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  • Diskussion | Metakram | Hintergrundrauschen

    Anima Hollow
    Die Stadt der Spiegel


    Wegweiser:


    * Die Spiegelstadt und wie sie geschrieben wurde
    * Kleine Ortskunde und wie man sich zurechtfindet:

    * Willkommen im Gasthaus Zur Goldenen Katze

    * Verfasser A. - zum Geier, wer ist das?

    * Merkwürdigkeiten und was darüber bekannt ist

    * Aus verbotenen Büchern

    • Das Gefäß
    • Der Vorhang
    • Die Architektin/ Die Schläfer
    • Der Sammler




    Hintergrund:


    Was ist die Spiegelstadt?


    Die Spiegelstadt ist ein sehr persönliches Weltenbauprojekt von mir und lehnt sich von der Idee her stark an „Alice im Wunderland“ an. Die Geschichte von Alice – sowohl das Original als auch die schillernden Adaptionen von Tim Burton oder American McGee faszinieren mich ziemlich sehr. Ich pflege seit Kindesalter an eine bunte Fantasie und drifte häufiger in meine eigenen „inneren“ Welten ab. Diese inneren Orte sind für mich wie Kraftquellen und Refugien, die ich aufsuche, um Trost, Freude, Rat oder Einsichten zu gewinnen. Gewissermaßen sind sie also auch psychologisch wertvoll. Womöglich ist die Spiegelstadt ein natürliches oder gar bewusst erzeugtes Produkt meiner verschnörkelten Introversion.


    Meine Weltenbau-Entwicklung führte mich bereits durch verschiedenste Versionen meiner inneren Welten, von der tiefen Höhlenwelt bis hin zu traumartigen Szenarien. Mein Interesse für Mythologisches, Psychologisches, Träume und Magisches fließt hier maßgeblich mit ein. Ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt ist das Bruchstück-Konglomerat, dessen zentraler Protagonist – Verfasser A. – mein Alter Ego darstellt. In verschiedenen literarischen Experimenten und fantastischen Kompositionen ersuche ich in der Rolle des Verfasser A. eine Dekonstruktion und systematische Erkundung meiner eigenen Psyche. Dabei fasziniert mich vor allem die Macht der Sprache selbst und all das, was sie auszudrücken vermag.



    Symbolik als Schwerpunkt


    Was die Spiegelstadt angeht, ist nichts zufällig gewählt, benannt oder konzipiert. Symbolik gehört zu meinen wesentlichen Interessenschwerpunkten, wenn es um Weltenbau, Literatur oder Fotografie geht. Wesentlich inspiriert hat mich auf meinem Weg nicht nur Lewis Carroll, sondern auch Franz Kafka, dessen Werk in der Literatur als „psychologisch verzweigter Bau“ betrachtet und entschlüsselt wird. Diesen Bau habe ich systematisch erkundet, allerdings in mir selbst. Ich habe mir wohl irgendwie angeeignet in jedem Ding, jeder Sache, jedem Wort, die ganze Welt gespiegelt sehen zu können. Dadurch hat für mich alles im Leben eine Art sprechenden Charakter. Dieser sprechende Charakter gewinnt in meinen Welten an Lebendigkeit, wird zu Fleisch und Blut. In meiner inneren Welt sprechen die Dinge tat-sächlich. Sie bilden ein großes, vernetztes, dreidimensionales System – meinen ganz persönlichen Bau, dessen Grenzen und Räume ich stetig erweitere.



    Wie entsteht die Spiegelstadt?


    Sie entsteht zwischen den Zeilen meines Lebens, in der Synergie von Körper und Geist und im Verzweigen meiner persönlichen, inneren Anteile. Sie ist therapeutisch, klärend, kompensierend. Sie ist die dunkle Seite des Mondes und die zweite Seite der Medaille. Sie ist das Abbild meines Oberstübchens und die labyrinthische Amplitude meines Gehirns. Sie ist das, was intuitiv entsteht, wenn ich nach innen schaue. Sie ist ein Mosaik aus Träumen, Gedanken, Wünschen, Ängsten und Fantasien. Die Spiegelstadt entsteht durch das geschriebene Wort, durch das gedachte Bild. Sie entsteht jeden Tag neu und offenbart ihre wahre Tiefe erst mit längerem und genauerem Hinsehen.


    Sie ist der Zauber im grauen Alltag und die unausgesprochene Wahrheit, die hinter einem unsichtbaren Vorhang verborgen liegt. Sie ist das von mir gefilterte Kulturdrama, das Form gewinnt und sie ist ein psychologisches Vermächtnis. Ich durchstreife die Spiegelstadt und es ist, als wandere ich hinter die Welt. Ich sehe mich überall selbst. Im Spiegel schaue ich mich nicht nur an, sondern durchschaue mich, erkenne mich spielerisch. Die Spiegelstadt entsteht als autobiographisches Weltenbauprojekt, sie ist buchstäblich der Spiegel meiner eigenen Person – auf ihre ganz besondere und eigene Art eben.



  • Die Spiegelstadt und wie sie geschrieben wurde


    Anima Hollow ist ein beschauliches, bizarres Städtchen irgendwo zwischen den Zeilen der schönen, neuen Welt. Eine liebenswürdige Stadtgemeinde, in welcher der angebrochene Tag sich im Fundus spiegelt, die bleiche Mondscheibe sich abends über die Dächer erhebt und seltsame Botschaften durch die Luft vibrieren, während alle bei einer heißen Tasse Tee im Gasthaus Zur Goldenen Katze das frisch gedruckte Wochenblatt aufschlagen. Die Straßen dieser Stadt sind ein Spiegel, ihre Wege ein Irrgarten, ihre Grenzen eine Bordsteinkante.Und wie sie einst geschrieben wurde - diese wahrlich einmalige Stadt - erfahrt ihr hier:


    Spiegelstadt, Anno 1802


    Sie schreibt. Und die Tage werden länger. Sie, weiß, dass der Weg gebrannt ist. Sie schreibt, um nicht gänzlich zu verschwinden. Um hier zu bleiben. Sie schreibt, um zu verstehen. Aber sie weiß, dass sie fortgehen muss. Sie sieht, wie das Buch sich füllt. Sie weiß, dass es bindet. Es bewahrt. Auf den Dächern tanzt der Regen. Und am Himmel hängen schwere, graue Wolken. Sie weiß, dass sie ersticken wird. Sie kennt die Dunkelheit schon. Sie weiß, dass sie weiterschreiben muss. Sie hält sich wach. Sie spürt den schwarzen Nachthimmel, der sich wie ein bleiernes Tuch über alles legen will. Sie weiß, was geschehen wird. Sie will gehen, aber sie hält sich fest. Sie ist noch hier. Sie sieht, dass die Zeiger der Uhr stillstehen. Sie ahnt, dass es fast zu spät sein mag. Der prasselnde Regen wird eindringlicher und vermengt sich zu einem unheilvollen Dröhnen, das ihr unter die Haut fährt. Bald ist es soweit. Sie kennt die Wahrheit. Sie bewahrt die Finsternis. Sie kann die Bürde kaum noch tragen. Sie fühlt sich am Abgrund. Sie geht keinen weiteren Schritt. Sie steht zu nah am Rand. Sie ist nicht waghalsig. Sie kann den Boden nicht erkennen, nur die Bodenlosigkeit. Sie fühlt sich am Abgrund, so nah. Sie bangt und fürchtet sich. Sie weiß nicht, wann sie fällt. Sie schreibt. Immer weiter. Zwischen ihren Zeilen erschafft sie eine Welt. Einen sicheren Ort, der sie bewahren wird. Ein Refugium. – Dann springt sie.

  • Kleine Ortskunde und wie man sich zurechtfindet
    Hintergrundrauschen


    Ein alter, speckiger Schinken – beschrieben mit beißender Tinte – der ausführlich über die Spiegelstadt berichten will, begrüßt die werte Leserschaft heute mit den folgenden Worten: Was bisher bekannt ist, erfahrt ihr hier. Es sei vorab davor gewarnt, dass im Grunde nicht vieles bekannt ist und es deshalb zu Verwechslungen, Verirrungen und Verwirrungen der besonderen Art kommen kann. Das Betreten der städtischen Gegenden geschieht auf eigene Verantwortung. Bedenkt, dass in dieser Stadt nichts so sein muss, wie es den Anschein machen will – Wunder und Wahn, allesamt gespiegelt zwischen den Zeilen von Anima Hollow. Willkommen in der Stadt der Spiegel. Und nun das Wichtigste in Kürze:


    Anima Hollow ist ein beschauliches, bizarres Städtchen irgendwo zwischen den Zeilen der schönen, neuen Welt. Eine liebenswürdige Stadtgemeinde, in welcher der angebrochene Tag sich im Fundus spiegelt, die bleiche Mondscheibe sich abends über die Dächer erhebt und seltsame Botschaften durch die Luft vibrieren, während alle bei einer heißen Tasse Tee im Gasthaus Zur Goldenen Katze das frisch gedruckte Wochenblatt aufschlagen. Die Straßen dieser Stadt sind ein Spiegel, ihre Wege ein Irrgarten, ihre Grenzen eine Bordsteinkante.



    Innenstadt


    Die Innenstadt ist der belebteste Bezirk unserer prächtigen Stadt. Ihr Herzstück bilden der Marktplatz in der Spiegelstraße sowie das Gasthaus Zur Goldenen Katze, das wahrlich der Dreh- und Treffpunkt unserer Gemeinschaft ist. Im Innenstadt-Bezirk spielt sich das bunte Treiben und Leben der meisten Spiegelstädter ab. In der Spiegelstraße reihen sich urige Lädchen an edle Geschäfte, die alles anbieten, vertreiben und herstellen, was das Herz begehrt. Hier gehen Einkaufen, Einkehren und Einwecken Hand in Hand. Und wenn es dann abends zu dämmern beginnt, legt sich ein besonders zauberhafter, warmer Schein über die Spiegelstraße und den Marktplatz. Surrende Schwärme von Glühwürmchen sowie schummrig schimmernde Lampions tauchen das Stadtleben abends in ein wundersames Meer aus Licht und Klang. Gerade bei Vollmond sei die abendliche Atmosphäre noch elektrisierender. Dann, wenn sich der sanfte Schein der bleichen Himmelsscheibe auf den Dächern der Stadt spiegelt, entstehe ein wahrlich magisches Knistern, das die Luft bis zum Morgengrauen erfüllt. Wagt auch gerne einen Schritt in Richtung der Spiegelstädter Schicksalsweberei.


    Angrenzend zur Spiegelstraße erreichen wir im Nu die Kannengasse und das verlassene und verwahrloste Wandereck, das eine Abzweigung zur berühmt berüchtigten Wandergasse offenbart. Der Wandergasse, müsst ihr wissen, ist unter keinen Umständen zu trauen. Man sagt, sie sei das Ergebnis eines irrsinnigen Kartographen, dessen Orientierung in hohem Alter merklich nachgelassen hat. Er fertigte mehrere Karten der Wandergasse an und veränderte dabei jedes Mal einige Details, ohne es selbst zu bemerken. Die Folgen dieses Werks sind nicht ungefährlich. Die Wandergasse ändert immer wieder ihren Straßenverlauf, ohne Vorwarnung und ohne jegliche Struktur. Das Betreten der Wandergasse ist daher nicht zu empfehlen, zumal es die räumliche Orientierung innerhalb der Stadt erheblich erschwert. Hinzu kommt die eigenartige, nicht vorhandene zeitliche Linearität, die in der Wandergasse herrscht. Zeitreisen und Zeitsprünge sind hierbei nur das kleinste Übel, ehrlich.


    Man erzählt sich auf dem Marktplatz, dass die Wandergasse manchmal für ganze Tagen oder Wochen verschwunden sei. Kompletto, kompletti. Einfach weg, ihr versteht schon. Sie sei zwischenzeitlich „abgewandert“, pah, wer es glaubt. Bisher ist sie immer wieder aufgetaucht, aber Verlass ist nicht auf sie. Bei Zeiten entwickele sie sogar eine Art pubertären Charakter und lege dann ein wahrlich gerissenes Verhalten an den Tag, das schon so manchen Spiegelstädter fürchterlich empört hat. Sie lasse Türen, Mauern, Zäune, Durchgänge oder sogar das Abendessen, Toiletten und ganze Betten verschwinden – zum Nachteil der Bewohner selbstverständlich, die ihre Wohnungen und Zimmer in der Wandergasse angemietet haben! Womöglich könnte es noch schlimmer kommen, ihr seid nun also vorgewarnt.


