[2020-07/08] Die Quelle der Träume

  • Da morgen ein Arbeitstag ist, poste ich das lieber schon heute, ehe ich es noch vergesse.


    Wo kommen Dinge her? Was kann alles aus Quellen kommen? Können Quellen hergestellt werden? Wie gehen WeltenbewohneInnen mit Quellen seltener Dinge um?


    Dimakia Johal und die Quelle der Träume


    Das Tal der Neunen war einer dieser Orte von denen man nie gehört hatte, bis man sich aus irgendeinem Grund damit beschäftigen musste. Es war kaum bewohnt (und hauptsächlich von großen Lungenaalen, die in Schlammhöhlen in Teichen lebten und weder Architektur noch Landwirtschaft kannten), ziemlich karg (wo kein Teich war, lag Felsschotter) und weit ab vom Schuss (irgendwo mitten in der Wüste auf einem Kontinent, der so uninteressant war, dass er nicht einmal einen offiziellen Namen hatte sondern jede Gruppe, die ihn bewohnte, ihn anders nannte). Es war ein sogenannter Winkel, ein Teil der Welt, den die Geschichte meist in Ruhe ließ.
    Nun aber war Dimakia hier und dafür gab es natürlich einen Grund. Die graue Katze hatte sich einer Expedition angeschlossen, die hier im Tal der Neunen nach etwas suchte, das man „Die Quelle der Träume“ nannte. Einige Eingeborene dieses Kontinents (nicht die Aale) verorteten diesen Ursprung aller Zivilisation (also, ihrer eigenen, nicht jeder auf der ganzen Welt) im Zentrum des Kontinents. Das war hier. Oder zumindest war das Tal nahe genug dran und nicht nur flache Wüste, die überall gleich aussah.
    Die Expedition wurde geleitet von Professor Karran Tey, einem Kojoten und Dimakias früherem Lehrer für Ausgrabungstechnik. Eine falsche Identität war daher diesmal nicht drin gewesen, hätte er Dimakia erkannt, dann wäre sie gleich wegen Betrugs rausgeflogen. Also musste sie nun damit leben, dass der Expeditionsleiter von ihrer Vorstrafe wusste.
    Immerhin hatte er sie trotzdem akzeptiert, also ahnte er wohl weder, was sie seit ihrem Abschluss so trieb noch, was sie hier vorhatte. Denn ihr anonymer Auftraggeber wollte die Quelle.
    Den Rest der Expedition kannte sie nicht. Es handelte sich hauptsächlich um Teys derzeitige Studenten und natürlich ein paar der einheimischen Menschen. Obwohl die sich hier im Tal auch nicht auskannten. Niemand tat das. Nicht einmal die Aale bewegten sich je weiter als bis zum Nachbarteich.
    „Das hier sieht richtig aus“, fand Tey endlich. „Eine enge Schlucht, ziemlich in der Mitte des Kontinents, rotbraunes Gestein. Das passt doch, oder?“
    Einer der einheimischen Menschen nickte. Sein Volk hatte einen Namen, aber den hatte Dimakia schon wieder vergessen. Letztlich sahen all diese Menschengruppen ja doch ziemlich gleich aus.
    „Alles klar, dann fangen wir doch an. Zeigen sie den Studenten doch gleich mal die richtige Ausgrabungstechnik, 'Fräulein' Johal.“
    Vielleicht hatte Tey sie auch nur akzeptiert, um sie zu ärgern.


    Sie fanden komisches Zeug. Metallteile ohne erkennbare Funktion, Keramikgeschirr, Überreste von einer Art Teigfladen, der mit Pilzen belegt war (eine genauere Analyse ergab, dass es ziemlich eindeutig ein Stück Pizza war und Dimakia bekam Hunger) und schließlich sogar einen Splitter aus erdölbasiertem Kunststoff. Ganz eindeutig hatte hier mal jemand gelebt, der technisch weiter war als die Aale.
    Dann war auch schon Feierabend. Über einem Lagerfeuer wurde das Abendessen gebraten, das leider keine Pizza war.
    Als wissenschaftliche Hilfskraft hatte Dimakia immerhin ihr eigenes Zelt. Eins mit Tey zu teilen, wäre echt zu viel gewesen.


