In der Tat ist es so, dass in einer unrealistischen Welt Dinge gehen, die in einer realistischen Welt einfach nicht sein dürfen. Es wird unserer Zunft von den Literaturwissenschaftlern ja seit jeher vorgeworfen, dass wir mit unseren phantastischen Elementen erzählerische Schwächen kaschieren. Vieles, was in einer phantastischen Geschichte "geht", "geht" eben in einer realistischen Geschichte nicht. Um auf das Beispiel von Orks einzugehen, halte ich dieses Konstrukt für den größten Schwachpunkt von Tolkiens Welt (von seinen vielen Epigonen gar nicht zu reden). Auch wenn klar ist, dass Orks im Gegensatz zu Elben, Menschen, Hobbits und Zwergen die Gabe des freien Willens nicht besitzen (genau das ist gemeint, wenn sie nicht zu den "Freien Völkern" gezählt werden) und insofern keine Personen, sondern eher so was wie sehr intelligente Hunde mit Händen sind. (Und die Natur der Orks war dann folgerichtig eine der offenen Fragen, die Tolkien am meisten Kopfzerbrechen bereiteten, der hat da immer wieder dran gebastelt.) Aber in einer realistischen Welt wäre das schlichtweg Rassismus.
Aber auch sonst gibt es in Tolkiens Welt rassistische Tendenzen, oder man kann es zumindest so auslegen (muss man aber nicht). Die guten Elben und Dúnedain entsprechen in einem gewissen Grade (nicht ganz - so sind die Dúnedain nicht blond, und die Elben auch nicht alle, und weiterhin zu filigran, man vergleiche Legolas mit einer Arno-Breker-Statue) "nordischen" Rassenklischees, während die Völkerscharen, die Sauron in die Schlacht wirft, afrikanische und asiatische Züge aufweisen. Natürlich ist die Verteilung der Menschen-"Rassen" in Mittelerde ganz einfach die gleiche wie in der wirklichen Welt (deren Beschaffenheit in einer fernen Vergangenheit - vor der Sintflut? - Mittelerde ja darstellt): der Nordwesten, der auf der dem Herrn der Ringe beigegebenen Karte dargestellt wird, entspricht eben Europa - aber warum ist ausgerechnet dieses Quasi-Europa die letzte Hochburg der Guten, während Quasi-Afrika und Quasi-Asien anscheinend zur Gänze von Sauron beherrscht werden? Das ist eine gefährliche Rutschbahn in Richtung Rassismus! (Ich bin mir dieses Problems mit meinem Elbenpfad-Projekt sehr bewusst.)
In einem Punkt haben die oben genannten Literaturwissenschaftler aber durchaus recht: phantastische Elemente machen es dem Autor leichter, Mängel in seinem Werk "auszubügeln". Ein Drache mit einem Kilometer Flügelspannweite kann niemals fliegen? Doch, mit Magie geht das! Und so weiter. Andererseits reißt man sich mit phantastischen Elementen ziemlich leicht Löcher in die Logik. Frodo und Sam werden von Riesenadlern aus Mordor gerettet? Warum hat man sie dann nicht auf die gleiche Weise dort eingeflogen, statt dieses gefährlichen Fußmarsches durch die Totensümpfe und Kankras Lauer und was es sonst noch für gefährliche Gefilde auf dem Weg gibt? (Antwort: Weil die Adler wahrscheinlich von Saurons Luftabwehr erwischt worden wären. Die Rettung auf dem Luftweg war nur möglich, weil nach der Zerstörung des Einen Rings Saurons Luftabwehr ausgeschaltet war und den Adlern keine Gefahr mehr drohte.) Man muss also sehr bewusst und vorsichtig mit solchen Dingen umgehen und unerwartete Konsequenzen bedenken. Und das gelingt längst nicht allen Weltenbastlern.
Aber wie ich schon geschrieben habe, habe ich (denke ich) gute Gründe, meine Geschichten realistisch anzulegen. Und Realismus und Sense of Wonder schließen sich keineswegs aus, wie jeder weiß, der gern historische Romane liest.