    Unbedingt zu erwähnen sei die fließende Ader unserer prächtigen Stadt: Der Fluss Fundus. Der Fundus fließt seit geraumer Zeit durch die Spiegelstadt. Er ist kein gewöhnlicher Fluss. Er ist etwas gänzlich anderes. Des Nachts spiegelt sich die bleiche Mondsichel auf seiner finsteren Oberfläche. Er hat zahlreiche Ausläufer, die sich unterhalb der Spiegelstadt befinden. Und man sagt, dort unten schürft der Fundus nach Mineralien, Erzen und allerlei nahrhaften Gesteinen. Seine Ausdünstungen sind bemerkenswert, ebenso wie seine merkwürdigen physikalischen Eigenschaften, die ihn bisweilen dazu befähigen, nach oben zu fließen oder nach oben zu regnen. Dies wird den Ein oder Anderen bereits völlig verwirrt haben, ist jedoch kein ungewöhnliches Fundus-Phänomen.

  • Außenbezirke


    Alte spiegelstädter Karten offenbaren allerlei Kurioses über die weitgehend unbekannten und unbetretenen Außenbezirke der Stadt. Sie seien verfluchte Lande, verhext und verwildert. Nach Hinterstadt gelange man daher schon lange nicht mehr. Ein verbotenes Buch will im Detail über die Außenbezirke berichtet haben, wenngleich sein Verfasser niemals aufgefunden wurde. Er sei am Rande der Wandergasse untergekommen. Bekannt ist, dass er das seufzende Haus bewohnt hat. Nun, dieser ominöse Verfasser ist ein Phantom, womöglich verschluckt und unwiederbringlich absorbiert von den Hauswänden, Ziegeln und klappernden Treppenstufen dieser vermaledeiten Gasse. Verspeist von den tief führenden, unterkellerten Räumen des seufzenden Hauses, dessen steinernes Rückgrat sich immer weiter in die Tiefe windet.


    Eine historische Kartographie der Spiegelstadt, aus dem Besitz der alten Nanda stammend, benennt und beschreibt die Außenbezirke wie folgt: „Im Osten die Domäne des Schwarms, wo sich gefiederte Geschöpfe kreisend um die alten Türme auf den Schneiden des Windes bewegen. Sie seien hier sesshaft geworden und vielleicht bewachen sie auch etwas, das keinen Namen hat. Im Süden die Domäne der Staubteufel, wo sich rotierende Windröhren über das verbackene Heideland bewegen und quälend durch die Schwelbrände der gleißenden Mittagssonne rauschen. Sie seien der Zorn der Alten, der Salamander, die einst das Feuer geboren haben. Im Westen die Domäne des Kraken, wo sich der Fundus tausendfach verzweigt und sein schwarzes Blut in den fruchtbaren Boden speist. Er forme hier das Antlitz eines riesigen Kraken, des Alten, der einst aus dem Wasser stieg und zu Tinte zerfloss. Im Norden die Domäne der Ackermuhmen, wo eine faulige Präsenz gespenstisch über die Ebenen hinkt und heulend im Winde verweht. Hier sei die Geburtsstädte der Hexen, die den Vorhang geschlossen halten.“


    Weiteres ist bekannt über die Rücker Farm, die südlich der Spiegelstadt liegt, wo der Boden allmählich trockener wird und an die Domäne der Staubteufel angrenzt. Hier wirbelt der Staub in dürren, säuselnden Säulen jenseits der Grenzzäune der Gebrüder Rücker auf. Etwas trägt sich hier zu. Wo sich diffuse Lichter durch die vertrockneten Kornfelder bewegen und die rostige Mühle stetig weitermahlt, entringe sich ein tiefes Grollen dem Brunnenschacht, der einst Wasser führte. Dieser Schacht, der sich tiefer schraubt als angenommen, verbirgt etwas. Vielleicht ein schlafendes Gespenst, vielleicht etwas anderes. Etwas vibriert auf diesem verlassenen Stück Land. Telegrafen funktionieren hier nicht. Etwas stört die ausgehenden Signale. Aber es sei gänzlich unsichtbar, nicht greifbar, nicht wahrnehmbar.


    Bekannt ist ebenfalls die Kicherbrücke, die im nördlichen Außenbezirk der Spiegelstadt über eine kurze, direkte Verbindung über den Fundus hinwegführt. Sie ist der einzig betretbare Pfad zu den faulenden Feldern. Aber, seid gewarnt, wenn Leute das Gebälk dieser Brücke betreten, will man ein unheimliches Kichern vernehmen. Die seltsamen Töne seien aber nicht auf das alte, marode Holz zurückzuführen. Sie seien viel mehr das hämische Gelächter des Fundus selbst, der angeblich in einer unheilbringenden Verbindung zu den Ackermuhmen des nördlichen Außenbezirks stehe. Auffällig ist, dass die Vegetation im nahen Umkreis der Kicherbrücke abgestorben ist. Einige behaupten deshalb, die Brücke sei irgendein magisches Artefakt. Die Ansichten hierzu gehen weit auseinander und es lassen sich auch keine einheitlichen Aussagen dazu finden. Zusammenfassen lässt sich also: Über die Kicherbrücke ist man sich in der Spiegelstadt nicht wirklich einig geworden.

  • Vorstadt, Hinterstadt und Unterstadt


    Wo fängt man da an. Nun, eine jede Kreatur, die die Schwelle des hiesigen Stadttores überwinden will, um in den Genuss des spiegelstädter Lebens zu kommen, wird zuvor die beschauliche Vorstadt durchqueren. Die Vorstadt ist lediglich eine spießbürgerliche Ansammlung gleichartiger Gebäude und sich wiederholender Bauten unauffälliger Kleinfamilien. Die Vorstadt hat im Grunde nichts Aufregendes an sich und gleicht bloß einer Auslagerung all dessen, was gewöhnlich ist. Und auch die Geschehnisse sind alles andere als außergewöhnlich: Die Post ist da und in der Gleichengasse ist schon wieder der Strom ausgefallen. Die Vorstadt ist an geistiger Konformität kaum zu übertreffen.


