mit erhobenem Zeigefinger, den sie kurz in eine scheinbare grüne Raupe und gleich darauf wieder zurück verwandelte.


    "Ja-ha", lachte nun auch Fánya, strich noch einmal grinsend über ihre Ohren und zog sich anschließend die Bettdecke zurecht. "Gute Nacht, Mama!"
    Chiva gab ihrer Kleinen einen Kuss auf die Stirn. "Gute Nacht, Fánya! Träum schön!"


    "Ganz bestimmt." Damit schloss sie ihre Augen.


    Kurz darauf erhob sich Chiva, löschte die Kerze und ließ ihre Tochter allein.


    Einige Augenblicke später war noch ein geflüstertes "Juchuu!" aus Fányas Zimmer zu hören, doch schließlich herrschte schläfrige Stille.

  • << WBO 2008
    Keryodanir Se'an
    © Taipan


    Jeder Reisenden, der irgendwann einmal in seinem Leben den Weg von Urunaw nach Kamelez geht, wird sehr wahrscheinlich die alte Kupferstraße nehmen, die beide Städte miteinander verbindet. Zuerst führt sie dem Verta entlang, einem kleinen Fluss, der nahe Urunaws in den Iralirt mündet, und durchquert schließlich die eintönige Glockenebene. Doch irgendwann macht die Straße eine scharfe Biege, als ob sie jemandem ausweichen möchte, und ein neugieriger Wanderer nimmt dann vielleicht den nicht so gut in Stand gehaltenen Weg, der genau zu jenem gemiedenen Ort zu führen scheint. Was ihn erwartet, ist zum einen eine kleine Bergbausiedlung der Grobor, die hier Kupfer abbauen, aber vor allem ein gigantisches, annähernd kreisförmiges Loch mit einem Durchmesser von fünf Haagester Meilen. Die Wände fallen nahezu senkrecht an die hundert Meter in die Tiefe und sind großteils so glatt, als ob sie bearbeitet worden wären. An den schwarzen Wänden führt allerdings eine schmale Treppe entlang, die in diese Tiefen hinabführt, und ein Wanderer, der sie benutzt, kann dort unten allerhand Geheimnisvolles entdecken. Denn auf dem Grund der Senke liegt eine Stadt, uralt und durch zahlreiche Erdbeben schon stark zerfallen, doch noch immer reich an interessanten Entdeckungen. Hier gibt es die zahlreichen Fresken, die bizarre Kreaturen, Alltagsgeschehen, religiöse Riten und Figuren einer unbekannten Mythologie zeigen, für die dieser Ort, der den Namen Keryodanir Se’an trägt – die Stadt wird Gestaltenstadt genannt – auch über die Grenzen von Haagest bekannt ist. An der tiefsten Stelle liegt ein winziger See – mehr Teich als See – der vom Grundwasser und dem Regen gespeist und dank kleinerer Ritzen, Spalten und auch kleiner Höhlen bei zu hohem Wasserstand auch einen natürlichen Abfluss besitzt, weshalb das Keryodanir Se’an nicht überflutet ist.


