WB-Adventskalender 2011

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    ADVENTSKALENDER-ÜBERSICHT:


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    [01. Türchen] Die Schneerose (von Amanita)
    [02. Türchen] Wie Tanahareni den Farbenvogel fing (von Vinni)
    [03. Türchen] Ein König fällt (von Rabenschwinge)
    [04. Türchen] Der kleine Drache (von Assantora)
    [05. Türchen] Die Elfe (von Efyriel)
    [06. Türchen] Das Geschenk (von Gerion) und Bonusgedicht „Der Advent“ (von Thure)
    [07. Türchen] Musik, bitte! (von Eld)
    [08. Türchen] Nordwind (von Knochen)
    [09. Türchen] Die Blume (von Yelaja)
    [10. Türchen] Die Amselprinzessin (von Vinni)
    [11. Türchen] Die Überfahrt (von Zoey)
    [12. Türchen] Von Großen Hühnerfressern und Schaumverliebten Tanten (von Jundurg)
    [13. Türchen] Der Fluch des Prinzen (von Assantora)
    [14. Türchen] Xentses und Srandilas lange Reise (von dat Ly)
    [15. Türchen] Am Tag als der Regen fiel (von Gerion)
    [16. Türchen] Jagd im Eis (von Rabenschwinge)
    [17. Türchen] Wie Tanahareni die Riesen besiegte (von Vinni)
    [18. Türchen] Die Mär vom Wintergrünen Baum (von Thure)
    [19. Türchen] Wohngemeinschaft Wider Willen (von Veria)
    [20. Türchen] Wasserbringer (von Sturmfaenger)
    [21. Türchen] Elfenwerk (von Diogenes)
    [22. Türchen] Mandiaers Ehre (von dat Ly)
    [23. Türchen] Lehrjahre (von Silph)
    [24. Türchen] Raunacht und es war eiskalt (von Drauga Din)


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    Das erste Türchen des Adventskalenders 2011 öffnet sich in eine tief verschneite Landschaft hinein, die auf den ersten Blick als Stadt erkennbar ist. Es ist bitter kalt, und die Bewohner scheinen es vorzuziehen in ihren warmen Häusern zu bleiben. Eine frische Reihe Fußspuren jedoch haben die Flocken noch nicht wieder zugeweht. Sie stammen von einer jungen Frau, deren knirschende Schritte und gelegentliches Husten die einzigen Geräusche weit und breit sind…



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    Die Schneerose


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    Lautlos fielen die Schneeflocken zu Boden. Straßen, Häuser und Bäume verschwanden unter einer weißen Decke. Wie ein Leichentuch, dachte sich Lenima. Weiß war die Farbe des Todes und sie war hier überall.
    Es war kalt, sehr kalt. Der Mantel, den sie ihr gegeben hatten, wärmte Lenimas Körper ein wenig, doch es half nicht viel. Die eisige Luft ließ jeden Atemzug schmerzen, Lenima musste husten. Ärgerlich stapfte sie weiter durch den Schnee. Sie wusste längst, dass es völlig sinnlos war, wütend zu werden, weil sie husten musste. Es passierte einfach.
    Eigentlich sollte sie bei diesem Wetter im Haus bleiben, doch sie musste einfach raus. Weg von den künstlichen Düften in Lebetinus Haus und hinaus an die frische Luft. So frisch die hier in Lacara eben sein konnte. Die hell erleuchtete Fabrik war selbst von hier, von der anderen Seite der Stadt, zu sehen.


    Lenima wandte sich ab und folgte einem Weg, der zwischen Lebetinus‘ Garten und dem der Nachbarn entlang führte. In den Gärten gab es jedoch kein Grün.
    Nur Weiß. Weiß wie die Robe, die sie als Novizin des Alchimistenzirkels tragen musste, weiß wie lebendige Farbe, die mit ihrem Element in Berührung gekommen war, weiß wie die Kittel, die die Wissenschaftler trugen, wenn sie im Labor ihre grässlichen Versuche durchführten. Weiß wie der Tod. Und unter all dem Weiß dürre Bäume, die ihre Äste in den Himmel reckten, als ob sie um Hilfe schreien würden. Doch da war niemand, der sie hören könnte.
    Voller Sehnsucht dachte Lenima an die vielen Farben von zuhause zurück. Alle Grünschattierungen, die man sich vorstellen konnte und Blüten und Früchte in rot, gelb und blau. Unter der warmen, elavischen Sonne gediehen die Pflanzen das ganze Jahr über.
    Wie gerne wäre sie jetzt durch den Heilgarten von Enes Tall gegangen und dabei vielleicht noch einem netten Menschen über den Weg gelaufen.
    Doch die Tore des Gartens waren ihr für immer verschlossen. Sie war dort nicht mehr erwünscht. Nicht Lenima, das Mädchen mit der verbotenen Gabe, das nicht nur im Körper, sondern auch in der Seele vergiftet war. Sie war untrennbar verbunden, mit einem Element, das wie kein anderes mit Leid und Tod in Verbindung gebracht wurde. Und selbst wenn das anders gewesen wäre: Jede Form von Elementarmagie war in Elavien verboten.
    Nie wieder konnte sie zurück, war gefangen in diesem Land aus Eis und Kälte. In diesem Land, in dem nicht nur das Wetter kalt war, sondern genauso die Herzen der Menschen.
    Lenima spürte, dass Tränen über ihr Gesicht liefen, doch sie schämte sich nicht dafür. Hier war sowieso niemand, der sie weinen sehen würde. Sie spürte den salzigen Geschmack der Tränen in ihrem Mund und wollte ihn herunterschlucken, irgendwie. Es war so sinnlos wie alle Versuche, vor der Wahrheit davonzulaufen.