    Und trotz aller Einförmigkeit ist etwas Seltsames in den Winkeln der Vorstadt zu beobachten: Jede Straße, jedes weiß lackierte Zäunchen, jedes idyllische Häuschen, jedes spiegelblank polierte Fensterchen, jedes verzierte Türchen – alles gleicht hier dem jeweils anderen in solch einem ausgeprägtem Maße, dass eine Unterscheidung so gut wie unmöglich zu bewerkstelligen ist. Hier ist alles gleichartig und selbstähnlich. So selbstähnlich, dass selbst die eigene Erscheinung in den Straßen der Vorstadt dazu neigt, sich ungefragt zu duplizieren, wodurch es zu komplizierten zeitlichen Überlagerungen kommen kann. Ihr seid nun vorgewarnt. Sie ist wirklich merkwürdig, diese Vorstadt. In ihren unscheinbaren Vorstadthäusern wiederholt sich nicht nur die Einrichtung, der Kaffee am Morgen und das Bier mit Schaum am Abend. In ihrer selbstähnlichen Struktur potenziert sie alle erdenklichen jemals gewesenen, seienden und werdenden Versionen ein und derselben Kreatur. Es soll keine Seltenheit sein, dass man sich in der Vorstadt früher oder später selbst begegnet.


    Über die abgetretenen Feldwege, immer entlang der faulenden Felder, gelangt man in den letzten Außenbezirk der Spiegelstadt, in die Domäne der Ackermuhmen, und hier angrenzend liegt ein verdorbener Ort: Hinterstadt. Sie sei nur noch eine Ansammlung verlassener und leerstehender Gebäude, trauriger Architektur und verwilderter Straßen. Sie sei eine Ruine. Ein Schatten, geworfen von der Spiegelstadt selbst. Und dieser Schatten, nun, er hätte ein Eigenleben entfaltet. Auf den faulenden Feldern sei etwas gesät worden, das vor sehr langer Zeit verdarb. Und diese fauligen Dämpfe, sie seien wie untote Gespenster, die jenseits der Feldwege ihr Unwesen treiben. Diese verdorbene Präsenz, sie sei hungrig. Sie sei niemals wirklich satt. Es ist nicht viel bekannt über die Hinterstadt, da sich schon seit etlichen Jahrzehnten niemand bis hierhin gewagt hat. Nicht ohne Grund, wie anzunehmen ist.


    Die unterirdischen Ausläufer des Fundus haben über die Jahrhunderte ein komplexes Netz aus Röhren und Durchgängen geschaffen, das einem irrsinnigen Labyrinth gleicht: Unterstadt. Die beißenden Ausdünstungen des Fundus unter Tage sind kaum zu ertragen. Dort in der Unterstadt ist er geradezu bissig, sagt man. Einige behaupten ohnehin, der Fundus sei eine dämonische Kreatur ohne Körper und Form. Für die meisten ist er einfach nur ein Fluss, der sich an sonnigen Tagen heiter durch die Spiegelstadt schlängelt. In der Unterstadt jedoch, zeigt er ein anderes Gesicht – wie allen in der Unterstadt. Man erzählt sich, dass die Unterstadt von Doppelgängern und Schattenwesen, von Kanaldrachen und anderem Getier bevölkert wird. Hierfür gibt es bis heute keine eindeutigen Beweise, wenngleich es Hinweise darauf gibt, dass die Unterstadt über einen seltsamen Humor verfügt, dessen Folgen man durchaus als Antlitz einer „verkehrten Welt“ bezeichnen könnte. Es verhält sich ähnlich wie mit der Hinterstadt: Man hält sich nicht besonders häufig oder gerne unterhalb von allem auf.


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    Die Tiefe Stadt liegt noch tiefer. Man erzählt sich, sie sei bevölkert von den zuckenden Scheusalen der Welt im Stein. Tanzende, klackend-knackende Kreaturen, die Hüte in Form von spitzen Pyramiden tragen. Sie graben sich tiefer und tiefer und ihr bizarres Gelächter dringe immer mal wieder hinauf, nach oben. Sie streben in die Dunkelheit, ewig abwartend auf "das Ereignis" und ewig sehnend nach ihrer Einkehr. Es ist verboten, dies zu wissen. Verboten, darüber zu sprechen. Ihre unterirdischen Gewölbe winden sich noch tiefer und bleiben nicht gleichtief. Jemand will dort gewesen sein. Jemand will über sie geschrieben haben. Er habe in der Wandergasse gemietet. Es ist nicht viel über ihn bekannt. Er sei der Verfasser mehrerer Dokumente, die das Vorhandensein der Tiefen Stadt belegen. Pah, wahrscheinlich durchgedreht.


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    Die verworrenen Gefilde entnehmt ihr der folgenden Kartografie:


  • Willkommen in unserem Gasthaus

    wo Zeit mehr Zeit ist und noch vieles mehr.

    Zur Goldenen Katze

    Im hiesigen Gasthaus Zur Goldenen Katze unterhalten sich derzeit viele Spiegelstädter über die neusten Ereignisse in der Stadt. Sie trinken Tee, schlagen das Wochenblatt auf und verfügen offensichtlich über etwas sehr Kostbares: Zeit. Ja, es ist so: Im Gasthaus Zur Goldenen Katze hat praktisch jeder Zeit. Wenngleich nicht jedem der Gäste klar ist, was Zeit überhaupt im Detail meint. Im Gasthaus Zur Goldenen Katze vergeht die Zeit nämlich wie im Flug und doch hat man Zeit gewonnen, wenn man das Gasthaus wieder verlässt. Wie genau das funktioniert, ist unwesentlich. Es ist eigentlich auch paradox, aber im Grunde ist jedem klar, was gemeint ist. Kommen wir also zum Wesentlichen.


    Unser schönes Gasthaus ist das Herz der Stadt und liegt in der Innenstadt am östlichen Ende der Spiegelstraße. Ihr erkennt es an seinem unauffällig auffälligem Schriftzug und der darunter liegenden Eingangstür, die mit einem altertümlichen Türklopfer verziert ist, der dem Kopf einer Großkatze sehr ähnlich sieht. Habt ihr etwa angenommen, er sähe wie ein Hund aus? Nun, unser Gasthaus bietet zahlreiche Speisen und Getränke an, sodass für jeden Gast etwas von Genuss dabei ist. Viel interessanter als Kaffee, Tee und Gebäck, Suppe und Eintopf finden die Gäste jedoch das Wochenblatt, das jeden Montag frisch gedruckt auf dem Tresen landet und über alle wichtigen Ereignisse in und um die Spiegelstadt herum informiert.