    Über die Entstehung des Keryodanir Se’an und der Stadt darin ranken sich mehrere Legenden. Sie haben aber alle die Gemeinsamkeit, dass es von einem göttlichen oder zumindest sehr mächtigen Wesen geschaffen worden ist.
    Die Bekannteste ist jene der Auir. Nach ihr haben zum Anbeginn der Zeit, als die ganze Welt von schrecklichen Wunden überzogen war, die ihr die zweiköpfige Urschlange Menas in ihrem Kampf mit sich selbst zufügte, es sich die drei Götter Belkal, Band und Mardritt zur Aufgabe gemacht, die schrecklichen Wunden der Welt zu heilen, denn überall sprudelte das rote feurige Blut aus dem noch nicht geborenen Wesen. Zuerst nahm Belkal, der größte und älteste von ihnen, Ton und Schlamm und verschloss damit die schrecklichen Wunden – er wurde später zum Gott der Töpfer, aber auch der Gebirge und Vulkane. Doch dem jüngsten und kleinsten der drei Brüder gefiel nun nicht mehr das Antlitz der Welt, und so verzierte er formlosen Tonklumpen mit edlen Steinen und wertvollen Metallen. Er wurde später der Gott der Metalle, Edelsteine und des Bergbaus. Doch noch immer sahen Belkals Tonskulpturen hässlich aus, zumindest in den Augen Bands, des mittleren Bruders. Der nahm seinen riesigen Hammer und hämmerte sie auf eine ansehnliche Form zurecht, und noch immer kann man seine Werke als Berge bestaunen. Da aber Band – wie auch seine Brüder – nicht alles auf einmal schaffen, sondern immer eine Wunde nach der anderen heilen konnte, kommt es dazu, dass die Welt auch heute noch von grässlichen Wunden bedeckt ist, aus denen noch immer das feurige Blut Lyvads fließt. Ein Gebiet, auf denen die Verletzungen als besonders zahlreich und tief erwiesen, war Haagest. Band hämmerte lange die Tonklumpen seine Bruder zurecht, um sie zu den heutigen Buckeln zu formen, doch irgendwann wurde auch er müde. Da legte er seinen schweren Hammer neben seinem Werk und machte eine Rast. Doch der Hammer war schwer und der Boden, auf dem er lag gab langsam nach und schließlich war ein großer Teil von Bands Hammer im Boden versunken. Der Gott bemerkte dies nicht – oder es hat ihn nicht gekümmert – sondern nahm nach seiner Rast einfach wieder seinen Hammer und verließ Haagest, um seinen Brüdern woanders zur Hand zu gehen, ein riesiges Loch im Boden zurücklassend. Als Band fort war, entdeckten einige Menschen das Loch, und weil es sie gut vor Feinden verbarg, errichteten sie an er tiefsten Stelle eine Siedlung, aus der bald eine Stadt wurde, deren Bewohner die absonderlichsten Kreaturen und bizarrsten Götzen verehrte und ein zu tiefst lasterhaftes Leben führten. Ihre Gier nach Bodenschätzen, nach denen sie in den nahen Buckeln gruben, führte dazu, dass einige von Band mühsam verschlossenen Wunden wieder aufbrachen. Da kamen Band und seine beiden Brüder zurück und Band hämmerte wieder lange an den Buckeln herum, sodass die Bewohner der Gestaltenstadt – wie man die Stadt im KeryodanirSe’an nannte – vor Angst und Entsetzen wahnsinnig wurden. Doch das schlimmste geschah, als Band von seiner Arbeit erschöpft wieder eine Rast machte und den Hammer an genau der selben Stelle ablegte wie beim ersten Mal. Die Stadt wurde vollkommen zerstört und die wenigen Überlebenden des Wahnsinns fanden allesamt einen schrecklichen aber schnellen Tod – ohne dass Band etwas von alledem gemerkt hatte.


    Auch nach den Legenden der Grobor wurde das KeryodanirSe’an von einem Gott geschaffen, nämlich vom Gott Tikmost, einem der beiden Götter des Korogaismus, der namentlich bekannt ist – und diese Legende scheint der einzige Grund zu sein, warum man seinen Namen überhaupt noch kennt. Damals war Tikmost nicht wie heute der Gott der Uhr, sondern der Gott der Glocken. Er fertigte die wunderschönsten Glocken an, deren Musik den Himmel zum Klingen brachte und selbst die mächtigsten Naturgewalten verstummen ließ. Tikmost grub das KeryodanirSe’an, um eine perfekte Glockenform zu schaffen. Doch Tikmost ließ sich bei seiner Arbeit viel Zeit, und als das Loch fertig war, vergingen zahlreiche Generationen, bis er mit dem eigentlichen Gießen begann. In der Zwischenzeit hatten sich aber sonderbare Wesen in der Glockenform angesiedelt und ihre Stadt gebaut, was Tikmost nicht bemerkte, als er die flüssige Bronze in seine Form goss – was natürlich zum Unterganz der Stadt führte. Aber auch die Glocke wurde durch die Verunreinigungen der Form nicht so wie vom Meister erwartet und zersprang beim ersten Klang. Darauf wurde Tikmost zornig und beschloss nie wieder Glocken zu fertigen und sich lieber auf Uhren zu spezialisieren, weshalb er heute als Gott der Uhr bekannt ist.
    Eine einzige Legende der Bindin gibt es nicht, sondern jeder einzelne Stamm, der sich irgendwann in der Nähe des Lochs befunden hat – oder auch nur ein einziges Mitglied eines Stammes – kennt seine ganz eigene Legende. Das gibt es Legenden von Gottgestalten, die Steine geworfen haben, solche, laut der das Loch die Heimat von grauenhaften Wesen ist, die zum Glück nicht wissen, dass es auch eine Welt außerhalb des KeryodanirSe’an gibt oder solche, nach denen das Loch nichts anderes ist, als das Maul einer monströsen Kreatur und die seltsamen Bauwerke am Grund wären nichts anderes als deren Zähne. Einig sind sich alle Legenden nur in einem. Keiner soll so dumm sein, in das KeryodanirSe’an hinab zu steigen, denn dies bringe nur Unheil.


