[Yrdanea] Märchen

Liebe Bastler, die Weltenbastler-Olympiade hat begonnen, das WBO-Tool ist vorbereitet. Bitte meldet euch schnell an. Viel Spaß dabei!
  • Danke für die Inspiration! :)


    Riothamus hatte im Discord - nachdem ich von einem erfreulichen Erlebnis berichtet hatte - vorgeschlagen, dass ich einen Glücksfluch für meine Hexen basteln könnte. Ich habe tatsächlich dann darüber nachgedacht, fand es aber für meine Hexen nicht wirklich passend. Also habe ich es umgedreht. Es schien mir nicht so geeignet für einen meiner üblichen Schnipsel zu sein, weshalb ich es lieber in einer eigenen kleinen Geschichte verpackt habe. :)

  • Das Mädchen mit den Spinnenhänden


    Es war einmal ein Mädchen, das mochte keine Spinnen leiden. Es hatte keine Angst vor ihnen, nein. Es hasste sie aus tiefstem Herzen. Immer wenn es eine Spinne herumkrabbeln sah, warf es einen Stein nach ihr oder trat mit dem Stiefel darauf, um sie zu zerquetschen. Auch wenn die Spinne dann tot war, machte das Mädchen sich oft noch einen Spaß daraus, ihr alle Beine auszureißen, um ganz sicher zu gehen.


    In seinem kleinen Zimmer hatte das Mädchen einen Setzkasten, in dem es die toten Spinnenüberreste aufspießte und sammelte. Die abgerissenen Beine reihte sie sauber neben den Körpern auf.


    Im Haus, in dem das Mädchen wohnte, tummelten sich bald Fliegen, Mücken und Wanzen, weil Spinnen sich davon fernhielten. Für die Insekten wiederum interessierte sich das Mädchen nicht. Den Eltern war es einerlei, die waren zu beschäftigt mit ihrer Arbeit, um sich darum zu kümmern, was das Mädchen tagsüber trieb.


    Irgendwann hielten es jedoch die Nachbarn des Mädchens, die auch in diesem Haus wohnten, nicht länger aus. Immer summten kleine Fliegen um sie herum, nachts bissen die Wanzen und jeden Morgen erwachten sie zerstochen von Mücken. Das musste ein Ende haben. Sie beratschlagten miteinander und baten schließlich eine Hexe um Hilfe.


    Hexen mögen Spinnen, so auch diese. Kinder wiederum mögen sie oft nicht so gern. So kam es, dass die Hexe das Mädchen mitten in der Nacht heimsuchte. Zuerst verhexte sie das Mädchen, sodass es in einen tiefen Schlummer fiel. Damit das Kind keine Spinnen mehr quälen konnte, schlug die Hexe ihm mit einem kleinen Beil beide Hände ab.


    Sie wollte das Kind aber nicht zu einer Bettlerin machen. Stattdessen hexte sie ihm einen faustgroßen, haarigen Spinnenkörper an jedes Handgelenk. Die kugeligen Körper hatten keinen Kopf und keine Augen, dafür aber acht tapsige Beine mit feinen schwarzen Borsten.


    Die Hexe verschwand spurlos in der Nacht, wie ein Traum, ohne einen Lohn zu verlangen. Nur die kleinen Hände nahm sie mit.


    Das Mädchen erwachte am nächsten Morgen. Mit seinem spitzen Schrei weckte es das ganze Haus.



    Ende

  • Fies!



    (Ich lass mal offen, wen ich meine.)

    Man kann gar nicht so rundum stromlinienförmig sein, dass es nicht irgendeine Pappnase gibt, die irgendetwas auszusetzen hat.
    - Armin Maiwald

  • Gleich vorweg: Das folgende Märchen basiert auf "Rumpelstilzchen", ist aber eine eigene, abgewandelte Interpretation.