    Der Weg schlängelte sich nun zwischen Feldern und dem Waldrand entlang. Seine Ränder wurden immer noch von Straßenlampen erleuchtet. Durch Lenimas tränenverschleierte Augen wurde alles um sie herum zu einer gleichförmigen weißen Masse. Ein kalter Windstoß wehte ihre Kapuze zurück. Gedankenlos zog sie sie wieder hinauf und schob ihre schwarzen Locken darunter. Selbst hier wollte sie nicht, dass Fremde ihre Haare sehen konnten, wenn sie alleine unterwegs war. Das gehörte sich für eine elavische Frau einfach nicht.
    Langsam war es wirklich an der Zeit zurückzugehen. Sonst würde sie sich hier womöglich noch verlaufen. Außerdem war ihr kalt.
    Nein, noch nicht. Sie musste einfach nur umkehren, da konnte nichts schiefgehen.


    Nachdem Lenima ein paar Schritte weitergegangen war fiel ihr etwas auf. Zuerst wollte sie ihren Augen kaum trauen. Das musste Einbildung sein. Sie täuschte sich sicher. Wahrscheinlich war es nur irgendein Stück Müll, das jemand weggeworfen hatte, wie es die Arunier so gerne taten.
    Als sie jedoch direkt davorstand, verflogen alle Zweifel.
    Das war tatsächlich eine Blume. Eine blühende Blume mitten in diesem weißen Ödland. Auch die fünfblättrige Blüte war weiß, doch sie war ganz eindeutig lebendig. Neben der Blüte sah man auch ein paar tiefgrüne Blätter aus dem Schnee ragen.
    Lenima kniete nieder, um die Pflanze genauer anschauen zu können. Wieder liefen ihr Tränen übers Gesicht, doch diesmal waren es keine Tränen der Verzweiflung. Sie hätte nie damit gerechnet, auf ihrem Spaziergang so etwas Schönes zu sehen.


    „Lenima, hier bist du also.“
    Sie zuckte zusammen, als sie so plötzlich angesprochen wurde. Hinter ihr stand ein Mann mit bleichem Gesicht und blauen Augen, die so kalt wirkten wie das Eis. Ihr Lehrer, Septimius Lebetinus. War er ihr etwa gefolgt? Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich.
    „Guten Abend“, sagte sie. „Ist diese Blume nicht schön?“
    „Das ist sie ohne Frage“, sagte Lebetinus. „Wir nennen sie „Schneerose“. Sie ist sehr giftig. Du hast sie nicht angefasst, oder?“
    „Nein“, entgegnete Lenima. Mit Pflanzen kannte sie sich aus. Die arunischen konnte sie zwar nicht bestimmen, aber sie wusste, dass man bei unbekannten Pflanzen nie ausschließen konnte, dass sie giftig waren.
    Lebetinus betrachtete nun selbst die Blume. „Sehr giftig, die Schneerose. Sie ist eines der ersten Mittel, die verwendet wurden, um Feinde im Krieg zu vergiften.“
    Lenima schüttelte den Kopf und starrte ihn an. Mit dieser Bemerkung war es Lebetinus gelungen, die letzten Überreste des Zaubers zu vertreiben, den die Blume auf Lenima ausgeübt hatte. Das war so typisch für ihn.
    „Und doch ist es nicht das, wofür sie bekannt ist“, sprach Lebetinus weiter. „Die Menschen sehen sie als Symbol der Hoffnung, weil sie im Winter blüht. Außerdem kann ein Teil ihres Gifts in reiner Form auch als Heilmittel verwendet werden.“
    Lenima seufzte. Sie hatte keine Ahnung, warum er ihr das alles erzählte.


    „Steh auf, Lenima“, sagte Lebetinus plötzlich. „Du erkältest dich noch.“
    Er wollte doch wohl nicht ernsthaft behaupten, dass ihn das interessierte, oder? Obwohl sie so dachte, stand Lenima auf. Ihr war selbst längst kalt geworden. Sie hatte nichts mehr dagegen, wieder zurück zu gehen.
    „Du verstehst immer noch nicht, was ich dir sagen möchte, oder?“, fragte Lebetinus.
    Lenima schüttelte den Kopf. Sie verstand es nicht und sie wollte es auch nicht verstehen. Sie wollte seine fragwürdigen „Weisheiten“ nicht hören. Nicht jetzt.
    „Ich wollte dir nicht die Freude über diese Pflanze verderben“, sagte er. Sein Blick war ungewöhnlich freundlich. Meinte er das etwa ernst?
    „Die Schneerose wurde in der Vergangenheit für den Krieg gebraucht, aber niemand denkt daran, wenn er sie sieht.“
    Niemand außer Ihnen, dachte sich Lenima, doch sie schwieg.
    „Die Leute sehen sie als Zeichen der Hoffnung und als Pflanze, mit der man Krankheiten bekämpfen kann. Ich sehe keinen Grund, warum das bei dir anders sein sollte. Du hast eine Verbindung zu einem besonders gefürchteten Element. Aber das bedeutet nicht, dass dich immer alle nur mit seinen schlimmsten Eigenschaften in Verbindung bringen müssen. Ganz im Gegenteil, ich bin mir sicher, dass kaum jemand daran denken wird, der dich näher kennenlernt.“
    Lenima war überrascht. Die Vorstellung, dass ausgerechnet Lebetinus versuchte sie zu trösten, war seltsam.
    Vielleicht war ihr Urteil ihm gegenüber auch etwas unfair gewesen. Sie hatte in ihm immer nur die schlimmsten Dinge gesehen, die sie mit Elementarmagiern allgemein in Verbindung brachte.
    Dabei hatte er sich immerhin dazu bereit erklärt, sie auszubilden und aufzunehmen. Sie, eine Elavierin, die von all den Dingen, die den Aruniern wichtig waren, keine Ahnung hatte.