    Die Garudas kennen übrigens keine Legenden. Sie wissen, dass das Loch schon da war, als sie mit den Sinierern von Kolonor kamen, und dass sich die Sinierer dort niederließen, um ähnlich wie heute die Grobor Kupfer abzubauen. Da aber die Sinierer deutlich empfindlicher auf das Pünktchenfieber regierten als andere Menschen, kehrten die Überlebenden Haagest irgendwann den Rücken – und ließen die nutzlos gewordenen Garudas zurück. Und was das Loch betrifft, das ist in ihren Augen ganz sicherlich nicht das Werk eines übermächtigen Wesens.


    Das gemeine Volk von Haagest mag vielleicht an die Legenden glauben, doch für die Gelehrten von der Nadaroster Universität ist längst klar, dass das Keryodanir Se’an natürlich entstanden ist, denn ähnliche Löcher finden sich in diesem Gebiet einige, deutlich kleinere und natürlich ohne Stadt auf dem Grund. Außerdem sind die meisten dieser Löcher heute mit Wasser gefüllt und nur noch als sehr tiefe Seen bekannt. Wahrscheinlich entstanden sie alle durch das Einstürzen von unterirdischen Höhlen, aber das sind nur Vermutungen, denen noch Beweise fehlen. Doch es gibt ehrgeizige Forscher, die die Abflussgänge untersuchen wollen, um Näheres heraus zu finden. Was die Stadt anbelangt, so hält man sich an die Version der Garudas. Die haben schriftliche Aufzeichnungen über die Gründung der Stadt – und auch über ihren Untergang. Und die Abbildungen zeigen das Leben der Sinierer, ihre Religion und Mythologie und auch ihre Nutztiere, die offensichtlich das Klima von Haagest nicht vertrugen, denn heute sind nur noch wenige Knochen zurückgeblieben.


    Heute nutzen die Grobor die Nähe des Keryodanir Se’an, um Kupfer zu gewinnen – das Loch selbst würden gerade einmal die mutigsten von ihnen betreten, abgesehen davon, dass es dort schon lange kein Kupfer mehr gibt.
    Menschen leben hier keine, höchstens Händler oder Abenteurer verschlägt es gelegentlich hierher und auch sie ziehen weiter, wenn sie ihre Angelegenheiten geregelt und Kupfer gekauft haben, oder ihre Neugier befriedigen konnten.


    Dabei ist das Keryodanir Se’an auch für die Auir und die Tanibeder von historischer Bedeutung. Hier, in der Gestaltenstadt, übergab 1029 n. MF der tanibedische Kaiser Raut XIII, der letzte Kaiser, der Haagest betreten hat, die Souveränität über Haagest an Corndelon von Murnshel und machte ihn damit zu ersten Eparchen von Haagest und zum ersten einer Reihe von insgesamt 10 Eparchen, die Haagest höchst unterschiedlich geprägt haben. Warum die Wahl auf das Keryodanir Se’an fiel, lag daran, dass dieser Ort für jede Volksgruppe von Haagest von Bedeutung war und die Gestaltenstadt der Beweis einer uralten, hoch entwickelten Zivilisation darstellte. Weil Tanibed sich damals – und auch noch heute – als das höchst entwickeltste Volk hielt, gefiel dem Kaiser die Geste, die Zukunft von Haagest auf deren Geschichte zu verändern, im wahrsten Sinne des Wortes.