    Rumpelhexchen


    Es war einmal eine gute Frau, die hatte drei Kinder. Der Vater, ein freier Händler, war vor einigen Jahren aus dem Leben geschieden. Die älteren beiden Kinder hatten bereits ihr Glück gefunden. Das Jüngste jedoch schien nicht so recht zu wissen, was aus ihm werden sollte. Die Mutter hoffte, es würde auch einmal jemanden finden, mit dem es sein Leben teilen wollte, doch da gab es niemanden. Aber das Kind war fleißig und mochte gerne zeichnen. So ergab es sich, dass es sobald es alt genug war, auszog und in einer großen Stadt eine Stelle bei einem Spielzeugmacher fand, bei dem es sich verdingen konnte.


    Seine Aufgabe sollte darin bestehen, Spielzeuge so zu gestalten, dass die Menschen es kaufen und damit spielen wollten. Das klang wunderbar!


    Doch zunächst wollte der Spielzeugmacher seine neue Gehilfin auf die Probe stellen. Er führte sie in eine Kammer der Spielzeugwerkstatt, in der sich in Regalen die Spielzeuge türmten, gab ihr Pinsel und Farben und sprach: „Nun mach dich an die Arbeit. Wenn du bis morgen früh nicht dafür gesorgt hast, dass das Spielzeug so ansprechend ist, dass es meine Truhen mit Gold füllen wird, landest du auf der Straße und wirst verhungern.“ Darauf schloss er die Kammer von außen ab und das Mädchen blieb allein zurück.


    Da saß nun die arme Tochter und wusste keinen Rat. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Der Spielzeugmacher hatte ihr ja gar nichts beigebracht. Sie konnte zwar ein wenig malen, aber würde es reichen, etwas Farbe auf das wirklich hässliche Spielzeug zu streichen? Ihre Angst ward immer größer. Sie wollte noch nicht sterben. So tauchte sie einen Pinsel in die gelbe Farbe und strich sie auf eins nach dem anderen der missratenen hölzernen Entlein, die kaum als solche zu erkennen waren.


    Bis tief in die Nacht arbeitete sie gewissenhaft im kalten Mondlicht, welches durch ein kleines vergittertes Fenster in den Raum fiel. Aber die Arbeit schien ihr aussichtslos und sie fing an zu weinen.


    Auf einmal öffnete sich die Tür. Ein hutzeliges Weiblein trat herein und sprach: “Na sowas. Was machst du denn da und warum weinst du?“


    „Ach“, antwortete das Mädchen, „ich soll diese Spielzeuge ansehnlicher machen, damit die Leute ihr Gold dafür hergeben. Aber sieh doch nur – es hat keinen Zweck. Es ist noch genauso furchtbar und wird bestimmt niemanden erfreuen, selbst wenn es bunt bemalt ist."


    Das Weiblein sprach: „Was gibst du mir, wenn ich das Spielzeug in Ordnung bringe?“ – Das Mädchen besaß nichts. „Ich gebe dir meine Schuhe.“ Das Weiblein schüttelte den Kopf. „Die passen mir nicht. Was hast du sonst anzubieten?“ „Meine Haare.“ Das Weiblein lachte. „Was soll ich denn mit deinen Haaren?“ „Nimm die Erinnerung an meine Freunde.“


    Das Weiblein schien nachzudenken. „Einverstanden.“ Es griff nach dem Kinn des Mädchens und blickte ihm tief in die Augen. „Bah. Die haben dich sowieso längst vergessen.“ Dann strich es wie eine Katze an den Regalen mit dem Spielzeug entlang und schnurrte dabei „Murr, murr, murr“ vor sich hin. Im Morgengrauen war die Alte spurlos verschwunden.


    Bei Sonnenaufgang kam der Spielzeugmacher und sah, dass all die Spielzeuge nicht mehr aus Holz bestanden, sondern zu Gold geworden waren. Er staunte und die Gier in seinem Herzen wuchs.


    „Deine erste Probeaufgabe hast du nicht ganz so schlecht erledigt, wie erwartet. Doch ich muss wissen, ob ich mich wenigstens einigermaßen auf dich verlassen kann.“ Er führte das Mädchen zu einer anderen Tür in eine weitere, größere Kammer. Auch diese war mit Spielzeug gefüllt, das sogar noch missratener war als das in der ersten Kammer.