    Überdies ist unser schönes Gasthaus auch dafür bekannt, dass es immer mal wieder interessante Gäste in seine Obhut zieht. Manche seien nicht von hier, aber woher sie kommen ist ebenso ungeklärt. Unsere Türen sind für alle geöffnet, vorausgesetzt man besitzt die Höflichkeit zu klopfen, ihr wisst schon, der Türklopfer. Der, der dem Kopf einer Großkatze ähnlich sieht. Es heißt, die Vorstädter mögen unser Gasthaus nicht, pah, wer es glaubt. Die Vorstädter, allesamt gleichfältige Leute. Nun, zu erwähnen ist, dass das Gasthaus Zur Goldenen Katze schon sehr berühmt berüchtigte Gäste bewirtet hat. Darunter Osiris, Seth, Hades, Apollon, Chronos und Hypnos. Zumindest wurde vieles in diese Richtung gemutmaßt. Einig geworden ist man sich offensichtlich nicht. Pah, alles Hochstapler. Unser Hauptgast ist selbstverständlich die Zeit selbst. Sie ist sonderbar, müsst ihr wissen. Wenn ihr schon einmal versucht habt, sie totzuschlagen oder in die Länge zu ziehen oder gar anzuhalten, dann wisst ihr bestimmt, was mit sonderbar gemeint ist. Aber sie ist nicht sehr nachtragend, wie sich zeigt. Bekannt ist, dass sie alle Wunden heilt, wenn man nur lange genug wartet. Ihr solltet es am besten selbst herausfinden, vielleicht bei einer heißen Tasse Tee?


    Seht, die neuste Ausgabe der Katzentatze liegt schon auf dem Tisch. Die Schlagzeilen sind elektrisierend: „Haus in Wandergasse verschwindet vollständig: Mieterin obdachlos“ und „Fundus regnet mal wieder aufwärts: Fischerboot auf Grund gelaufen“. In den kleinen Bildchen, die von tintig gedruckten Textblöcken umrahmt werden, tanzt der verzauberte Irrsinn unserer prächtigen Stadt. Im Stadtspiegel bildet sich das bescheidene Leben der Spiegelstädter auf besonders dramatische Weise ab. Werft einen Blick hinein – wenn ihr euch traut.

  • Bultungin

    Hat den Titel des Themas von „Spiegelstadt: Anima Hollow“ zu „Spiegelstadt“ geändert.
  • Verfasser A. – zum Geier, wer ist das?



    Die Bruchstücke


    Brchstck A_Wege in das Untere.pdf

    Brchstck A_Introspektionen.pdf - lauschen (als Audio)

    Brchstck A_Konversationen.pdf - lauschen (als Audio)

    Brchstck_Leere Worte.pdf

    Brchstck_Faltungen.pdf

    Brchstck_Bestandsaufnahmen.pdf - lauschen (als Audio)

    Brchstck_Gärten des Wahnsinns.pdf
    Brchstck A_Der Grenzgänger.pdf - lauschen (als Audio)



    Rekonstruktion der Bruchstücke


    Die folgende Analyse nimmt Bezug auf die Bruchstücke I-VII. Vier der sieben Bruchstücke enthalten keinerlei Hinweise auf den oder die Verfasserin. Es liegt jedoch nahe, dass es sich bei allen Bruchstücken um persönliche Aufzeichnungen von Verfasser A. handelt. Weshalb seine Signatur in den Bruchstücken IV-VII nicht auftaucht, bleibt ungeklärt. Die Bruchstücke I-VII liegen teilweise in unterschiedlichen Versionen vor. Es ist nicht klar, wieso einige Details nachträglich entfernt oder hinzugefügt worden sind. Das Bruchstück VIII (Der Grenzgänger) ist nicht Teil der Rekonstruktion, da es wesentlich später entstanden ist als die anderen vorliegenden Bruchstücke.


    Die Beschreibungen in Wege in das Untere offenbaren eine rhizomatische Struktur des unterkellerten Gebäudes, in welchem Verfasser A. wohnhaft zu sein scheint und einen Schacht entdeckt. Hier beginnt eine Verkettung mystischer Ereignisse, die sich ins Endlose verlieren. Ähnlich verschlungen gestalten sich die Bruchstücke als solche – sie gelten als Abbildung dessen, was beschrieben wird. Verfasser A. spannt ein Netz aus schillernden Wahrnehmungen und bizarren Welten, die psychotisch wirken. Er wird damit selbst zur Personifikation einer Psyche oder wie wir es ausdrücken: Zu einer psychosomatischen Manifestation seiner inneren Subjektivierung.


    Die Unterkellerung beginnt beim Verfasser selbst und setzt sich zunächst materiell-häuslich fort. Das Haus als psychologische Erweiterung des Körpers liefert hier erste Anhaltspunkte: Es offenbart in einem schrittweise voranschreitenden Prozess ungekannte Bereiche und Räume und gewinnt damit an psychologischer Tiefe. Der Schacht stellt die erste Brücke zwischen dem sichtbaren und unsichtbaren Bereich des psychologischen Hauses dar, er verbindet die bürgerliche mit der Unterwelt und das Bewusstsein mit dem Unterbewusstsein. Das Ausmaß allen Unbewussten offenbart sich dem Verfasser erst mit fortschreitender Erkundung der unterirdischen Räumlichkeiten. Die Unterkellerung übernimmt an dieser Stelle die Funktion des Unterbewussten selbst, indem alles und jedes unterkellert wird: Selbst der Keller verbirgt weitere Hohlräume, labyrinthische Flure und außerirdische Wohnstätten, die „nicht von Menschenhand“ gemacht sind. Der Schatten wirft einen noch dunkleren Schatten. Damit wird das Prinzip der Unterkellerung und des Unbewussten multipliziert.