    Doch so gut seine Worte vielleicht auch gemeint waren, sie halfen Lenima nicht viel. „Pflanzen sind giftig, weil es in ihrer Natur liegt, das gehört so“, sagte sie. „Auch wenn es für uns vielleicht unangenehm ist.“
    „Und bei der Elementarmagie ist das nicht anders“, sagte Lebetinus. „Es ist völlig natürlich, dass diese Gaben auftreten. Oder hast du irgendwelche finsteren Rituale durchgeführt, um das zu schaffen?“
    Er kannte die Antwort auf diese Frage und Lenima kannte sie auch.
    „Und es ist auch nicht passiert, weil du so ein böses Mädchen bist“, fügte er hinzu. „Jetzt komm mit, du warst lange genug hier draußen in der Kälte.“
    Lenima kam mit. Im Weggehen warf sie noch einen letzten Blick auf die Schneerose. Widerwillig dachte sie sich, dass Lebetinus vielleicht recht hatte. Niemand zuhause in Enes Tall wäre auf die Idee gekommen, eine giftige Pflanze böse zu nennen. Warum sollte man das also mit einem giftigen Element tun? Einem giftigen Element, das nicht nur sehr nützlich sein konnte, sondern sogar lebensnotwendig war.


    „Aber wie kann die Schneerose überleben, wo es keine andere Pflanze schafft?“, fragte sie schließlich.
    „Sie ist einfach an die Kälte angepasst“, sagte Lebetinus. „Aber die anderen Pflanzen sind auch nicht alle tot. Die Bäume ruhen nur bis zum nächsten Frühjahr. Aber du weißt ja sicher, dass sie dann wieder Blätter bekommen.“
    Eigentlich wusste Lenima das tatsächlich, doch beim Anblick dieser kahlen Bäume war es kaum zu glauben. Ihre Blicke schweiften wieder über das weiße Land.
    Für die Arunier war Weiß die Farbe von Unschuld und Reinheit. Vielleicht passte das sogar besser zu dem Schnee, der das Land bedeckte, bis das Frühjahr kam.


    Sie kehrten zum Haus zurück und Lenima hockte sich vor den Kachelofen im Wohnzimmer. Es war wirklich Zeit, dass sie wieder ins Warme kam.
    Doch der Frühling würde irgendwann kommen, und einige der anderen Novizen im Alchimistenzirkel waren ihr wirklich sympathisch. Und anscheinend sorgte sich ja auch Lebetinus um sie, irgendwie auf seine distanzierte Art. Vielleicht würde sie ja auch hier Freunde finden, bis sie die anderen zuhause davon überzeugen konnte, dass sie sie nicht fürchten mussten.
    Vielleicht, irgendwann.


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  • Jetzt hab ich Lust auf Lebkuchen und Punsch :)
    Schön geschrieben und lässt mich auf baldigen Schnee hoffen :D

    "Wenn man im Supermarkt 'ne Melone zurückgeben will, ist der ganze Tag vorbei. "

    -Marge Simpson

  • eine schöne Weisheit zu Beginn des Advents - gefällt mir richtig gut!
    jetzt würde ich nur zu gern weiter lesen und Lenimas Reise begleiten ... *grumpfel*
    :thumbup:

  • Ganz nette Geschichte, kann ich nichts zu sagen. Aber ich habe leider nicht verstanden, mit welchem Element sie nun verbunden ist ???


    Zitat

    Du hast eine Verbindung zu einem besonders gefürchteten Element.


    Zitat

    Warum sollte man das also mit einem giftigen Element tun? Einem giftigen Element, das nicht nur sehr nützlich sein konnte, sondern sogar lebensnotwendig war.


    Vor allem der letzte Satz hat mich verwirrt. Kann mich jemand aufklären?

