Sprache ohne Negation

  • Eine Frage an die Linguistikkenntnishabenden hier im Forum:
    Ist es realistisch annehmbar, dass eine Sprache existiert, die vollständig auf Negation verzichtet? In der man also anstatt "Ich bin nicht weg gegangen" sagen muss "Ich bin hier geblieben". Möglich ist es ja, jede Negation so umzuformulieren, dass sie verschwindet. (Und Negation wird im Hirn auch völlig anders verarbeitet, als der positiv formulierte Umkehrsatz). Aber wie glaubhaft ist es, dass sich eine Sprache gänzlich ohne diese entwickelt.


    Das wäre dann wohl eine einfache Sprache für ein einfaches Volk. Das praktisch zwangsweise positiv denken muss. (Im ursprünglichen Sinn. Nicht dieser seltsame "rosarote Brille" verschnitt.)

  • Ich denke, eine solche positive Sprache ist eher komplizierter als eine Sprache mit Verneinungen, weil dem Sprecher Möglichkeiten abhanden kommt. Etwa wenn gesagte Dinge korrigiert oder widersprochen werden, muss eine inhaltliche Umformulierung stattfinden, statt einen negierenden Ausdruck zu verwenden. Eine primitive Sprache würde eher ein Negat-Wort am Anfang oder Ende des Satzes stellen und den ursprünglichen Satz dann ohne Anpassung der Grammatik anfügen. "Du Trottel?" Antwort: "Nicht Ich Trottel!" statt "Ich klug!" Generell ist sprachlicher Ausdruck in seiner Komplexität gleichwertig mit den intellektuellen Fähigkeiten eines Volkes. Wenn du es für wahrscheinlich hälst, dass ein Volk ndas Prinzip des negierens nicht verstehen kann, dann gibt es in deren Sprache auch kein entsprechendes Wort. Aber eins der ersten Dinge, die jedes (primitive) Lebewesen in seiner Sippe lernt, sind die Ausdrücke/Gesten für Zustimmung und Ablehnung. Deshalb meine ich, dass ein nicht.negierendes Volk eher eine unglaublich kulturelle und friedliche Entwicklung aufweisen muss, also ganz und gar nciht primitiv sein kann, wenn es in seinen sozialen Interaktionen auf Ablehnung verzichten kann.

  • Wie antwortest du auf Fragen?


    "Hast du gekifft?" - "Ich atme nur saubere Luft." :gaga:


    "Willst du ein Brötchen?" - "Ich bin satt." ist zwar sinnvoll, aber keine Antwort auf die Frage sondern eine neue Aussage zur Klärung des Sachverhalts.


    Also ich postulier aufgrund obiger Beispiele einfach mal, dass es ohne Verneinung schwierig bis unmöglich wird, Fragen zu beantworten. Man möge mich widerlegen oder mir zustimmen oder mich ignorieren. ;D

    Weil Inspiration von oben kommt und Arbeit von unten.
    -Elk (20.10.18, 23:02)



    Plan. Act. Reflect. Repeat 'til finish.

  • mal ganz davon abgesehen, dass "ich bin nicht weggegangen" und "ich bin hier geblieben" nicht das gleiche bedeutet:


    Möglicherweise ist dei Person nicht "dort" - aber eben nicht weggegangen, sondern fortgezerrt worden ist. Nun, dann ist es immerhin möglich, dass die Aussage "bin nicht weggegangen" wichtig ist, aus irgendeinem Grund - sagen wir, weil weggehen sozial inadäquat ist.


    In dieser Situation wäre die wichtige Aussage dann eben, dass die Person eben nicht weggegangen ist - alles andere wäre sekundär
    Kurz, eine solche Sprache hätte ein Problem, weil es eben inhaltlich wichtige Negativ-Aussagen gibt, die nicht transportiert werden können, wenn man die Verneinung nicht hat

  • @Eld und JvW: Generell stimme ich euren Aussagen zu. Bedenkt aber, dass Hans diese Sprache für ein primitives Volk vorsieht und dieses womöglich geistig nicht fähig ist, derart filigrane semantische Unterschiede wie zwischen "ich bin nicht weggegangen" und "ich bin hier geblieben" zu begreifen. Gewiss ist es schwierig als intelligentes Volk (für dass wir uns halten) mit einer Sprache auskommen zu müssen, die keine Negation kennt, weil wir als denkende Wesen diese Negation sehr wohl kennen! Daher können eure Beispiele für Hans' Szenario nur bedingt angeführt werden. Wie ich oben schrieb läuft die Frage nach einer nicht-negierenden Sprache eher auf die Frage eines nicht-negierenden Volkes hinaus.