    „Wenn dir dein Leben lieb ist, mach auch diese Spielzeuge zu Gold.“


    Wieder ließ er das Mädchen allein in der verschlossenen Kammer zurück. Diesmal versuchte das Mädchen erst gar nicht, Farbe auf das hässliche Spielzeug zu tupfen. Es hatte doch keinen Zweck. Abermals begann es zu weinen, da es sich nicht zu helfen wusste.


    Es dauerte nicht lange, da erschien erneut das hutzelige Weiblein.


    „Was gibst du mir?“


    Diesmal wusste das Mädchen besser, welche Art von Preis die Alte verlangte.


    „Ich gebe dir die Erinnerung an meine Familie.“


    Die Alte nahm sie und war zufrieden. Mit einem leisen Summen auf den Lippen, das an eine Biene erinnerte, schritt sie erneut an den Regalen entlang. „Surr, surr, surr“.


    Am Morgen glänzte das Gold in der Kammer. Der Spielzeugmacher freute sich insgeheim, aber seine Gier war noch immer nicht gestillt.


    „Ich bin leider noch nicht davon überzeugt, dass du mir nicht mehr Last als Hilfe bist. Aber ich bin großzügig und will dir noch eine letzte Gelegenheit geben, dich zu beweisen.“


    Wieder führte er das Mädchen in eine noch größere Kammer. Es roch muffig. Hier lag das Spielzeug nicht mehr säuberlich in Regalen, sondern es war lieblos auf den Boden geworfen. Vieles war zerbrochen oder zerrissen. Der Berg aus kaputtem Spielzeug reichte fast bis oben zur Decke der Kammer.


    „Wenn du all das in dieser Nacht in Gold verwandelst, darfst du für den Rest deines Lebens meine Gehilfin sein.“


    Wieder ließ er sie in der verschlossenen Kammer zurück. Bald kam abermals das Weiblein zu dem verzweifelten Mädchen.


    „Was gibst du mir? Na?“


    „Ich habe nichts mehr, was ich dir geben könnte“, sprach das Mädchen.


    „Dann gib mir deinen Lebenstraum.“


    Das Mädchen schluchzte.


    „Hör endlich auf zu heulen. Du hast dich auf dieses Spiel eingelassen, dann bring es auch zu Ende.“


    „Ich habe aber keinen Traum.“


    Das Weiblein spuckte aus. „Ist das so? Du kennst ihn nur noch nicht. Dann hole ich ihn mir, sobald er erwacht.“


    Da das Mädchen nicht wusste, was es zu verlieren hatte, versprach es dem Weiblein, ihm den Traum zu überlassen.


    Nun wirkte die Alte geradezu ausgelassen und hopste wie ein Vogel über den Berg aus missratenem Spielzeug. Dabei pfiff sie vergnügt.


    Am Morgen kam der Spielzeugmacher und fand einen Berg aus Gold, wie er es verlangt hatte.


    Das Mädchen bekam ihre Arbeitsstelle.


    Fast ein Jahr lang arbeitete das Mädchen beim Spielzeugmacher. In seinen Kammern war kein Platz mehr für noch mehr Gold, deshalb fertigten die beiden erst einmal neues Spielzeug.


    Während die junge Spielzeugmacherin an den Spielzeugen arbeitete, erwachte in ihr nach und nach ein Wunsch. Zuerst wusste sie nicht, was sie da fühlte, aber dann wurde es ihr bewusst: Sie wollte ihr eigenes Spielzeug machen. Ihre eigenen Ideen verwirklichen.


    Gerade als sie eines Abends anfing, erste Entwürfe für ihr eigenes Spielzeug zu zeichnen, bekam sie erneut Besuch. Das alte Weiblein war wieder da.


    „Gib mir jetzt, was du mir versprochen hast.“


    Die Spielzeugmacherin erschrak und bot dem Weiblein all das Gold, das noch in den Kammern des Spielzeugmachers lag, wenn es ihr nur ihren Traum ließe.


    Aber das Weiblein sprach: „Nein, ein Lebenstraum ist mehr wert als alles Gold der Welt. Du hast dich entschieden und es versprochen.“


    Die Spielzeugmacherin jammerte und weinte, bis das Weiblein es nicht mehr ertrug.