    Die Zeremonie verlief nicht ganz so wie geplant. Die misstrauischen Grobor prophezeiten das Schlimmste, wenn man sein Schicksal derart herausforderte und blieben dem Spektakel praktisch fern – man schickte nur ganz wenige Vertreter, um den Kaiser nicht allzu sehr zu verärgern – und die Auir wollte praktisch nur durch Androhung von Gewalt in das ursprüngliche Gebiet der Grobor eindringen. Die Folge war, dass nur ganz wenige Einheimische bei der Zeremonie anwesen waren, und diese waren allesamt sehr verängstigt. Als dann die Zeremonie selbst noch durch ein leichtes Erdbeben gestört wurde, bei denen es einige Verletzte gab – weniger durch das Beben, als durch die Panik, die dabei ausbrach – gab man der neuen Regierungsform nur noch ein paar Wochen, bis es spektakulär scheitern würde, und den Eparch sah man bereits als toten Mann, zu schlecht standen die Vorzeichen. Der Kaiser nahm die abergläubischen Mutmaßungen sehr ernst und verließ innerhalb eines Monats Haagest, der Eparch blieb und ging als einer der fähigsten Eparchen der Geschichte ein.

  • << WBO 2008
    Nabe von Khsír
    © Sturmfaenger


    Die Legende von der Entstehung der Nabe von Khsír:


    „Dies ist die Stätte der Prüfung“, sagte der Vatergott, als er zum ersten Mal herkam. „Hierher will ich meine Kinder bringen, hier sollen sie ein hartes Leben führen. Hier sollen sie zu Kriegern werden die nicht ihresgleichen finden. Nur so können sie sich ihren Platz an meiner Seite erringen.“


    Er wanderte über Sand und Fels, wanderte über Steine und Geröll, und erkannte bei jedem Schritt die Weisheit seiner Wahl.
    Doch er wußte, daß auch Krieger einen Platz zum Verweilen brauchen. Er wußte daß sie Wasser und Nahrung und Schatten brauchen. Darum sprach er: „Ich will meinen Kindern Stellen geben, an denen sie rasten und ausruhen können, an denen sie ihre Kinder und deren Kinder großziehen können. Doch will ich ihnen nur wenige solcher Stellen geben, damit sie innerlich Krieger bleiben.“
    Weiter wanderte er über die Welt, besah sich Tiere und Pflanzen und setzte an einigen Orten neue dazu, an denen seine Kinder ihr Können testen sollten. Und an andere Orte setzte er welche, die seinen Kindern als Nahrung dienen würden, und an vielen dieser Orte sorgte er für Wasser.


    Der Vatergott dachte an die verschiedenen Stämme die seine Kinder waren und wußte, sie würden um Wasser, Nahrung und Schatten miteinander kämpfen.
    Darum sprach er: „Es ist gut, daß sie gegeneinander kämpfen, denn nur die Stärksten und Klügsten dürfen sich das Recht erringen, an meiner Seite zu kämpfen.“
    Da kam sein Weib zu ihm, um zu sehen ob die Stätte der Prüfung schon bereit war.


    Und sie sprach zu ihm: „Nicht immer siegt einer alleine, und sei er noch so stark, und sei er noch so klug. Die Stämme unserer Kinder sind wie die vielen Finger an einer Hand. Lehre sie auch, sich zur Faust zu ballen.“
    Und sie verließ ihn wieder, und nachdenklich starrte der Vatergott auf die weite Ebene hinaus, die er gerade durchwanderte. Schließlich hob er seine geballte Faust und ließ sie krachend niedersausen. Wieder und wieder hieb er auf den Boden, bis glühendes Erdblut hervorquoll. Dort wo es unter der Erde gewesen war, sackte die Oberfläche ringsum ein. Dort wo es aus der Wunde herausfloß bildete es einen kleinen Berg.
    Und der Vatergott trat zurück und sah, wie ein Teil des Erdblutes wieder im Boden versickerte, und den weiten Krater fruchtbar machte. Und er ließ zu, daß der Wind Unrat herbeitrug. Dieser vermischte sich mit dem Teil des Erdbluts das nicht versickert war, und es begann zu verwesen. Bald krochen widerliche Wesen daraus hervor, Wesen ohne Zahl. Blinden Maden gleich bohrten sie ihre Gänge in die heilende Wunde der Erde um darin zu wohnen. Sie gruben Gänge nach allen Seiten hin, bis sie die steil abfallenden Hänge erreicht hatten, und vermehrten sich bis sie den Krater ganz für sich beansprucht hatten.
    Der Vatergott sah dies und war zufrieden. „Dieser Feind nimmt meinen Kindern Wasser, Nahrung und Schatten weg, denn ich habe ihn stark werden lassen. Das wird sie erzürnen. Doch dieser Feind ist stark und zahlreich. Keines meiner Kinder kann ihn alleine bezwingen. Das ist eine gute Probe.“


    So sprach er und ging, um seine Kinder zu holen.