    Dieses Zitat braucht in meine Welt noch einen Platz: Spuck mir in die Suppe und ich schlage dir den Kopf ab


    In Ermangelung an geschlechtlichen Optionen, zogen meine Eltern mich als Jungen auf :lol:

  • Mit welchem Element sie verbunden ist, wurde vom Autor des Textes absichtlich nicht näher definiert, weil nähere Ausführungen Raum zur Erklärung der chemischen Elementsmagie der entsprechenden Welt benötigt hätten, die in einem Adventskalendertext zu weit geführt hätten.
    Wenn an Weihnachten aufgelöst wird, wer welchen Text geschrieben hat, kannst du nochmal direkt nachfragen - oder in den "Du und deine Welt"-Threads nachforschen wenn dich die große Neugier packt^^

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    Ein Bächlein flüstert und gluckert, es sucht seinen Weg zwischen den moosbewachsenen Pfeilern des zweiten Türchens hindurch. Ein schillernd bunter Vogel setzt an seinen Ufern zur Landung an. Er taucht zum Baden wenige Sekunden in das kristallklare Nass, schüttelt sein Gefieder in einem stiebenden Funkenregen, und flattert im nächsten Moment davon. Nur sein Lied ist noch zu hören, und es erzählt eine alte Geschichte…



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    Wie Tanahareni den Farbenvogel fing


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    Tanahareni war der Liebling der Götter. In seinem ersten Leben zeigte er früh alle Tugenden des Geistes – Weisheit, Bescheidenheit, Tapferkeit, Treue, Wahrhaftigkeit. Dazu war sein Antlitz wohlgestaltet und sein Körper ebenmäßig und stark. Doch setzte er seine Vorzüge nicht zu seinem eigenen Nutzen ein. Er war vielmehr darauf bedacht, den Göttern zu dienen, seinen Mitmenschen zu helfen und sie auf den rechten Weg zu führen. Die Götter sahen das mit Wohlgefallen und zeichneten ihn mit ihrer Gunst aus. Mehr noch, sie zeigten ihm einen Weg aus dem Kreislauf der Wiedergeburt, um ihn an dessen Ende zu erhöhen. Und so waren Tanahareni acht Leben geschenkt, acht bewusste Leben mit aller Erinnerung, um den acht großen Göttern zu dienen und zu folgen. Nach diesen acht Leben wurde er dem Irdischen enthoben und in die Sphären des Himmels entrückt. Noch heute zeugt ein Sternbild davon – acht Sterne, die sich um einen strahlenden neunten Stern gruppieren. Den hellen Stern nennt man noch heute Tanahareni, das Sternbild hingegen ist „Der achtfache Weg“. Es gibt viele Geschichten, die aus Tanaharenis Leben erzählen, eine davon ist die, wie er den Farbenvogel fing:


    Tanahareni wurde wiedergeboren im Schoß einer gottesfürchtigen Reisbäuerin. Schon bei der Geburt hatte er helle, kluge Augen und so nannte man ihn Arjas, das heißt „strahlend“. Als Arjas wuchs er auf zwischen Reisterassen und Gemüsefeldern zusammen mit den anderen Kindern des Dorfes. Er war der klügste und schnellste von ihnen und er wurde so schön, dass die Leute bald glaubten, er sei ein Liebling der Götter. Arjas gab nichts darauf. Er half seinen Eltern und Freunden, arbeitet fleißig und lernte, wo immer er etwas lernen konnte.
    Eines Tages, Arjas hatte sein 16. Jahr noch nicht erreicht, zogen Kaufleute durch das Dorf. Ihrem Anführer fiel der schöne Knabe auf und er unterhielt sich mit ihm. Beeindruckt von seiner Klugheit und Wortgewandtheit bot er ihm an: „Komm mit uns, dann siehst du etwas von der Welt. Das Dorf und das Tal sind zu eng für dich. Wir wollen dir das Leben der Kaufleute zeigen und ich ahne, dass du uns Glück bringen wirst.“
    Arjas ließ sich nicht lange bitten. Er sagte Mutter und Vater Lebwohl und versprach, sie in Ehren zu halten. Diese, trotz Tränen und Trauer, ließen ihn ziehen. Auch sie ahnten, dass etwas Größeres auf ihren Sohn wartete.
    So zogen die Kaufleute davon und der Junge Arjas mit ihnen. Sie reisten über Land, kauften und tauschten dabei fleißig Waren, um diese dann an der Küste auf ihre Schiffe zu verladen. Auf dem Seeweg ging es weiter, immer den Handelsrouten folgend und den Geschäften. Arjas lernte lesen und schreiben und die Rechensteine zu benutzen. Er konnte bald den Wert feiner Stoffe abschätzen und die Qualität von Reis, Tee und Wein. Er kannte die Häfen der großen Inseln und wusste die Seekarten zu lesen – kurz, er wusste bald alles, was es brauchte, um Handel zu treiben. Dabei blieb er stets freundlich und fröhlich und seine Kameraden liebten ihn sehr.
    Auf einer Fahrt geschah dann etwas Seltsames: ein Sturm riss das Schiff mit sich durch peitschende Wellen. Segel bäumten sich gegen die Kraft des Windes, Masten brachen und alle Mann kämpften hart gegen die Elemente. Als sich der Sturm wieder legte, fanden sie sich vor einer fremden Insel wieder, die auf keiner ihrer Seekarten verzeichnet war. Die Insel hatte einen Hafen, den das beschädigte Schiff mit Mühe erreichte. Sie legten an und betraten die Stadt. Es waren Coreni, die hier lebten, doch alle sahen verhärmt und verzweifelt aus. Die Menschen hungerten, und das, wo ihre Insel doch mit fruchtbaren Böden gesegnet war. Arjas und seine Kameraden wunderten sich. Sie wurden zum Herrscher der Insel gebeten und dieser erzählte ihnen von seinem Kummer:
    Auf ihrer Insel lebte ein Dämon in Vogelgestalt. Das Unwesen kam wie ihm beliebte und alles in seinem Schatten wurde grau. Wenn der dämonische Vogel über die grünen Reisfelder flog, blieben nur graue faulige Halme zurück. Blaue Seen und Flüsse wurden bleich, Obst und Gemüse wurde fahl und ungenießbar. Die Menschen, die der Schatten des Dämonenvogels traf, wurden krank und matt, ihre Augen stumpf und ihre Haut blass. Der Vogel aber schmückte sein Gefieder mit den Farben des Lebens und nahm sie mit sich. Es dauerte jedes Mal Tage und Wochen, bis sich das Land und die Leute wieder erholten. Bis warmer Regen die graue Blässe weggewaschen hatte und die Sonne Kraft und Leben zurückbrachte. Und dann kam der Dämon wieder und raubte ihnen wieder die Farben.
    Die Kaufleute hörten die Geschichte mit Staunen. Niemals hatten sie von einem solchen Wesen gehört, doch die bleichen Gesichter der Inselbewohner ließen keinen Zweifel zu. So beschlossen sie, auf der Insel zu bleiben und ihr Schiff auszubessern. Und wenn sich in dieser Zeit der Farbenvogel zeigte, dann wollten sie versuchen zu helfen. Und so geschah es. Tage und Wochen verbrachten die Seefahrer mit dem Flicken von Segeln und Richten von Planken. Sie vergaßen dabei auch nicht, ihre Waren anzubieten und nach neuen Geschäften Ausschau zu halten.
    Dann eines Tages geschah es – ein Aufschrei ging über die Insel, als die Menschen den grauen Schatten des Vogels bemerkten. Es war ein großer Vogel, der mit kräftigem Flügelschlag über die Insel flog. Er hatte graues Gefieder und einen großen grauen Schnabel. Seine langen Kranichbeine endeten in spitzen Krallen. So flog er über die Stadt und das Land. Und wie Arjas und seine Freunde es schon gehört hatten, so verlor alles, was der Schatten des Vogels berührte, seine Farbe. Das Grün der Reisfelder und der Palmenhaine, das Blau der Flüsse und Seen, das Rot und Gelb der Früchte, selbst die Farben der Menschen und ihrer Gewänder schwanden. Alles, was der Schatten des Vogels berührte wurde grau und krank und ungenießbar. Großes Wehklagen erhob sich da unter den Menschen! Die Kaufleute hingegen hatten nicht lange untätig zugesehen. Sie waren Seeräuber und Seeschlangen gewohnt und scheuten keinen Kampf. So griffen sie zu den Waffen und stellten sich dem Dämon in den Weg. Arjas aber versuchte sie zu hindern. Nicht Waffengewalt würde dieses Wesen aufhalten. Denn nicht im Stahl lag die Macht, es zu bannen. Und so war es auch. Die Waffen vermochten weder Fleisch noch Federn des Vogels zu verletzen. Der aber schlug zu mit Schnabel und Krallen. Tapfere Männer sanken nieder und das Blut, das aus ihren Hälsen floss, war schwarz und nicht rot. Der Vogel aber flog auf und davon und sein Gefieder schillerte in den schönsten Farben.
    Die Kaufleute beklagten ihre toten Gefährten. Arjas aber sprach: „Ich will zu dem Farbenvogel gehen. Ich will sehen, ob es nicht einen anderen Weg gibt, das Leid dieser Insel abzuwenden.“ Und er ließ sich von keinem Bitten und Flehen aufhalten.
    Arjas wanderte über die Insel auf der Suche nach dem Vogel. Er musste nur der grauen Spur des Schattens folgen, der das fruchtbare Land hatte verdorren lassen. Auch wenn er jetzt ein Kaufmann war, so war Arjas doch zwischen Reisfeldern und Obsthainen aufgewachsen. Es schmerzte ihn daher tief, all das fruchtbare Land so grau und leer zu sehen. Er konnte nicht zulassen, dass der Vogel weiterhin die Farben des Lebens stahl.
    Schließlich erreichte Arjas ein einsames Tal. Zwischen den kargen Felswänden hockte der Vogel auf dem Boden und ordnete sorgsam sein buntes Gefieder. Arjas trat vorsichtig heran und setzte sich. Mit Tanaharenis Erfahrung und seinem eigenen Wesen spürte er, dass der Vogel dort vor ihm nicht ganz von dieser Welt war. Er stahl lebendige Farben um seinem schattenhaften Selbst mehr Substanz zu geben. Doch die geraubte Kraft konnte auf seinem dämonischen Leib nicht bestehen. Sie verblasste immer wieder und der Vogel musste immer wieder ausziehen, um sich neue Farben zu rauben.
    Arjas beobachtete den Vogel lange. Doch schließlich war der es Leid und sprach: „Was willst du hier, Mensch?“
    „Ich möchte dich bitten, das Land und die Menschen zu verschonen. Du zerstörst die Fruchtbarkeit der Insel, die von den Göttern gegeben ist. Du bringst den Menschen Elend und Not.“
    „Was kümmert mich das“, gab der Dämon zurück. „Aber fürchtest du nicht um dein Leben? Nur ein Streich und ein Hieb von mir und du bist tot!“
    Arjas schüttelte ruhig den Kopf. „Ich fürchte den Tod nicht.“
    Der Vogel klapperte drohend mit dem Schnabel. „Ich fürchte den Tod! Ich fürchte ihn, obwohl ich nicht sterben kann. Ich will die Kraft des Lebens fassen und mich selbst damit erhalten. Ich brauche das, und ich werde mich nicht aufhalten lassen!“
    Arjas schüttelte wieder nur den Kopf. „Du stiehlst Leben und Kraft der Menschen und der Insel. Farben, die dir nicht gehören und die dir nichts Gutes bringen. Wenn du auch mein Leben nehmen willst, dann sei es so.“ Er hob die Hände in friedlicher Geste. „ Ich fürchte mich nicht. Ich habe mein Leben so gut gelebt, wie ich konnte. Und ich weiß, es folgt ein weiteres Leben, in dem ich es besser machen kann. Ich habe keine Angst.“
    Der Vogel starrte ihn finster an, doch Arjas hielt dem Blick mit seinen hellen Augen stand. Offen und ohne Furcht sah er dem Wesen entgegen, das schließlich den schnabelbewehrten Kopf senkte. „Dann bist du stärker als ich“, gab es zu. „Dann will ich mich dir unterwerfen.“
    „Versprich, dass du der Insel und den Menschen keinen Schaden mehr zufügen willst.“
    Der Vogel versprach es, auch wenn er wusste, dass die Farben seines Gefieders bald wieder verblassen und nur sein schattenhaftes Selbst zurücklassen würden. Auch Arjas wusste das und er versprach dem Vogel zu helfen. Doch zuerst sollten die Menschen sehen, dass keine Gefahr mehr bestand. Arjas stieg auf den Rücken des Farbenvogels und wies ihm den Weg zum Hafen. Wie staunten die Menschen, als sie den Vogel sahen und den jungen Mann als seinen Reiter. Und wie lobten sie ihn für seinen Mut und seine Opferbereitschaft. Doch Arjas lehnte allen Dank ab. Er wollte auch kein Gold und keine Schätze als Lohn. Er bat nur darum, das Schiff seiner Kameraden auszurüsten und ihnen eine gute Heimfahrt zu ermöglichen. Und er sprach: „Der Dienst für euch war auch ein Dienst für mich. Ich habe gelernt, dass man auch ohne den Tod um das Leben fürchten kann, und dass das Leben mit dem drohenden Tod nicht an Wert verliert. Ich weiß beide nun mehr zu schätzen. Leben und Tod, die zueinander gehören.“
    Und damit stieg er wieder auf den Rücken des Farbenvogels und ließ sich weit hinaus aufs Meer tragen. Weit bis zu einer anderen Insel, auf der sich waldige, wasserreiche Berge in den Himmel reckten. Dort zeigte er dem Farbenvogel die Wasserfälle, die sich in die Tiefe stürzten. Wasserfälle, in deren Nebel die Sonne wunderbare Regenbögen malte. Vielfältige Farben, die keinem gehörten. Farben, die so gut auf dem Gefieder des Vogels schimmern konnten, wie nur im fernen Wasserrauschen. Da war der Farbenvogel froh und sang das erste Mal in seinem Sein ein Lied von Glück und Freude. Und er blieb dort bei den hohen Bergen und den sonnenschimmernden Wasserfällen. Doch wenn Arjas ihn rief, war er zur Stelle und brachte ihn wohin er wollte. Und es gab noch viele Abenteuer die sie erlebten und die Tanahareni in diesem Leben widerfuhren.


