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Namenloses Bauwerk
© Gomeck
In Aikatun, einem Kaiserreich auf dem Nordkontinent, gibt es nach dem Glauben der Bewohner eine Vielzahl von Göttern, die alle gleichberechtigt nebeneinander verehrt werden. Einer dieser Götter ist Ke-Anum, der Gott des Holzes. Seinem Herrschungsbereich werden vor allem die Wälder zugeschrieben, doch auch ein jeder, der in irgendeiner Form mit Holz zu tun hat, sei es der Zimmermann oder der Fischer mit seinem Boot, richtet regelmäßig seine Ehrerbietung aus. Auf dem Land findet man in der Regel kleinere Schreine in den angrenzenden Wäldern, in großen Städten jedoch gibt es stets auch einen oder mehrere Tempel zu Ehren von Ke-Anum. Diese haben meist einen rechteckigen Grundschnitt von unterschiedlicher Größe, doch in der Regel etwa 12 Mannslängen in der Breite und 8 Mannslängen in der Tiefe.* Die Wände sind im Innern mit zahlreichen, zum Teil gewaltigen Holzreliefs bedeckt, im Innenbereich allerdings gibt es kaum Wände, sondern vor allem verzierte Säulen, die die Bäume des Waldes symbolisieren sollen, so dass die Innenräume der Tempel wie ein Wald aus Säulen anmutet. Es gibt in diesen Tempeln keinen Bereich, der besonders heilig zu bezeichnen wäre, die Gläubigen und Priester verrichten ihre Verehrungen irgendwo zwischen den Säulen.
Vor etwa 180 Jahren herrschte ein Kaiser mit Namen Maikamatsum-Si é Sukatar über das Reich - das "Si" in seine Namen bedeutete "Der Vierte", denn er war der vierte seiner Blutslinie, und es war Brauch, dies im Namen fortzuführen. Er führte sein Reich mit harter Hand und verschaffte sich eine stabile Position zwischen den umgebenden Staaten, die seine starke Armee fürchteten. Das führte zu einer Phase des Friedens und Wohlstandes, und er war beliebt beim Volk.
Doch mit der Zeit verfiel Maikamatsum-Si einer Droge, die sich "Keimakau" nannte, was soviel hieß wie "Das dritte Auge". Keimakau sagte man nach, Visionen hervorzurufen, gerade bei Priestern mancher Gottheiten war sie daher sehr begehrt. Nach einer Phase der Halluzinationen, die meist nur kurz dauerte, schloß sich dann aber eine Phase des positiven Hochgefühls an, die meist einen ganzen Tag anhielt, wobei die Wirkung kontinuierlich nachließ. In dieser Zeit des Hochgefühls war man außerdem ungemein kreativ und impulsiv, wobei die Ratio, die Vernunft, in gleichem Maße abnahm.
Die Substanz selbst, ein gelbliches Pulver, das man in Wasser oder Alkohol auflöste, wurde aus einer Pflanze gewonnen, die man nur in Trekkamar* fand, und auch dort war sie sehr selten. So war es nicht verwunderlich, dass Keimakau sehr teuer war.
Doch für Kaiser Maikamatsum-Si war dies selbstverständlich kein ausschlaggebendes Argument, um die Finanzlage seines Reiches stand es gut. Und so gewöhnte er es sich an, zunächst gelegentlich und später immer häufiger Gebrauch von Keimakau zu machen, bis er sich schließlich in einer permanenten emotionalen Hochphase befand, unterbrochen von gelegentlichen Höhepunkten, in denen er halluzinierend in seinem Bett lag.
Während dieser Zeit der geistigen Umnachtung beschloss Maikamatsum-Si, ein Zeichen für die Nachkommen zu setzen, und wie wäre dies besser möglich als mit einem monumentalen sakralen Bau, der alles überragen sollte, was es bis dahin gegeben hatte. Seine Entscheidung fiel auf Ke-Anum, dem Gott des Holzes, der unter den vielen Göttern als einer der mächtigeren Götter galt. Ihm zu Ehren wollte er einen besonders prächtiger Tempel bauen! Er bestellte den besten Architekten des Landes zu sich, einen bereits älteren Keniau namens Niatuam é Salukesh, und unterbreitete ihm sein Vorhaben: der Tempel sollte nicht nur dreimal so hoch sein wie der höchste bis dato gebaute Tempel, er sollte dennoch filigran und zart in seinem Aussehen und darüber hinaus auch noch komplett auf Säulen errichtet sein, so dass die Bevölkerung unter ihm umhergehen kann wie in einem Wald. Der Architekt versuchte mit all seiner Überzeugungskraft, seinem Kaiser diesen Wunsch auszureden, doch vergeblich, er beharrte darauf, und er hatte eindeutig die stärkeren Argumente - der Architekt sah sich mit einem Mal damit konfrontiert, entweder das wahnwitzige Projekt zu wagen oder aber eiligst aus dem Land zu flüchten, um dem Henkersbeil zu entgehen. Der Architekt hatte jedoch Frau und Kinder und war zudem nicht sehr wagemutig, und so willigte er ein - und begann eiligst mit den Bauarbeiten.