    Verfasser A. erlebt innerhalb des Erkundungsprozesses eine Initiation in dieses Schattenreich, das zunehmend an Sichtbarkeit gewinnt. Das unterkellernde Prinzip erweitert hier die Funktion des Unbewussten und Verschleiernden um die Funktion des Erkennenden: Was zuvor im Dunkel lag, wird jetzt ein-sehbar. Damit gewinnt es auch an Greifbarkeit, verstärkt jedoch den Mechanismus der Verdrängung, da die Härte des Wahrgenommenen zu einer tiefen Retraumatisierung des Verfassers führt. Zwischen Selbsterkenntnis und Selbstdestruktion pendelt Verfasser A. hin und her, ohne Aussicht auf Heilung und Ankommen. Die Tiefe des unterirdischen Gewölbes verliert sich in schiere Ewigkeit ohne Grund und Boden. Sie zieht dem Verfasser der Aufzeichnungen wortwörtlich den Boden unter den Füßen weg. Die Initiation besteht in genau dieser Erkenntnis: Dass alles wahr-genommen ist. Das Wahrgenommene ist nicht etwas Äußerliches, sondern es insistiert im Wahrnehmenden selbst, der es nach außen projiziert. Dieser Prozess der Faltung von Innen und Außen nimmt auch in den Bruchstücken V und VI greifbar Form an und wirft neue Aspekte der Psyche von Verfasser A. auf.


    Die Bruchstücke lassen wenig Schlüsse auf die Haltung des Verfassers gegenüber seinen eigenen Erlebnissen zu. Er scheint selbst zwischen Realität und Traum zu schwanken, zwischen Schein und Sein. Eine innere Ankunft oder Auflösung gibt es auch „am Ende“ nicht. Dies wird deutlich in Bruchstück VII. Hier entfaltet sich der paradiesische Garten zu einem erneuten Höllenszenario, das eine echte Freisetzung des höheren, psychologischen Selbst zuverlässig unterbindet. Die Auslagerung der wahrgenommenen Figuren in eine fantastische Welt verstärken den Aspekt der Fremdbeeinflussung, die Verfasser A. erlebt. Die Folgen der Projektion und Spiegelung werden nicht erkannt. Verfasser A. bleibt gefangen in seiner eigenen Subjektivierung, die, ähnlich wie die Struktur der Bruchstücke selbst, verwildert, verwuchert und letztendlich verworren bleibt.

  • Eingehende Erläuterungen

    von der Bastlerin persönlich


    Die rankenden Wissensbestände um Verfasser A. sind komplex und nicht ganz einfach zugänglich. Zunächst: Verfasser A. ist mein literarisches Ich und Alter-Ego, wie auch im Eingangstext zur Spiegelstadt erwähnt. Die Sache ist jedoch ein wenig verworren. Die Bruchstücke, die von Verfasser A. zusammengetragen wurden, existieren schon ziemlich lange. Vor allem die „Wege in das Untere“ sind vor vielen Jahren während meines Studiums entstanden, als mich Kafkas „Der Bau“ zutiefst inspiriert und gefesselt hat. Die Bruchstücke geben traumartige und oft abstrakte Einblicke in bizarre Szenarien, die vor allem symbolisch und psychologisch zu begreifen sind.


    Die Rekonstruktion der Bruchstücke bildet hierbei einen Annäherungsversuch, in welchem ich sozusagen meine eigene Alter-Ego-Schreiberei analysiere. Schreiben ist für mich ein psychologisches Werkzeug zur Klärung und Ordnung meiner Wahrnehmungs-, Denk-, Fühl-, und Handlungsmuster. Insofern ist der Prozess der Analyse meiner eigenen Schreiberei tatsächlich ziemlich „meta“ und sehr aufschlussreich. Durch das Literaturstudium habe ich herausgefunden, dass mir ein literarisches Alter-Ego dabei behilflich sein kann, die Grenzen und Möglichkeiten der „Sprach-Malerei“ auf einer tiefenpsychologischen Ebene zu ergründen. Was in den Bruchstücken zum Ausdruck kommt und für die Leserschaft relativ zusammenhangslos erscheinen könnte, hat seinen gemeinsamen Nenner im Konzept der Spiegelstadt, die ein autobiographisch-psychologisches Weltenbau-Projekt meinerseits darstellt. Dazu ist ebenfalls im Eingangstext einiges nachzulesen.


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    Die Bruchstücke bilden die innere Welt ab. Sie nehmen systematisch Bezug aufeinander und erweitern oder verdichten tiefenpsychologische Aspekte der inneren Welt. Die innere Welt ist all das, was wahrgenommen werden kann. Die innere Welt ist das Abbild einer Psyche. Es wird angenommen, dass alle Bruchstücke auf den anonymen Verfasser „A“ zurückgehen. Die Wege in das Untere stellen eine eindeutige Schilderung der Tiefen Stadt dar, welche von Verfasser A. erkundet und beschrieben wird, nachdem er den Zugang über einen im Haus installierten Schacht findet. Da sich das Haus in der Wandergasse befindet, erklärt sich die Eigenartigkeit der beschriebenen Vorkommnisse. Es erklärt auch, weshalb Verfasser A. überhaupt einen Zugang in die Tiefe Stadt finden konnte, da diese noch tiefer liegt als Unterstadt. Die Wege in das Untere symbolisieren den tiefenpsychologischen Schatten und das kollektive Unbewusste nach Carl Gustav Jung, das in Gestalt des unterirdischen „Unterkellerten“ oder in Form des nächtlichen Träumens ergründet und ausgelotet wird.


    Die Konversationen stellen eine Art Protokoll über die Vorkommnisse und Gespräche im Gasthaus Zur Goldenen Katze dar, die von Verfasser A. belauscht werden. Wir erfahren nicht, wer hier spricht, wohl aber, was gesprochen wird und wie die Konversation endet. Jetzt verstehen wir auch, was es mit der Zeit im Gasthaus Zur Goldenen Katze auf sich hat. In den Konversationen begegnen wir dem Gevatter Tod, der uns am Ende offenbart, dass die Welt nicht mehr ist als „ein Land voller Spiegel“. Hier besteht ein direkter Bezug zur Spiegelstadt selbst, die ja nichts weiter als ein Abbild dessen ist, was innen liegt. In den Konversationen wird außerdem deutlich, dass der Beobachter nahezu identisch zu sein scheint mit dem, was er beobachtet – die belauschten Gespräche im Gasthaus entpuppen sich als reine „Selbst“-Gespräche, oder haben wir sie wirklich im Außen wahrgenommen? Der gesamte Umstand verweist auf die Komplexität von Kommunikation und Wahrnehmung selbst – was ist wirklich wahr angesichts der Tatsache, dass wir die Außenwelt stets durch unsere eigenen psychologischen Filter erleben?


