Soo.. das wird wieder eine längere aber hoffentlich verständliche Einleitung zu einem Weltenbau-Theorie-Thema, wieder mit Zwischenüberschriften hoffentlich sinnvoll strukturiert:
Weltenbau-Prozess
Die erste Frage an dieser Stelle ist, inwiefern wir die gleichen oder unterschiedliche Methoden im Schaffensprozess anwenden. Das soll durch eine vergleichende Betrachtung veranschaulicht werden, also in Form von WB-Erfahrungsberichten. Ziel ist im Hinblick auf die Fragestellung zu definieren, was wir alle gleichermaßen handhaben, wo wir verschiedene Ansätze verfolgen und in der Meta-Betrachtung, welche Prozesse als Teil des WBs wohl in Stein gemeißelt und welche variabel sind.
Ein bisschen schwierig wird an der Stelle sicher sein zur gleichen Terminologie zu finden, zumindest bin ich darüber schon einige Male gestolpert beim Versuch darüber zu reden. Wer Beispiele für Definitionen kennt, wie kürzlich im Prämissen-Thread mit Literaturbeispiel geschehen, ist herzlich eingeladen die zu teilen. Wenns langsam wächst, kommen wir vielleicht nochmal auf einen WB-Glossar zurück, damit wir alle über das gleiche reden können.
Paradigmen in der WB-Vorgehensweise
Mit dem englischen Begriff des Worldbuilding komme ich öfters in Kontakt, übersetzt hätte ich den auch eher als Weltenbau. Basteln als Domain-Titel und Logo hat eine sehr spielerische Konnotation, mit der ich nicht immer ganz zufrieden bin, da hier durchaus auch Expertise vorhanden ist und meiner Bewertung nach auch professionelles zustandekommt. Basteln hat etwas von Ausprobieren, vlt. kindischem Lernen und womöglich einen therapeuthischen Fokus, den ich nicht in Abrede stellen mag (dazu sobald ichs finde auch nochmal ein schönes Zitat), aber insgesamt würd ich auch sehr strukturiert anmutendes Vorgehen ungern als Basteln bezeichnet wissen.
Die zuletzt hier gepostete Gesellschaft für Fantastikforschung, die sich auch zur Aufgabe macht relevantes auf Deutsch zu übersetzen, hat in ihrer WB-Tagung auch Weltenbau als Übersetzung gewählt, was ich für einen neutraleren Begriff halte.
Nun beginnt etwas, das ich scherzweise schon mit den griechischen philosophischen Schulen verglichen hab, indem unter eigenen Begrifflichkeiten womöglich rivalisierende Denkrichtungen beschrieben werden und wir uns hier vlt. wahlweise den Weltenbauern, Weltenbastlern, Weltenschöpfern, Weltenschmieden, Weltenwebern oder anderen Bezeichnungen verbunden fühlen >_> .. jedenfalls hab ich in dem Forum das Gefühl, dass ich hier nochmal deutlich darauf hinweisen muss, dass dieser Kategorisierungsanteil mit den Begrifflichkeiten in erster Linie der Unterscheidung von Vorgehensweisen dienen soll und die angekündigte Rivalität eher zum Spaß gedacht. (Auch wenn ich Benutzergruppen sehr begrüßen würde, wenns dann soweit kommt. ò.ó) Stellenweise werden auch mehrere Richtungen in Kombination oder nur zum Teil verfolgt werden, also gibt es hier bei der Selbsteinordnung vermutlich nicht mal klare Grenzen. Kern des Ganzen bleibt Prozessbetrachtung und -vergleich, und zudem lassen sich auch Herangehensweisen finden und definieren, die im Rahmen des Möglichen sind, die aber vielleicht keiner hier verfolgt.
Vermeintlich allgemeiner Weltenbau
I. [VaW] Axiome und Regelableitung
Kürzlich habe ich Yerho bereits im Was macht deine Welt zur Welt?-Thread diesbezüglich zitiert, da dies auch meine Erfahrung traf:
- Beginn mit Axiomen?/Prämissen?, die der Autor in Folge von persönlichen Vorlieben oder Interessen wählt. Beispiele sind hier Genrevorgaben oder Ästhetiken, also etwa ob man Elfen haben möchte oder gotische Kathedralen.