Der Bau machte zunächst gute Fortschritte, zügig war das Bau-Areal mit einer Vielzahl schlanker, schön anzusehender Säulen bedeckt, insgesamt 216 an der Zahl, in einem Abstand von gut zweieinhalb Mannslängen. Anschließend wurde darauf das erste Geschoß errichtet. Doch mit der Höhe des Baus stiegen selbstverständlich auch die Kosten bald in ungeahnte Höhen.
Doch nicht nur der Architekt, sondern auch der gesamte Hofstab des Kaisers litt unter dessen Einfällen, die immer seltsamere Blüten trieb, je weiter er der Droge verfiel. Doch eines Tages gelang es seinem Hofarzt, dem Keniau Sarra é Leshakul, zu ihm durchzudringen, nachdem er unter Todesgefahr heimlich die Keimakau-Vorräte, die der Kaiser immer in seinen privaten Schlafgemächern aufbewahrte, immer mehr mit harmloseren Substanzen streckte. Schließlich gab Maikamatsum-Si dem Drängen seines Hofarztes nach, auf einem seiner Landsitze eine Entschlackungskur zu machen, da mit langsam klarerem Verstand dem Kaiser selbst klar wurde, dass die Staatsgeschäfte immer mehr litten.
Zwei Monate später kam er aus seinem Landsitz zurück, zur Erleichterung vieler bei klarem Verstand und voller Tatendrang. Wenige Tage, nachdem er die Staatsgeschäfte wieder aufgenommen hatte, erreichte ihn jedoch die Meldung seines obersten Schatzmeisters, dass es um die Finanzen der Stadt nicht sehr rosig aussähe, solange an dem Bau des neuen Tempels zu Ehren des Ke-Anum weiter festgehalten würde. Diesen hatte der Kaiser völlig vergessen, und eilig besichtigte er die Baustelle, wo der Tempel inzwischen schon stattliche 7 Stockwerke emporragte, die sich nach oben hin immer mehr verjüngten. Zwar gefiel ihm, was er sah - die Säulen waren schlank und mit filigranen Stuckarbeiten versehen, die Wände der Stockwerke darüber mit vielen hohen Fenstern und zahlreichen Außengalerien versehen, an denen kunstvolle Figuren die Ecken zierten - Doch er war im Grunde sehr klug, und so sah er, dass die Vollendung dieses Baus die Kassen der Stadt sprengen würde, und außerdem gab es an den Ostgrenzen des Landes einen aufkeimenden Konflikt mit dem Nachbarland Saam Tey (ebenfalls hervorgerufen durch eine seiner spontanen Ideen während seines Deliriums), so daß er steigende Kosten im Militärbereich nicht mehr ausschließen konnte.
Er hielt sich allerdings nicht mit schlechtem Gewissen und Gefühlen des Mitleids auf und löste das Problem auf wahrhaft kaiserliche Art und Weise: er ließ den Architekten und seine Baumeister zu sich rufen, behauptete frei heraus, der Architekt sei wahnsinnig geworden und hatte entgegen seiner Anweisungen die Baupläne verändert, und ließ sie allesamt in den Kerker werfen, wo sie Jahre später tatsächlich irre wurden und schließlich vor Schwäche starben.
Der unvollendete Tempel ist bis heute, 180 Jahre später, immer noch das höchste Gebäude der Stadt, und es wird auch tatsächlich als Tempel genutzt, allerdings in abnehmendem Maße, da manche Säulen im inneren Bereich inzwischen beachtliche Risse aufweisen. Die oberen Stockwerke des Gebäudes wurden irgendwann allerdings von diversen Sitauel-Clans* besetzt, die von dort eine hervorragende Sicht auf die Stadt hatten; nach anfänglichen Widerständen seitens der Priester hatte man dann die Clans dort wohnen lassen, da ohnehin niemand der Keniauel dort oben Dienst verrichten wollte.
* Keniau: Großkatzenartiger Hexapode
* Mannslänge: Ein Keniau wird etwa 2m lang, dies wird mit einer Mannslänge bezeichnet.
* Trekkamar: verhältnismäßig schmale Landbrücke zwischen dem Nord- und Südkontinent, tropisch bis subtropisch.
* Sitauel: Fliegende Hexapoden, ca. 80cm hoch.