    Die Bestandsaufnahmen lassen sich ziemlich zuverlässig als Beschreibungen des Seufzenden Hauses einordnen, in welchem Verfasser A. ein Apartment gemietet hat. Es ist bekannt, dass das Seufzende Haus kein „normales“ Haus ist. Hinzu kommt, dass es in der Wandergasse liegt. In den Bestandsaufnahmen erfahren wir, inwiefern sich die materielle Instabilität des Seufzenden Hauses auf den Bewohner auswirkt. Das Haus als zentraler Ort des Erlebens symbolisiert den erweiterten Körper und die erweiterte Grenze der Psyche seines Bewohners. Harte Fassaden symbolisieren genau das: Harte, psychische Abwehrmechanismen und Schutzmauern. Aber die Bestandsaufnahmen offenbaren noch mehr. Das Haus, welches beschrieben wird, gleicht nahezu einer Festung, die mühselig erbaut wurde. Es symbolisiert damit ein inneres Konstrukt, das instabil wird, weil es auf ungünstigen psychologischen Prägungen beruht. Die Wände sind rissig, offenbaren feuchte Stellen und können das, was von außen eindringt, nicht mehr aufhalten. Die Grenzen können nicht aufrecht gehalten werden. Das Haus symbolisiert die Grenzüberschreitung selbst, denn obwohl es als ein schützender Raum konstruiert wurde, entpuppt es sich nun selbst als Gefahr, da es einzustürzen droht. Am Ende der Bestandsaufnahmen zerfällt dieses Haus tatsächlich und hinterlässt nichts als Trümmer und „sternenlose Dunkelheit“ – ein Zustand der vollständigen Konfrontation mit der eigenen, inneren Leere.


    Die Bruchstücke „Introspektionen“, „Leere Worte“, „Faltungen“ und „Gärten des Wahnsinns“ finden zum Teil ebenfalls eindeutige Zuordnungen zum Konzept der Spiegelstadt. Allen gemein ist der traumartige Charakter dessen, was erlebt und beschrieben wird. Auch werden verschiedene Symboliken wieder aufgegriffen, die wir schon aus dem Bruchstück „Wege in das Untere“ kennen. Die Gärten des Wahnsinns bilden eine neuartige Darstellung ab, die sich am ehesten in die nördliche Domäne der Spiegelstadt, jenseits der fauligen Felder, einordnen lässt. Die dort ansässigen Ackermuhmen, die als Wächterinnen des Vorhangs gelten, zeigen sich in den Gärten des Wahnsinns als Trinität außerordentlicher Schrecklichkeit. Dabei symbolisieren die „Schlächterin“, die „Leere“ und die „Täuscherin“ nichts anderes als innere Instanzen meiner eigenen Psyche, tiefenpsychologisch ergründet in Gestalt meines Alter Egos „Verfasser A“.


    Bezüge zum nördlichen Außenbezirk der Spiegelstadt lassen sich auch innerhalb des jüngsten Bruchstücks „Der Grenzgänger“ finden. Hier ist die Rede von einem Vorhang, der zwei Welten trennt, die sich nicht vereinen lassen. Gemeint sind Innen und Außen, Licht und Schatten, Bedürfnis und Pflicht. Der Vorhang symbolisiert die Schnittstelle des Lebens selbst und die Schwellen der eigenen Identität, die im Individuationsprozess immer wieder auf die Probe gestellt wird. Er symbolisiert aber auch die schützende Hülle, die das Unaussprechliche verbirgt, den eigenen psychologischen Abgrund. Verfasser A. wagt es, diesen zu ergründen – er wagt buchstäblich den Blick hinter den Vorhang.

  • Merkwürdigkeiten und was darüber bekannt ist



    Das Seufzende Haus


    Das Seufzende Haus ist vor langer Zeit vermietet worden. Es steht in der Wandergasse, eingepfercht zwischen zwei Klinkerhäusern mit gewaltigen Überhängen. Man sagt, es bekomme daher schlecht Luft und seufze manchmal vor sich hin. An seinem Türbeschlag prangt die Aufschrift „A.“ und diese Tatsache gilt noch immer als wirklich besorgniserregend. Man sagt, es gäbe einen Schacht in diesem Haus, der noch tiefer führt als nach Unterstadt. Es handelt sich dabei um einen direkten Zugang zur Tiefen Stadt. Unaussprechliches trage sich dort zu. Das Seufzende Haus sei auf eine seltsame Art und Weise lebendig und in seinem Inneren spüre man einen tiefen, vibrierenden Atem, der Wände bisweilen rissig werden lässt.


    Häufiger schon haben verschiedene Architekten der Stadt das Seufzende Haus näher untersucht. Es hat dabei jedoch einige Probleme gegeben. Das innere Ausmaß des Seufzenden Hauses stimmt bei weitem nicht mit seinen äußeren Dimensionen überein – man ist zu dem Ergebnis gekommen, dass das Haus innen größer ist als außen. In der Stadt erzählt man sich, die Architekten haben schlichtweg nicht richtig nachgemessen. Pah, alles nur Bagatellisierungen. Es ist eine noch viel beunruhigender Erkenntnis über dieses vermaledeite Haus zustande gekommen. Es sei nicht von hier, es sei womöglich ein außerirdisches Konstrukt, ein Schiff, vielleicht sogar eine Form von Kreatur! Himmel, was nicht alles erzählt wird über dieses Haus.


    Der Mieter, der damals im Seufzenden Haus untergekommen ist, soll verschwunden sein. Wohin, meint niemand zu wissen. Aber es wurden Dokumente gefunden. Sie wollen von der Tiefen Stadt berichten, und noch mehr. Das Haus sei nur der Anfang gewesen. Und doch sei es so, dass sich in diesem Haus noch immer Merkwürdiges zuträgt. Schatten werden dort länger und dunkle Nischen so dunkel, dass... sie seien bissig, diese dunklen Nischen. Sie seien wie hungrige Mäuler, wie die aufgeklappten Blätter einer Venusfliegenfalle, die nur darauf warten würden, dass...