- Beim Ausbau und der gegenseitigen Beeinflussung dieser lassen sich neue Regeln ableiten, ohne dass der Autor sie so aktiv setzt wie zuvor, da der Spielraum/die Freiheit zur Schaffung von Neuem durch Bestehendes eingeschränkt wird. Yerho beschrieb hier, dass sich der Autorengeschmack teilweise nach den zwangsläufig resultierten Regeln richten muss. Dies ist Folge des Wunsches nach einer konsistenten Welt.
Beim Punkt der Regeln ist noch zu sagen, dass es stellenweise Unklarheiten gibt, also ungeklärte Auslegungen, die eine Entscheidung und klare Linie einfordern. Sobald die gesetzt ist, kommt man ggf. zum folgenden Schritt bei der Einarbeitung:
II. [VaW] Überarbeitung und Umbrüche
Noch etwas bereits im "Was macht eine Welt zur Welt"-Thread beschriebenes: Eine neue Regel führt zu Revisionen in der Welt, durch die ganzen Wechselbeziehungen/Abhängigkeiten/Interdependenzen der einzelnen Elemente zueinander müssen Kausalketten zur Konsistenzwahrung quer durch die ganze Welt verfolgt werden und führen an womöglich ungeahnten Stellen zu neuen Änderungen und Regelableitungen.
III. [VaW] Allgemeine Eigenschaften von Welten
Aus J.P. Wolfs Building imaginary Worlds (S.37) gibts noch vier allgemeine Eigenschaften für zumindest publikumstaugliche Welten:
- Das Publikum ist in der Lage zu Charakteren eine Beziehung aufzubauen, indem deren Situationen mit solchen der Realität vergleichbar sind, etwa durch humanoide oder anthopomorphe Figuren. Allgemeiner: Hier findet man auch die Überzeugung, dass jede Welt erstmal als Anlehnung an die Realität/Primärwelt beginnt.
- Kausalität zur Verknüpfung von Ereignissen, damit diese Konsequenzen haben. Relevant weil: Kausalität ist das Mittel um Axiome/Regeländerungen zueinander in Bezug setzen zu können und Konsistenz du definieren.
Ein Konzept von Gut & Böse/Schlecht, damit es eine Bedeutung hat, wie Figuren handeln oder was ihnen zustößt.Emotionaler Realismus für Empathie und Identifikation mit Charakteren.
IV. [VaW] Iterative Entwicklung
Weltenbau findet zudem meiner Erfahrung nach meist in Iterationen statt, vermutlich da das für uns alle auch noch sehr experimentell und WB überdies umfangreich und interdisziplinär ist. Man arbeitet meist in einem beschränkten Teilgebiet seiner Welt und versucht diesen eben zu seiner Zufriedenheit fertigzustellen, ehe man zum nächsten übergeht. z.B. arbeiten aktuell einige im Bereich der Magie, andere in der Geographie, Flora, Fauna, Politik, Linguistik etc. [Einwurf: Hier haben wir mit dem Allerwelts-Forum und einigen WB-Theorie-Threads bereits ein schönes Mittel nochmal gemeinsam in einem Gebiet zu werkeln, schön fände ich überdies vielleicht auch WB-Jahreszeiten, also drei Monate im Fokus 'Magie', in dem die teilnehmenden an ihrer Magie arbeiten und sich dahingehend besser austauschen können, gefolgt von drei Monaten 'Geographie' etc., stets mit einem Thread zu Teilgebieten der Magie/Geographie/Völker/Thema und vielleicht gemeinsamen Recherchephasen]
Teil der Iteration ist auch, dass man nicht erst alle Völker fertigstellt und dann alle Pflanzen. Es geht nur darum, dass man sich erstmal an eine Aufgabe aus einem beliebigen Teilgebiet setzt, und dann mit etwas weiterem weitermacht, wenn man die Aufgabe soweit abgeschlossen oder abgebrochen hat.
Im Folgenden versuche ich nochmal meine Iterationserfahrung wiederzugeben, vielleicht gibt es da neben Gemeinsamkeiten bereits Unterschiede oder eine deutlichere Iterationsdefinition von eurer Seite aus:
- Themensetzung und Recherche, oft mit Dokus, Sachtexten und Kunstwerken oder anderen Inspirationen
- Ausarbeitungsphase
- Runterkürzen aufs Wesentliche, ganz nach Goethe "ich hatte keine Zeit mich kurz zu fassen". Hier fallen auch Inhalte weg, die nicht hinreichend zur gewünschten Stimmung oder Mechanik beitragen.