  • Hm ich meine es gibt auf der Erde sogar ein Volk das eine Sprache ohne Zahlen hat, warum sollte es also nicht ohne Verneinung gehen? Ich meine sogar auch so etwas gibt es im Amazonasbereich, da schlummert so eine Erinnerung daran in meinem Hinterkopf^^
    Gerade für einfache Naturvölker sollte so etwas problemlos möglich sein. Zu den Kommentaren weiter oben kann ich nur anmerken, wenn es keine Negation gibt wird es auch keine Fragen geben, die darauf abzielen, oder? Ich vermute das in einer solchen Sprache nicht großartig über Gedanken geredet wird sondern hauptsächlich über reale, selbst erlebte Dinge.
    Statt: "Hast du gekifft?"
    wären die möglichen Fragen dazu dann wohl eher
    "Was hast du da geraucht?"
    "Was riecht denn hier so komisch?" oder
    "Warum redest du so merkwürdiges Zeug?"


    Wenn ich keine Nein kenne stelle ich keine Fragen, die man so beantworten könnte^^

  • Irgendwie habe ich den Eindruck, daß ein kurzes, knappes "Nein" trotzdem die effektivste Art ist, manche Dinge zu klären. Etwa, wenn man die korrekte Antwort zwar nicht weiß, aber die Vermutung hinter den Worten des Gesprächspartners für unzutreffend hält. Man kann das entweder so kommunizieren oder einfach einen Laut verwenden, der nur bedeutet: Anders muß es schon sein, respektive: Nein. Und da die Faulen die Sprache mitentwickeln, wäre es in meinen Augen schon seltsam, wenn sie nie auf diese effiziente Lösung gekommen wären...

  • Man könnte sich überlegen, in der Sprache einfach keine Ja-nein-Fragen zuzulassen. Nur so eine unausgereifte Idee.


    Zitat

    aber die Vermutung hinter den Worten des Gesprächspartners für unzutreffend hält.


    Das klingt ein bisschen nach Mu. Und das ist ja ein bisschen was anderes als ein Nein, dementsprechend wäre es also legal. ;D

  • Aha... Mu kannte ich noch nicht, hatte aber in der Tat auch etwas anderes gemeint.
    "In welchem Dorfhaus kann ich gerade meinen Sohn finden?" läßt sich ohne Negation nur sehr umständlich beantworten, wenn der Gefragte zwar weiß, daß der Gesuchte sich nicht innerhalb des Dorfes aufhält, aber nicht, wo genau. Die Frage ergibt für ihn zwar durchaus Sinn, aber er kann sie trotzdem in der gestellten Version am einfachsten mit einer Negation beantworten: "Gar nicht." Auch die zweiteinfachste Antwort nutzt eine Negation: "Dein Sohn ist nicht im Dorf." Positiv formuliert: "Dein Sohn ist außerhalb des Dorfes zu finden." Es geht also schon, aber effizient ist es eben nicht.

  • Vielleicht könnte man mit der Aussprache andeuten ob es positiv oder negativ gemeint ist.
    Bei uns bedeutet das Wort „Ja“ jenachdem wie man es ausspricht auch etwas ganz anderes z.B.: „Ja, Ja“ mit einem genervten Beiklang meint: das geht mir alles am A… vorbei.
    Anstatt: „Der Hund ist nicht da“ könnte man demzufolge das positive also „Der Hund ist da“ sagen aber eben mit einem gewissen Unterton.

