Kaum ist mehr als ein Jahrzehnt um, schon faellt mir ein neuer Weltentext zu meiner Traumreligion ein, die schon mal in diesem anderen Fred vorgestellt wurde.
Sarutets Paradoxon und Marun-Sis Inversion
Gespräch zwischen dem Weisen Träumer Tenaranggang
und seiner Schülerin Brija,
einer ravenländischer Leichtmatrosin aus Jarran Ai' Polàns Mannschaft
Brija: „Entschuldigt, Meister, dass ich mich so lange nicht habe blicken lassen – meine 'profanen Pflichten', wie Ihr das nennt, waren die letzten Wochen etwas zu umfangreich für meinen Geschmack.“
Tenaranggang (augenzwinkernd): „Das verhindert wenigstens, dass dir der Kopf im Übermaß anschwillt von meinen Lektionen und deinem Stolz. Obwohl, in Anbetracht dessen, was ich dich heute lehre, wäre letzteres wohl vielleicht nicht das Schlechteste für dich. Dennoch ist mir der andere Weg lieber.“
Brija: „Wie immer sprecht Ihr in Rätseln. Wollen wir vielleicht am Anfang beginnen?“
Tenaranggang: „Das empfiehlt sich meistens. Die Kunst ist natürlich, zu wissen, wo der Anfang ist. Also mal sehen… Habe ich dich schon von Sarutets Paradoxon gelehrt? Nein? Gut, dann beginnen wir dort.
Sarutet war vor langer Zeit Hofgelehrter im Alten Kaiserreich und forschte zum menschlichen und übermenschlichen Geist. Weil er sich auch mit den Konzepten des Wissens und des Lernens befasste, pflegte er gute Kontakte zu den Hofgelehrten, die mit der Ausbildung der kaiserlichen Beamten betraut waren. Die Beamten mussten ein fünfjähriges Studium durchlaufen, in dem ihnen die Grundlagen der Künste der Arithmetik, Rhetorik, Poesie, Geographie, Astronomie, Juristerei, Geschichte, Biologie und Medizin beigebracht wurden. Dieses umfangreiche Curriculum war auf persönliches Geheiß der Kaiserin erlassen worden – damit die Beamten, wenn sie dann als Gouverneure einer Insel oder Provinz eingesetzt waren, weise und gerechte Entscheidungen für die ihnen untergebenen Bürger treffen konnten. Und, so munkelte man, damit sie nicht die Entschuldigung der Unwissenheit für sich in Anspruch nehmen konnten, falls ihnen vom Hof bei erwiesener Unfähigkeit oder Korruption der Prozess gemacht wurde. Das konnte nämlich unter Kaiserin Tjetje leicht vorkommen.
Nun beschwerte sich eines Tages einer von Sarutets Kollegen wieder einmal bei ihm, dass die dümmsten und unwissendsten Studenten erstaunlicherweise am meisten von ihren Fähigkeiten überzeugt wären, während die fleißigen und schlauen oft zurückhaltend und zögerlich seien. Etwas ähnliches war Sarutet bei seinen Seminaren auch aufgefallen – er fragte sich aber, ob es sich hier nur um das übliche Leiden der Lehrenden handelte, die zu ungeduldig mit ihren Schülern waren, oder ob wirklich etwas dahinter steckte. So beschloss er, einen Versuch zu unternehmen.
Kurz vor den jährlichen Prüfungen begab er sich zu jedem Studenten jedes Jahrganges und bat ihn oder sie, auf die eigenen Prüfungsergebnisse in den neun Künsten zu wetten: Könnte der Student seinen Rang im Jahrgang in den verschiedenen Fachgebieten genau genug vorhersagen, dann erhielte er ein begehrtes und mit Geld nicht zu erwerbendes Privileg: die Wahl ein besseren Zimmers in der Akademie (denn in diesem Jahr war Sarutet auch für die Zuweisung der Zimmer zuständig).