    Am nächsten Tag ging es gleich nach dem Frühstück weiter. Ein Haufen Ziegel und ein paar Holzreste, die zu Möbeln passten, waren schon vielversprechend. Am Nachmittag fand dann eine Studentin eine große Struktur, die sich nicht bewegen ließ.
    Nach und nach erwies sich diese als großer Kasten mit einem Bildschirm. Also nicht die Quelle sondern alte Elektronik. Nun, die war sicher auch etwas wert.
    „Dass scheint hier schon ein paar tausend Jahre zu liegen“, schätzte Tey. „Eine frühe Hochkultur, vielleicht Schlangenmenschen? Es gab welche in dieser Gegend …“
    „Graben wir das Ding doch erstmal ganz aus“, schlug Dimakia vor. „Danach können wir immer noch spekulieren.“
    „Wie Sie meinen, 'Fräulein' Johal.“
    Ganz ruhig bleiben …


    Es war ziemlich groß und hatte eine Tastatur. Die Zeichen auf den Tasten sahen leider tatsächlich nach Schlangenmenschen aus.
    „Wir wissen nun also, dass die Schlangenmenschen Pizza mit Pilzen gegessen haben“, schlussfolgerte eine Student, der eine Eidechse war.
    „Ist das da ein Stecker?“, fragte Dimakia.
    Sie fand, dass es wie einer aussah.
    Tey rief die Archäoingenieurin her und die sah sich das Kabel mit der Metallgabel am Ende an.
    „Ja, das ist ein Stecker“, urteilte die Füchsin. „Soll ich ihn an unseren Generator basteln?“
    „Kann das denn funktionieren?“
    „Na ja, ich würde das Gerät hier erst mal aufmachen und abstauben, bevor ich es in Betrieb nehme, aber, sicher.“
    „Gut, gut. Dann fangen wir doch an. Abstauben können wir ja alle. Führen sie es doch mal vor, 'Fräulein' Johal.“
    F[***] dich doch ins Knie, dachte Dimakia und fing an, den alten Kasten sauber zu machen.


    Die Ingenieurin schloss den Stecker an den laufenden Generator an. Tey drückte, was zweifellos der „Ein“-Schalter war. Summend erwachte die Jahrtausende alte Maschine zum Leben.
    „Wirklich außergewöhnlich gut erhalten“, staunte er.
    Der Bildschirm flackerte. Dann erschien etwas. Es waren mehrere Spirallinien in unterschiedlichen Farben, sortiert wie ein Regenbogen, die ineinander lagen und sich in der Mitte im Abbild eines Auges trafen. Während das Auge stehen blieb (jedenfalls sah es danach aus, da es rund war und auch eine runde Pupille hatte, war das schwer zu sagen) drehten sich die Spiralen. Seltsamerweise drehten sie sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit und überlappten sich dabei in widersprüchlicher Weise. Sie griffen nach außen, aus dem Bildschirm heraus, nur dass es gar keinen Bildschirm mehr gab, die Linien füllten Dimakias ganzes Sichtfeld aus.
    Die Linien griffen nach ihr. Schlangen sich um ihre Arme und Beine. Dann weitete sich die Pupille des Auges und jemand stieg heraus.
    Dimakia hatte nie einen lebenden Schlangenmenschen gesehen, obwohl sie wusste, dass es sie hier und da noch gab. Dennoch erkannte sie einen, wenn sie ihn sah. Er war eine gestreifte Natter mit menschenähnlichem Körperbau – wirklich menschenähnlich, mehr als ihrer oder der jedes Anthros, den sie kannte.
    Die Streifen hatten unterschiedliche Farben. Die Farben der Spiralen.
    „Willkommen an der Quelle der Träume“, sagte der Schlangenmensch.
    Erst jetzt erkannte Dimakia, dass das Wesen in einer Hinsicht gar nicht menschenähnlich war. Obwohl es keine Kleidung trug, war zwischen den Beinen gar nichts zu erkennen.
    Moment, was hatte es gerade gesagt?
    „Das hier ist die Quelle der Träume?“
    „Genau genommen die Quelle der Träume 2.1. Wir haben einige Fehler des Vorgängermodells ausgebügelt. Albträume werden nun automatisch draußen gehalten, sofern nicht anders gewünscht.“
    Dieses Ding war die Quelle der Träume. Das war das Zielobjekt. Dimakia konnte es nicht einfach einstecken, sie musste abwarten, bis es verpackt und auf ein Fahrzeug geladen war …
    Halt.
    „Ihr habt die Quelle der Träume gebaut?“
    „Diese und alle Vorgängermodelle. Ich bin die Gebrauchsanweisung. Ihre Wahrnehmung wurde so angepasst, dass Sie die Tastatur lesen können. Geben Sie ein, was Sie träumen möchten.“
    „Aber … wie kann diese Quelle eine ganze Zivilisation hervorgebracht haben?“
    „Hat sie nicht, sie wurde ja gerade erst in Betrieb genommen. Das Vorgängermodell wurde aber häufig benutzt. Vermutlich half es den Menschen, ihre Ideen zu visualisieren und umzusetzen.“
    „Aber es hat ihnen keine neuen Ideen gegeben?“
    „Nein. Abgesehen von den Alptraum-Fehlfunktionen, aber die waren eher nicht hilfreich. Es sind Menschen, die haben immer mehr als genug Ideen.“
    Das klang vernünftig. Immerhin hatten Menschen auch die Pizza erfunden.
    Oder?
    „Wer hat die Pizza erfunden?“
    „Das weiß ich nicht, ich bin eine Gebrauchsanweisung, keine Bibliothek.“
    „Gut, wie benutze ich nun die Quelle?“
    Die Tastatur erschien. Und irgendwie wusste Dimakia genau, was die schnörkeligen Zeichen darauf bedeuteten.
    „Hier die Traumelemente eingeben.“
    „PIZZA MIT THUNFISCH“ tippte Dimakia.
    Ein riesiges Stück Pizza erschien über ihr. Und fiel. Irgendwie fiel es durch sie hindurch und nun stand sie darauf.
    Auf der Pizza lag ein ganzer Thunfisch.
    „So ein Blödsinn. Egal, ich hab Hunger.“