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  • Bunt! ... *hüstel*
    Das ist jetzt nicht abwertend gemeint - ich liebe es.
    Ich frage mich ja, woher dieser seltsame Farbenvogel kommt und ob er es steuern kann, wann er die Farben des Lebens aufsaugt.
    Auf jeden Fall ne gute Idee mit den Farben des Regenbogens, die nahezu unendlich immer wieder zur Verfügung stehen.


    Unwillkürlich musste ich ja an das WII-Spiel "de Blob" denken ... muss ich auch mal wieder spielen. *g*

  • Ich finds schön. Es hat eine optimistisch Lösung, das mag ich. :)

    Ist doch nur meine Meinung. Ich find ja auch die Drachenlanze blöd, und Millionen Leute lieben die Bücher trotzdem.

  • Schöne Geschichte.
    Und der Autor/die Autorin schafft es sehr gut, diesen märchen- bzw. sagenhaften Stil einzufangen. Das ist nicht immer leicht, aber hier wirklich gut gelungen.
    Außerdem gefallen mir die asiatischen Traditionen im Hintergrund, ist auch mal was anderes als die übliche europäische, mittelalterliche Fantasykultur.
    Jetzt bin ich gespannt, zu welcher Welt das gehört, aber da muss man sich natürlich noch etwas gedulden. Ich finde es aber allgemein sehr schön, wenn man die Welten hier mal durch kleine Geschichten kennenlernt, und nicht nur durch sachliche Beschreibungen. Sollten wir vielleicht auch öfter machen. ;)

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    Das dritte Türchen führt in ein Krankenzimmer hinein, dessen luxoriöse Ausstattung sofort vermuten lässt, dass der Kranke auf dem Bett kein normaler Bürger ist. Ein Mann – seiner Gewandung nach ein Arzt – beugt sich über ihn, fühlt seinen Puls und seufzt. All seine Kunst vermag hier nichts mehr auszurichten. Das ist bitter, doch noch schlimmer ist es, daß die lauteste Stimme auf der anderen Seite der Tür weder Trauer noch Respekt enthält...