Sarutet füllte ein ganzes Buch mit Tabellen von Namen, Künsten und Vorhersagen – und nach den Prüfungen trug er auch die tatsächlichen Prüfungsergebnisse dort ein. Zuerst kamen die Prüflinge aus dem jüngsten Jahrgang an die Reihe – und darunter waren nicht viele, die sich ihr Akademiezimmer aus den besseren wählen durften…
Er fand, dass die wenigsten ihre eigenen Fähigkeiten gut einschätzen konnten; jeder hielt sich für besser als die Hälfte seiner Kollegen und deshalb war es natürlich so, dass die schlechtere Hälfte der Studenten mit ihren Schätzungen weit daneben lag. Von diesen konnte sich keiner die Belohnung verdienen. Von den Besseren lagen die richtig, die tatsächlich etwas besser als die Hälfte waren. Am meisten betrübte Sarutet, dass auch die Besten mit ihren Voraussagen daneben lagen, weil sie ihren Rang unterschätzten. Später fand er heraus, dass diesen das Ausmaß der Unwissenheit ihrer Kollegen nicht bewusst war.
Etwas tröstliches fand er aber auch, als er nach und nach auch die Ergebnisse der älteren Jahrgänge erhielt: Die älteren Studenten hatten im Laufe der Jahre mehr Wissen erworben und so gelernt, ihre Fehler besser zu erkennen und sich selbst besser einzuschätzen.
Der Kern seiner Erkenntnis hat sich über die Jahre eingeschliffen zu einer alten Weisheit, die als 'Sarutets Paradoxon' bekannt ist: 'Es gehört zur Tragik der menschlichen Geschichte, dass nur die Dummen sich sicher sind, während die Klugen zweifeln.'“
Brija: „Hm… wenn man so darüber nachdenkt, dann ist es wirklich paradox. An sich müsste man ja meinen, dass die, die mehr wissen, sich auch sicherer sein können. Und dennoch kommt mir das Ganze aus dem Alltag sehr bekannt vor. Ich würde fast sagen, den Weisen erkennt man daran, dass er nicht im Brustton der Überzeugung behauptet, sowieso Bescheid zu wissen. Und das wiederum führt zu der Frage, was zuerst da ist: Der Zweifel oder die Weisheit.“
Tenaranggang: „Oho! Wir eilen mit Riesenschritten voran und sind schon bei Marun-Sis Inversion angekommen!“
Brija: „Ihr wollt sagen für diese Frage gibt es bereits einen Namen?“
Tenaranggang: „Nicht nur einen Namen, eine ganze philosophisch-religiöse Schule, die darauf aufbaut!
Marun-Si war eine Priesterin, eine Awar, die in der unruhigen und chaotischen Zeit nach Kaiserin Tjetjes Tod wieder auf eine Schrift zu Sarutets Paradoxon stieß – nachdem dieses mit Sarutets Ableben eine Weile in Vergessenheit geraten war. Die politische Lage war nach langen Jahren geordneter Herrschaft durch den Tod der Herrscherin und ihrer jungen Nachfolgerin plötzlich aus den Fugen geraten. Die Menschen fürchteten, ihren mühsam erworbenen Wohlstand zu verlieren. Demagogen und selbsternannte Propheten zogen von Insel zu Insel und scharten Anhänger um sich, mit Versprechungen und Behauptungen, die jeglicher Grundlage entbehrten – was die Leute aber nicht im Mindesten zu stören schien! Je verworrener und absurder die Reden, umso mehr erregten sie die Gemüter, umso mehr wurden sie diskutiert und zitiert und umso mehr Wirklichkeit wurde dem Inhalt von immer mehr Menschen zugestanden.
Marun-Si hatte sich außerdem gerade mit einer der Jungen Schulen beschäftigt, deren voller Name 'Isimiju Minejta Tsive' in eurer Sprache wohl in etwa 'Meer-aus-tausenden-Tropfen' bedeutet. Die Anhänger dieser Schule glauben, dass sich der Göttliche Traum – die Wirklichkeit – wie ein Meer aus abertausenden Tropfen aus den Träumen und Gedanken der Menschen zusammensetzt. Und nicht zufällig wurden die Lehren dieser Schule gerade in der damaligen politischen Lage unter den Priestern heftig diskutiert: war es möglich, dass die heute noch absurden Behauptungen der neuen Propheten sich in ein paar Monaten so in den Köpfen der Menschen festgesetzt hätten, dass sich die Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit verformen würde? Was, wenn die neue Realität sich als unwirtlich herausstellte – wäre es dann geboten, sie mit aller Macht der Awar wieder zu ändern oder sollte man sich lieber gemeinsam in eine selbstgeschaffene kleine Wirklichkeitsblase zurückziehen und dort überdauern, bis die Wirklichkeit der normalen Menschen sich wieder beruhigt hatte? Würde ersteres oder letzteres eher dazu führen, dass die große Wirklichkeit in einzelne Scherben zerbräche? Und so weiter...