    „Hör auf! Drei Tage gebe ich dir. Wenn du bis dahin herausfindest, wie ich heiße, sollst du deinen Traum behalten.“


    Die Spielzeugmacherin zerbrach sich die ganze Nacht den Kopf. Wer könnte dieses alte Weib sein? Wie lautete ihr Name?


    Die Spielzeugmacherin konnte sich allerhand Namen ausdenken, so wie sie es schon für die Spielfiguren gemacht hatte, die sie bauen wollte. Aber ihr war bewusst, dass sie so nie den tatsächlichen Namen fände. So schrieb sie nur alle Namen auf, die sie kannte und nicht selbst erfunden hatte.


    Als am nächsten Tag das Weiblein zu ihr kam, zählte die Spielzeugmacherin alle Namen auf. Doch das Weiblein schüttelte nur den Kopf. „So heiß ich nicht. Bis morgen.“


    Am zweiten Tag fragte sie auf dem Markt die Besucher ihres Stands mit den Spielzeugen nach den ungewöhnlichsten Namen, die sie je gehört hatten.


    Als das Weiblein wieder kam, fragte die Spielzeugmacherin, ob sie vielleicht Rötzel hieß, oder Furunzel. Wieder antwortete die Alte „So heiß ich nicht. Verabschiede dich schonmal von deinem Traum.“


    Am dritten Tag bemerkte die Spielzeugmacherin, dass sie während ihrer Arbeit in der Werkstatt beobachtet wurde. Neugierige Kinderaugen starrten durch das Fenster hinein.


    Die Spielzeugmacherin dachte sich „Die Kinder wuseln hier wie Mäuse überall herum. Vielleicht haben sie etwas gesehen oder gehört, wovon die Erwachsenen nichts wissen?“


    Sie winkte die Kinder herein. Neugierig betraten sie die Werkstatt und schauten sich mit großen Augen um.


    „Sagt mal … habt ihr hier in der Umgebung schonmal ein hutzeliges Weiblein gesehen, das nicht in der Stadt zu wohnen scheint?“

    Die Kinder tuschelten untereinander und schoben dann eins der Kinder vor.

    „Die Hexe! Die wohnt im Wald. Von der halten wir uns fern.“


    „Wisst ihr, wie sie heißt?“


    „Wir haben sie vorgestern Abend vor ihrem Haus gesehen. Da brannte ein Feuer mit einem großen Kessel darüber und die Alte hüpfte wie wild drum herum. Dabei hat sie geschrien:


    Heute brau ich,

    Morgen back ich,

    Übermorgen hol ich mir den Traum;

    Ach, wie gut, dass niemand weiß,

    dass ich Rumpelhexchen heiß!“


    Die Spielzeugmacherin schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber so heißt doch keine Hexe!“


    „Genauso ist es aber gewesen!“ die Kinder kicherten und stürmten aus der Werkstatt wie eine Sippe von Mäusen.


    So ganz überzeugt war die Spielzeugmacherin nicht. Aber dieser lächerliche Name war ihre letzte Hoffnung.


    „Nun, Spielzeugmacherin, wie heiße ich?" fragte das Weiblein am Ende des Tages.


    „Heißt du Baba?“


    „Nein.“


    „Heißt du vielleicht Jaga?“


    „Nein.“


    „Heißt du etwa Rumpelhexchen?“


    „Wer hat dir meinen Namen verraten?“ schrie die Hexe erbost.


    „Das ist unwichtig“, sagte die Spielzeugmacherin. „Meinen Lebenstraum werde ich jedenfalls behalten und verfolgen. Aber wenn du willst, kannst du ihn mit mir teilen und ich zeige dir auch, wie man Spielzeug macht. Ich habe gehört, du hast ein kleines Häuschen im Wald, wo man dich in Ruhe lässt?“


    So verließen die beiden die Stadt und fertigten im Wald ihr eigenes Spielzeug. Und wenn sie nicht gestorben sind, tun sie das noch heute.