    Lange lebten die Widerlichen ungestört, denn es dauerte lange bis die Kinder des Vatergottes gelernt hatten wo und wie sie Wasser, Nahrung und Schatten finden konnten. Die Stämme lernten, lebten und kämpften und breiteten sich langsam aus, und der Vatergott war zufrieden mit ihnen.


    Da erreichten sie die Ebene und staunten über den Krater, an dessen Rand sie plötzlich standen. Sie sahen wie grün und fruchtbar er war, und da wußten sie, daß sie einen weiteren jener Orte gefunden hatte, die der Vatergott für sie bestimmt hatte. Doch die Widerlichen waren stark und ließen sich nicht vertreiben. Ein Stamm nach dem anderen versuchte den Krater zu erobern, doch alle scheiterten. Da wurden sie wütend und knirschten mit den Zähnen.


    Und die Männer eilten zu ihren Frauen und riefen: „Viele sind gestorben, unser Stamm muss wachsen! Zeugt mehr Kinder mit uns, damit wir die Widerlichen töten können!“ Doch die Frauen lachten und sie sagten: „Glaubt ihr, der Vatergott will, daß ihr eure Großtaten in zerwühlten Schlaffellen vollbringt? Sicher hat er eine andere Lösung für diese Prüfung gewünscht.“
    Da sahen sich die Männer betreten an. Und wie sie am abendlichen Beratungsfeuer saßen, sahen sie überall in der Ebene andere Beratungsfeuer brennen. Da erkannten sie, daß genug Krieger da waren, nicht alle vom selben Stamm, aber alle Kinder des Vatergottes. So kam es, daß sie sich zusammentaten und gemeinsam den Krater eroberten. Es war ein langer und harter Kampf, und alle Stämme freuten sich über den Sieg und feierten ein großes Fest am Berg im Krater, den sie zuletzt erobert hatten.


    Am Morgen darauf sahen sie wie zahlreich die verschiedenen Stämme vertreten waren.


    Und sie zündeten ein Beratungsfeuer für alle Stämme an und sprachen:


    „Dieser Ort ist groß und fruchtbar, doch wir sind viele. Er kann unmöglich uns alle ernähren. Aber wer soll bleiben, wer soll gehen? Alle haben mitgeholfen den Ort zu Ehren des Vatergottes zurückzuerobern.“
    Einige meinten: „Wir wollen nun untereinander kämpfen, dem Sieger soll der Ort gehören!“


    Doch andere meinten: „Was, wenn es weitere Orte wie diesen gibt, wo die Widerlichen hausen? Wir dürfen die Stämme nicht zu sehr schwächen.“
    Und sie waren ratlos und begannen wütend auf sich selbst und die anderen zu werden, weil keiner eine Lösung wußte. Da standen die Frauen auf und sprachen:


    „Wir Frauen aller Stämme haben kein Beratungsfeuer, doch beraten wir uns an der Wasserstelle. Hört was wir beschlossen haben:
    Alle Stämme haben Seite an Seite gekämpft und wir waren stark. Es war eine gute Idee, und kein Stamm darf je vergessen daß alle zusammen stärker sind als einer. Deshalb soll dieser Krater ein Ort der Erinnerung sein. Ein heiliger Ort, an dem die Stämme nicht gegeneinander kämpfen dürfen, egal was sonst geschieht. Wir werden hier dem Vatergott und der Muttergöttin huldigen. Wir werden unser Wissen auf die Schulterknochen unserer Ckkurh kerben und auf die Häute unserer Feinde schreiben, und alles in diesem Berg bewahren; und verdiente Krieger sollen hier die anderen lehren ihren Körper und ihren Geist für den Kampf zu schulen. Und alle sollen aus ihren Erfahrungen und Fehlern für die Zukunft lernen.“


    So wird es seither gemacht.


    Man nennt den Ort die Nabe, zum einen wegen der relativ runden Form des Kraters, und zum anderen wegen der Stämme, deren ständige Fehden und Kriege sich wie die Speichen eines Rades um den Krater von Khsír herumbewegen, aber niemals in ihn eindringen. Die Nabe ist ein Ort des vermittelten Wissens, eine Gedenkstätte an die geballte Kraft der Stämme, ein Archiv über die Großtaten der Ahnen und als religiöses Zentrum das Ziel so mancher beschwerlichen Pilgerreise.


    Und der Vatergott sieht es und ist zufrieden.

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