    Dimakia erwachte hungriger als zuvor. Traumpizza machte halt nicht satt. Die anderen erwachten ebenfalls gerade erst langsam, sie waren wohl alle vor der Quelle eingeschlafen. Die wiederum schien gerade herunterzufahren.
    „Das war bemerkenswert“, fand Tey. „Das … das gehört den Aalen, oder? Das Tal der Neunen ist ihr Grund.“
    Oh nein. Das war nicht gut. Dimakia brauchte die Quelle mobil.
    „Die Aale können doch die Tastatur gar nicht bedienen“, wandte sie ein. „Und wer ist da überhaupt zuständig? Die sind doch gar nicht organisiert.“
    Es waren völlig blödsinnige Argumente, aber vielleicht funktionierten sie trotzdem.
    „Trotzdem können wir von ihrem Grundstück nicht einfach etwas wegnehmen. Nicht alle sehen Besitzverhältnisse so locker wie Sie, 'Fräulein' Johal.“
    Dimakia atmete tief durch.
    „Das stimmt natürlich. Aber wir können die Quelle vorher noch genauer erforschen, oder? Wir sollten sie wieder einschalten und die Gebrauchsanweisung weiter befragen. Zum Beispiel sollte sie doch wissen, wie lange Menschen und Schlangenmenschen hier parallel gelebt haben.“
    „Das wäre in der Tat interessant zu wissen. Die Geschichte der Schlangenmenschen ist alt und voller Widersprüche, alles was uns bei genauerer Datierung hilft, ist gut.“
    Tey legte die Hand auf den Schalter.
    „Alle bereit machen. Ich schalte nun wieder ein.“
    Er drückte den Schalter. Dimakia schloss die Augen.


    Bemüht, nicht auf den Bildschirm zu sehen, studierte Dimakia die Umgebung. Alle schliefen. Das löste aber nicht das Problem, dass sie die Quelle nicht einfach mitnehmen konnte. Allein konnte sie sie nicht mal auf den Wagen laden. Aber …
    Aber das meiste war nur eine Hülle, richtig? Alles was sie brauchte, waren der Bildschirm, der diesen seltsamen Effekt erzeugte und die Festplatte. Alles andere konnte man nachbauen. Und die Ingenieurin hatte die nötigen Werkzeuge zum Ausbau schon raus gelegt. Aber … was wenn die anderen aufwachten, wenn der Bildschirm erlosch?
    Der Auftraggeber zahlte ein kleines Vermögen. Das war das Risiko wert.


    „Aufwachen!“
    Dimakia öffnete die Augen. Wieder lag sie auf dem Boden.
    Sie sah Tey an, der bereits stand.
    „Ich denke, das erklärt, warum ich statt von der Gebrauchsanweisung plötzlich von Brötchenbelegrobotern aus Plastik geträumt habe.“
    Dimakia sah zur Quelle. Der Bildschirm fehlte ganz eindeutig.
    „Jemand hat uns bestohlen“, sagte Tey.
    „Die Aale bestohlen“, korrigierte Dimakia. „He, sehen Sie nicht mich an, ich habe geschlafen. Ich wollte eigentlich von Bruk Granit träumen, aber dann wurden es Spaghetti mit Zähnen. Vielen Dank auch, wer immer das war.“
    Tey wirkte noch skeptisch.
    „He, ich hab keinen Bildschirm. Untersuchen Sie mich. Untersuchen Sie meine Sachen. Nein, Moment, lassen Sie mich von einer Studentin untersuchen, Sie fassen mich nicht an, Professor.“
    „Hatte ich auch nicht vor.“
    Dimakia würde ihren Auftraggeber eine Weile vertrösten müssen. Nach Hause zurückkehren und später auf eigene Kosten zurückfliegen um die Beute aus dem Versteck zu holen.
    Aber es würde sich lohnen.
    Und als Expeditionsleiter trug Professor Tey die Verantwortung. Die Welt war doch schön.

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