    Eine seltsame Kartographie zeigt das mögliche Ausmaß der Tiefen Wege, die der Schacht innerhalb dieses Hauses eröffnet. Manchen soll wahrlich übel geworden sein bei diesem... Anblick. Die Karte macht außerdem den Anschein, als gäbe es einen gemeinsamen Punkt, an dem alle Wege zusammenführen:




    ___


    Allerlei Merkwürdiges ist über die Stadt der Spiegel bekannt. Um mehr darüber zu erfahren, lest hier weiter...

  • Über Menaden


    Sie seien längst in die Spiegelstadt zurückgekehrt. Sie seien im Grunde unsichtbar. Winzig klein. Aber nicht zu unterschätzen. Sie seien überall, im Grunde. Ihr wisst schon, so durchsetzend, wie irgendwie möglich. Niemand wisse, woher sie ursprünglich kommen. Sie seien wohl nicht von hier. Außerweltlich, gewissermaßen. Außerordentlich, außerhalb, außergewöhnlich außergalaktisch. Menaden seien vielleicht eine der ältesten Lebensformen. Jedoch nicht kohlenstoffbasiert. Im Grunde sei es so, dass wir alle von ihnen besetzt sind. Jedoch unbemerkt. Sie seien nicht unbedingt bösartig. Eher auf der Suche. Aber ohne Sinn und Verstand. Das leise Klackern, Puckern und Tockern, das vom Inneren der Schädeldecke herrührt, dies und kein anderes Geräusch sei das Werk der Menaden.



    Über Lauschende Leitungen


    Eine Reihe merkwürdiger Ereignisse trage sich mit zunehmender Häufigkeit in den spiegelstädter Telefonzellen zu, die sich in den Seitengassen der zentralen Spiegelstraße niedergelassen haben. Die Ereignisse seien erst vor wenigen Tagen eindeutig registriert worden. Es trage sich stets ähnlich zu: Dem Hörer entringe sich ein merkwürdiges Knistern, das auf eine aktive Leitung hinweise, obwohl keine Nummer gewählt wurde und niemand den Hörer zuvor auf ein Klingeln hin abgenommen hatte. Etwas auf der anderen Seite der Telefonleitung belausche wohl das rege Treiben in der Spiegelstraße. Oder schlimmeres. Wer oder was auch immer durch den Hörer lauscht, es sei sicherlich nichts Wohlwollendes. In den spiegelstädter Zeitungen und Radiodurchsagen habe sich der Ernst der Lage bereits Ausdruck verliehen. Es bestünde Handlungsbedarf. Es wird angeraten, sich von jeglichen Telefonzellen fernzuhalten. Nur für den Fall, dass...



    Über Erdwerfer


    Nur selten bekäme man sie zu Gesicht. Eigentlich nie. Oder niemals nie. Spiegelstädter Urgesteine kennen sie noch unter ihrer ursprünglichen Bezeichnung „Erdwerfer“. Sie seien Wesen der Tiefe und Bändiger der Erde. Sie seien nahezu blind und doch unglaublich sensibel für jegliches Ungleichgewicht, das ihren Lebensraum bedroht. Ihre unterirdischen Bauten gleichen verzweigten Labyrinthen, deren Wege und Irrwege nur immer tiefer führen. Ungleich tiefer. Erdwerfer seien mehr als unterirdische Wühler und Krabbler. Sie seien der Puls der Erde selbst. Ihr Wandern, ihr Wühlen, ihr Umwälzen lasse den Boden lebendig werden, auf dem unsere prächtige Stadt einst gebaut wurde. Ihr Erdauswurf, der riesige Hügel bilden kann, sei ein Hinweis, eine Botschaft. Sie trügen zutage, was lange verborgen lag.



    Türen nach Irgendwo


    Eine große Erfüllung sei sie, die Tür nach Irgendwo. Frieden und Einkehr erfülle denjenigen, der seine Tür findet. Wo sie zu finden ist? Undefinierbar, sie könne praktisch überall und zu jeder Zeit auftauchen. Sie sei zu erkennen. Wohin sie führt? Nach Irgendwo, so sagt man. Es habe bereits Leute gegeben, die sie gefunden haben. Einem jeden erscheine sie anderswie, individuell und in einem besonderen Moment der Not, Erkenntnis oder Synchronizität. Dann öffne sie sich aus dem Nichts heraus in unsere bescheidene, kleine Welt. Wer die Schwelle überschreitet, gelange nach Irgendwo – nicht hier, sondern jenseits, innerseits, allerseits. Allen Türen nach Irgendwo ist gemein: Der Ort hinter jener Tür sei ein ganz persönlicher sicherer Ort, ein intimer Ort der Einkehr, ein Ort der inneren Ruhe und Zufriedenheit – eine persönliche Heimat.



    Über Stille


    Sie sei allgegenwärtig – die Stille. Unsichtbar und doch liege sie hinter allen Klängen und Bildern dieser prächtigen Stadt. Sie ist schwer, dumpf klingend, allmähliche Aushöhlung bis hin zu gänzlicher Zersplitterung. Stille halten, innehalten, still. Stille sei die erste und letzte Instanz, das Eine vom Anderen und das Andere vom Einen. Geboren aus dem Chaos und manifestiert im zerschneidenden Lärm der äußeren Welt. Die Stille sei das Gift, das die Medizin ist. Sie wecke die schlafenden Gespenster und trage sie zum letzten Gericht. Im Spiegelbild stehe sie stets hinter dir, ohne Form und ohne Gesicht. Nur ein stiller Schatten, der von ihr geworfen wird. Im Lärm der Welt ruft sie nach dir, zieht an dir – wie etwas, das dich nicht loslässt. Ihre Fußabdrücke auf Feldern verbrannter Erde locken dich in ihre Weite. Sie sei das Atmende, das dich atmet, dich lebt. Sie sei der Ursprung, das Verdichtende, das alles hält und nichts zugleich.



    Über Wolken


    Überall kann man sie sehen: Wolken. Und mehr. Es sei nicht klar, was es mit ihnen auf sich hätte. Manche von ihnen bewegen sich tagelang nicht von der Stelle. Es heißt, sie seien keine echten Wolken, sondern etwas anderes. Ihr Verhalten widerspräche jeglicher Physik. Pah, als ob. Sie seien besorgniserregend. Manchmal hängen sie tief über den Dächern der Stadt, so tief, dass sie die Häuser zu erdrücken drohen. Bisher sei ihr Verhalten nicht feindlich gewesen. Eher neugierig. Ich sage euch, es sind einfach nur Wolken.

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