Gibt es hier Gegenmodelle, nach denen man themenübergreifend arbeitet? Ich hab z.B. auch die Erfahrung, dass da noch einige 'Baustellen' offen sind, wobei hier eben entweder Aufgaben zunächst abgebrochen wurden oder einfach das Themengebiet z.B. in Folge anderer Entwicklungen die nächste Iteration erwartet.
Hier kann man zudem aus der iterativen Entwicklung ausbrechen:
/ Angefangen, aber als nicht zufriedenstellend abgebrochen
Was ich auch noch gefunden hab, sind angefangene Ausarbeitungen, die kausal oder ästhetisch in sich, aber auch in Wechselbeziehung zu anderen Inhalten noch nicht fertiggestellt herumfliegen. Das ist in der iterativen Entwicklung bei Phase 2 gescheitert und geht zurück an Phase 1, bevors da weitergehen kann. Ein Symptom unzureichender Recherche, Überlegungen wohl. Vielleicht mal auch ein Symptom unzureichender Zeit, wobei da nach der Pause nicht die Prokrastination sondern die Fertigstellung einsetzen sollte.. wenns dann im Folgenden nicht fertig wird also doch eher zurück zu Phase 1.
V. [VaW] Notizbuch-Autorenschaft
Dann gibts, wie Heitz zum Autorenberuf auch anmerkte sowie auch Logan letztens mal, den WB als nebenherlaufenden Prozess. Fürs WB spannendes wird als solches registriert und möglichst in einer Form notiert, in der es später als Inspirationsquell Verwendung finden kann.
VI. [VaW] Top-Down vs Bottom-Up
Die These an dieser Stelle ist, dass sich beide Ansätze gegenüberstehen. Einmal möchten die Axiome wie "gotische Kathedralenästhetik" als Top-Deklaration mit Ziel des Weltenbauprozesses sein, andererseits will die konsistente Welt den Kausalketten folgend vom Allgemeinen zum Detail hin ausgearbeitet werden. Ganz nach "Wer einen Kuchen backen will, muss zuerst die Welt erfinden" sind z.B. in High Fantasy-Welten technologische Entwicklungen nachzuverfolgen, um durch Deplazierung logische Brüche zu vermeiden.
~
Soweit zum vermeintlich allgemeinen Weltenbau. Im Folgenden möchte ich dann nochmal zwei vermeintlich nicht allgemeine Paradigmen definieren, eine eher kurz pro forma, die andere, weil ich das für mich so versuche. Hier also die angekündigten Denkrichtungen der Weltenschöpfer und Weltenweber:
Weltenschöpfer
Den Begriff hat vermutlich Tolkien für sich deklariert, als er den Weltenbauprozess mit der christlichen Schöpfung verglich und den Weltenbauer als Subcreator benannte. Im On Fairystories-Essay spricht er von fiktionalen Welten im Kontrast zur realen Primärwelt als Sekundärwelten, welche die Audienz zu einem Sekundärglauben verzaubern sollen. Im Gegensatz zur willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit, in welcher der Leser einwilligt, "sich auf eine Illusion einzulassen, um dafür gut unterhalten zu werden", erreicht die Sekundärwelt genug Glaubwürdigkeit und Anschein an Tiefe, um vom Leser als selbstständige Welt wahrgenommen zu werden, sodass dieser an sie glaubt. (Gern ergänzen/korrigieren)
Ein wenig schwingen im Vergleich mit der wirklichen Primärwelt hier Wunsch und Richtung des WB-Autoren mit, die eigene Schöpfung auch so real zu erleben und womöglich einem Publikum so real präsentieren zu können. Praktiken kann ich hieraus nicht unbedingt ableiten, sehr wohl aber ein Verhältnis zum eigenen Werk und das Ziel der Glaubwürdigkeit durch eine konsistente und sehr detailreiche Welt, die als irgendwo selbstständig funktionierend und lebendig wahrgenommen wird.
Weltenweber
Wie auch bereits im Was macht deine Welt zur Welt?-Thread vorgestellt, hier nochmal die Idee hinter dem Weltenweber. Die Rhetorik ist nochmal ein wenig aus Building imaginary Worlds, S.198ff übernommen, in dem narrative Fäden von Figuren oder Objekten durch Kontakt zueinander zu einem Geflecht verbunden werden.