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    Ein König fällt


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    Der Arzt, nach dem Gamyshar, der Kronprinz von Arband, hatte schicken lassen, trat mit betretener Miene aus dem Krankenzimmer des greisen Königs.
    „Mein Herr ...“, begann er, doch der Kronprinz brachte ihn mit einer unwirschen Geste zum Schweigen. „Erspar mir dein geheucheltes Mitgefühl. Scher dich fort!“
    Der Arzt bückte sich ergeben und entfernte sich rücklinks von den beiden Personen, die an der Balustrade vor dem Zimmer standen.


    Es war heiß und schwül, wie meistens in der Stadt Arband, selbst jetzt in der Nacht. Gamyshar und seine Schwester, Tylosa, blickten hinunter auf einen der Kanäle, welche die Stadt durchzogen, und auf denen schwerfällige Lastkähne langsam dahinschwammen.


    „Wie lange wird er wohl durchhalten?“ meinte Gamyshar mehr zu sich selbst als zu seiner Schwester. „Wie lange noch, bis er endlich seinen Platz freimacht für jemand jüngeren, gesünderen?“
    Natürlich sprach er von sich selbst, wie immer. Tylosa würdigte ihn keiner Antwort. Sie verachtete ihren Bruder, seine Machtgier, seine Dekadenz, seine Kälte. Viel lieber hätte sie ihren jüngeren Bruder Mahi auf dem Thron gesehen, aber die Thronfolge war klar. Der Erstgeborene würde König werden.


    Tylosa verwaltete das Reich, während ihr Vater dahinsiechte. Ihr Bruder hatte keine Anstalten gemacht, irgendwelche Pflichten zu übernehmen, obwohl es seine Aufgabe gewesen wäre. Doch das hatte sie nicht überrascht. Gamyshar hatten schon immer nur die Rechte und Privilegien interessiert, die er als König haben würde.
    Es würde wohl an ihr hängen bleiben, das Reich ...


    „Herr!“ ein Wächter kam herangeeilt und warf sich vor dem Kronprinzen auf die Knie. „Eine Gesandtschaft aus Nerebta ist eingetroffen ... sie wollen mit dem König sprechen!“
    „Und warum belästigst du mich damit? Der König“, er deutete nachlässig über die Schulter „ist da drin. Wenn die Gesandten unbedingt mit ihm sprechen wollen, sollen sie doch. Er wird ihnen aber kaum antworten.“ Er lachte gehässig.


    Tylosa gab dem Wächter ein Zeichen, er solle die Gesandten beschäftigen. Dann wandte sie sich an ihren Bruder.
    „Du solltest nicht so über ihn reden. Noch ist er nicht tot. Noch bist du nicht König.“
    Gamyshar wirbelte herum, plötzlich voller Zorn. „Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden! Du weißt wohl nicht, wo dein Platz ist, Schwester?“ Er spie ihr das Wort entgegen wie einen Fluch.
    In Tylosa ballte sich ein Knäuel Garn zusammen, da, wo normalerweise ihr Magen lag.
    „Du wertloses Stück! Denkst du, ich werde mir deine Frechheiten noch lange gefallen lassen? Sobald Vater tot ist, wirst du vom Hof verbannt!“
    Du dummer, dummer Narr, dachte Tylosa. Wie willst du ohne mich dieses Reich führen? Wie wirst du all die Entscheidungen treffen, ohne meinen Rat?


    Gamyshar warf den Kopf zurück und lachte, als er sich wieder zur Balustrade hinausbeugte. Das Holz knarrte und knackte bedrohlich, aber es schien ihn nicht zu kümmern.
    „Ja ... und dann kümmere ich mich um unseren Bruder. Ich kann keine Konkurrenten um den Thron brauchen, das verstehst du doch, nicht wahr?“


    Tylosa fühlte, wie das Knäuel sich in einen Stein verwandelte. Was würde er Mahi antun, ihrem geliebten, kleinen Mahi?


    „Der König ist tot!“ rief eine Stimme im Zimmer, und sofort setzte Wehklagen ein. Die Trauerweiber begannen, ihren Pflichten nachzugehen.
    Gamyshar straffte sich, und das Holz knackte erneut. Tylosa starrte auf die Balustrade.


    „Nun, denn ... es wird Zeit ...“, meinte Ganyshar und zupfte an seinem Gewand herum. „Ein König sollte nicht so seinen Thron besteigen, meinst du nicht, Schwester? Vielleicht sollte ich mir eines von Vaters Gewändern nehmen. .. er braucht sie doch nicht mehr ...“


    Der Stein in Tylosas Magen zog sie nach unten. Alles war vorbei ... alles ... das Reich würde untergehen, Mahi würde getötet, und sie verbannt in die hintersten Winkel ... und Gamyshar würde frohlocken. Es würde ihn nicht einmal kümmern, was er alles zerstörte ...