    Ende

  • Die Hexe und der Stock


    Es war einmal eine Hexe, die ging gern im Wald spazieren. Sie liebte das federnde Moos unter ihren Füßen, den Duft der Kräuter und den Gesang der Vögel. Im Wald war es meist friedlich. Doch eines Tages, als sie gerade in ihrer heimeligen Hütte ein wenig Proviant für einen längeren Spaziergang zurecht machte, hörte sie von draußen das laute Zetern von Krähen. Dann ein Knirschen und Knacken, schließlich einen dumpfen Aufprall.


    Die Hexe nahm ihr Zeug und ging nach draußen, um nachzusehen, was da los war. Die Krähen waren längst fortgeflogen und auch sonst war niemand zu sehen.

    Aber da lag etwas, was da nicht hingehörte. Anscheinend war ein Ast von einem der Bäume abgebrochen. Es war ein kümmerlicher Ast, ganz ausgetrocknet, ohne Rinde und ohne jegliche Zweiglein oder Blätter. Nichts weiter als ein Stock.


    Die Hexe wandte sich ab und wollte gerade ihres Weges gehen, da vernahm sie eine Stimme.


    „He da! Warte mal!“


    Sie drehte sich um. Da war nach wie vor niemand.


    „Was soll das? Wer auch immer du bist, komm raus oder lass mich in Frieden.“


    Wieder sprach die Stimme.


    „Ich bin hier. Hier unten. Könntest du mich bitte aus meiner misslichen Lage befreien?“


    Wie auch immer das möglich war – dieser schnöde Stock konnte offenbar sprechen.


    „Was willst du? Du bist ein Stock. Äste brechen eben manchmal ab, das ist der natürliche Lauf der Dinge.“


    „Von einer wie dir hätte ich mehr erwartet. Bist du nicht eine Hexe? Seid ihr nicht so schlau und könnt alles sehen und alles erahnen? Mir scheint, du hast noch viel zu lernen. Dabei siehst du gar nicht mehr so jung aus.

    Wenn du mich mitnimmst, zeige ich dir all die Möglichkeiten, die noch auf dich warten, und die du ohne mich nicht erreichen kannst!“


    Die Hexe maß den Stock mit den Augen und dachte bei sich „Ach, warum nicht. Mit diesem Stock hätte mein Arm mehr Reichweite. Wenn mal eine Frucht zu hoch hängt, kann ich sie mir damit angeln. Und ich kann ihn als Wanderstock benutzen, wenn der Weg mal etwas holpriger ist. Wird mir sein Geplapper zu viel, kann ich ihn ja wegwerfen oder verbrennen.“


    So hob sie den Stock also auf und zog mit ihm los. Der Stock begann sofort zu prahlen, was er dort oben vom Baum aus alles gesehen und erlebt hatte. So wie er es formulierte, klang das seltsamerweise so, als sei alles unter seiner Weisung geschehen.


    Die Hexe versuchte zunächst, das zu ignorieren und stattdessen dem Zwitschern der Vögel zu lauschen. Aber der Stock ließ sich nicht beirren und setzte sein Selbstgespräch fort.


    Hexen sind nicht gerade dafür bekannt, besonders geduldig zu sein, aber bei dieser Hexe handelte es sich um ein äußerst zähes Exemplar. Jede andere Hexe hätte diesen Stock sofort entzweigebrochen und zurückgelassen. Diese jedoch wollte es wissen. Konnte der Stock ihr wirklich helfen, etwas zu erreichen, was sie sonst nicht erreichen konnte?

    Sie hatte schon eine Idee, und so wanderte sie mit ihrem anstrengenden Begleiter zu einem bestimmten Baum.


    „So, guter Stock. Schau mal, an diesem Baum wachsen die leckersten Beeren. Vor einhundert Jahren war es noch ein kleines Bäumchen, aber nun hängen die Früchte mir zu hoch. Ich möchte endlich wieder davon kosten!“


    Die Hexe hielt den Stock so, dass er aus seinen Astlöchern den Baum betrachten konnte. Sie reckte und streckte sich, doch selbst mit dem Stock war sie zu kurz, um die Beeren zu erreichen.


    „Du gibst dir einfach nicht genug Mühe. Es liegt einzig und allein an dir, dass wir dort nicht herankommen“, behauptete der Stock.