Der Fokus liegt hier auf der dicht verwobenen Welt, Elemente sollen nach Möglichkeit als Teil der Welt erkannt werden und einen Beitrag zu dieser leisten. Die hier mitschwingende Fragen sind: Was verbindet die Elemente der Welt zu einer Welt? Wenn ich Elemente streiche, ist es trotzdem noch eine Welt? Wenn ja, hat das Element je richtig dazugehört?
Neben den Prämissen/Axiomen als unstreichbaren Grundbausteinen beschäftigt sich diese Herangehensweise sehr mit der Kürzung auf das Wesentliche im Iterationsprozess, hier z.B. auch mit dem Mittel des Zusammenlegens von Inhalten (z.B. aus zwei Göttern einen machen, der besser eingebunden ist), und zugleich sehr mit der Verflechtung der Inhalte. Ziel ist eine komplexe, keine komplizierte Welt, d.h. eher wenige Inhalte sollen weitmöglichst miteinander verwoben werden, anstatt dass Inhalte sich anhäufen. Das wirkt sich bei mir z.B. dahingehend aus, dass ich mich kaum mit Flora- und Fauna-Artikeln beschäftige, da diese ohne wesentlichen Beitrag zur Restwelt schnell wieder gestrichen würden. Große Teilgebiete des Weltenbaus wie das Kreaturenbasteln oder auch die Linguistik im Hinblick auf Vokabeln werden von mir also kaum angerührt bis sehr vernachlässigt. Dem entgegen beschäftige ich mich mit themenübergreifenden Vernetzungsbemühungen, wenn etwa Mystik, Biologie, Geographie und Kulturen miteinander in Verbindung gebracht werden sollen, sodass die Elemente als Teile der gemeinsamen Welt stärker voneinander abhängig sind. Und wenn ich schon bei übergreifenden Überarbeitungen bin, versuche ich auch die Prämissen möglichst klar zu definieren und themenübergreifend durchzupeitschen, damit auch in Themen/Motiven eine stärkere Wiedererkennbarkeit und Vernetzung stattfinden. (vielleicht sind die zwei Aspekte aber auch nicht unbedingt so zusammenzubringen und gehören in zwei verschiedene Modelle gepackt, die dann in dieser Form kombiniert werden könnten) Das abschließend bitte nicht als Selbstglorifizierung oder sowas wahrnehmen, ich werd dem Ideal auch nicht unbedingt gerecht, da gibts das Rasiermesser noch oft anzulegen.
Quellensuche im Forum:
Hier möchte ich auch, sobald eingelesen, WBTheorie-Threads inhaltlich wiedergeben, als Kandidat gefunden ist bisher nur der hier (ich hab aber auch noch nicht sonderlich weit geblättert): Vision vs. Konzept - Was überwiegt beim Bastelbeginn?
Dann vielleicht ein paar zur Mitwirkung auffordernde Ansätze, wobei man natürlich auch ohne Berücksichtigung darauf antworten darf
- Stimmt ihr mit den
656 Punkten VaW überein? Gibt es Ergänzungen/Korrekturen/Umstrukturierungs/Streichungswünsche? - Habt ihr neue Definitionen für Bastler, Bauer oder andere Ansätze/Paradigmen für den Weltenbau, unter denen ihr euch selbst wiederfindet oder die ihr euch als Methode vorstellen könnt?
- Themengebiet Terminologie und Glossar, gibts dazu Vorschläge?
- Das WB-Jahreszeitenmodell vlt. im eigenen Thread, könnt aber auch schon mit dem Slowbasteln funktionieren oder sollte ggf. damit einhergehen, vielleicht also direkt dort.
- Quellensuche, gabs Prozess/Methodenthreads, die hier im WB-Theorieforum treffend sind und als TL;DR eingebaut werden können?
/Edit: Mir ist auch noch aufgefallen, dass kooperative Schaffensprozesse noch nicht erfasst sind. Sei es im Brainstormartigen Chatten zur Recherchephase oder bei gemeinsamer Entscheidungsfindung, wenn gemeinsame Welten oder gemeinsam weltübergreifende Elemente gebastelt werden. Das ist sicher auch nochmal ausformuliert spannend, in welche Richtungen man hier mit welchen Mitteln gehen könnte.
Hier nochmal eine Frage: Ist die Natur von ISSO bei den vordefinierten Axiomen erfasst, ist ISSO eine Art Notlösung wenn sonst widersprüchliche Zusammenhänge für die Erhaltung der Konsistzenz zusammengebracht werden müssen und damit eine Art Reaktion auf Konsistenzlücken, oder trifft ISSO auf beides zu?