  • Ich hatte die Frage bei einem Indogermanistik-Seminar der Dozentin gestellt und netterweise hat der Kurs mitdiskutiert (waren auch Philosophen anwesend) :)


    Es kamen auch die gleichen Antworten wie hier teilweise schon, ich rezitiere in etwa, und bringe eigene Gedanken ein:


    "ja/nein" sollte so ziemlich das erste sein, was bei Entwicklung einer Sprache entsteht. Es muss die Möglichkeit geben, zu widersprechen. Aber ob das nun durch einen konkreten Ausdruck für "nein" geschieht oder durch eine Umschreibung des Sachverhaltes ("ich bin hier geblieben"), ist ja die Frage. Jedenfalls widerspricht es der Sprachökonomie, ständig den Satz umformulieren zu müssen, sodass keine Negation mehr enthalten ist - von unserem Standpunkt aus gesehen jedenfalls - für die Sprecher so einer Sprache wäre das normal, aber eben unökonomisch. Ein einfaches "nein", "nicht", "un-", wie auch immer, spart viele, viele Wörter.


    Aufgetaucht ist auch Kinno Katanas Beispiel "Ist XX hier?" als ja/nein-Frage oder "Wo ist XX?". Was wird geantwortet, wenn der Gefragte es einfach nicht weiß? "Ist mir unbekannt", "Weiß ich nicht", "keine Ahnung" sind alles Negationen. Vielleicht lässt sich eine nonverbale Antwort herausschlagen, wie ein Schulterzucken, oder eine andere Geste, welche die Sprechergemeinschaft versteht.


    "Der Hund ist nicht da" vs. "Der Hund ist da" mit Unterton: Das sehe ich wie die Geste des Schulterzuckens oder Kopfschüttelns trotzdem irgendwie als sprachliches Zeichen und damit als Negation an. Sie wird zwar nicht mit konkreten Wörtern ausgedrückt, ist aber trotzdem da.


    Der Philosoph hat angemerkt, dass ohne Negation Aussagen wie "Das ist ein Stuhl" insofern sinnlos sind, da beim Sprecher unbewusst mitschwingt "Das ist ein Stuhl und eben kein Tisch". Affirmation und Negation bedingen sich also gegenseitig.


    Die Dozentin (Indogermanistik/Altorientalistik) hat einige Momente nachgedacht und ihr ist keine Sprache eingefallen, die ohne Negation auskommt. Die Welt ist groß, vielleicht gibts das doch? Im Amazonas, Jalandira, kannst du dich an mehr erinnern? Google-Suche nach "Sprache ohne Negation" kommt jedenfalls auf vier magere Treffer.


    Also zusammenfassend glaube ich war der Konsens, dass eine Sprache ohne (Möglichkeit zur) Negation nicht realistisch ist.

  • Jetzt versuche ich mir eine Welt vorzustellen, in der eine negationslose Sprache passt.


    Das würde implizieren, dass ein Objekt zwar eine Eigenschaft haben kann, aber damit nicht gesagt ist, dass es die gegenteilige Eigenschaft nicht hat. Anders ausgedrückt, es gibt überhaupt keine Gegenteile. Ein Objekt kann an mehreren Orten gleichzeitig sein, oder an einem, und dazwischen ist kein Unterschied.
    Damit ist Raum und Zeit als spezifisches Merkmal auch irgendwie obsolet. Muahaha.


    Hm, ich glaube, ich schiebe das in meine gedankliche Rumpelkammer - irgendwann mach ich so eine Welt. :D

  • So ich habe nun auch mal kurz gegoogelt und zuerst schonmal das hier gefunden:


    Im Lateinischen, wo das Wort „nein“ nicht existiert, wird an seiner Stelle die Phrase „ita non est“ (= ‚so ist es nicht‘), also ein gesamter verneinter Aussagesatz verwendet. Auch im Indonesischen existiert kein eigentliches Wort für „nein“; es gibt jedoch die Negationspartileln tidak („nicht“) und bukan („kein“), die allerdings selten allein verwendet werden. Lieber antwortet man belum („noch nicht“), sudah („schon“), tidak mau („will nicht“, „werde nicht“) usw. Ähnlich verhält es sich auch im Chinesischen. (Aus der Wikipedia zum Thema: Nein)


    Ich hab nun ein Text gefunden, der meint, dass es keine Sprache gibt, ohne Negation. Muss mich daher wohl geirrt haben^^ kann ja passieren. Aber der Text scheint interessant zu sein daher
    Hier
    Auf Seite21 steht der Teil mit der Negation