    Na wunderbar, dachte sich die Hexe. Wenn du nicht zum Beeren-Angeln taugst, dann doch hoffentlich wenigstens als Spazierstock für unwegsames Gelände!


    In der Nähe gluckste ein Bach. Er wartete gleich hinter dem nächsten Hügel – sie musste nur eine steile Böschung hinabsteigen, um zu seinem Ufer zu gelangen. Die Hexe war vom Wandern durstig und das kam ihr gerade recht.


    Sie stieg die Böschung hinab und stützte sich dabei auf den Stock, um ihre alten Knie zu schonen. Doch der Stock knirschte und knackste wie ein spröder Knochen.


    „Lass das sein, du bist ja viel zu schwer für mich! Du hast wohl zu viel Kuchen in dich hineingestopft, du gierige alte Hexe!“


    Die Hexe grummelte in sich hinein und schaffte die letzten Schritte wie gewohnt aus eigener Kraft. Nachdem sie ein paar Schlucke getrunken hatte, setzte sie sich auf einen Stein am Ufer, um nachzudenken.


    „Was sitzt du da herum? Wir haben keine Zeit, zu trödeln. Es gibt noch so viel zu tun! Na los!“


    Der Stock ließ nicht locker, die Hexe anzustacheln, die einfach nur ihre Ruhe wollte. Aber eine dritte Chance wollte die Hexe ihm noch geben, wie es sich gehört.


    „Ja, was denn überhaupt? Vielleicht weihst du mich endlich mal in deine großartigen Pläne ein?“


    „Na, was wohl? Du bist eine Hexe. Was läufst du hier auf deinen krummen Beinen den ganzen Tag durch den Wald? Wenn du fliegen würdest, wärst du viel schneller da. Lass uns fliegen.“


    Darum ging es ihm also. Als ob mir wichtig wäre, schnellstmöglich irgendwo hinzukommen. Zugegeben … ich bin noch nie geflogen, interessant wäre das schon. Und so käme ich auch an die Beeren. Warum hat er das nicht gleich gesagt?


    Die Hexe kannte keine anderen Hexen, aber sie hatte mal gehört, dass Flughexen auf Besen ritten. Also brauchte sie einen Besen. Vielleicht war der blöde Stock also doch zu etwas nutze.

    Sie erhob sich und kletterte die Böschung wieder hinauf. Dann spazierte sie zwischen den Bäumen umher und sammelte einen ganzen Arm voll Reisig. Aus einer ihrer vielen Taschen zog sie ihren Geduldsfaden. Damit umwickelte sie die trockenen Zweige und band sie fest an den Stock. Fertig!


    Die Hexe hob den Stock in Kniehöhe, setzte sich rittlings darauf und hielt sich erwartungsvoll fest.


    „Ja, und nun? Ich will hoch hinaus!“


    Der Stock erwiderte nichts, aber die Hexe spürte eine ungewohnte Leichtigkeit. Ihre Füße lösten sich vom Boden und sie begann, zu schweben. Immer höher hob sich der Besen, und die Hexe sah zum ersten Mal ihren Wald aus einem ganz anderen Blickwinkel. Wie die Vögel, deren Gesang sie so liebte.


    Als sei es schon immer ihre Natur gewesen, steuerte sie auf den Baum mit den köstlichen Beeren zu. Sie konnte sogar in der Luft ihre Position halten und so ganz in Ruhe ihre Taschen mit so vielen Beeren füllen, wie sie wollte.


    Anschließend flog sie zurück nach Hause. Doch anders als der Stock ihr das hatte einreden wollen, flog sie nicht schnell, sondern genoss jeden Augenblick. Immer mal wieder schaute sie sich um und schmiedete Pläne, wo sie am nächsten Tag hinfliegen und was sie ausprobieren wollte.


    Der Stock war erstaunlich still, seit sie sich in die Luft erhoben hatte. Kein Wort hatte er mehr von sich gegeben, seit die Hexe einen Besen aus ihm gemacht hatte.


    Die Hexe war zufrieden. Sie landete vor ihrer Hütte, und weil ihr spontan danach war, fegte sie mit ihrem neuen Besen zum ersten Mal in ihrem langen Leben den extrem schmutzigen Boden.


    Ende

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