Eine kurze Geschichte über eine junge Frau am Rande der modernen sarilischen Gesellschaft.
Elanja
Nebelschwaden krochen zwischen den Gräberreihen hindurch. Der Nebel ließ Elanja frösteln. Sie zog ihren Mantel enger um sich, doch ihr Zittern wurde dadurch nicht weniger. Elanja hasste Nebel.
Sie bemerkte, dass sie viel zu flach atmete, und zwang sich tief Luft zu holen. Die Luft war voll kleiner, kalter Wassertropfen und dem Geruch von gefallenem Herbstlaub. Beruhige dich, befahl sie sich. Was, wenn sie dich so sehen?
Sie beugte sich nieder und hängte eine Girlande aus bunten Asternblüten über den Grabstein vor ihr. „Bald werde ich nicht mehr zu euch kommen können. Sie haben mich fortgeschickt, weit fort. In den Süden, an die tessmarische Grenze. Ich darf nicht hier bleiben.“
Elanja sagte diese Worte nicht laut. Das traute sie sich nicht.
„Was würdet ihr sagen, wenn ihr mich jetzt sehen könntet?“
Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie darüber nachdachte. Was würden sie sagen? Wahrscheinlich wären sie alle enttäuscht, wie sollte es anders sein? Würde ihre Mutter versuchen sie zu trösten? ? Würde ihr Onkel mit ihr in den Wald gehen, um ihr die Wunder der Pflanzen und Pilze zu zeigen, das schöne Sarilerland?
Vielleicht. Sie würde es niemals erfahren, denn sie würde nie wieder mit ihnen reden. Nie wieder. Sie war allein auf der Welt. Für wertlos und unfähig erklärt und fortgeschickt.
Elanja gab sich keine Mühe mehr ihre Tränen zu unterdrücken. Was machte es noch für einen Unterschied?
„Weinst du immer noch um die Toten, nach so vielen Jahren?“ Unbemerkt hatte sich ein Fremder genähert.
Elanja zuckte zusammen, rechnete fast mit einem Schlag. Sie war sich so sicher gewesen, dass sie alleine hier war. Der verfluchte Nebel.
„Weine nicht um die Toten, sondern schütze die Lebenden vor den Mördern“, sagte der Mann und ging weiter seines Weges. Elanja vermutete, dass er der Friedhofswärter oder ähnliches war. Das war so furchtbar hier. Jeder meinte sich einmischen zu müssen, wenn sich jemand „unsarilisch“ verhielt.
Wie oft hatte sie solche Bemerkungen schon gehört. Nach fast zwanzig Jahren sollte sie doch darüber hinweg sein, so dachten sie. Nicht mehr das einsame Kind, sondern eine erwachsene, aufrechte Sarilerin. Sie hatten versucht ihr das freundlich nahezubringen und mit entschiedenen Worten. Sie hatten sie bestraft, wollten die Schwäche aus ihr herausprügeln. Nichts hatte etwas an ihren Gefühlen verändert. Sie würde niemals frei sein, denn sie schleppte für den Rest ihres Lebens etwas mit sich herum. Deutlich sichtbar auf ihre Stirn gemalt war das Symbol für Phosphormagie. Eigentlich eine Lüge, denn mit Magie hatte das überhaupt nichts zu tun. Menschen wie Brajana durften sich vielleicht Phosphormagier nennen, Elanja nicht. Das Wort „Gabe“ allerdings gefiel ihr auch nicht besser. Jedes Mal, wenn es jemand benutzte, wünschte sie sich, ihm ein Messer ins Herz rammen zu können.