Auf dem Boden dieser drei Einflüsse – Glaubensschule, Politik, und Sarutets Paradoxon – stellte Marun-Si die Frage, die du auch gerade gestellt hast: Was ist zuerst da: der Zweifel oder das Wissen? Die Selbstsicherheit oder die Dummheit?
Sarutet meinte noch, dass es Wissen braucht, um Wissen zu erkennen – und um zu erkennen, was man alles noch nicht weiß. Marun-Si drehte die Sache nun gedanklich um: Was, wenn das eigentliche Problem der Menschen nicht der Mangel an Wissen ist, sondern der Mangel an Selbstsicherheit?
Was wenn besonders selbstsichere Menschen – wie die Propheten – gerade durch ihre Selbstsicherheit die Fähigkeit hatten, die Wirklichkeit um sich herum so zu verbiegen, wie es ihnen gefiel, ähnlich einem Awar? Wenn einer von ihnen nur oft und laut genug wiederholte „Wir werden einen riesigen Damm bauen, der wird die Sturmflut abhalten“, dann begannen die Menschen schließlich mit dem Bau – und er hatte Kraft seines Wunsches einen Damm erschaffen, selbst wenn er gar nicht wusste, wie ein Damm zu bauen ist. Oder vielleicht wäre seine geistige Kraft sogar so groß, dass der Damm sich von allein errichtete?
Was wenn andere Menschen das nicht konnten und sie diesen Mangel deshalb durch Wissen über die Wirklichkeit ausgleichen mussten? Wenn man nicht einfach Kraft seines Wunsches festlegen kann, dass heute Markttag ist und deshalb alle Händler herbeiströmen müssen, dann muss man sich die Abfolge der Wochentage und die Marktzeiten einprägen und sein Leben danach einrichten. Wenn man die Wogen nicht einfach Kraft seines Wunsches beiseite schieben oder einen Damm herbeireden kann, dann muss man die Regeln von Ebbe und Flut lernen.
Diese Überlegungen werden heute als Marun-Sis Inversion bezeichnet.“
Brija: „Na, das ist nun wirklich keine besonders aufmunternde Botschaft: Wenn man nicht stur und selbstherrlich genug ist, um der Welt seinen Willen aufzudrücken, dann muss man's durch fleißiges Lernen und Anpassen ausgleichen?
Wie überzeugt man denn da die Novizen, brav die weisen Schriften zu studieren statt sich einfach Kraft der eigenen Einbildung zum Awar zu erklären?“
Tenaranggang: „Da sprichst du etwas an, was Marun-Sis Kollegen auch in ziemliche Unruhe versetzt und zu heftigen Streitgesprächen geführt hat.
Interessanterweise gibt einem aber das Wissen über die Welt Sicherheit – man ist seiner Umgebung nicht mehr hilflos ausgeliefert sondern kann planen, Vorsorge treffen und vielleicht sogar Ereignisse abwenden. Baut man sein Haus nicht direkt an den Strand, dann wird es nicht ständig weggespült. Legt man sich Vorräte an, dann kann man den Sturm an einem sicheren Ort abwarten. Man beginnt, auf sich selbst und sein Wissen über die Dinge zu vertrauen.
Wenn man Marun-Sis These der Wirklichkeit durch Selbstsicherheit folgt, dann stabilisiert die Kenntnis der Regeln die Wirklichkeit dieser Regeln. Je mehr Menschen das gleiche Wissen erwerben, desto wahrer wird es. So ließe sich auch begründen, warum man gut daran tut, brav zu studieren: weil dadurch die Wirklichkeit vor dem Zerfasern bewahrt wird.“
Und, was meinen die Idealisten und Nicht-Idealisten unter euch?