  • Die Präsentation von Haspelmath ist jedenfalls als Übersicht schon mal interessant :) .
    Und was mir bei seinem Namen eingefallen ist (ehm, er hat mich irgendwie an eine Computersprache erinnert, muß irgendwie mit dem -math zusammenhängen :-o?): Ich kenne keine Computersprache, die nicht die Möglichkeit der Negation hätte. Das kann eine einfache Zeichenkette sein (z.B. kombiniertes Gleichheits- und Ausrufezeichen) oder ein englisches "not"... egal, irgendwie bekommt man jedenfalls eine Negation mitgeliefert.

  • Ich kenne keine Computersprache, die nicht die Möglichkeit der Negation hätte. Das kann eine einfache Zeichenkette sein (z.B. kombiniertes Gleichheits- und Ausrufezeichen) oder ein englisches "not"... egal, irgendwie bekommt man jedenfalls eine Negation mitgeliefert.


    Ich habe heute etwas zu Sprache und Negation recherchiert und bin dabei auf einen Haufen Computersprachen gestoßen, die auf Negation verzichten. Hauptsächlich Datenmodellierungs- und Abfragesprachen.
    Die paar Studien zu natürlichen Sprachen und dem Negationskonzept muss ich mir selbst erstmal in ein paar ruhigen Stündchen durchlesen.

  • Bei den "Abfragesprachen" bin ich überrascht: Da müsste es effizient sein, Datensätze mit "nicht" suchen zu können. Datenmodellierung ist tatsächlich so ein Fall... Aber nur so aus Neugier, hättest Du ein paar Beispiele?

  • Die primitivste Sprache der theoretischen Informatik, die noch zu allen heute bekannten Hoch(programmier)sprachen gleichmächtig (d.h. gleich ausdrucksstark) ist, ist die GOTO-Sprache die nur aus einer kleinen Menge unfassbar primitiver Befehle besteht, darunter auch die einzige Abfragemöglichkeit "If Variable = 0 Goto (Marke)". Diese Sprache kommt ohne Negation aus und kann nachweislich(!) jede andere Hochsprache simulieren/ersetzen. In unserem Kontext ist das aber klar, weil man in GOTO-Sprachen eine Negation simulieren kann:

    Code
    If Variable = 0 GOTO M
    // Tue hier das, was passieren soll, wenn die Variable NICHT den Wert 0 hat
    GOTO E
    Marke M: // Tue hier das, was passieren soll, wenn die Variale den Wert 0 hat
    Marke E: // Weiter im Programm
  • Ja... ich würde mal denken, dazu hat Nevada oben eigentlich schon alles gesagt:

    Der Philosoph hat angemerkt, dass ohne Negation Aussagen wie "Das ist ein Stuhl" insofern sinnlos sind, da beim Sprecher unbewusst mitschwingt "Das ist ein Stuhl und eben kein Tisch". Affirmation und Negation bedingen sich also gegenseitig.


    Die Negation verbirgt sich im nicht explizit formulierten "else". Allerdings würde ich da tatsächlich überlegen, ob eine dermaßen versteckte Negation noch "gilt". Insofern würde ich die GOTO-Sprache als Ausnahme gelten lassen können.
    Was sie allerdings wohl nicht ist, ist: etwas für Faulenzer, anders ausgedrückt: effizient.

  • Was ich mir vorstellen könnte und der Philosoph gemeint haben kann:


    A: "Das ist ein Stuhl"


    B: "Das ist ein Tisch"


    A: "Du kannst dich darauf setzen, es ist ein Stuhl!"


    B: "Ich kann darauf etwas abstellen, es ist ein Tisch!"


    Wie soll so ein Widerspruch gelöst werden, wenn du die Aussage des Gegenüber nicht verneinen kannst sondern nur deine eigene wiederholen/begründen, ausbauen? Dann musst du darauf warten, dass er dir zustimmt.


    Wie eine Programmiersprache ohne Verneinung zurechtkommt, ist natürlich was anderes, hier findet ja keine echte Kommunikation statt.

    Weil Inspiration von oben kommt und Arbeit von unten.
    -Elk (20.10.18, 23:02)



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