Die netteren unter ihren Vorgesetzten nannten sie eine „Phosphormagierin, die sich manchmal etwas schwertat“, für die anderen war sie schlicht und einfach völlig unfähig. Es hatte sie am Leben gehalten, damals vor achtzehn Jahren, nur sie allein. Niemanden aus ihrer Familie hatte sie retten können. Sie hatte es nicht einmal versucht, nicht gewusst, dass sie dazu vielleicht in der Lage sein könnte
Dabei war es geblieben. In all den Jahren hatte Elanja nie gelernt, ihre Fähigkeiten einzusetzen, um etwas Nützliches zu tun. Solange Brajana Leiterin von Elasvaihja gewesen war, hatte sie Elanja andere Aufgaben zukommen lassen, Schreibarbeiten hauptsächlich. Doch dann war sie nach Benada gegangen, als Ministerin, oberste Elementarmagierin des Landes und Fluormagier Rejan hatte ihre Aufgabe übernommen. Er kannte kein Verständnis für Elanjas „Faulheit“ und zwang sie Arbeiten zu erledigen, denen sie nicht gewachsen war. Viel zu gut erinnerte sie sich noch an ihren Ekel vor dem Güllefass. Die Abscheu vor der Verbindung zu diesem Element war jedoch noch viel größer. Egal wie sehr sie es versuchte, ihr Körper machte diese Arbeit nicht mit.
„Am liebsten würde ich dich da reinwerfen und auch zu Dünger verarbeiten. So würdest du dem sarilischen Volk mehr nutzen als du es jetzt tust.“ Das waren Rejans Worte gewesen.
Stattdessen hatte er sie fortgeschickt. Als stellvertretende Rathausschreiberin in Merinak. Merinak, eine Kleinstadt an der Grenze zum Niemandsland, das zwischen Sarilien und Tessmar lag. Außer Bauern und Grenzschutz gab es dort nicht viel. Elanja hatte eine dieser Aufgaben bekommen, die es nur gab, damit alle Sariler mit irgendetwas beschäftigt waren. Da machte sie sich keine Illusionen.
Sie hatte sich immer nach einer Aufgabe gesehnt, die nichts mit Elementen zu tun hatte, aber jetzt so fortgeschickt zu werden tat trotzdem weh. Elanja hatte den Nordosten von Sarilien ihr Lebtag noch nie verlassen. Was sollte sie an der Grenze zu Tessmar, das in blutigem Bürgerkrieg versunken war, wenn die Gerüchte stimmten? Vielleicht hoffte Rejan ja, dass sie aus Versehen übers Tal schießen würden. Die schlechteste Lösung wäre das wahrscheinlich nicht.
Als Elanja achtzehn Jahre alt gewesen war, hatte ein ungeduldiger Lehrer, Natriummagier, Elanja dazu gezwungen, einen Becher voll Insektengift auszutrinken, um ihr zu beweisen, dass ihre „Gabe“ vorhanden war. Elanja hatte gehofft, dass er falsch lag.
Wie man unschwer erkennen konnte, war es anders gekommen. Wenn es darum ging ihr nutzloses Leben zu retten, konnte sie sich sehr wohl darauf verlassen. Weshalb würde sie wohl nie verstehen.
Viele ihrer Lehrer und Ausbilder hatten ihr gesagt, dass sie zeigen sollte, warum sie es wert war überlebt zu haben. Gelungen war ihr das nie.
Es gab einfach keinen Grund.
„Das einzige, woran es dir mangelt, ist Willensstärkte“, hatte sie unzählige Male zu hören bekommen. Selbst an ihren häufigen Krankheiten sollte sie selbst schuld sein, weil sie ihr eigenes Element gegen sich selbst benutzte, jedenfalls wurde ihr das unterstellt. Sie begriffen einfach nicht, dass es nicht „ihr Element“ war und das auch niemals sein würde.
Elanja holte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und wischte sich das Symbol auf der Stirn mit der Feuchtigkeit ihrer Tränen weg. Als stellvertretende Rathausschreiberin in Merinak brauchte sie das nicht mehr. Es war nur ein winziger Schritt, aber danach fühlte sie sich ein klein wenig besser.