    Und plötzlich wusste Tylosa, was zu tun war. Sie wusste IMMER was zu tun war ... hatte es nur verdrängt, vielleicht nicht wahrhaben wollen.


    Sie trat einen, zwei Schritte zurück, nahm Anlauf - und rammte ihrem Bruder mit aller Wucht ihren Ellbogen in den Rücken. Mit einem Krachen, das nur von Gamyshars überraschtem Schrei übertönt wurde, brach die hölzerne Balustrade entzwei, und der Kronprinz, die Hände immer noch am Kragen, fiel kopfüber hinab, vier Stockwerke tief. Er prallte an einem Wasserspeier ab, riss einen Teil ab - so etwas dummes, dachte Tylosa, den haben wir doch erst kürzlich restaurieren lassen - und fiel dann in das dunkle, schmutzige Wasser des Kanals.
    Ein Platschen, dann war er verschwunden. Das Wasser kräuselte sich noch ein wenig, ein paar Luftblasen stiegen auf, wo er gefallen war. Dann war alles ruhig.


    In der Entfernung konnte man Hunde bellen hören, und die Klageweiber schrien noch immer. Tylosa stand regungslos an der Balustrade, neben der Stelle mit dem Loch, und hielt sich am Geländer fest. Ihr Kopf war leer, sie konnte keinen Gedanken, kein Gefühl fassen.
    Sie starrte in die Ferne, wo die dunklen Silhouetten von Bergen zu erahnen waren.


    „Majestät?“
    Hinter ihr sprach jemand in gleichmütigem Tonfall.. Die Wache war zurückgekehrt. Tylosa wandte sich langsam um. Da stand nicht nur der Wächter ... neben ihm der Haushofmeister, und dahinter der Oberkommandierende der Armee.


    „Majestät, ihre Befehle?“


    Tylosa sah ihn an. Wie war noch gleich sein Name? Munteshar? Mintash? Oh, es war Minetahash, genau ... ihr Vater hatte immer die Namen seiner Bediensteten gekannt, und Tylosa folgte seinem Beispiel ...


    „Majestät ...?“


    Sie straffte sich, zog die Schultern nach hinten. Zeig ihnen, wie sich eine Königin benimmt.
    „Lasst den Fluss absuchen. Der Prinz ist gestürzt. Und schickt nach den Arbeitern, die das Geländer gebaut haben...“ (Ich muss ihnen eine Orden verleihen, dachte sie) „... damit sie sich rechtfertigen für ihre Schlamperei. Und lasst den Wasserspeier instandsetzen - schon wieder.“


    Sie sah noch ein letztes Mal auf den Kanal hinab. Nichts verriet mehr die Stelle.
    „Bereitet alles für die Beerdigung des Königs vor... ein großer Tag der Trauer. Wir werden ihm allen Respekt erweisen.“


    Der Stein in ihrem Magen war verschwunden.


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  • Hm, hm, als Geschichte ja wirklich gut. Aber als Beitrag zu Weihnachten? ???
    Na ja, aber Friede, Freude Eierkuchen ist ja sowieso eher ein Klischee. Und wie schon gesagt, geschrieben war es wirklich gut. Ein bisschen von Martin inspiriert? Dort scheint es ja öfter so zuzugehen, wenn die Thronfolge ansteht.

  • Der Farbenvogel ist eine wirklich coole Idee :thumbup:
    Und ich mag solche Thronfolge-Geschichten, hoffen wir aber, dass nicht irgendwann ein mysteriöser Kapuzentyp auftaucht, um die böse Usurpatorin und ihren Marionettenkönig mithilfe irgendwelcher Rebellen und eines verbannten Waffenmeisters TM vom Thron zu stürzen und sich dann dem überraschten Hof als wahrer Thronfolger offenbart ;)

    "Wenn man im Supermarkt 'ne Melone zurückgeben will, ist der ganze Tag vorbei. "

    -Marge Simpson

  • Zitat

    Amanita schrieb:
    Hm, hm, als Geschichte ja wirklich gut. Aber als Beitrag zu Weihnachten?

    Es ist ja kein Beitrag zu Weihnachten, sondern einer zum Adventskalender, und hier darf es neben Friede, Freude, Eierkuchen gerne auch abenteuerlich, tragisch, lustig oder nachdenklich etc. zugehen - die Vielfalt und Mischung der Texte macht es ja gerade so spannend :D !
    Zu bluttriefend wird es aber nicht werden - ein Gedicht zu einem Bürgerkriegsmassaker zum Beispiel hatte ich als Beitrag abgelehnt - das war zu starker Tobak für den Adventskalender. ;)

  • Zitat

    ein Gedicht zu einem Bürgerkriegsmassaker


    Sowas kann man doch jetzt wirklich bei den Weltentexten unterbringen, statt im Adventskalender. Dort findet es sicher auch Leser. Zur heutigen FF: Eigentlich hat ja Mord unter Geschwistern auch schon in der Bibel in eine Rolle gespielt, so passt es dann doch wieder irgendwie. ;)

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