Elanja schaute noch einmal auf das Grab und murmelte ein letztes Abschiedswort für ihre Familie.
Dann drehte sie sich um und ging fort durch die endlosen Gräberreihen. 5999 Menschen waren hier bestattet, Elanja hätte eigentlich die Nummer 6000 sein sollen. Sie wusste, dass man das so genau nicht sagen konnte, weil nicht alle Toten gefunden worden waren, aber es passte so gut.
Am Ausgang des Friedhofs befand sich ein Gedenkstein mit den Namen aller bekannten Toten. „Den Gefallenen von Alijan zu Ehren“ stand dort. Diese Heuchelei erfüllte Elanja jedes Mal wieder mit Zorn. Als ob ihre Familie und all die anderen in einem Kampf gefallen wären. Nein, nichts dergleichen. Die Arunier hatten sie feige im Schlaf ermordet.
Warum weigerte sich die sarilische Regierung das laut auszusprechen? Warum klagten sie die Arunier nicht an, für das, was sie getan hatten? Man könnte fast meinen, die Arunier hätten diesen Krieg gewonnen und könnten den Besiegten ihren Willen aufzwingen. Vielleicht war es so und die Regierung hielt das nur vor den Bürgern geheim. Elanja hielt alles für möglich.
Sie verstand es einfach nicht. „Nicht jammern“ bedeutete doch nicht, dass man Verbrechen einfach ignorierte.
Elanja schloss das Friedhofstor hinter sich und folgte dem Weg in die Stadt. Das Wohngebiet unterschied sich nicht von denen in anderen sarilischen Städten. Es gab Häuser, umgeben von Gemüsegärten, dazwischen immer wieder Obstbauminseln und Anlagen für Sport und Spiel. Zwei Gruppen Jugendliche maßen sich im Wurfball, während einige Erwachsene einen Wettlauf machten.
Die Innenstadt von Alijan unterschied sich von anderen Städten, da teilweise noch uralte Dergomhäuser als Grundlage für die Bauwerke genutzt wurden. Alijan war früher eine Dergomstadt gewesen und einige von ihnen hatten hier auch überlebt. Vielleicht hatte Elanja ja Dergomvorfahren und war deswegen so wenig sarilisch. Die Dergom hatten viel mehr Wert auf Säulen, Bögen und allgemein runde Formen gelegt, Sariler zogen meist Eckiges vor.
Eine Gruppe lachender Mädchen kam Elanja entgegen, sie trugen bunte elavische Schals, ein Farbtupfer im Nebelgrau.
Alles war wieder in Ordnung, in Alijan. Zumindest sah es so aus.
Schließlich erreichte Elanja den Bahnhofsvorplatz. Dort prangte ein farbenfrohes Mosaik, das Besucher aus der elavischen Partnerstadt Enes Tall erstellt hatten. Es zeigte eine sarilische und eine elavische Landschaft, die durch einen Fluss getrennt waren. Im Fluss befanden sich jedoch Trittsteine, auf denen eine elavische und eine sarilische Frau standen und sich die Hand reichten. Die beiden sollten für die Städte Enes Tall und Alijan stehen.
Das Genehmigungsverfahren für dieses Bild hatte mehrere Jahre in Anspruch genommen. Jegliche Bilder, die mit den Ereignissen in Alijan oder Enes Tall zutun hatten waren natürlich tabu. Leid und Gewalt durften in Sarilien grundsätzlich nicht auf Bildern dargestellt werden, es sei denn, die Leidenden waren besiegte Feinde. Auch solche Abbildungen waren jedoch unter Staatslenkerin Anesèja stark eingeschränkt worden.
Elanja schaute noch einmal über den Platz und die Stadt. Wahrscheinlich würde sie das so schnell nicht mehr sehen. Wenn überhaupt jemals wieder. Viel Zeit zum Abschiednehmen blieb ihr nicht.
Der Zug fuhr bald ab.